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Medientheorie (in) der Antike - Lehrstuhl für Medientheorien ...

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Platons Schriftbegriff als erste Medienkritik<br />

Medien hatte ihre Theorie, lange bevor sie technologische<br />

Medien im strikten elektronischen S<strong>in</strong>ne wurden. Die Geburt <strong>der</strong><br />

<strong>Medientheorie</strong> ist e<strong>in</strong>e doppelte, gespaltene: aus <strong>der</strong><br />

Medienkritik und <strong>der</strong> Medienphysik <strong>der</strong> <strong>Antike</strong>, namentlich<br />

geworden als Platons Schriftkritik e<strong>in</strong>erseits (Medienkritik im<br />

diskursiven S<strong>in</strong>ne, analog zur Rolle des Briefes im Drama von<br />

Euripides), und e<strong>in</strong>er ganz an<strong>der</strong>en Medienkritik von Seiten<br />

Aristoteles´ (geboren aus <strong>der</strong> Zeitkritik, dem Erhören des<br />

akustischen Dazwischen als Entdeckung des medialen to metaxy).<br />

Die erste <strong>Medientheorie</strong> des Abendlandes, artikuliert im Athen<br />

des 5. Jahrhun<strong>der</strong>ts vor Christus, ist zugleich auch die erste<br />

Medienkritik und damit ­ nach e<strong>in</strong>em Wort Marshall McLuhans ­<br />

verantwortlich <strong>für</strong> die philosophische Vernachlässigung <strong>der</strong><br />

Rolle von Technik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur. Erst Lewis Mumford hat mit<br />

se<strong>in</strong>er Schrift Technics and Civilization <strong>in</strong> den 30er Jahren des<br />

vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts auf die technologischen Mechanismen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kultur verwiesen, ebenso wie im Anschluß daran Siegfried<br />

Giedion mit se<strong>in</strong>em Werk Mechanization takes Command. Danach<br />

folgen, Schlag auf Schlag, Harold Innis´ Empire and<br />

Communications (1950) sowie die <strong>für</strong> technologische<br />

Medienanalyse als Wissenschaft bahnbrechenden Klassiker se<strong>in</strong>es<br />

Schülers Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy sowie<br />

Un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g Media (1962 und 1964). Daß das Abendland nach<br />

über 2000 Jahren zu diesem neuen Verständnis des Zusammenhangs<br />

von Medien und Kultur kommt (den an <strong>der</strong> Humboldt­Universität<br />

seit Jahren e<strong>in</strong> <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äres Zentrum <strong>für</strong> Kulturtechnik<br />

po<strong>in</strong>tiert), ist nicht schlicht e<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>kehr des Verdrängten,<br />

son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e List <strong>der</strong> medientechnischen Vernunft höchstselbst:<br />

Mit dem Wirksamwerden elektronischer Übertragungs­, Speicher­<br />

und am Ende auch Rechenmedien, also mit Rundfunk, Fernsehen und<br />

Computer, wird das Mitspracherecht von Technologien am Begriff<br />

<strong>der</strong> Kultur unübersehbar. Mit e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen, notwendigen<br />

Zeitverzug reagiert die akademische Welt, <strong>der</strong>en Aufgabe die<br />

Reflexion solcher grundlegegenden Vorgänge im Wissenshaushalt<br />

e<strong>in</strong>er Kultur (also ihre episteme) ist, durch E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es<br />

neuen Fachs im Kanon etablierter Dizipl<strong>in</strong>en: Medienwissenschaft<br />

(respektive media studies, mediologie und an<strong>der</strong>es genannt), wie<br />

sie nicht länger nur am Rande etablierter Fächer h<strong>in</strong>reichend<br />

mitbehandelt werden kann, weil ihre Objekte den klassischen<br />

Begriffsrahmen sprengen. Dieses Begriffsrepertoire entstammt zu


großen Teilen dem altgriechischen Haushalt ­ Geschenk und Fluch<br />

<strong>der</strong> abendländischen Denkkultur, weil dies e<strong>in</strong>erseits jene<br />

analytische Methodik <strong>in</strong> die Welt setzte, die bis <strong>in</strong> die<br />

Universität unser forschendes Denken bestimmt, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber den Denkhorizont limitiert und dysfunktional zu neu<br />

hervorgebrachten medienepistemischen D<strong>in</strong>gen steht ­ von den<br />

Frequenzen bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er statistischen Thermodynamik und<br />

e<strong>in</strong>em transklassischen Begriff von Kommunikation und<br />

Information.<br />

Mit diesem Griechenwort von Entropie und Thermodynamik zurück<br />

<strong>in</strong> die Medienarchaik, zur Urszene <strong>der</strong> Medienkritik. In Platons<br />

Dialog Phaidros, <strong>der</strong> schon als Simulation e<strong>in</strong>es Gesprächs<br />

se<strong>in</strong>en buchstäblichen Textcharakter dissimuliert, heißt es über<br />

die Schrift:<br />

Diese Erf<strong>in</strong>dung wird <strong>der</strong> Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit e<strong>in</strong>flößen aus<br />

Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von<br />

außen vermittels frem<strong>der</strong> Zeichen, nicht aber <strong>in</strong>nerlich sich selbst und unmittelbar<br />

er<strong>in</strong>nern werden. 1<br />

Dies "sagt" Sokrates, <strong>der</strong> selbst nie e<strong>in</strong> schriftliches Wort,<br />

da<strong>für</strong> aber e<strong>in</strong> Aufschreibesystem namens Platon h<strong>in</strong>terließ.<br />

Schrift, so Sokrates weiter, sei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht ganz<br />

entschieden <strong>der</strong> Malerei ähnlich; auch <strong>der</strong>en Schöpfungen stehen<br />

wie lebende Wesen da. Wenn man Bil<strong>der</strong> und Buchstaben aber nach<br />

etwas fragt, so schweigen sie. Sokrates beschreibt also das<br />

read only memory <strong>der</strong> Buchstaben, die <strong>für</strong> den Leser, anstatt<br />

dialogisch zu antworten, immer nur dastehen ­ sowohl denjenigen<br />

gegenüber, <strong>für</strong> die sie berechnet und an die sie adressiert<br />

s<strong>in</strong>d, als auch <strong>für</strong> die, die nichts verstehen. 2<br />

Jesper Svenbro, se<strong>in</strong>es Zeichens nicht nur Altphilologe,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er schwedischen Heimatsprache selbst Dichter<br />

konkreter Poesie, hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Studie Phrasikleia dieses<br />

akustische We(i)sen griechischer Inschriften, die den Leser<br />

unmittelbar ansprechen, analysiert. 3 Svenbro liest auch das,<br />

1 Plato, Phaidros, <strong>in</strong>: Werke <strong>in</strong> acht Bänden, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 5 (bearb. v.<br />

Dietrich Kurz), dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher u. Dietrich Kurz, Darmstadt (Wiss.<br />

Buchges.) 1983, 175 (=275a)<br />

2 Platon, Phaidros, 275 d, <strong>in</strong>: Sämtliche Werke, übers. v. F. Schleiermacher, Bd. 4,<br />

Hamburg 1958, 56. Dazu Michael Wetzel, Die Enden des Buches o<strong>der</strong> die Wie<strong>der</strong>kehr<br />

<strong>der</strong> Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien, We<strong>in</strong>heim (VCH) 1991, 11<br />

ff.<br />

3 Jesper Svenbro, Phrasiklea. Anthropologie de la lecture en Grèce ancienne, Paris (La<br />

Découverte) 1988


was immer schon vor aller Augen stand, von e<strong>in</strong>er keuschen<br />

Hermeneutik aber geflissentlich auf den Schreibakt reduziert<br />

wurde: daß vokalalphabetische Schrift <strong>für</strong> den transitiven<br />

Begriff von Medienreflexion bei Altgriechen nicht nur e<strong>in</strong>e<br />

Physik, son<strong>der</strong>n auch den Geschlechtsakt me<strong>in</strong>t.<br />

Gleichgeschlechtlich heißt <strong>für</strong> Sokrates auch: Sex unter<br />

Gleichen, e<strong>in</strong> Gleichgewicht, das durch e<strong>in</strong>seitiges Verlieben<br />

gestört wird. Der medienarchäologische Blick auf Schrift ist<br />

hier e<strong>in</strong> Plädoyer <strong>für</strong> objektiven Sex o<strong>der</strong> Sexobjekte, <strong>für</strong> Lust<br />

unbelastet von Semantik.<br />

Doch zurück zu Schrift als Transportmedium <strong>in</strong>formativer<br />

Signale. Ex negativo erschließt auch Platon die Vorteile des<br />

Mediums Schrift: Kommunikation unter nicht­Anwesenden wird<br />

möglich. Die romantische Schriftkulturkritik führte zur<br />

Fiktionalisierung <strong>der</strong> Figur des ursprünglichen Dichters (Homer)<br />

als Sänger. Die medienkritische Argumentationsfigur lautete<br />

lange Zeit, daß die mündliche Poesie <strong>in</strong> Büchern gesammelt und<br />

durch diese Aufzeichnung gleichzeitig auf symbolischer, also<br />

Buchstabenebene gerettet, jedoch als mündliche ausgelöscht<br />

wurde ­ e<strong>in</strong> ungriechischer Gedanke, <strong>in</strong>sofern <strong>der</strong><br />

Schriftgebrauch <strong>in</strong> <strong>der</strong> griechischen Archaik und Klassik gerade<br />

auf die Artikulation, ihr Erschallen (kléos) abzielte und damit<br />

als Schriftzug <strong>der</strong> Saite e<strong>in</strong>es Instruments nahekommt: "Denn die<br />

griechische Schrift ist vor allem e<strong>in</strong> Werkzeug zur<br />

Klangerzeugung" 4 , mith<strong>in</strong> Phonographie.<br />

Daran schließt nun die medienarchäologische Forschungsthese,<br />

daß das Vokalalphabet mit se<strong>in</strong>er spezifischen Vokalnotation<br />

geradezu zum Zweck erfunden wurde, die Musikalität <strong>der</strong> Prosodie<br />

Homers aufschreibbar zu machen. Das Paradox gilt <strong>für</strong> Platons<br />

Dialoge selbst, <strong>der</strong>en Rhetorik sich als mündlicher<br />

Kommunikationsmodus gibt, dabei aber dissimuliert, <strong>in</strong> dieser<br />

Form nur schriftlich möglich zu se<strong>in</strong>, wie auch die klassische<br />

griechische Tragödie zwar nur e<strong>in</strong>malig aufgeführt wurde, aber<br />

schon schriftlich entworfen war (von daher die<br />

Schauspieler­"Rollen") und <strong>in</strong> diesem Speichermedium auch die<br />

wenigen Aufführungstage überlebte ­ "wenn auch e<strong>in</strong><br />

literarisches Leben nur" . Dem griechischen<br />

Polis­Ideal <strong>der</strong> Öffentlichkeit steht die "Kommunikation<br />

zwischen dem e<strong>in</strong>samen Autor und dem e<strong>in</strong>samen, aber im lesenden<br />

4 Jesper Svenbro,, Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im alten Griechenland,<br />

München 2005, 10


Murmeln doch nicht ganz e<strong>in</strong>samen Leser beiseite. Das<br />

dramatische zum­Schweigen­Br<strong>in</strong>gen von Schrift <strong>in</strong> Bibliothek und<br />

Archiv ist e<strong>in</strong>e Entwicklung, wie sie e<strong>in</strong>erseits unsere<br />

europäische Frühzeit unter <strong>der</strong> kulturtechnischen Durchsetzung<br />

des Vokalalphabets vollzogen hat (Jesper Svenbro, Phrasikleia),<br />

und dann noch e<strong>in</strong>mal unter eskalierten medientechnischen<br />

Bed<strong>in</strong>gungen an <strong>der</strong> Bruchstelle von Spätmittelalter und<br />

Frühneuzeit, im Übergang von lautem Manuskriptlesen zum<br />

Buchdruck, <strong>der</strong> zur leisen Lektüre verführte, da die Buchstaben<br />

selbst die Wortabstände den Augen zeigten, dazu also nicht mehr<br />

<strong>der</strong> selbstaffizierenden Mithilfe von Ohren bedurften.<br />

Angeblich erleben wir im Multimedia­Zeitalter: "the computer<br />

bridges the gap between manuscript and pr<strong>in</strong>t". 5 Wer etwa onl<strong>in</strong>e<br />

im Encarta World English Dictionary das Wort „to know“ anwählt,<br />

erhält dort neben <strong>der</strong> lexikalisch­visuellen Information auch<br />

das Angebot „Hear this word spoken. Click the speaker icon of<br />

the best audio format for your computer“. Medienarchäologie<br />

aber <strong>in</strong>sistiert auf <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht, daß die "sekundäre Oralität"<br />

(Walter Ong) <strong>in</strong> <strong>der</strong> digitalen Welt des Internet nur sche<strong>in</strong>bar<br />

e<strong>in</strong>e Rückkehr zur multisensorischen Kommunikation darstellt.<br />

Die umso unerbittlichere Differenz liegt dar<strong>in</strong>, daß das Medium<br />

