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terfangens im Klaren war, widersetzte er sich<br />
auch jedem Versuch, Menschen zu klonen, mit<br />
aller Kraft. In die USA hatte er nämlich nur reisen<br />
wollen, um sich am Misserfolg jener Kollegen<br />
zu ergötzen, die ihm übertriebene Skepsis<br />
vorgeworfen hatten. Mirzas Plan war ein ganz<br />
anderer. Er beschloss, ein Neugeborenes zu<br />
finden und zu adoptieren oder zu kaufen oder<br />
was auch immer, und dieses Kind unter genau<br />
den gleichen Bedingungen aufzuziehen, unter<br />
denen auch Princip aufgewachsen war. Er wollte<br />
das Kind von der Wirklichkeit abschirmen<br />
und seine Ansichten auf genau jener Grundlage<br />
formen, auf der damals der Sohn eines Postangestellten<br />
zum Mörder des Thronfolgers Franz<br />
Ferdinand und seiner Gattin Sophie geworden<br />
war. Dazu benötigte Doktor Z. Zeit und Raum<br />
– Geld hatte er genug, und sollte er mehr brauchen,<br />
könnte er jederzeit eine Immobilie verkaufen,<br />
die er von seinem reichen Onkel geschenkt<br />
bekommen hatte.<br />
Mirza Zulfikarpašić änderte wieder seinen<br />
Nachnamen: Genau genommen holte er einfach<br />
den väterlichen Nachnamen zurück und schrieb<br />
sich als Kreševljaković für das Geschichtsstudium<br />
ein, das seine verstorbene Frau abgeschlossen<br />
hatte. Er wusste alles über Eva, kannte jeden<br />
wichtigen Augenblick ihres Lebens, von<br />
den ersten Erinnerungen bis zur verfluchten<br />
Nikotinsucht. Nach zwölf Jahren des Studiums,<br />
des Lernens und Forschens in Bibliotheken und<br />
Archiven, als Mirza mühevoll alle wichtigen Informationen<br />
über das „Junge Bosnien“ und seine<br />
Mitglieder zusammengetragen hatte, stand<br />
sein einschlägiges Wissen dem Evas um nichts<br />
nach. Der angesehene Doktor Z. mit seiner brillanten<br />
Karriere als Genetiker, der von den besten<br />
Kliniken und Instituten eingeladen wurde,<br />
der in den besten Fachzeitschriften publizierte<br />
und dessen Zukunftsaussichten in der Kollegenschaft<br />
Neid hervorriefen, hörte für immer<br />
auf zu existieren.<br />
Der Schweizer Staatsbürger Mirza Kreševljaković<br />
passierte problemlos die Passkontrolle<br />
am Flughafen von Sarajevo und nahm ein Taxi<br />
zum Hotel Europa. Das Grab des Vaters und die<br />
Mutter im Altersheim wollte er erst aufsuchen,<br />
nachdem er das, weshalb er gekommen war, erledigt<br />
hatte: ein Baugrundstück erwerben, weit<br />
weg von der Zivilisation und groß genug, um darauf<br />
eine Welt für seinen Gavrilo zu erschaffen. In<br />
seinem Zimmer im fünften Stock blätterte der<br />
einstige Doktor Z. im Telefonbuch und fand darin<br />
drei Familien mit dem Nachnamen Princip. Er<br />
rief die erste Telefonnummer an: Eine metallische<br />
Frauenstimme sagte ihm, dass die gewählte<br />
Telefonnummer nicht existierte. Die andere Telefonnummer<br />
funktionierte. Mirza ließ es lange<br />
läuten. Schließlich meldete sich ein alter Mann<br />
mit einer Piepsstimme. Mirza legte einfach auf.<br />
Die Telefonnummer 033455939 gehörte dem<br />
fünfunddreißigjährigen Braco Princip, von dem<br />
Mirza noch am selben Abend erfahren sollte,<br />
dass es sich bei ihm um einen Bergwerkstechniker<br />
handelte, der derzeit als Chauffeur für das<br />
Türkische Kulturzentrum „Yunus Emre“ tätig<br />
war. Die beiden verabredeten sich genau dort,<br />
wo Gavrilo Princip auf den Thronfolger geschossen<br />
hatte. Braco hatte sich zu dem Treffen bereit<br />
erklärt, weil er eine Aufwandsentschädigung in<br />
Höhe von hundert Euro erhalten sollte.<br />
„Ich bin Mirza“, sagte der ehemalige Doktor<br />
Z. und streckte dem hochgewachsenen,<br />
