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auf den Prinzipen des Erfurter Programms, das<br />

außer von August Bebel auch vom Philosophen<br />

und Sozialdemokraten Karl Kautsky geschrieben<br />

worden war, dessen Texte in fast jeder Ausgabe<br />

der Belgrader Zeitung „Borba“ erschienen.<br />

Tucović und seine Mitarbeiter orientierten sich<br />

stark an den sozialdemokratischen Ideen aus<br />

Deutschland und gaben sich große Mühe, die<br />

Prinzipien des Erfurter Programms – Kampf<br />

für ein allgemeines Wahlrecht, Achtstundentag<br />

und Schutz der Arbeiterrechte – in ihre eigene<br />

Politik einzubauen. Eine erste Missstimmung<br />

entstand jedoch nach der Annexion von Bosnien<br />

und Herzegowina, worüber Tucović 1910<br />

beim Kongress der Internationale in Kopenhagen<br />

öffentlich sprach. Bei dieser Gelegenheit<br />

sagte er, seine Partei sei angesichts der großen<br />

Kriegsgefahr völlig allein gelassen und von der<br />

österreichisch-ungarischen Sozialdemokratie<br />

wider Erwarten im Stich gelassen worden. Erhofft<br />

hatte er sich „den energischsten Protest<br />

gegen eine koloniale Politik und gegen die Versklavung<br />

des Volkes, wie sie von den Machthabern<br />

Österreich-Ungarns ausgeübt wird.“ Wenn<br />

im Zuge der Annexion von Bosnien und Herzegowina<br />

die Rede davon sei, dass irgendwelche<br />

Rechte verletzt worden seien, betonte Tucović<br />

bei dieser Gelegenheit, dann müsse man sagen,<br />

dass „die Rechte der Türkei verletzt wurden,<br />

und nicht jene Serbiens“. Dabei rief er auf, einen<br />

echten sozialdemokratischen Standpunkt einzunehmen,<br />

der „das Recht eines jeden Volkes auf<br />

Selbstbestimmung und damit auch das entsprechende<br />

Recht der Völker in Bosnien und Herzegowina“<br />

voraussetzen würde. Obwohl Tucović<br />

bei den anwesenden Delegierten auf Wohlwollen<br />

stieß, wurde sein Antrag am Ende der Ansprache<br />

nicht angenommen: Er hatte die „Genossen aus<br />

den großen kapitalistischen Staaten“ dazu aufgerufen,<br />

„zum Zwecke des Zurückdrängens der<br />

kolonialen Politik sich mit den sozialdemokratischen<br />

Bewegungen kleinerer Völker zu verbünden“.<br />

Trotz der offensichtlichen Isolierung der<br />

Sozialdemokratie setzte die Partei Tucovićs ihre<br />

Arbeit im Inland konsequent fort, eingezwängt<br />

zwischen dem starken Einfluss Russlands und<br />

der Kriegspolitik der Karađorđević-Dynastie.<br />

Als die Entscheidung über die Aufnahme von<br />

Kriegskrediten getroffen werden musste, waren<br />

die Delegierten aus den Reihen der SSDP die einzigen,<br />

die dagegen stimmten. Als einzige in ganz<br />

Europa, wie sich dann herausstellte. Slavoj Žižek<br />

schreibt über diesen Moment des Umbruchs, als<br />

die Mehrheit der europäischen sozialdemokratischen<br />

Parteien sich für die patriotische Linie entschied,<br />

Folgendes: „Stellen Sie sich vor, wie viele<br />

angeblich unabhängige Intellektuelle, darunter<br />

auch Freud, zumindest für eine kurze Zeit der<br />

nationalistischen Versuchung erlegen waren. Im<br />

Jahr 1914 verschwand eine ganze Welt und riss<br />

nicht nur den bourgeoisen Fortschrittsglauben<br />

mit sich, sondern auch die begleitende sozialistische<br />

Bewegung.“<br />

Das Ende der Zeitschrift „Borba“<br />

Die letzte Ausgabe von „Borba“ erschien<br />

am 1. Juli 1914. Darin veröffentlichte Dimitrije<br />

Tucović die letzte Fortsetzung eines längeren<br />

Textes unter der Überschrift „Verfassungsund<br />

Parteikämpfe in Serbien“. Neben seinem<br />

Artikel erschien auch ein Text von F. Filipović<br />

über den russischen Imperialismus sowie eine<br />

Studie von Lily Braun über die Entwicklung der<br />

Frauenfrage bis zum 19. Jahrhundert. Alle Texte<br />

wurden noch vor dem Attentat von Sarajevo<br />

verfasst und übersetzt. Am Ende von Tucovićs<br />

Text steht das Datum 25. Juni 1914. Zwischen<br />