<strong>der</strong> Zahl, <strong>der</strong> Mathematik unerbittlich (d. h. nicht nur<br />

symbolisch o<strong>der</strong> gar metaphysisch, son<strong>der</strong>n technisch operativ)<br />

dazwischengetreten ist.<br />

Führen wir diese medienwissenschaftlichen Thesen eng an e<strong>in</strong>er<br />

konkreten Fallstudie, denn <strong>der</strong> Test aller <strong>Medientheorie</strong>n ist<br />

ihre methodische Realisation. Und so kommt es auch zum Autritt<br />

von real existierenden Medien aus dem medienarchäologischen<br />

Fundus als Hauptdarsteller <strong>in</strong> unserem Medientheater, konkret:<br />

e<strong>in</strong> Protagonist <strong>der</strong> Medienkultur des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, das<br />

elektrische Magnetophonie, <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Fossils, des<br />

Drahtrecor<strong>der</strong>s Wire Recor<strong>der</strong> <strong>der</strong> Firma Webster von 1948. Sobald<br />

die Elektronenröhren im Inneren aufglimmten und <strong>der</strong><br />

magnetisierte Draht an <strong>der</strong> gewickelten Spule des Tonkopfs<br />

vorbeischnurrte, erkl<strong>in</strong>gen Stimmen von Menschen und e<strong>in</strong>es<br />

Streich<strong>in</strong>struments aus Serbien. Und das vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

e<strong>in</strong>er spezifischen <strong>Medientheorie</strong>, nämlich <strong>der</strong> ersten<br />

Medienkritik <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Antike</strong>: Platons Schriftkritik im Dialog<br />

Phaidros, <strong>der</strong> als Text e<strong>in</strong> Symposion, also e<strong>in</strong> mündliches<br />

5 Leah S. Marcus, The silence of the archive and the noise of cyberspace, <strong>in</strong>: Sawday /<br />

Rhodes (eds.) 2000:


Gespräch beim We<strong>in</strong> simuliert, tatsächlich aber selbst nur als<br />

Schrift gespeichert und damit überliefert ist ­ die<br />

kulturtechnische Bed<strong>in</strong>gung von Tradition <strong>in</strong> literalen<br />

Gesellschaften.<br />

Schrift tötet Gesang? Hören und Analysieren mit Fourier<br />

Nun schien jedoch, nach <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Dom<strong>in</strong>anz von Schrift<br />

und vor allem Buchdruck (def<strong>in</strong>iert von Marshall McLuhan <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Werk Die Gutenberg­Galaxis von 1962), mit Schallträgern<br />

wie dem Phonographen von Edison und dem Tonband, e<strong>in</strong>e<br />

sekundäre, <strong>in</strong> technischen Medien selbst aufgehobene Form von<br />

Mündlichkeit <strong>in</strong> die abendländische Kultur e<strong>in</strong>gekehrt zu se<strong>in</strong> ­<br />

e<strong>in</strong>e Art Grammoklasmus (<strong>in</strong> Anspielung auf Vilém Flussers These<br />

zum "Ikonoklasmus" <strong>der</strong> Schrift). Der damit verbundene<br />

medienkulturelle Schock wird an zwei Szenarien auf Le<strong>in</strong>wand<br />

sichtbar.<br />

Vor diesem technisch realen Medienwerden <strong>der</strong> Stimme (was<br />

symbolisch schon mit dem Vokalalphabet, also <strong>der</strong> Phonetisierung<br />

<strong>der</strong> Schrift ansetzt, wie <strong>der</strong> Informatiker Wolfgang Coy <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Vorwort zur Ausgabe 1995 von McLuhan, Gutenberg­Galaxis,<br />

betont): vor <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung des Phonographen (1877) malt e<strong>in</strong><br />

amerikanischer Künstler, Elihu Ved<strong>der</strong>, 1863 folgende Szene: Der<br />

Befrager <strong>der</strong> Sph<strong>in</strong>x (Öl auf Le<strong>in</strong>wand). Es ist kennzeichend <strong>für</strong><br />

die abendländische Gedächtniskultur, daß sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

rhetorischen Operation prosopopoietisch das Schweigen des<br />

Archivs <strong>in</strong> die Halluz<strong>in</strong>ation <strong>der</strong> Stimme von Toten zu verwandeln<br />

sucht ­ e<strong>in</strong>e Strategie, <strong>der</strong> Angst vor dem Tod zu entweichen.<br />

Rhetorik ist jene Redekunst, die als Kulturtechnik <strong>für</strong> das<br />

sensibilisiert, was dann von technologischen Medien apparativ<br />

e<strong>in</strong>geholt wird (und siehe da, Marshall McLuhan hat über die<br />

Rhetorik <strong>der</strong> englischen Renaissance promoviert).<br />

Elihu Ved<strong>der</strong>s Befrager <strong>der</strong> Sph<strong>in</strong>x 6 läßt auf dem Schauplatz<br />

e<strong>in</strong>er archäologischen Urszene (<strong>der</strong> aus dem Wüstensand<br />

herausragende Ste<strong>in</strong>kopf) auch die Skelettreste früherer,<br />

gescheiterter Befrager sehen; <strong>der</strong> Versuch, die Vergangenheit<br />

zum Sprechen zu br<strong>in</strong>gen, scheitert notwendig an <strong>der</strong><br />

Irreversibilität zeitbasierter Artikulationen und Ereignisse<br />

(sofern sie nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em negentropischen Gewaltakt<br />

registriert werden) und am Charakter des read only memory, wie<br />

6 Siehe Katalog Ägyptomanie. Ägypten <strong>in</strong> <strong>der</strong> europäischen Kunst 1730-1930, Electa<br />

, E<strong>in</strong>trag Nr. 180, 262f, Sigle „M. P.“


es jede Inschrift, jedes Monument darstellt. Das Wissen um<br />

dieses Scheitern ist ­ im Unterschied zum Symbol ­ das Wissen<br />

<strong>der</strong> Allegorie. Stephen Greenblatts artikulierte gleich zu<br />

Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Verhandlungen mit Shakespeare den „Wunsch, mit<br />

den Toten zu sprechen“ als Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>er Forschungen. Doch (so<br />

Jacques Derrida am Ende von Die Stimme und das Phänomen) dieser<br />

virtuelle Dialog ist nichts als das Echo unserer eigenen<br />

Stimme. Friedrich Nietzsche:<br />

Niemand redet mit mir als ich selbst, und me<strong>in</strong>e Stimme kommt wie die e<strong>in</strong>es<br />

Sterbenden zu mir! Mir dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Er<strong>in</strong>nerungshauch<br />

alles Menschenglücks, laß mich nur e<strong>in</strong>e Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich<br />

mir die E<strong>in</strong>samkeit h<strong>in</strong>weg und lüge mich <strong>in</strong> die Vielheit <strong>der</strong> Liebe h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, denn me<strong>in</strong><br />

Herz sträubt sich und zw<strong>in</strong>gt mich zu reden, als ob ich zwei wäre. 7<br />

Toten Texten e<strong>in</strong>e Stimme abr<strong>in</strong>gen zu wollen: Auch das heißt,<br />

an<strong>der</strong>s gelesen, arché­au­logie. In <strong>der</strong> Epoche<br />

elektromagnetischer Aufzeichnungsmedien aber sieht dasgleiche<br />

Motiv so aus:<br />

<br />

Der postmo<strong>der</strong>ne Künstler Mark Tansey hat die von Ved<strong>der</strong><br />

vorgegebene Situation, <strong>für</strong> die Epoche elektrotechnischer<br />

Gedächtnismedien konsequent weitergemalt. Hier geht es nicht<br />

mehr nur darum, die Stimme <strong>der</strong> Toten zu vernehmen; vielmehr<br />

wird sie magnetophon aufgezeichnet. Record<strong>in</strong>g aber ist die<br />

Reversibilität <strong>der</strong> Stimme <strong>der</strong> Toten, e<strong>in</strong>e Verletzung jenes<br />

unerbittlichen Gesetzes <strong>der</strong> Natur, <strong>der</strong> als Zweiter Hauptsatz<br />

<strong>der</strong> Thermodynamik ­ also entwickelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physik ­ <strong>in</strong>zwischen<br />

auch E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Reflexion von Kultur gefunden hat. Vilém<br />

Flusser, se<strong>in</strong>es Zeichens prom<strong>in</strong>enter Medienphilosoph des<br />

ausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, hat unter Berufung auf den<br />

Zweiten Hauptsatz dessen Ant<strong>in</strong>omie, nämlich die Negentropie,<br />

als die Grundoperation von Kultur def<strong>in</strong>iert: mit hohem<br />

Energieaufwand Ordnungszustände gegen die natürliche Tendenz<br />

aller D<strong>in</strong>ge zur Unordnung aufrechtzuerhalten. Die Bücher <strong>in</strong> den<br />

Regalen je<strong>der</strong> medienwissenschaftlichen Sem<strong>in</strong>arbibliothek, <strong>in</strong><br />

die Flussers Werke E<strong>in</strong>gang fanden, machen das Subjekt (den<br />

Autor) dieser medienkulturellen These selbst zum Objekt und<br />

Testfall <strong>der</strong>selben; jedes versehentlich verstellte, falsch<br />

zurückgestellte Buch und die Gegenkontrollen <strong>der</strong> Bibliothekare<br />

s<strong>in</strong>d Mitspieler <strong>in</strong> diesem Kampf zwischen Entropie und<br />

Negentropie.<br />

Doch schauen wir genauer h<strong>in</strong>, wie es <strong>der</strong> medienarchäologische<br />

Blick (e<strong>in</strong>er Betrachtungs­ und Beschreibungstugend <strong>der</strong><br />

Klassischen Archäologie und <strong>der</strong> Kunstgeschichte folgend)<br />

tra<strong>in</strong>iert: Der mit dem Mikrophon ausgestattete Befrager <strong>der</strong><br />

Sph<strong>in</strong>x trägt im Gemälde Tanseys mit sich auch e<strong>in</strong><br />

Aufzeichnungsgerät ­ e<strong>in</strong> Magnettonband. Frühere Tonbandspulen<br />

7 Motto <strong>in</strong>: Miller 1995 19


trugen kl<strong>in</strong>gende Namen wie "Permaton", und tatsächlich ist die<br />

magnetophone Aufnahme <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, Stimmaufzeichnungen über<br />

Generationen h<strong>in</strong>weg (und allen drop­outs zum Trotz) aufzuheben.<br />

So haben auch die Audio­Aufnahmen von Parry und Lord ­ eher<br />

unbeabsichtigt, denn <strong>in</strong> ihrem unmittelbaren Interesse lag<br />

vielmehr die sofortige Transkription <strong>der</strong> Aufnahmen als Texte ­<br />

über e<strong>in</strong> halbes Jahrhun<strong>der</strong>t lang Stimme aufgehoben, die <strong>in</strong> den<br />

1930er und 1950er Jahren e<strong>in</strong>mal im früheren Südjugoslawien<br />

erklangen. So generieren technische Aufzeichnungsmedien e<strong>in</strong>en<br />

neuen Gedächtnistzustand im Haushalt von Kultur nicht mehr als<br />

radikale Alternative von An­ und Abwesenheit (das wäre die<br />

klassische ontologische Opposition), son<strong>der</strong>n buchstäblich<br />

dazwischen ­ to metaxy (<strong>in</strong> Aristoteles´ De anima / Peri<br />

psyches), e<strong>in</strong>e elektromagnetische Latenz, die es jetzt, nach<br />

Entwicklung computerierbarer Analysemethoden wie <strong>der</strong> Fourier­<br />

Tansformation, ermöglichen, neue, von Altphilologen wie Parry<br />

und Lord überhaupt nicht bedachte Fragen an dieselben Stimmen<br />

zu adressieren. Das Medium Tonband respektive Drahtspule<br />

speichert damit potentielle Information, nämlich solche<br />

Signale, die zunächst gar nicht als Information wahrgenommen<br />

wurden. Hier habe Medien das bessere Kulturegdächtnis, weil sie<br />

e<strong>in</strong>en strikt nachrichtentechnischen, nicht alle<strong>in</strong><br />

hermeneutisch­geisteswissenschaftlichen Begriff von Information<br />

haben ­ Information als Maß(e<strong>in</strong>heit) <strong>für</strong> die Neuheit, also die<br />

Unerwarteteheit e<strong>in</strong>er Nachricht (Shannon 1948).<br />

Wer McLuhan liest (Pflichtlektüre <strong>für</strong> jedes Studium von<br />

Medienwissenschaft), stößt o<strong>der</strong> stolpert schon im ersten Satz<br />

se<strong>in</strong>es Klassikers Die Gutenberg Galaxis von 1962 sogleich<br />

darauf: "Das vorliegende Buch stellt <strong>in</strong> mancherlei H<strong>in</strong>sicht<br />

e<strong>in</strong>e Ergänzung zu Der Sänger erzählt. Wie e<strong>in</strong> Epos entsteht von<br />

Albert B. Lord dar", wor<strong>in</strong> ­ im Anschluß an Milman Parrys<br />

Forschungen ­ die These verfolgt wird, daß orale Dichtung<br />

grundsätzlich an<strong>der</strong>en Mustern folgt als die verschriftlichte,<br />

ja selbst die Verschriftlichung <strong>der</strong> selben mündlichen Poesei,<br />

die eben eerst als Schrift/Druck 2dieselbe" (Autor, Copyright)<br />

wird. 8 Und dann <strong>der</strong> Satz aus Lords Buch, <strong>der</strong> McLuhan entzückt:<br />