kahlköpfigen Mann im weißen T-Shirt mit dem<br />
Zeichen der Hypo Alpe Adria Bank und einem<br />
blauen Nilpferd seine Hand hin.<br />
„Braco“, antwortete Princip. Sein Lächeln<br />
war breit genug, um zu offenbaren, dass ihm der<br />
vierte Zahn links oben fehlte.<br />
„Ein ungewöhnlicher Name“, sagte Mirza.<br />
„Kein Name, es ist ein Spitzname“, erklärte<br />
Braco.<br />
„Wie lautet denn dein Name“, fragte Mirza.<br />
Auf die Antwort musste er etwa fünfzehn<br />
Sekunden warten, und dann sprach Braco genau<br />
in dem Augenblick, als eine Straßenbahn<br />
mit einer Werbung des ungarischen Mineralölkonzerns<br />
MOL an ihnen vorbeifuhr. Mirza<br />
musste seinen Gesprächspartner bitten, die<br />
Antwort zu wiederholen.<br />
„Gavrilo“, sagte Braco leise.<br />
„Gavrilo Princip“, fragte Mirza erstaunt.<br />
„Ja“, murmelte Braco.<br />
„Aber das ist doch …“, Mirza konnte seine<br />
Begeisterung kaum verhehlen.<br />
„Das ist furchtbar, Bruder“, entgegnete<br />
Gavrilo Braco Princip.<br />
Hätte Mirza Kreševljaković an diesem<br />
Abend im Restaurant „Dom“ nicht eine Rechnung<br />
von hundertfünfzig bosnischen Mark<br />
oder fünfundsiebzig Euro bezahlt, hätte er einige<br />
hunderttausend Euro verloren – und zwar<br />
im besten Fall. Braco erzählte ihm, dass die jugoslawischen<br />
Polizisten ihm regelmäßig Ohrfeigen<br />
verpasst hätten, wenn er seinen Namen<br />
gesagt habe, ohne seinen Ausweis zu zeigen,<br />
weil sie überzeugt gewesen seien, dass er sie<br />
nur provozieren wolle. Er erzählte aber auch,<br />
nur seinem Nachnamen habe er wenigstens das<br />
bisschen Schulbildung zu verdanken; er habe es<br />
nämlich gehasst, zu lernen. Dann erzählte er,<br />
sie hätten im letzten Krieg wegen seiner Mutter<br />
vor den Serben fliehen müssen, die Moslems<br />
hätten ihn aber wegen seines Namens verach-<br />
tetet. Jetzt kam Mirza nicht mehr mit, also erklärte<br />
ihm Braco, dass seine Mutter Muslimin<br />
sei und dass sie ihretwegen nicht im Stadtteil<br />
Grbavica hätten bleiben können, der von der<br />
serbischen Armee kontrolliert worden sei.<br />
Nachdem es ihnen dank ihres Schmucks und<br />
des guten Ansehens seines Vaters irgendwie<br />
gelungen sei, die Miljacka zu überqueren, sei er<br />
von der bosnisch-herzegowinischen Militärpolizei<br />
verhaftet und zusammengeschlagen worden,<br />
nur weil er so hieß wie der, wie sie sagten,<br />
„Terrorist, der den österreichischen Herrn und<br />
seine feine, schwangere Frau umgebracht hat“.<br />
Er fügte hinzu, dass man ihn sogar an die Front<br />
geschickt hätte, wenn er nicht an Tuberkulose<br />
erkrankt wäre.<br />
„Aber Princip war doch ein Idealist, er<br />
kämpfte gegen die Besatzer“, sagte Mirza.<br />
„Ach geh, er war ein Idiot. Ein richtiger Idiot.<br />
Gestorben mit knapp über zwanzig und nur<br />
vierzig Kilo, für nichts, so wie jeder andere Idiot,<br />
der denkt, er könnte etwas verändern“, antwortete<br />
Braco darauf.<br />
„Er kämpfte für die Freiheit“, wandte Mirza<br />
ein, bereit, sein Wissen zu demonstrieren.<br />
„Na, das ist ihm ja bestens gelungen, alle<br />
Achtung“, sagte Braco, bestellte sich ein Bier<br />
und gab weiter zum Besten, was er von seinem<br />
Namensvetter, der in einem tschechischen Gefängnis<br />
gestorben war, hielt.<br />
Mirza und Braco gingen spät auseinander,<br />
etwa um halb drei Uhr nachts. Braco wollte<br />
die versprochenen hundert Euro nicht annehmen.<br />
Auf einem A4-Blatt mit dem Namen<br />
des Hotels, darüber einer Krone und darunter<br />
der Zahl 130, schrieb Mirza einen Brief an Eva.<br />
Nachdem er mit „für immer Dein Mirza“ unterzeichnet<br />
hatte, machte er das Fenster auf,<br />
faltete einen Papierflieger und ließ ihn aus<br />