der Fertigstellung seines Textes und dem Erscheinen<br />

der letzten Ausgabe von „Borba“ fand<br />

die Explosion Europas statt. Die militaristische<br />

Organisation „Schwarze Hand“ hatte ein Dutzend<br />

der militantesten Mitglieder von „Jungen<br />

Bosnien“ im Umgang mit Handfeuerwaffen und<br />

kalten Waffen unterwiesen. Einigen aktuellen<br />

Medienberichten zufolge ging dieses Training<br />

in Vranje vor sich, in einer Schlucht namens<br />

Kazanđol. An der Ermordung des Thronfolgers<br />

Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo<br />

am 28. Juni 1914 ist nichts Romantisches oder<br />

Revolutionäres. Die Rede ist von einem Konflikt<br />

zweier dynastischer bourgeoiser Politiken<br />

auf dem Balkan, der später alle anderen Seiten<br />

mit sich in den Abgrund riss, sodass der Markt<br />

und die Wirtschaft Europas ebenso wie die<br />

billigen Arbeitskräfte im Krieg neu aufgeteilt<br />

werden konnten. Das europäische Proletariat<br />

musste noch warten, bis es sich unter dem Einfluss<br />

der neuen linken Kräfte aus der Sowjetunion<br />

organisieren konnte. Davon sprach und<br />

schrieb Tucović noch Jahre vor dem Ausbruch<br />

des Großen Krieges. Interessanterweise wurden<br />

die Mitglieder von „Jungen Bosnien“ im<br />

Unterschied zu den Sozialdemokraten in Jugoslawien<br />

breit rezipiert und gefeiert, in Serbien<br />

bis heute. Dimitrije Tucović stand mit seinen<br />

linken Ideen schließlich alleine da und kam am<br />

20. November 1914 im Alter von dreiunddreißig<br />

Jahren ums Leben. Die Rezeption seiner Ideen<br />

ist im heutigen Serbien verschwindend gering,<br />

in der europäischen Geschichte ist er so gut wie<br />

unbekannt. Die europäische Linke steckt heute<br />

wieder in einer Krise.<br />

Aus dem Serbischen von<br />

Mascha Dabić<br />

Saša Ilić<br />

Geboren 1972 in Jagodina / Serbien. Er studierte<br />

an der Philosophischen Fakultät in Belgrad.<br />

Bisher veröffentlichte er Erzählbände und die<br />

beiden Romane Berlinsko okno (Berliner Fenster,<br />

2005) und Pad Kolumbije (Der Fall der<br />

Raumfähre Columbia, 2010). Bis Ende 2013 war<br />

er einer der vier Herausgeber der kritischen<br />

serbischen Zeitung BETON. Gemeinsam mit<br />

Alida Bremer gründete er im Dezember 2013<br />

BETON INTERNATIONAL.<br />

Die elektronische Ausgabe von BETON<br />

INTERNATIONAL 2014 (Nr. 1) ist unter<br />

www.traduki.eu zu lesen.<br />

Impressum<br />

V.i.S.d.P.<br />

Dr. Alida Bremer<br />

www.alida-bremer.de<br />

Herausgeber<br />

Verein RK LINKS aus Belgrad / Serbien<br />

Verein KURS aus Split / Kroatien<br />

Lektorat und Korrektur<br />

Benjamin Langer<br />

Layout und Design<br />

Metaklinika, Beograd<br />

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk,<br />

dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik<br />

Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer<br />

Kulturstiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische<br />

Buchagentur JAK, das Ministerium für Kultur der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der<br />

Regierung des Fürstentums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium<br />

für Kultur der Republik Albanien und die S. Fischer Stiftung angehören.<br />

Illustratoren und Fotografen<br />

Lazar Bodroža – 4, 6, 22, 27, 28<br />

lazarbodroza.com<br />

Igor Hofbauer – 18<br />

Aleksa Jovanović – 28<br />

aleksa-jovanovic.blogspot.com<br />

Ivan Kostić – 2<br />

Metaklinika – 8, 9, 16, 20, 21, 25, 26, 32<br />

metaklinika.com<br />

Sandra Milanović – 5<br />

Danilo Milošev Wostok – 1, 10, 11, 30, 31<br />

facebook.com/DaniloMilosevWostok<br />

Milan Pavlović – 3, 12, 13<br />

milanpavlovic.net<br />

mrstocca.blogspot.com<br />

Turbosutra – 23<br />

Aus dem Familienalbum von Davor Korić – 17<br />

Beton International März 2014 32

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