"Das gesprochene o<strong>der</strong> gesungen Wort, zusammen mit dem<br />

visuellen Bild des Sprechers o<strong>der</strong> Sängers, ist dagegen auf dem<br />

besten Wege, durch die Elektrotechnik se<strong>in</strong>e alte Bedeutung<br />

wie<strong>der</strong>zugew<strong>in</strong>nen" .<br />

8 Marshall McLuhan, Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Bonn u. a.<br />

(Addison-Wesley) 1995, "Prolog" 1-12 (1)


Tatsächlich steht nun das Drahttongerät <strong>der</strong> "auditiven<br />

Funktion" mündlicher Dichtung näher als<br />

jede, selbst die vokalalphabetische Schrift, die immer das<br />

Sehen (Lesen) privilegiert. Denn das elektromagnetische Feld<br />

schw<strong>in</strong>gt mit den vom Sänger (und <strong>der</strong> Gusle) erzeugten<br />

Frequenzen, an<strong>der</strong>s, als es das Alphabet aufzuzeichnen vermag.<br />

Dieser Befund ist verbunden mit <strong>der</strong> medienarchäologischen<br />

Frage: In welchem Verhältnis steht die Saite zum Stahldrahtband<br />

des Wire Recor<strong>der</strong>? Im Unterschied zur Saite aus Pferdehaar<br />

speichert die Magnetspule, wenn sie als antiquarische jüngst<br />

erst erworben wurde ­ was? e<strong>in</strong> latentes Gedächtnis, o<strong>der</strong><br />

vielmehr nichts (als Leerspule)? Und was geschieht, wenn diese<br />

Saite aus magnetisiertem Draht auf den Klangkörper e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>er<br />

Gusle gespannt und vom Bogen gestrichen wird? Hört e<strong>in</strong><br />

elektrischer Tonabnehmer, vertraut von <strong>der</strong> E­Gitarre,<br />

<strong>in</strong>terpoliert am Steg, hier Musik?<br />

Zur alphabetischen, also symbolischen Fixierung von Kultur,<br />

also das Reich des Symbolischen, tritt die mechanische und<br />

elektrotechnische Aufzeichnung von Realem nicht nur <strong>in</strong><br />

Konkurrenz, son<strong>der</strong>n gar <strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>streit (im S<strong>in</strong>ne Kants und<br />

Lyotards). Thomas Alva Edison, den Villiers de l'Isle­Adam zum<br />

Helden se<strong>in</strong>es Romans Éve future macht, "sitzt s<strong>in</strong>nend unter<br />

lauter Apparaten, um monologisch und von<br />

Literaturwissenschaftler überhört Less<strong>in</strong>gs Laokoon auf den<br />

Stand von 1886 zu br<strong>in</strong>gen" 9 . Hier sagt er, was <strong>der</strong> Phonograph<br />

tatsächlich non­alphabetisch schreibt: "Toujours est­il qu'il a<br />

permis seulement qu'on imprimât son Evangile, et non qu'on le<br />

phonographiât. Cependant, au lieu de dire: "Lisez les Sa<strong>in</strong>tes<br />

Ecritures!", on eût dit: "Ecoutez les vibrations sacreés!" An<br />

die Stelle diskreter Elemente treten Schw<strong>in</strong>gungen.<br />

Der Wire Recor<strong>der</strong> ist elektrographisch, nicht symbolisch, und<br />

so s<strong>in</strong>gt uns <strong>der</strong> Guslar Hamdo zur Gusle vom drahtschnurenden<br />

Webster­Gerät tatsächlich (Aufnahme bei Novi Pazar, September<br />

2006). E<strong>in</strong>e Photographie dieser Szene und auch die<br />

aufgezeichneten Klangsequenzen auf dem Wire Recor<strong>der</strong> verfehlen<br />

jedoch gerade das Ereignis, analog zu Albert Lords Diskussion<br />

über die Auswirkung <strong>der</strong> Verschriftlichung epischer Gesänge:<br />

"Unbeabsichtigt vielleicht entstand jedoch e<strong>in</strong> fester Text.<br />

Proteus war photographiert worden", und "an dieser Aufnahme<br />

9 Friedrich A. Kittler, Aufschreibesstem 1800 / 1900, München (F<strong>in</strong>k) 1985, 235f


wurde h<strong>in</strong>fort jede Verän<strong>der</strong>ung gemessen ­ sie wurde zum<br />

`Orig<strong>in</strong>al´." 10<br />

Der Unterschied zwischen (hand)schriftlicher und<br />

elektromagnetischer Aufzeichnung ist e<strong>in</strong> (zeit)kritischer: Bei<br />

<strong>der</strong> dictation muß <strong>der</strong> Sänger Rücksicht auf das langsame<br />

Schreibtempo nehmen, nimmt die Zeilenhaftigkeit wahr, im<br />

Unterschied zum surrenden Wire Recor<strong>der</strong>, auf den Hamdo<br />

ke<strong>in</strong>erlei Rücksicht nehmen muß, während <strong>der</strong> Guslar s<strong>in</strong>gt und<br />

die Gusle spielt. "Vor dem Aufkommen <strong>der</strong> elektrischen<br />

Aufnahmegeräte war es nur <strong>in</strong> den seltensten Fällen möglich,<br />

Texte nach e<strong>in</strong>em wirklichen Vortrag ­ nicht nach Diktat ­<br />

nie<strong>der</strong>zuschreiben" . Übergangsweise "könnte man<br />

versuchen, Kurzschrift zu benutzen", die ja <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>en<br />

kulturtechnischen Versuch darstellt, <strong>der</strong> gesprochenen o<strong>der</strong><br />

gesungenen Sprache durch Aufzeichnung <strong>in</strong> Echtzeit<br />

gleichzukommen. Doch auch e<strong>in</strong> Text, den man auf diese Weise<br />

erhielte, "registrierte vielleicht nicht die letzten Nuancen<br />

e<strong>in</strong>er bestimmten Form o<strong>der</strong> phonetische Fe<strong>in</strong>heiten, die mit<br />

Hilfe e<strong>in</strong>er genaueren Methode sichtbar würden" ­ diese<br />

werden erst sichtbar mit Fenstern elektronischer Meßverfahren<br />

wie <strong>der</strong> Spektralanalyse, monitor<strong>in</strong>g.<br />

"Anhand <strong>der</strong> diktierten Texte aus Novi Pazar können wir<br />

uns e<strong>in</strong> Bild davon machen, wie schwer es e<strong>in</strong>em Sänger fällt,<br />

normale Verse zu bilden, wenn er sie nicht s<strong>in</strong>gen kann. Diese<br />

Texte wurden auf Schallplatten aufgenommen, doch <strong>der</strong> Sänger<br />

durfte sich nicht mit se<strong>in</strong>em Instrument begleiten, weil während<br />

<strong>der</strong> Trauerzeit, die nach König Alexan<strong>der</strong>s Ermordung <strong>in</strong><br />

Marseille an e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> ersten Oktobertage des Jahres 1934<br />

angeordnet worden war, jedes S<strong>in</strong>gen unterbleiben mußte" . Die Ermordung von König Alexan<strong>der</strong> war das erste<br />

gefilmtes Attentat und eröffnete damit e<strong>in</strong>e neue Se<strong>in</strong>sweise von<br />

medientechnischen Nachrichten und "historischer" Überlieferung.<br />

Und während die Kultur mündlicher Poesie durch ihre<br />

schriftliche Aufzeichnung schrittweise erstirbt (wozu<br />

Parry/Lord forschend und publizierend beitragen), kommt es zur<br />

Bücherverbrennung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> (Mai 1933). 11<br />

Medienarchäologie aber schaut nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die<br />

10 Albert B. Lord, Der Sänger erzählt. Wie e<strong>in</strong> Epos entsteht [AO 1960], München<br />

(Hanser) 1965, 185<br />

11 E<strong>in</strong> Argument im Feature des Deutschlandfunks Das Vermächtnis <strong>der</strong> Epensänger,<br />

Oktober 2006


globalen kulturhistorischen Zusammenhänge (das bleibt <strong>der</strong><br />

besseren Kompetenz von Nachbardiszipl<strong>in</strong>en überlassen), son<strong>der</strong>n<br />

präziser auf die Ebene, wo solche Ersche<strong>in</strong>ungen an und <strong>in</strong><br />

Medientechnologien operativ und konkret werden. Um hier e<strong>in</strong><br />

wenig mit den Worten zu spielen: Medienarchäologie entziffert<br />

eher Histrogramme denn Historiographie. Erst <strong>in</strong> Kopplung mit<br />

<strong>der</strong> Saite <strong>der</strong> Gusle kommt die performative Epik als<br />

zeitkritischer Stimm­Saitenverbund zum Zug, schw<strong>in</strong>gend. Auf<br />

dieser medienarchäologischen Ebene stellt sich wirklich e<strong>in</strong>e<br />

denkbare Resonanz zwischen dem vom Guslar gestrichener Saite<br />

des Streich<strong>in</strong>struments und dem an <strong>der</strong> elektrischen Spule des<br />

Tonkopfs vorbeistreichendem Magnetdraht e<strong>in</strong> ­ auf den Punkt<br />

gebracht <strong>in</strong> <strong>der</strong> direkten Kopplung von gespielter Gusle­Saite<br />

und elektromagnetischem Tonabnehmer, <strong>der</strong> E­Gitarre.<br />

"In e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> mündlichen Epentradition gibt es auch bei den<br />

Passagen, die relativ festliegen, ke<strong>in</strong>e Garantie da<strong>für</strong>, daß sie<br />

bei jedem Vortrag wörtlich übere<strong>in</strong>stimmen" .<br />

Dies ruft nun geradezu nach e<strong>in</strong>er Anwendung <strong>der</strong> von Norbert<br />

Wiener entwickelten l<strong>in</strong>ear prediction, also e<strong>in</strong>er <strong>für</strong> alle<br />

<strong>Medientheorie</strong> zentralen Form von Zeitreihenanalyse als<br />

stochastischer Vorhersagbarkeit von künftigen Ereignissen im<br />

Bereich des Zeitfensters namens Echtzeit (Vorhersage durch<br />

Modellbildung, Filtertheorie, Optimierungsaufgaben als<br />

Zeitreihenanalyse des neuronalen Codes). Im Vokabular <strong>der</strong><br />

Systematischen Musikwissenschaft, die ja e<strong>in</strong>e sehr konkrete<br />

Brückenfunktion zur Medienwissenschaft ausübt, heißt dies das<br />

<strong>in</strong> etwa: "Die Zeitreihenanalyse des neuronalen Codes durch e<strong>in</strong>e<br />

Autokorrelation <strong>in</strong> Autokorrelationshistogrammen zeigt Maxima<br />

<strong>für</strong> Perioden, die den empfundenen Tonhöhen entsprechen." 12 Die<br />

neuronale Erzeugung von Echtzeit­Poesie, solch performative<br />

Dichtung im mündlichen Stil, ist durch Neurofeedback<br />

"geschmeidig genug, Verän<strong>der</strong>ungen, thematische Neuerungen und<br />

Ausgestaltung ganz allgeme<strong>in</strong> zu verkraften" .<br />

Solch e<strong>in</strong> kulturtechnischer Vollzug konvergiert heute auf<br />

wun<strong>der</strong>same Weise mit hochleistungsfähigen Algorithmen <strong>der</strong><br />

Signalverarbeitung durch Computer <strong>in</strong> realtime.<br />

E<strong>in</strong>mal im elektromagnetischen Raum aufgezeichnet und technomathematisch<br />

digitalisiert, s<strong>in</strong>d solche Gesänge pr<strong>in</strong>zipiell<br />

<strong>in</strong>ternetfähig. Läßt sich solcher Sang durch S<strong>in</strong>gen f<strong>in</strong>den, also<br />

12 Mart<strong>in</strong> Ebel<strong>in</strong>g, "Verschmelzung und neuronale Autokorrelation", abstract zum<br />

Vortrag Kassel, xxx. Siehe auch David L<strong>in</strong>den, Das Spiel <strong>der</strong> "Bra<strong>in</strong> Players". Rhythmen<br />

im Gehirn, <strong>in</strong>: Junge Akademie Magaz<strong>in</strong> (Berl<strong>in</strong>), 16f


im Medium se<strong>in</strong>er Artikulation, o<strong>der</strong> nur durch Schlagworte,<br />

also im Medium des Alphabets? Die (boolesche) Logik von<br />

Suchmasch<strong>in</strong>en operiert bislang textlastig im S<strong>in</strong>ne Aby<br />

Warburgs "vom Text zum Bild" (sc. zum Ton). Medienimmanente<br />

Chancen im digitalen Raum aber bietet die genu<strong>in</strong> medienbasierte<br />

Suche, d. h. mit Bild<strong>in</strong>formationen als image­based image<br />

retrieval nach Bild<strong>in</strong>formationen zu suchen 13 , o<strong>der</strong> das<br />

Suchtonverfahren, wie es Mart<strong>in</strong> Grützmacher zur Analyse von<br />

Klängen 1927 entwickelte. Dem zu f<strong>in</strong>denden, d. h. zu<br />

analysierenden Klang wird dabei zunächst e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Frequenz verän<strong>der</strong>bare s<strong>in</strong>usförmige Wechselspannung überlagert;<br />

das damit generierte Frequenzgemisch wird e<strong>in</strong>em quadratischen<br />

Gleichrichter zugeführt und anschließend mit Hilfe e<strong>in</strong>es festen<br />