dem Hotel Europa segeln, hin zum Minarett<br />
der Begova-Moschee.<br />
„Mein Schatz, ich habe Gavrilo Princip im<br />
einundzwanzigsten Jahrhundert getroffen.<br />
Er ist Angestellter eines türkischen Kulturzentrums,<br />
Kunde einer österreichischen Bank<br />
und Konsument einer ungarischen Tankstelle.<br />
In Belgrad war er nur einmal, in Titos Mausoleum<br />
‚Haus der Blumen‘, im Alter von sieben<br />
Jahren. Ich schreibe Dir aus Sarajevo, aus dem<br />
Zimmer eines Hotels, in dem auch ein Wiener<br />
Kaffeehaus untergebracht ist und das, wie Du<br />
bestimmt weißt, Ende des neunzehnten Jahrhunderts<br />
von Gligorije Jeftanović erbaut wurde,<br />
einem serbischen Politiker aus Bosnien.<br />
Meine Liebste, Du hast mir immer gesagt, dass<br />
Du von Genetik keine Ahnung hast. Ich dagegen<br />
bin nicht sicher, ob irgendjemand in der Lage<br />
ist, die Geschichte dieses Landes zu verstehen.<br />
Hier ist eigentlich auch die Gegenwart nichts<br />
anderes als Geschichte. Mein Schatz, ich habe<br />
sehr lange …“ Das war zu lesen auf dem, was von<br />
Mirzas Brief an Eva übriggeblieben war. Der<br />
Rest des Textes war unleserlich: Der Papierflieger<br />
war nämlich in einer Pfütze gelandet.<br />
Nur ein Teil war unerklärlicherweise trocken<br />
geblieben.<br />
Mirza Kreševljaković ging nicht zum Grab<br />
seines Vaters, und auch seine Mutter im Altersheim<br />
besuchte er nicht. Er kehrte für<br />
kurze Zeit in die Schweiz zurück und tat etwas,<br />
was seinen wenigen und nicht allzu engen<br />
Freunden – eher würde man von guten<br />
Bekannten sprechen – endgültig den Beweis<br />
dafür lieferte, dass er nun für immer den Verstand<br />
verloren hatte. Schon wieder ließ er seinen<br />
Nachnamen ändern, aber diesmal änderte<br />
er noch dazu den Vornamen: Er nannte sich<br />
Franz Ferdinand. Nur Miha Zenić stellte ihm<br />
die Frage: „Warum denn, um Himmels willen“<br />
Fadil Zulfikarpašić war schon tot, und der Rest<br />
von Mirzas Schweizer Familie kämpfte vor Gericht<br />
um das Erbe. „Was wir aus der Geschichte<br />
lernen können, ist, dass niemand aus der Geschichte<br />
lernt, sagte Otto von Bismarck“, antwortete<br />
Mirza Evas Vater und fragte ihn, ob er<br />
möglicherweise jemanden kenne, dem er das<br />
Haus verkaufen könnte.<br />
Mirza Kreševljaković, Mirza Zulfikarpašić,<br />
Mirza Kreševljaković, also Franz Ferdinand, ist<br />
heute der Besitzer des Restaurants „Young Bosnia“<br />
in New York. Noch immer steht er jeden<br />
Morgen um sechs Uhr auf, läuft jeden Tag fünf<br />
Kilometer, isst zum Frühstück ein weichgekochtes<br />
Ei und trinkt dazu einen frischgepressten<br />
Saft, duscht morgens und abends, rasiert<br />
sich einmal täglich, schneidet alle fünf Tage<br />
seine Nägel und geht alle fünfzehn Tage zum<br />
Friseur. Das Haus verlässt er immer tadellos gekleidet.<br />
Er plant, am 28. Juni 2014 nach Sarajevo<br />
zu fahren. Gavrilo Princip hat ihn an diesem<br />
Tag zu seiner Hochzeit eingeladen.<br />
Aus dem Bosnischen von<br />
Mascha Dabić<br />
Emir Imamović Pirke<br />
Geboren 1973 in Tuzla, Bosnien-Herzegowina.<br />
Journalist (Gracija, BBC, ORF, RAI, Radio B92,<br />
Dani) und Drehbuchautor der quotenstärksten<br />
kroatischen TV-Soap. Als Kriegsreporter im<br />
Kosovo, in Mazedonien und Afghanistan. Autor<br />
mehrerer Romane voller schwarzen Humors.<br />
Dragana Mladenović<br />
DAS PRINZIP DER<br />
GEGENSÄTZLICHKEIT<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
ein verirrtes flugblatt<br />
ein tödliches geschoss<br />
furchtlos an der ecke<br />
stehe ich alleine<br />
ich zittere<br />
ich bin princip<br />
ich stehe an der ecke des automobils<br />