Feilters <strong>der</strong> jeweils entstehende Differenzton ausgesiebt und<br />

zur Anzeige gebracht. 14<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Schlacht um das copyright von Musik im Internet<br />

hat die Industrie längst entsprechende Algorithmen<br />

perfektioniert; Vodafone­Benutzer etwa können seit Langem<br />

bereits zur Identifikation e<strong>in</strong>er unbekannten Melodie das Handy<br />

30 Sekunden lang <strong>in</strong> Richtung Radio halten und erhalten per SMS<br />

die Titel<strong>in</strong>formation ­ vom Klang zum Katalog, von den Medien­<br />

zu den Metadaten. MP3­Dateien "privatkopierter" Musik s<strong>in</strong>d das<br />

E<strong>in</strong>e; die Zuordnung von Medien­ und Metadaten das An<strong>der</strong>e.<br />

Vorerst aber nähern wir uns den Audio­Dateien, welche die<br />

Website <strong>der</strong> Milman Parry Collection <strong>der</strong> Widener Library an <strong>der</strong><br />

Universität von Harvard zur Verfügung stellt, ausschließlich<br />

durch die alphanumerische E<strong>in</strong>gabe <strong>der</strong> URL. Und genau<br />

betrachtet, entpuppt sich auch das Suchbild­ und<br />

Suchtonverfahren im digitalen Raum als Betrug unserer S<strong>in</strong>ne.<br />

Denn hier f<strong>in</strong>den sich nicht Töne und Bil<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n Formate,<br />

allesamt Verfahren <strong>der</strong> Mathematik. Klang wird hier fakultativ<br />

zum Medium (frei formuliert nach Elena Ungeheuer) ­ womit wir<br />

wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Frage angelangt s<strong>in</strong>d, welche Methoden zur<br />

Analyse kultureller Ersche<strong>in</strong>ungen sich auf <strong>der</strong> präzisen<br />

medienarchäologischen Ebene ergeben (also die <strong>in</strong> Meßmedien<br />

verd<strong>in</strong>glichte "Medienanalyse" ­ Subjekt und Objekt <strong>der</strong>selben).<br />

Nehmen wir den Faden wie<strong>der</strong> auf: Was die mündlichen epischen<br />

Gesänge <strong>der</strong> Guslari <strong>in</strong> Serbien, Montenegro und Albanien aus<br />

13 Siehe W. E. / Stefan Heidenreich / Ute Holl (Hg.), Suchbil<strong>der</strong>, xxx<br />

14 M. Grützmacher / E. Meyer, E<strong>in</strong>e Schallregistriervorrichtung zur Aufnahme <strong>der</strong><br />

Frequenzkurven von Telephonen und Lautsprechern, <strong>in</strong>: ENT 4 (1927), 203-211; ferner<br />

M. Grützmacher, Die Fourieranalyse modulierter Frequenz, <strong>in</strong>: ENT 8 (1931), 476-480


medienwissenschaftlicher H<strong>in</strong>sicht so <strong>in</strong>teressant macht ist die<br />

Tatsache, daß die ganz konkrte Ausformulierung <strong>der</strong> Verse erst<br />

im Moment des Vortrags zustandekommt, also aus e<strong>in</strong>em Repertoire<br />

entschieden und artikuliert wird. Aristoteles unterscheidet <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Physik (Buch II, § 192 b 21) zwischen e<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ruhe<br />

und e<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> <strong>in</strong> Bewegung; zur Präzision <strong>der</strong> Bewegung<br />

wie<strong>der</strong>um (kínesis) unterscheidet er (<strong>in</strong> Buch III, § 201 a 10­<br />

11) zwischen <strong>der</strong> Aktualität e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>gs und se<strong>in</strong>er Möglichkeit<br />

(dynamis). Noam Chomsky wie<strong>der</strong>um hat von Seiten <strong>der</strong> L<strong>in</strong>guistik<br />

die Transformationsregeln def<strong>in</strong>iert, wie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ite Anzahl<br />

wohlgeformter Sätze aus e<strong>in</strong>er f<strong>in</strong>iten Anzahl von Regeln<br />

generiert werden kann. Claus Pias hat <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne das Genre<br />

<strong>der</strong> Textadventures ausdrücklich "softwarearchäologisch"<br />

<strong>in</strong>terpretiert 15 , und so steht die Praxis <strong>der</strong> Guslari nicht nur<br />

den rap­Songs von heute, son<strong>der</strong>n auch den Computerspielen nahe.<br />

Aus <strong>der</strong> mathematischen Theorie <strong>der</strong> Kommunikation (Shannons<br />

Nachrichtentheorie) kommt uns dieser Prozeß ebenso vertraut vor<br />

wie im Feld <strong>der</strong> Bio<strong>in</strong>formatik. Im Zusammenhang zeitkritischer<br />

Prozesse zitiert McLuhan e<strong>in</strong>en Biologen und realisiert damit<br />

bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geburtsstunde <strong>der</strong> Medienwissenschaft jene<br />

Öffnung gegenüber <strong>der</strong> Biologie, die <strong>der</strong> Kultur­ und<br />

Medienwissenschaftler Peter Berz neuerd<strong>in</strong>gs wie<strong>der</strong> betont:<br />

Die <strong>Medientheorie</strong> und Mediengeschichte hätten genügend Gründe, <strong>in</strong> das<br />

explodierende Feld molekulargenetischen, evolutionstheoretischen, ethologischen,<br />

ökologischen, soziobiologischen Wissens erste Forschungsreisen zu unternehmen <br />

und den Begriffen <strong>der</strong> Biologie <strong>der</strong> <strong>Medientheorie</strong> neue Horizonte zu erschließen. Die<br />

Biologie <strong>der</strong> Mimikry bietet sich da<strong>für</strong> schon darum an, weil sie sich seit langem auf<br />

e<strong>in</strong>er Grenze bewegt, die naturwissenschaftlichen wie kulturellen Diskursen gleich nah<br />

ist. 16<br />

In <strong>der</strong> Tat, die "dritte" Position <strong>der</strong> Medienwissenschaft ist<br />

e<strong>in</strong>e Brückenfunktion zwischen den beiden klassischen<br />

Wissenskulturen (Geist/Natur) als Fakultäten <strong>der</strong> Universität.<br />

Hier also McLuhans biological turn schon 1962:<br />

Die Wirkungen von äußeren o<strong>der</strong> <strong>in</strong>neren Reizen besteht dar<strong>in</strong>, daß die<br />

Funktionsharmonie des Gesamtgehirnes o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>er Teile gestört wird.<br />

Hypothetische könnte man annehmen, daß die Störung auf irgenbde<strong>in</strong>e Weise die<br />

E<strong>in</strong>heit des augenblicklichen Musters zerstört, die zurvor im Gehirn erstellt worden ist.<br />

Das Gehirn wählt dann diejenigen Elemtne <strong>der</strong> zugeführten Reize, die die Neigung<br />

haben, das Muster wei<strong>der</strong>herztustellen und die Zellen zu ihrem regelmäßigen Pulsieren<br />

zurückzführen. Irgendwie löst das Gehirn Aktionsreihen aus, die dazu neigen,<br />

15 Claus Pias, Adventures am Scheideweg, Vortrag Bauhaus-Universität Weimar, 23. April<br />

1999<br />

16<br />

Peter Berz,Die Kommunikation <strong>der</strong> Täuschung. E<strong>in</strong>e <strong>Medientheorie</strong> <strong>der</strong> Mimikry,<br />

Vortrag xxx


es wie<strong>der</strong> zu se<strong>in</strong>em rhythmischenMuster zurückzuführen . Das Gehirn wendet <strong>der</strong><br />

Reihe nach alle se<strong>in</strong>e Regeln an, paßt die zugeführten Reize se<strong>in</strong>en verscheidnene<br />

Musern an, bis die Harmonie irgendwie wie<strong>der</strong> erstellt worden ist. Während dieser<br />

aufs Geratewohl durchgeführten Tätigkeit können sich weitere Verb<strong>in</strong>dungen und<br />

Aktions-Muster bilden, die ihrerseits künftige Funktionsabfolgen bestimmen werden 17<br />

­ gleich <strong>der</strong> Poesie­Generierung <strong>in</strong> Echtzeit durch Guslari.<br />

E<strong>in</strong>e zeitgenössische Variante <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche computergestützter<br />

Kultur ist die Poesie­Masch<strong>in</strong>e von David L<strong>in</strong>k: e<strong>in</strong><br />

Textgenerator, programmiert auf <strong>der</strong> Basis von Markov­Ketten<br />

durch Claude Shannons Kalkül <strong>der</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit von<br />

Buchstabenfolgen. Das Computerprogramm Poetry Mach<strong>in</strong>e ist e<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>teraktiver Textgenerator, <strong>der</strong> sich selbständig mit<br />

Informationen aus dem Internet versorgt, quer zum Modell <strong>der</strong><br />

semantischen Netzwerke. 18<br />

Der euklidische Raum <strong>der</strong> klassische Physik und das kartesische<br />

Ideal von Vernunft und analytischer Geometrie ist laut McLuhan<br />

e<strong>in</strong>e direkte Funktion des phonetischen Alphabets ; an die Stelle dieses Weltbilds fester Raum­ und<br />

Zeitrahmen tritt e<strong>in</strong>e Ästhetik dynamischer Prozesse (McLuhan<br />

unter Berufung auf Louis de Broglie, La physique nouvelle et<br />

les quanta). "Die von de Broglie beschriebene Revolution ist<br />

aber nicht e<strong>in</strong>e Folge des Alphabets, son<strong>der</strong>n des Telegraphen<br />

und des Radios . Weiter de Broglie:<br />

Etwas Ähnliches ereignete sich, als die Physiker Meß-Methoden <strong>für</strong> sehr kle<strong>in</strong>e<br />

Distanzen fanden. Man entdeckte, daß es nicht mehr möglich war, das alte Modlel zu<br />

gebrauchen, welches annimmt, daß die / Meßtätigkeit dar<strong>in</strong> besteht, e<strong>in</strong> `Materie´<br />

genanntes Etwas <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von Stückle<strong>in</strong> aufzuteilen, jedes mit bestimten<br />

Eigenschaften: Größe, Gewicht o<strong>der</strong> Lage. Das Wort Atom o<strong>der</strong> Elektron wird nicht<br />

als e<strong>in</strong>e Bezeichnung <strong>für</strong> e<strong>in</strong> Teilstück verwendet. Es wird gebraucht als Teil e<strong>in</strong>er<br />

Beschreibung <strong>der</strong> von den Physikern gemachten Beobachtungen. Es hat nur dann e<strong>in</strong>en<br />

S<strong>in</strong>n, wenn es von Leuten verwendet wird, die die Experimente kennen, durch die es <strong>in</strong><br />

Ersche<strong>in</strong>ung tritt <br />

­ jenseits des diskreten Alphabets. Und de Broglie fügt h<strong>in</strong>zu:<br />

"Es ist wichtig zu erkennen, daß große Wnadlungen <strong>in</strong> den<br />

alltäglichen menschlcihecn Sprech­ und Handlugnswseisen mit <strong>der</strong><br />

Ingebrauchnahme neuer Instrumente verbunden s<strong>in</strong>d" ; nicht nur als Massenmedien, son<strong>der</strong>n auf dem<br />

17 J. Z. Young, Doubt and Certa<strong>in</strong>ty <strong>in</strong> Science, xxx, 67f, zitiert nach: McLuhan<br />

1992/1995: 5<br />

18<br />

David L<strong>in</strong>k, Poesiemasch<strong>in</strong>en / Masch<strong>in</strong>enpoesie, Inaugural-Dissertation zur<br />

Erlangung <strong>der</strong> Doktorwürde an <strong>der</strong> Phil. Fak. III<br />

<strong>der</strong> Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong> (e<strong>in</strong>gereicht 2002, Promotion 2004);<br />

http://edoc.hu-berl<strong>in</strong>.de/dissertationen/l<strong>in</strong>k-david-2004-07-27/HTML


medienarchäologischen Niveau <strong>der</strong> Meßmedien s<strong>in</strong>d Technologien<br />

hier operativ und diskurs­ respektive wissensstiftend.<br />

Da im diesem Rahmen vor allem Methoden <strong>der</strong> Medienwissenschaft<br />

zur Sprache kommen, ist e<strong>in</strong> Blick auf die Rolle <strong>der</strong> Medien als<br />

Meß<strong>in</strong>strumente unabd<strong>in</strong>gbar ­ etwa <strong>in</strong> <strong>der</strong> Quantenphysik, wo die<br />

Unschärferelation Werner Heisenbergs (also <strong>der</strong> Welle/Teilchen­<br />

Dualismus) auf sehr direkte, transitive Weise mit <strong>der</strong> Funktion<br />

<strong>der</strong> Beobachtungs<strong>in</strong>strumente <strong>in</strong>terferiert, die immer nur<br />

entwe<strong>der</strong> den Impuls o<strong>der</strong> den Ort solcher Ereignisse zu<br />

bestimmen vermögen. Damit werden aus sche<strong>in</strong>bar nur<br />

beobachtenden, passiven Meßmedien aktive Agenten, die <strong>in</strong>sofern<br />

buchstäblich entscheidend <strong>für</strong> die zu gew<strong>in</strong>nende Information<br />

s<strong>in</strong>d, als daß sie (im S<strong>in</strong>ne Spencer­Browns) tatsächlich e<strong>in</strong>e<br />

Differenz machen. Die Messung gerät hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Zwitterstellung: Ist die Unschärfe e<strong>in</strong>e Funktion <strong>der</strong> Meßmedien<br />

o<strong>der</strong> des realen Systems? Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Diskussion<br />

sogenannter "akustischer Quanten" wird diese Diskussion später<br />

vertiefend aufgegriffen.<br />

Zunächst aber zurück zu <strong>der</strong> Frage, <strong>in</strong> welchem Verhältnis<br />

elektrotechnische und nun gar rechnende Medien zum zentralen<br />

Feld menschlicher Kommunikation, <strong>der</strong> mündlichen Rede, stehen.<br />

Aktuelle text­to­speech­Systeme schicken sich an, jene<br />

unverwechselbare Qualität des mündlichen Vortrags selbst<br />

rechnend zu simulieren. L<strong>in</strong>guatec hat e<strong>in</strong>e Vorlesesoftware auf<br />

den Markt gebracht, "das weit über die näselnden<br />

Computerstimmen <strong>der</strong> Vergangenheit herausgewachsen ist. Das<br />

Programm analysiert und optimiert Texte bevor es mit dem<br />

Vorlesen beg<strong>in</strong>nt, um so Satzstrukturen zu erkennen und unter<br />

Zuhilfenahme umfangreicher phonetischer Bibliotheken e<strong>in</strong>e<br />

Sprachausgabe zu generiene, die <strong>der</strong> menschlicehn möglichst nahe<br />

kommt. So kl<strong>in</strong>gt die Sprachmelodie natürlich" 19 ­ analog zur<br />

zeitkritischen Echtzeitpoesie.<br />

Ke<strong>in</strong>e unmittelbar­physikalische, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e medientechnisch<br />

vermittelte (übersetzte, transformierte) Korrespondenz herrscht<br />

zwischen den Frequenzen von Hamdos Gesang und den Schw<strong>in</strong>gunge<br />

se<strong>in</strong>er Gusle e<strong>in</strong>erseits, und dem spulenden Draht des Wire<br />

Recor<strong>der</strong>. Die von Milman Parry (und Walter Ong) analyierte<br />

kulturtechnische Mnemotechnik <strong>der</strong> Formeln im oralen epischen<br />

Gwsang prallt hier auch e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>s geartete Technik, e<strong>in</strong>e<br />

19 Bericht "Die Vorleser<strong>in</strong>", <strong>in</strong>: re<strong>in</strong>Hören 04/2006, 12


Techno/logie jenseits des Wortes, aber auch jenseits von<br />

Schrift: Elektronische Kommunikation (also Signalübertragung)<br />

geschieht grundsätzlich an<strong>der</strong>s als <strong>in</strong> den alphabetischen, also<br />

symbolischen Techniken <strong>der</strong> Schriftkultur. "Die Elektronalität<br />

bricht mit <strong>der</strong> Schriftlichkeit", verkündet Albert d´Haenens <strong>in</strong><br />

Anlehnung an McLuhan. 20 Doch "Europa zögert vor <strong>der</strong><br />

Herausfor<strong>der</strong>ung, denn man hat wahrschienlich den rakdiaklen<br />

Unterschied zwischen Schriftlichkeit und Elektronalität noch<br />

nicht h<strong>in</strong>reichend erkannt" ; vielmehr "verschleiert" die<br />

Gegenwart nach wie vor diesen Umbruch. "Nehmen wir als<br />

Beispiel sprachliche Mittel: Man fährt fort, dieselben Worte<br />

<strong>für</strong> Operationen zu verwenden, die tatsächlich von denen völlig<br />

verschieden s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> frühreren Zeiten ­ im Zeitaltrer <strong>der</strong><br />

Schrift o<strong>der</strong>, früher noch, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit mündlicher Kommunikation<br />

­ mit eben diesen Worten bezeichnet wurden" , etwa<br />

"Gedächtnis", wo es um elektronische Speicher geht, und<br />

"Kommunikation", wo es um Information geht (im S<strong>in</strong>ne von<br />

Shannon 1948). Bislang so genannte menschliche Kommunikation<br />

teilt sich damit auf <strong>in</strong> Physiologie und Informationstechnologie<br />

(frei nach Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme). Edison nennt<br />

se<strong>in</strong>e neuerfundene Sprechmasch<strong>in</strong>e 1877 Grammophon, hier noch<br />

ganz am Ende <strong>der</strong> Schriftkultur. Als AEG/Telefunken 1935 nach<br />

e<strong>in</strong>er Bezeichnung <strong>für</strong> die neuentwickelte Masch<strong>in</strong>e zur elektromagnetischen<br />

Aufzeichnung von Klängen sucht, entscheidet sie<br />

sich nicht etwa <strong>für</strong> den Begriff "Magnetograph", son<strong>der</strong>n<br />

Magnetophon. Buchstaben und Worte lösen sich im elektronischen<br />

Raum nämlich <strong>in</strong> Frequenzen und kle<strong>in</strong>ste Partikel auf. Was<br />

stattf<strong>in</strong>det, ist von e<strong>in</strong>er unüberbrückbaren Distanz geprägt ­<br />

von daher me<strong>in</strong> meclancholischer Zug <strong>in</strong> <strong>der</strong> Analyse dieses<br />

medienarchäologischen Experiments. Denn angesichts und im<br />

Vernehmen des Wire Recor<strong>der</strong>, gerade weil er Hamdos Gesänge<br />

aufnimmt, ist auch klar: die alte mnemotechnische Welt ist<br />

unwi<strong>der</strong>br<strong>in</strong>glich verloren.<br />

Kommen wir auf die These zurück, daß elektronische<br />

Kommunikation (also Signalübertragung), wie sie im vorliegenden<br />

Fall anhand des Webster Wire Recor<strong>der</strong> geschieht, sich<br />

grundsätzlich von den alphabetischen Techniken <strong>der</strong><br />

Schriftkultur unterscheidet, weil sie auf <strong>der</strong> Ebene des<br />

Physikalisch Realen, nicht nur des kulturell­Symbolischen<br />

(def<strong>in</strong>iert mit Ernst Cassirer) operiert. "Die Elektronalität<br />

20 Albert d´Haenens, E<strong>in</strong>e neue Kultur begründen! Gefahren und Chancen an <strong>der</strong><br />

Schwelle des elektronischen Zeitalters, <strong>in</strong>: Theodor H. Grütter / xxx (Hg.), xxx


icht mit <strong>der</strong> Schriftlichkeit" (d´Haenens), und das nicht<br />

alle<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Darstellung, son<strong>der</strong>n vor allem auch<br />

auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Medienanalyse. Halten wir mit McLuhan fest:<br />

Das Vokalalphabet, als Akt <strong>der</strong> Visualisierung des stimmlichen<br />

Klangs, führte zu e<strong>in</strong>er Privilegierung des Sehs<strong>in</strong>ns im<br />

abendländischen Wissenshaushalt (<strong>der</strong> Episteme). Meßmethoden,<br />

also die graphische Visualisierung des stimmlichen Ereignisses<br />

im elektronischen Raum eskalieren diese Situation. Br<strong>in</strong>gen wir<br />

<strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong> analoges Meßmedium zum E<strong>in</strong>satz, das<br />

Klänge visualisiert und dementsprechend Oszilloskop heißt ­<br />

e<strong>in</strong> veritables Instrument <strong>der</strong> Medientheoría zur Medienanalyse,<br />

und zugleich e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung daran, daß die Kathodenröhre,<br />

bevor sie dem elektronischen Fernsehen als Massenmedium zum<br />

Durchbruch verhalf, als Meß<strong>in</strong>strument erfunden wurde.<br />

Töne s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> post­pythagoräischen Epoche des Abendlands<br />

(die durch Boethius´ Werk de musica zugespitzt und dem<br />

Mittelalter autoritativ vorgegeben wurde) zwar immer noch von<br />

<strong>der</strong> Frage nach harmonischen, ganzzahligen Proportionen (ratio)<br />

geprägt, doch verschiebt sich diese Frage seit Mersenne (dessen<br />

maßgebliches Buch pikanterweise noch Harmonie universelle<br />

lautet) von <strong>der</strong> Vermessung <strong>der</strong> Saitenlängen des Monochords zur<br />

Untersuchung ihrer dynamischen Verhältnisse, nämlich<br />

Schw<strong>in</strong>gungen ­ <strong>der</strong> subalphabetische Raum des Realen diesseits<br />

<strong>der</strong> symbolischen Signifikanten. Die periodische Bewegung, also<br />

e<strong>in</strong> Zeitverhältnis wird zur Dase<strong>in</strong>sgrundlage des Klangs.<br />

Obgleich er formal am theoretischen Axiom <strong>der</strong> universellen<br />

Harmonie festhält, schreibt das Medium längst auf <strong>der</strong><br />

empirischen Ebene an e<strong>in</strong>er sublim<strong>in</strong>alen Erkenntnis des Realen<br />

(o<strong>der</strong> des Reellen, im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Mathematik des<br />

Kont<strong>in</strong>uierlichen) mit ­ o<strong>der</strong> schreibt es dem Wissen gar vor,<br />

als Sono­Appell des schw<strong>in</strong>genden Mediums direkt an die Membran<br />

<strong>der</strong> se<strong>in</strong>svernehmenden Ohren, denn die materiale Existenz von<br />

Klang erschließt sich diesem S<strong>in</strong>n präziser als dem Auge.<br />

Entsprechend nennt Mersenne se<strong>in</strong>e Verfahrensweise ("la manière<br />

ie me sers pour prouuer la raison de l´octaue"), die e<strong>in</strong>e<br />

genu<strong>in</strong> medienwissenschaftliche Methode darstellt: "Ie n´vse d<br />

´autres chose que des seuls mouuemens, ou batemens d´air." 21<br />

Mersenne entdeckt <strong>in</strong> den Frequenzverhältnissen konsonanter<br />

Intervalle die gleichen Verhältnisse wie <strong>in</strong> pythagoreischen<br />

Zahlen, doch diese Zahlen s<strong>in</strong>d nicht Se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n seiend, <strong>in</strong><br />

21 Mar<strong>in</strong> Mersenne, Harmonie universelle, contenant la théorie et la pratique de la<br />

musique, Paris 1963 (Nachdruck Ausgabe Paris 1636), Bd. 1, Af


e<strong>in</strong>g. Die Saite zählt nun als Medium, also im Vollzug; das und<br />

<strong>der</strong> experimentelle Moment (Methode und Zeitkritik)<br />

konvergieren. Nicht <strong>der</strong> Verweis auf metahistorisch gültige<br />

pythagoreische Traditionen bildet den Anfang von Mersennes<br />

Untersuchung, "son<strong>der</strong>n die gezielte E<strong>in</strong>stimmung auf technische<br />

Fragen" 22 ­ e<strong>in</strong>e theoretische E<strong>in</strong>stimmung, wie sie von den<br />

Vibrationen <strong>der</strong> Saite buchstäblich <strong>in</strong>duziert wird. Damit<br />

verschiebt sich die Frage nach <strong>der</strong> Musik auf das Sonische (le<br />

son). So erfolgt e<strong>in</strong> re­entry <strong>der</strong> Engführung von Musik und<br />

Mathematik, wie sie Pythagoras als Denkfigur vorgab, doch unter<br />

verkehrten Vorzeichen <strong>der</strong> Zeit (im zweifachen S<strong>in</strong>ne).<br />

Hier kommt nun Norbert Wiener <strong>in</strong>s Spiel, <strong>der</strong> betont, wie das<br />

mathematische Verfahren <strong>der</strong> harmonischen Analyse erst im<br />

Kontext konkreter physikalischer Herausfor<strong>der</strong>ungen zur Reife<br />

gelangt:<br />

It is a falsification of the history of mathematics to represent pure mathematics as a selfcona<strong>in</strong>ted<br />

science draw<strong>in</strong>g <strong>in</strong>spiration from itself alone . Even the most abstract<br />

ideas of the present time have someth<strong>in</strong>g of a physical history. The desi<strong>der</strong>atum <strong>in</strong><br />

mathematical as well as physical work is an attitutde which is not <strong>in</strong>different to the<br />

extremely <strong>in</strong>structive nature of actual physical situtions, yet which is not dom<strong>in</strong>ated by<br />

these to the dwarf<strong>in</strong>g and paralyz<strong>in</strong>g of its <strong>in</strong>tellectual orig<strong>in</strong>ality. 23<br />

Erst als technologisch implementierte Mathematik zeigt sich an<br />

ihr etwas im medialen Volzug, wird dadurch evoziert (wie schon<br />

das elektromagnetische "Feld" durch mechanische Induktion o<strong>der</strong><br />

durch Maxwells Gleichungen). Diese Zeitebene ist we<strong>der</strong> die re<strong>in</strong><br />

historische noch die re<strong>in</strong> ahistorische, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en Zeitwelt ­ nämlich <strong>der</strong> des Vollzugs. Die Frage nach dem<br />

Verhältnis von Mathematik und Physik ist die <strong>der</strong><br />

Medienwissenschaft, und Wiener illustriert dies anhand des<br />

epistemologischen Interesses an Wellenbewegungen, an<br />

Periodizitäten, wie sie seit Pythagoras e<strong>in</strong>erseits an <strong>der</strong><br />

kl<strong>in</strong>genden Saite, an<strong>der</strong>erseits (mit Platon) an<br />