ich bewege mich<br />
bin neunzehn jahre alt<br />
jung brenne ich alt wie<br />
die zündschnur die miljacka das zyanid<br />
ich schieße nicht ich explodiere<br />
ich schieße<br />
stille<br />
hey ihr slawen<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
mit einem bluterguss unter dem auge<br />
mit einem eisigen auge ohne<br />
bluterguss ohne auge<br />
ich verstehe es zu ertragen<br />
ich habe keinen laut von mir gegeben<br />
geschrien habe ich<br />
der schmerz tut keinem gut<br />
der schmerz tut gut<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
brutal wie eine amputierte hand<br />
weich wie ein schwarzer handschuh<br />
lang wie eine pelerine<br />
kurz<br />
ein hustenanfall<br />
fieber<br />
ich zittere am ganzen körper<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
eine idee, die den körper ignoriert<br />
ein körper, der an tuberkulose zerbricht<br />
es gab eine jelena<br />
ich habe verkehrt<br />
ich habe nicht mit frauen verkehrt<br />
ich habe eine gesunde natur<br />
die sinnlichkeit ist sophies sünde<br />
ist nicht sophies sünde<br />
hey ihr slawen<br />
mein körper ist ein kurzer gewehrlauf<br />
ein trog eine wanne ein grab<br />
ein fluss in den ich nie<br />
gestiegen bin<br />
zweimal<br />
nass<br />
zweimal<br />
trocken<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
ich könnte<br />
die ganze stadt in eine<br />
streichholzschachtel stecken und anzünden<br />
mein kuss ist so<br />
fest und feucht<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
ich bin tot geboren nein<br />
ich werde niemals sterben<br />
bin unsterblich wie miloš<br />
miloš hat es nie gegeben<br />
es hat ihn gegeben<br />
hey ihr slawen<br />
ich bin ein zahnrad in einem mechanismus<br />
ein mechanismus der sich<br />
mit blut entzündet<br />
keuchend wie eine million<br />
leichen ein golgatha<br />
wie die freiheit das kino<br />
wie das blut<br />
millionen von leichen die repression<br />
das lager die freiheit hej ihr slawen<br />
hört wie es keucht<br />
tausende von betrieben<br />
hunderte von fabriken schulen häusern<br />
blumen<br />
ich bin das prinzip<br />
der gegensätzlichkeit<br />
ein zahnrad in einem mechanismus<br />
ein mechanismus der sich<br />
mit blut entzündet und keucht<br />
wie eine traktorenkolonne eine<br />
kühlwagenkolonne eine panzerkolonne<br />
tausende leichen<br />
ich bin das prinzip der gegensätzlichkeit<br />
der keim einer idee<br />
das geschoss einer idee<br />
ein geschoss<br />
Anmerkungen:<br />
Aus dem Serbischen von<br />
Jelena Dabić<br />
„Princip“ ist im Serbischen /Kroatischen/ Bosnischen<br />
sowohl „das Prinzip“ als auch ein (seltener)<br />
Familienname.<br />
Miljacka: der Fluss, an dem Sarajevo liegt.<br />
Zyanid: Gavrilo Princip und der zweite Attentäter<br />
Čabrinović hatten sich vor dem geplanten<br />
Attentat je eine Zyanidkapsel besorgt und diese<br />
nach dem Schuss auch genommen; das Gift hat<br />
allerdings nicht gewirkt.<br />
Hej Sloveni („hey ihr slawen“): der Beginn der jugoslawischen<br />
Nationalhymne von 1945 bis 2003.<br />
Miloš: Miloš Obilić, serbischer Adeliger und<br />
Nationalheld, fiel 1389 in der Schlacht auf dem<br />
Amselfeld im Kampf gegen die Türken.<br />
häuser / blumen: Anspielung auf das „Haus der<br />
Blumen“, das Mausoleum von Josip Broz Tito<br />
im Belgrader Stadtteil Dedinje.<br />
Dragana Mladenović<br />
Geboren 1977 in Frankenberg, lebt in Pančevo,<br />
Serbien. Seit 2003 sind sieben Gedichtbände<br />
in serbischer Sprache erschienen; in der Übersetzung<br />
von Jelena Dabić ist ihr Gedichtband<br />
Verwandtschaft im Verlag Edition Korrespondenzen<br />
2011 veröffentlicht worden.<br />
Beton International März 2014 7