Planetenlaufbahnen festgemacht wird und sich als hörbare o<strong>der</strong><br />

ideale "Musik" manifestiert. Und nun die Bruchstelle zwischen<br />

dem antiken Interesse und <strong>der</strong> Neuzeit: "It is probably a mere<br />

22 Sebastian Klotz, Vibration und Vernunft. Zur experimentellen Agenda <strong>in</strong> Mar<strong>in</strong><br />

Mersennes Harmonie universelle (Paris, 1636), <strong>in</strong>: Helmar Schramm / Ludger Schwarte /<br />

Jan Lazardzig (Hg.), Spektakuläre Experimente. Praktiken <strong>der</strong> Evidenzproduktion im 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t, Berl<strong>in</strong> / New York (de Gruyter) 2xxx, 279-293 (281)<br />

23 Norbert Wiener, The historical background of harmonic analysis, <strong>in</strong>: American<br />

Mathematical Society Semicentennial Publications Bd. II, Semicentennial Adresses,<br />

Amer. Math. Soc., Providence, R. I., 1938, 513-522, hier zitiert nach: <strong>der</strong>s., Collected<br />

Works with Commentaries, Bd. II, hg. v. P. Masani, Cambridge, Mass. / London (M. I. T.<br />

Press) 1979, dar<strong>in</strong> Seitenzählung 56-68


picturesque feat of the imag<strong>in</strong>ation to push harmonic analysis<br />

further back than Huygens. In Huygens´ pr<strong>in</strong>ciple we<br />

resolve a wave front <strong>in</strong>to a set of centers of <strong>in</strong>stantaneous<br />

disturbances, and by cont<strong>in</strong>u<strong>in</strong>g these disturbances over a small<br />

<strong>in</strong>terval of time we are <strong>in</strong> some way able to determ<strong>in</strong>e the new<br />

wave front" . Leibniz und Newton<br />

entwickeln dann das mathematische Werkzeug ("tool") zur<br />

Beherrschung dieser Analyse: die Differentialrechnung,<br />

fortgesetzt dann durch Euler und d´Alembert. "Among the<br />

simplest of opartial differential equations is that of the<br />

vibrat<strong>in</strong>g str<strong>in</strong>g" als e<strong>in</strong>dimensionales medienepistemisches<br />

D<strong>in</strong>g. Die Saite "analysiert" <strong>in</strong> akustisch vernehmbarer Form<br />

auch unstetige Pulse: "A disturbance of any form, at least if<br />

it is smooth enough to have a slope, may be transproted bodily<br />

along a str<strong>in</strong>g" ; diese Vibrationanalyse wird dann auf alle<br />

möglichen schw<strong>in</strong>genden Systeme, ob Hitze o<strong>der</strong> Licht, übertragen<br />

(Fourier, Young, Fresnel). Doch im Unterschied zur kl<strong>in</strong>genden<br />

Saite wird hier die Erkenntnis uns<strong>in</strong>nlich (a­theoría): "No one<br />

has ever seen an oscillograph of a ray of visible light. The<br />

evidence that this light is of a wave character is and can be<br />

only such evidence as is applicable to a statistical<br />

assemblange of vibrations" . Inzwischen aber ist e<strong>in</strong>em<br />

Forscherteam die Messung <strong>der</strong> Schw<strong>in</strong>gungen des sichtbaren Lichts<br />

mit Hilfe e<strong>in</strong>es "Attosekunden­Oszilloskops" gelungen ­ die<br />

Meßmedien konkurrieren zeitkritisch mit den ultraschnellen<br />

Schw<strong>in</strong>gungen ihrer Objekte. 24<br />

Und doch tritt Stochastik an die Stelle <strong>der</strong> klassischen Evidenz<br />

­ e<strong>in</strong>e zweite Loslösung von altgriechischer Episteme, die immer<br />

auf Augenzeugenschaft basiert (e<strong>in</strong> Effekt des Alphabets, nach<br />

McLuhan). "The ideas of statistical randomness and phenomena of<br />

zero probability were current among the physicist and<br />

mathematicians <strong>in</strong> Paris around 1900, and it was <strong>in</strong> a medium<br />

heavily ionized by these ideas that Borel and Lebesgue solved<br />

the mathematical problem of measure" ­ Theorie als<br />

Elektronenröhre.<br />

Jean­Baptiste d’Alembert fand auf re<strong>in</strong> mathematischem<br />

Wege über die partielle Differentialgleichung<br />

e<strong>in</strong> Modell <strong>für</strong> die Saitenschw<strong>in</strong>gung (analog dazu, wie später<br />

James Clerk Maxwell das von Michael Faraday entdeckte<br />

24 Pressemitteilung <strong>der</strong> Max Planck-Gesellschaft vom 27. August 2004; siehe<br />

http://www.mpg.de/bil<strong>der</strong>BerichteDokumente/dokumentation/pressemitteilungen/2004/p<br />

ressemitteilung2004082(Zugriff: 9. Februar 2007)


elektromagnetische Feld mathematisch so <strong>in</strong> den Griff bekommt,<br />

daß sie He<strong>in</strong>rich Hertz zum Nachweis drahtlosen Funks führt). D<br />

´Alembert modelliert hier zeitkritisch den Prozeß <strong>der</strong><br />

Saitenschw<strong>in</strong>gung selbst. Die durch das Anzupfen ausgelenkte<br />

Saite bildet zunächst e<strong>in</strong> flaches Dreieck zwischen Saitenenden<br />

und Anreißpunkt. Von dessen Scheitelpunkt aus wan<strong>der</strong>n nach dem<br />

Loslassen <strong>der</strong> Saite zwei Wellenzüge jeweils zu den äußeren<br />

Stegen und wie<strong>der</strong> zurück. Ausgehend von den Grundpr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong><br />

Dynamik modelliert d´Alembert dieses Verhalten <strong>in</strong> Form von<br />

Gleichungen. 25 Gerade weil diese mathematische Operation die<br />

Verallgeme<strong>in</strong>erung auf beliebige Schw<strong>in</strong>gungssysteme erlaubt,<br />

wird durch solche Analysis die schw<strong>in</strong>gende Saite zum<br />

medienepistemogenen Vollzug.<br />

Das Oszilloskop als elektronische Schw<strong>in</strong>gungsanzeige macht<br />

Zeit als den eigentlichen Parameter solcher Vorgänge<br />

s<strong>in</strong>nfällig, als Meßgerät zur Darstellung des zeitlichen<br />

Verlaufes e<strong>in</strong>er Spannung. Höchst s<strong>in</strong>nfällig wird dieses<br />

Meßgerät im E<strong>in</strong>satz als "Wehenschreiber" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geburtsmediz<strong>in</strong><br />

­ hier signifikant komb<strong>in</strong>iert mit e<strong>in</strong>em Frequenzmesser <strong>für</strong> den<br />

Herzschlag des Neuzugebährenden, als Verkreuzung von Schw<strong>in</strong>gung<br />

und Takt zweier Subsysteme im Moment ihrer Ausdifferenzierung<br />

zu getrennten Systemen (was Körper kybernetisch begriffen<br />

s<strong>in</strong>d).<br />

Die Welt <strong>der</strong> Signale ist die Welt kle<strong>in</strong>ster zeitlicher<br />

Ereignisse. Das Oszilloskop stellt dementsprechend (also<br />

"analog") e<strong>in</strong>en Verlaufsgraphen auf dem Schirm <strong>der</strong> Bildröhre<br />

dar, wobei durch e<strong>in</strong>e Sägezahnspannung die horizontale X­Achse<br />

(Abszisse) als Zeitachse gebildet wird und die Spannungen auf<br />

<strong>der</strong> vertikalen Y­Achse, <strong>der</strong> Ord<strong>in</strong>ate, abgebildet werden. 26 Das<br />

so entstehende Bild wird zwar als Oszillogramm bezeichnet, ist<br />

aber ke<strong>in</strong>e phonetische Schrift mehr, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Darstellung<br />

<strong>der</strong> Möglichkeitsbed<strong>in</strong>gung aller phoné selbst ­ Schw<strong>in</strong>gungen,<br />

Frequenzen.<br />

Schauen wir auf e<strong>in</strong> Diagramm, also das technische "Bild" dieses<br />

Klanganalysators.E<strong>in</strong>e Oszilloskop­Photographie von Hamdos<br />

Guslar­Gesang ist e<strong>in</strong> buchstäbliches still, e<strong>in</strong> Standphoto des<br />

Klangereignisses:<br />

25 Dazu Volmar 2003, Kapitel 3.2.1., unter Bezug auf Jean Le Rond d’Alembert,<br />

Recherches sur la courbe que forme une corde tendue mise en vibration (= Mémoires de<br />

l’Académie des Sciences), Berl<strong>in</strong> 1747<br />

26 http://de.wikipedia.org/wiki/Oszilloskop, Zugriff 19. Oktober 2006


Zum Medientheater wird <strong>der</strong> Raum e<strong>in</strong>er Projektion (K<strong>in</strong>o,<br />

Diaprojektor) jedoch erst, wenn die Hauptdarsteller, die<br />

technischen Medien, selbst handeln. Legen wir also die<br />

Meßelektroden an Hamdo­Gesang (etwa den Lautsprecherausgang des<br />

Wire Recor<strong>der</strong>) und lassen und se<strong>in</strong>e Meßkurven operativ anzeigen<br />

­ soweit die Welt des Analogen. Digital (und damit letztlich<br />

unbildlich) wird die Analyse dieses Klangereignisses jedoch,<br />

wenn e<strong>in</strong> oszilloskopischer Vorgang im Computer abgebildet wird<br />

<br />

und vollends <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fourier­Transformation, die alle<br />

Signalfolgen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit (Schw<strong>in</strong>gungen) <strong>in</strong> den Frequenzraum<br />

überführt, also abzählbar und verrechenbar, damit dem Computer<br />

zugänglich macht ­ und dies nicht als Überwältigung analoger<br />

Signale, son<strong>der</strong>n (gemäß dem Abtast­Theorem) als verlustfreie<br />

Reproduktion analoger Ereignisse im digitalen Raum. Die<br />

Unterscheidung zwischen analog und digital hat<br />

wissensgeschichtlich ihr Recht, ger<strong>in</strong>nt aber angesichts<br />

hochleistungsfähiger Signalverarbeitung zur Metaphysik (Mart<strong>in</strong><br />

Carlé).<br />

Jean Baptiste Fourier hat Anfang des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Analytischen Theorie <strong>der</strong> Wärme nachgewiesen, daß auch unstetige<br />

Signale, also auch digitale Impulse, approximatisch als Summe<br />

von anlogen E<strong>in</strong>zelschw<strong>in</strong>gungen aufgefaßt werden kann. In <strong>der</strong><br />

digitalen Signalverarbeitung ist die Fourieranalyse e<strong>in</strong><br />

Standardwerkzeug. Sie wird mit Hilfe <strong>der</strong> Discrete Fourier<br />

Transformation (DFT) algorithmisch berechnet:<br />

Das vorliegende Ausgangssignal wird dabei <strong>in</strong> den mathematischen Raum <strong>der</strong><br />

komplexen Zahlen überführt und als Frequenzspektrum mit realem und imag<strong>in</strong>ären<br />

Anteil betrachtet und analysiert. Auch auf analogem Wege können<br />

Fouriertransformationen "berechnet" werden, z.B. mit Hilfe von L<strong>in</strong>sensystemen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

optischen bzw. elektronen-optischen Bildverarbeitung. Anwendungen solcher Systeme<br />

s<strong>in</strong>d die Elektronenmikroskopie, die Interferometrie, die Holographie sowie <strong>in</strong><br />

Mikroskopen o<strong>der</strong> Fernrohren. 27<br />

Dynamisch, also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit wie<strong>der</strong>holt angewandt wird die DFT<br />

allerd<strong>in</strong>gs erst durch STFT (W<strong>in</strong>dowed Fourier Transformation).<br />

27 http://www.video-4-all.<strong>in</strong>fo/glossar/fourier.html, Zugriff: 18. Oktober 2006


Höchst naheliegende "analoge" Fourier­Analysten s<strong>in</strong>d das<br />

menschliche Ohr (die Basilarmembran) sowie prothetisch die<br />

Helmholtz­Resonatoren; orig<strong>in</strong>ale Exemplare dieser Kugeln zeigt<br />

die Ausstellung historischer Meßapparate des Johannes­Müller­<br />

Instituts <strong>für</strong> Physiologie <strong>der</strong> Charité.<br />

Universale Resonanzen (S.E.T.I.)<br />

Die Transformation e<strong>in</strong>es re<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>us­Signals von <strong>der</strong> Zeitebene<br />

<strong>in</strong> die Frequenzebene erzeugt e<strong>in</strong>e Spektrall<strong>in</strong>ie:<br />

Die Fast Fourier Transformation ist e<strong>in</strong>e schnellere Variante <strong>der</strong> diskreten Fourier-<br />

Transformation (DFT) und wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Multimediatechnik dazu verwendet, um<br />

Audiosignale <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne S<strong>in</strong>us-Schw<strong>in</strong>gungen und diese wie<strong>der</strong>um <strong>in</strong> die<br />

entsprechenden Spektralfrequenzen zu zerlegen. 28<br />

Dieses Verfahren läßt sich an <strong>der</strong> Kultur des VLF­Radioempfangs<br />

und <strong>der</strong> Kommunikation mit Außeriridischen illustrieren.<br />

Very Low Frequency steht <strong>für</strong> elektromagnetische Längstwellen im<br />

Bereich unterhalb des vertrauten Langwellen­Rundfunkbands. Im<br />

Längswellenbereich f<strong>in</strong>den beispielsweise die klassischen<br />

Zeitzeichensen<strong>der</strong> ihren Ort ­ <strong>der</strong> Raum <strong>der</strong> Frequenzen f<strong>in</strong>det<br />

somit se<strong>in</strong> re­entry auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> medialen Botschaft namens<br />

zeitbasierte Prozesse.<br />

Zum Längstwellenempfang wird neben speziell <strong>für</strong> diesen<br />

Frequenzbereich ausgelegten Radioempfängern zunehmend <strong>der</strong><br />

Computer mit <strong>in</strong>tegrierter Soundkarte e<strong>in</strong>gesetzt. Mit<br />

Soundkarten e<strong>in</strong>er maximalen Sampl<strong>in</strong>grate von 48 kHz lassen<br />

sich <strong>in</strong> Deutschland Längstwellensen<strong>der</strong> empfangen (Sen<strong>der</strong> mit<br />

Frequenzen über 24 kHz also nicht). Die Signale, welche qua<br />

Soundkarte mit e<strong>in</strong>er Spule o<strong>der</strong> Drahtantenne empfangen werden<br />

(<strong>der</strong> dünne Draht zur physikalischen Welt), werden durch e<strong>in</strong>e<br />

Software zur Fast Fourier Transformation analysiert und <strong>in</strong> Form<br />

von Spektrogrammen dargestellt:<br />

<br />

28<br />

http://www.itwissen.<strong>in</strong>fo/<strong>in</strong>dex.php?aoid=8844&id=31; Zugriff:<br />

18. Oktober 2006<br />

29 Screenshot aus: http://www.setigermany.de/SETI_erklaerung/reference/fft.htm; Zugriff<br />

19-10-06


Die vom Radioteleskop empfangenen Rohdaten weisen e<strong>in</strong>e<br />

zeitliche Verän<strong>der</strong>ung auf und lassen sich von daher e<strong>in</strong>erseits<br />

im Oszilloskop als Zeitverlauf fassen, zum An<strong>der</strong>en per FFT im<br />

Frequenzbereich visualisieren und rechnen.<br />

Auf <strong>der</strong> Suche nach Signalen außerirdischer Intelligenz<br />

überwacht die SETI­Initiative "alle Sendefrequenzen, die mit<br />

e<strong>in</strong>iger Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit <strong>in</strong> Frage kommen" 30 ­ womit sich<br />

schon die signal­to­noise ratio als Problem stellt. Die<br />

wachenden Computer "würden bei jedem Verdacht auf künstliche<br />

Signale automatisch Alarm schlagen" ­ weil Computer selbst<br />

"künstlich" verfaßt s<strong>in</strong>d, verstehen sie solche Kommunikation<br />

besser als Menschen? All dies wird aufgezeichnet, nach dem<br />

kontrolltechnisch vertrauten Muster von Datenabgleich (negative<br />

und positive Rasterfahndung). Doch "rund 89% aller<br />

gespeicherten Beson<strong>der</strong>heiten s<strong>in</strong>d simples Rauschen" . Gerade vor diesem H<strong>in</strong>tergrund(rauschen) macht die FFT­<br />

Analyse S<strong>in</strong>n:<br />

E<strong>in</strong>e brauchbare Analogie wäre die Aufzeichnung De<strong>in</strong>er Stimme, dargestellt auf e<strong>in</strong>em<br />

mit e<strong>in</strong>em Mikrofon ausgerüsteten Oszilloskop. Der Schirm stellt dabei auf <strong>der</strong><br />

horizontalen x-Achse die Zeit dar, auf <strong>der</strong> vertikalen y-Achse die Signalstärke,<br />

entsprechend dem Luftdruck vor dem Mikrophon. E<strong>in</strong> solches Signal ist <strong>für</strong> unsere<br />

Zwecke eher ungeeignet. Wir würden viel lieber sehen, ob es irgendwelche konstanten<br />

(und lauten) 'Töne' im Signal gibt. Wir hätten also gerne e<strong>in</strong>e Grafik, die auf <strong>der</strong><br />

horizontalen x-Achse die Frequenz darstellt und auf <strong>der</strong> vertikalen y-Achse die<br />

Signalstärke. Je<strong>der</strong> Spike <strong>in</strong> dieser Darstellung wäre dann e<strong>in</strong> lautes Signal auf e<strong>in</strong>er<br />

bestimmten Frequenz. 31<br />

Wie<strong>der</strong>holt kam <strong>in</strong> diesem Zusammenhang zum Ausdruck, daß<br />

digitale Signalverarbeitung e<strong>in</strong>erseits im Zeichen <strong>der</strong> Fourier­<br />

Analyse steht, an<strong>der</strong>erseits mit <strong>der</strong> Praxis des Sampl<strong>in</strong>g<br />

verbunden ist. In <strong>der</strong> Frage, wie das audiovisuelle Erbe des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts im frühen 21. Jahrhun<strong>der</strong>t zu verwalten ist, kommt<br />

dies höchst praktisch zum Zug. Die Österreichischen Mediathek<br />

praktiziert laut Selbstdarstellung (auf <strong>der</strong> Homepage) die<br />

digitale Umwandlung von Audio­Aufzeichnungen auf<br />

verschiedensten Trägern "orig<strong>in</strong>algetreu o<strong>der</strong> elektronisch<br />

verbessert". Dieser Ausdruck verrät e<strong>in</strong>e medienontologische<br />

Verunsicherung, und dies zurecht, denn Digitalisierung ist<br />

nicht nur e<strong>in</strong>e technische Frage, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> AV­Dokument<br />

wandelte se<strong>in</strong>en medialen Se<strong>in</strong>s­Status ­ und wird damit auch<br />

an<strong>der</strong>en Operationen zugänglich.<br />

30 Re<strong>in</strong>hard Breuer, Schweigt da draußen wer?, <strong>in</strong>: Geo Nr. 2 v. 6. November 1989, 167-<br />

170 (167)<br />

31 http://www.setigermany.de/SETI_erklaerung/reference/fft.htm; Zugriff 19-10-06


"When one copies the content of an Edison cyl<strong>in</strong><strong>der</strong> to a CD, is<br />

anyth<strong>in</strong>g important of the content of the subjective listen<strong>in</strong>g<br />

experience lost?" 32 Hier wird e<strong>in</strong>e copyright­Frage zur technologischen<br />

Funktion (also Hard­ und Software); mit diesem<br />

"digitalen" Argument <strong>der</strong> Mathematisierung lassen sich<br />

möglicherweise klassische Copyright­Hemmnisse <strong>für</strong> das Internet<br />

umgehen.<br />

Phonogramm­Archive transferieren solche Aufnahmen gewöhnlich<br />

weitgehend störgeräuschbere<strong>in</strong>igt auf Compact Discs <strong>für</strong> die<br />

Öffentlichkeit, filtert aber im Prozeß <strong>der</strong> Digitalisierung auf<br />

<strong>in</strong>terner, archiv­zugewandter Seite das Rauschen des Tonträgers<br />

und ­aufnahmegeräts (Wachszyl<strong>in</strong><strong>der</strong> und Phonograph) gerade nicht<br />

aus ­ denn dies ist die eigentlich (medien)"historische"<br />

Information. E<strong>in</strong>e IASA­Vere<strong>in</strong>barung zur restauratorischen Ethik<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Konservierung von Schallkonserven sieht vor, das<br />

Audiosignal gerade auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Imperfektion, se<strong>in</strong>er<br />

Schadhaftigkeit zu bewahren. Das Wiener Phonogrammarchiv an <strong>der</strong><br />

Österreichischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften tastet daher die<br />

Signale bei <strong>der</strong> Digitalisierung <strong>in</strong> extrem hoher Bitrate ab.<br />

Hier entscheidet sich das Sampl<strong>in</strong>g­Theorem von Shannon/Nyquist:<br />

Um menschliche Ohren zu täuschen, d. h. den E<strong>in</strong>druck<br />

verlustfreier Signalrekonstruktion im Akt <strong>der</strong> analog/digital­<br />

Umwandlung zu erzeugen, ist e<strong>in</strong>e Abtastrate h<strong>in</strong>reichend, die<br />

das Doppelte <strong>der</strong> höchsten Frequenz leistet. Das Sampl<strong>in</strong>g<br />

Theorem aber bezieht sich nicht gezielt auf Hörbares (also den<br />

Wahrnehmungsbereich des Menschen), son<strong>der</strong>n ganz allgeme<strong>in</strong> auf<br />

die verlustfreie Reproduzierbarkeit e<strong>in</strong>es bandbegrenzten<br />

Signals. Das Archiv im medienarchäologischen S<strong>in</strong>n verlangt nach<br />

oversampl<strong>in</strong>g, um auch das Rauschen zu bewahren. Sampl<strong>in</strong>g<br />

erlaubt e<strong>in</strong>e theoretisch unbegrenzte Erweiterung dieses<br />

Spektrums und macht damit die traditionelle Unterscheidung von<br />

analogem Signal und Digitalisat obsolet.<br />

Damit zurück zur Theorie und Praxis <strong>der</strong> Helmholtz­Resonatoren,<br />

also jenen Kugeln, die analog Fourier­Analyse leisten, <strong>in</strong>dem<br />

sie Klänge, also komplexe Zusammensetzung von Schw<strong>in</strong>gungen, <strong>in</strong><br />

ihre E<strong>in</strong>zelschw<strong>in</strong>gungen aufzulösen vermögen, da sie auf je<br />

e<strong>in</strong>e Frequenz (identisch mit ihrer Eigenfrequenz) ansprechen.<br />

Die Atmorphäre unseres Planeten Erde kann selbst als riesiger<br />

32 Ray Edmondson (National Film & Sound Archive, Australia), AV archiv<strong>in</strong>g philosophy -<br />

the technical dimension, <strong>in</strong>: papers of the IAMI-IASA Jo<strong>in</strong>t Anjnual Conference, Perugia<br />

1996, no. 8, November 1996, 28-35 (28f)


Hohlraumresonator fungieren. Schumann­Resonanzen heißen<br />

diejenigen Frequenzen, bei denen die Wellenlänge e<strong>in</strong>er<br />

elektromagnetischen Schw<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> dem Hohlleiter zwischen<br />

Erdoberfläche und Ionosphäre e<strong>in</strong> ganzzahliger Teil des<br />

Erdumfangs ist. Bei <strong>der</strong> Anregung mit elektromagnetischen<br />

Schw<strong>in</strong>gungen solcher Frequenzen entstehen stehende Wellen, die<br />

so genannten Schumannwellen, angeregt aus <strong>der</strong> weltweiten<br />

Gewittertätigkeit. Die Grundwelle liegt bei 7,8 Hz, dazu kommen<br />

noch verschiedene Oberwellen zwischen 14 und 45 Hz. Solche<br />

Wellen s<strong>in</strong>d von sich aus noch ke<strong>in</strong>e Musik, da hier nichts<br />

erkl<strong>in</strong>gt ­ aber alles hängt vom Musikbegriff ab. Im Mittelalter<br />

galt als die eigentliche Musik jene Sphärenmusik, die <strong>für</strong><br />

menschliche Ohren gar nicht hörbar war. Heute können solche<br />

Resonanzen hörbar gemacht werden; Audifikation respektive<br />

Sonifikation ist also e<strong>in</strong>e spezifische Form akustischen Wissens<br />

(nach e<strong>in</strong>em Wort von Axel Volmar).<br />

Allgeme<strong>in</strong> werden solche Klänge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Meteorologie zur<br />

Wettervorhersage herangezogen. Dabei stellt sich beständig <strong>der</strong><br />

Tur<strong>in</strong>g­Test <strong>für</strong> das Verhältnis von Himmel und Erde selbst ­<br />

denn wer o<strong>der</strong> was entscheidet, ob es sich bei solchen<br />

Geräuschen um hörbare Elektrizität von Gewittern o<strong>der</strong> um<br />

Funksprüche von exobiologischer Intelligenz handelt?<br />

<br />

Zuweilen wird das Hörbare erst erkennbar, wenn es visualisiert<br />

wird. Das Phänomen ist den Funksportlern vertraut; e<strong>in</strong> Buch<br />

über Längstwellenempfang zeigt "fischförmige Signale" 33 , und<br />

den Lauschern von whistl<strong>in</strong>g s<strong>in</strong>d die sogenannten "noses"<br />

vertraut, die sich nicht im Akustischen, son<strong>der</strong>n erst <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Visualisierung des Akustischen, im Spektrogramm, zu erkennen<br />

geben:<br />

<br />

Womit wir zum Projekt S.E.T.I. zurückkommen. Was, wenn das<br />

klassische Kommunikationsmodell <strong>der</strong> Semiotik, also die<br />

<strong>in</strong>tentionale Sen<strong>der</strong>/Empfängerbeziehung auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es<br />

geme<strong>in</strong>samen Codes, durch e<strong>in</strong>en nicht­anthropozentrischen bzw.<br />

nicht­hermeneutischen Kommunikationsbegriff ersetzt wird, also<br />

e<strong>in</strong> mathematischer, unsemantischer Begriff von communication<br />

33 Harald Lutz, Längstwellenempfang mit dem PC, Marburg (beam) 2004, 33 (Bild 35)


(Shannon), welche Computer besser begreifen denn Menschen? Je<br />

unwahrsche<strong>in</strong>licher Post aus fernen Welten ist, desto größer ist<br />

die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, daß hier die Medien ihr buntes<br />

Eigenleben entfalten. 34 Ganz unmathematisch und <strong>in</strong>tuitiv wissen<br />

es schon die Amateurfunker, die "DXer", <strong>der</strong>en Akronym sich aus<br />

den Variablen "D"istanz und "X" <strong>für</strong> Unbekannt zusammensetzt ­<br />

<strong>der</strong> Begriff <strong>für</strong> den Empfang und die Suche nach Sen<strong>der</strong>n, von dem<br />

<strong>der</strong> Ort und die genaue Nennung zunächst unbekannt ist.<br />

Am Jet Propulsion Laboratory <strong>in</strong> Pasadena, Kalifornien, ist das<br />

Projekt S.E.T.I. (Search for Extraterrestrial Intelligence)<br />

angesiedelt, auf <strong>der</strong> gezielten Suche nach künstlichen<br />

Funsignalen aus dem Raum außerhalb unseres Sonnesytems. Und am<br />

Ames­Forschungszentrum <strong>der</strong> NASA <strong>in</strong> Nord­Kalifornien werden<br />

Sterne mit Radioteleskopen abgehört, die bis zu 100 Lichtjahre<br />

von <strong>der</strong> Erde entfernt liegen.<br />

Denn es pulsiert wirklich im Weltall: Pulsare s<strong>in</strong>d schnell<br />

rotierende Neutronensterne, die bei je<strong>der</strong> Umdrehung e<strong>in</strong>en<br />

scharf gebündelten Radio­ o<strong>der</strong> Lichtblitz aussenden. Quasar<br />

wie<strong>der</strong>um (e<strong>in</strong> Akronym <strong>für</strong> "quasistellare Radioquelle"), s<strong>in</strong>d<br />

mit rätselhaft hoher Strahlkraft die am weitesten entfernten<br />

Objekte des Universums.<br />

Kosmische H<strong>in</strong>tergrundgstrahlung im Mikrowellenbereich,<br />

gleichmäßig verteilt, ist die noch heute feststellbare schwache<br />

Reststrahlung des Urknalls, wie sie von den aktuellen Nobel­<br />

Preisträgern <strong>für</strong> Physik durch e<strong>in</strong>en komplizierten<br />

Meßmedienaufbau nachgewiesen wurde.<br />

Das irdische Gegenstück zu SETI ist unter dem Codenamen Echelon<br />

vertraut, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> US­amerikanischen National Security<br />

Agency e<strong>in</strong>gesetzte Apparat, <strong>der</strong> aus allen Formen weltweiter<br />

elektronischer Kommunikation verdächtige Begriffe, Namen und<br />

Nummern sortiert und so aus dem Weltlärm Information zu machen<br />

sucht ­ tatsächlich aber vor allem Wirtschaftsspionage und<br />

sogenannte Anti­Terror­Erkennung im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> USA praktiziert.<br />

S.E.T.I. ist demgegenüber "Control space" <strong>in</strong> Potenz (<strong>in</strong><br />

Anlehnung an die vergangene Ausstellung und den volum<strong>in</strong>ösen<br />

Katalog [CTRL] Space am ZKM <strong>in</strong> Karlsruhe), die welt(raum)weite<br />

Ausdehnung aller staatlichen Überwachungsphantasien. Auf <strong>der</strong><br />

34 Frei formuliert nach: Claus Pias, Kontakt. Über die Kommunikation mit<br />

Außerirdischen, Vortrag an <strong>der</strong> Kunsthochschule Berl<strong>in</strong>-Weißensee (KHB), 29. Juni 2004,<br />

abstract


Suche nach Signalen außerirdischer Intelligenz werden alle<br />

Sendefrequenzen überwacht, "die mit e<strong>in</strong>iger Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />

<strong>in</strong> Frage kommen" 35 ­ somit sich die verrtaute signal­to­noise<br />

ratio als Problem stellt. Botschaft o<strong>der</strong> Rauschen (Foucault)?<br />

Die wachenden Computer sollen bei jedem Verdacht auf künstliche<br />

Signale automatisch Alarm schlagen, und dies ist gerade<br />

deshalb möglich, weil Computer selbst "künstlisch" verfaßt<br />

s<strong>in</strong>d, also <strong>für</strong> künstliche Signale das bessere<br />

(medienarchäologische) Ohr haben, konkret: In Echtzeit werden<br />

durch digitale Mustererkennung alle vetrauten Störgeräusche<br />

ausgefiltert (als Teil <strong>der</strong> Mustererkennungskette). Alles wird<br />

aufgezeichnet ­ die Bed<strong>in</strong>gung von Datenabgleich. Rund 89% aller<br />

gespeicherten Beson<strong>der</strong>heiten s<strong>in</strong>d dabei simples Rauschen. Der<br />

Physiker Freeman Dyson von <strong>der</strong> Pr<strong>in</strong>ceton University sagt es:<br />

"SETI braucht ke<strong>in</strong> teures Superauge aus Hun<strong>der</strong>ten von Radio­<br />

Teleskopen. Was gebraucht wird, s<strong>in</strong>d gute Computer" ; damit löst sich die "Beobachtung" des Weltraums endgültig<br />

von den medientechnischen Erweiterungen menschlicher Augen<br />

durch Teleskope (jenseits des Hun<strong>der</strong>täugigen Argus <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

altgriechischen Mythologie). "Wahrsche<strong>in</strong>lich werden wir nur e<strong>in</strong><br />

Wellenmuster empfangen, das schwer zu <strong>in</strong>terpetieren se<strong>in</strong> wird",<br />

ergänzt Dyson. Längst schauen wir nicht mehr nur teleskopisch<br />

<strong>in</strong>s All, womit Galilio Galilei e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong>e neue Epoche<br />

vermittelter Wahrnehmung begründete (Si<strong>der</strong>eus Nuntius, 1610),<br />

son<strong>der</strong>n erhorchen es: Radio.<br />

E<strong>in</strong> Kommilitone hat uns die Schallplatte Projekt S.E.T.I..<br />

Signale aus dem All, e<strong>in</strong> Hörspiel von P. Bars, zukommen<br />

lassen. 36 Unsere Hoffnung, damit Botschaften von Außerirdischen<br />

zu lauschen, scheiterte zunächst daran, daß sich ke<strong>in</strong><br />

klassischer Schallplattenspieler mehr f<strong>in</strong>den ließ. Doch zum<br />

Glück versammelt <strong>der</strong> Medienarchäologische Fundus altes und<br />

uraltes Gerät, und so spielen wir die Platte auf e<strong>in</strong>em<br />

mechanischen, handgekurbelten Grammophon ab:<br />

<br />

Unversehens wird aus den erwarteten Signalen von Außerirdischen<br />

hier die Botschaft e<strong>in</strong>es Mediums <strong>der</strong> Vergangenheit ­ nämlich<br />

das Kratzen des Grammophons ­ zwei Formen von Ferne. Mit dem<br />

35 Re<strong>in</strong>hard Breuer, Schweigt da draußen wer?, <strong>in</strong>: Geo Nr. 2 v. 6. November 1989, 167-<br />

170 (167)<br />

36 maritim Langspielplatten (Gruner + Jahr,. Hamburg); Herstellung: Sonopress, Mohn<br />

OHG (Gütersloh) LC 2525, auch alsStereo 47 650 NW


schnellen Vergehen neuer Medientechnologien werden Signale aus<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit bald so unverständlich se<strong>in</strong> wie die aus den<br />

Tiefen des Weltalls.<br />

Als Ersatz <strong>für</strong> die Enttäuschung des Hörspiels, welches die<br />

wahrhaft hermeneutische Herausfor<strong>der</strong>ungen des Signal­Rausch­<br />

Abstands (Hermes selbst vermittelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> altgriechischen<br />

Mythologie als Götterbote zwischen Himmel und Erde ­ e<strong>in</strong><br />

Signalträger) durch e<strong>in</strong>e plumpe Erzählung entschärft, lauschen<br />

wir noch e<strong>in</strong>mal den spherics:<br />

<br />

Elektrotechnische Medien stehen dem Wesen <strong>der</strong> Quasare hörbar<br />

näher als es e<strong>in</strong> mechanisches Medium o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> menschliches<br />

Organ je vermag.<br />

Das im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Relativitätstheorie ernsthafte Gegenstück zu<br />

S.E.T.I. ist die Vermessung von Gravitationswellen, von <strong>der</strong><br />

unter dem schönen Titel Warten auf die Welle <strong>der</strong><br />

Deutschlandfunk am 26. November 2006 berichtete.<br />

Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> formulierte solche Verzerrungen im Raum­Zeit­<br />

Gefüge durch Gravitation; bildhaft imag<strong>in</strong>ierbar ist dies <strong>in</strong><br />

Form e<strong>in</strong>er Kugel, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e flexible Membran drückt<br />

(e<strong>in</strong>e Raum­Zeit­Membran), zu <strong>der</strong>en Verformung führt und<br />

zugleich damit kle<strong>in</strong>ste Wellen auslöst, die abstrahlen. Alles,<br />

was Welle ist, läßt sich pr<strong>in</strong>zipiell messen ­ eben so, wie die<br />

frühe Radioastronomie Phänomene nachwies, die mit optischen<br />

Teleskopen bislang nie vermutet worden waren (Pulsare,<br />

Quasare). Die Detektoren von entfernten Gravitationswellen s<strong>in</strong>d<br />

Meßl<strong>in</strong>eale aus Laserstrahlen von mehreren hun<strong>der</strong>t Metern Länge<br />

(etwa GEO 650 <strong>in</strong> Hannover) bis zum kilometerlangen Detektor <strong>in</strong><br />

Liv<strong>in</strong>gston (USA). Das Gravitationswellen<strong>in</strong>feromenter ist e<strong>in</strong><br />

optisches Präzisionsmeßgerät, um kle<strong>in</strong>ste Abweichungen<br />

zwischen zwei Signalen (die dann eventuell auf e<strong>in</strong>e<br />

Gravitationswelle schließen lassen) noch feststellen zu können:<br />

Abweichung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Größenordnung etwa e<strong>in</strong>es Tausendstels <strong>der</strong><br />

Größe e<strong>in</strong>es Atomkerns; <strong>der</strong> optische Meßaufbau von Michelson /<br />

Morley zum ­ vergeblichen ­ Nachweis von Ätherw<strong>in</strong>den war<br />

demgegenüber harmlos. Die zu diesem Zweck aufgespannten Laser<br />

<strong>in</strong> Hochvakuumräumen strahlen <strong>in</strong> völliger Stille; gegen<br />

eventuell die Messung verfälschende Erschütterungen (etwa das


Baumfällen im angrenzenden Wald) dient e<strong>in</strong>e Hydraulik, die<br />

solche Abweichungen vom Gleichgewicht <strong>in</strong> computierter Echtzeit<br />

korrigiert ­ klassisches (negatives) Feedback.<br />

Alle möglichen Signale werden empfangen, die fast sämtlich<br />

schon <strong>in</strong>tensiver s<strong>in</strong>d als die gesuchten Signale von<br />

Gravitationswellen. Daher die digitale Durchmusterung und die<br />

automatische Ausfilterung <strong>der</strong> vertrauten Signale durch<br />

Mustererkennung. E<strong>in</strong>en "Quantensprung" solcher Meßmöglichkeiten<br />

aber wird es bedeuten, wenn nicht mehr Laser­L<strong>in</strong>eale auf <strong>der</strong><br />

Erde aufgespannt werden, son<strong>der</strong>n drei Satelliten im Weltall<br />

verortet werden (Projekt LISA), zwischen denen Laserstrahlen<br />

(­signale) gesendet werden, über Millionen von Kilometern. Die<br />

reagieren zwar auf an<strong>der</strong>e Frequenzen, s<strong>in</strong>d aber befreit von<br />

irdischen Irritationen ­ e<strong>in</strong>e Art trigonometrisches<br />

Meß<strong>in</strong>strument, das sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e mediale Konfiguration auflöst.<br />

Aber Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitswellen lassen sich nicht messen.<br />

Achten wir daher ­ aus <strong>der</strong> Perspektive von Medienwissenschaft ­<br />

auf die konstiutive Rolle von Meßmedien im Wissens­ und<br />

Erkenntnisprozeß. "Wirklich ist, was sich messen läßt", sagt<br />

Max Planck; Daten kommen zur Existenz nur im Akt <strong>der</strong> Messung ­<br />

sei es im physiologischen S<strong>in</strong>n (die S<strong>in</strong>neswahrnehmung <strong>der</strong><br />

Lebewesen, die erstaunlicherweise ebenfalls <strong>in</strong> diskreten<br />

Frequenzen operiert), o<strong>der</strong> durch Meßapparate. Nick Herbert<br />

beschreibt es unter <strong>der</strong> schönen These, "nur Werner alle<strong>in</strong>" ­<br />

geme<strong>in</strong>t ist Heisenberg ­ habe "die nackte Realität" gesehen ­<br />

gerade weil er sie nicht sah, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>härente Grenze des<br />

theoría­Begriffs <strong>in</strong> <strong>der</strong> Quantenphysik:<br />

Ke<strong>in</strong>e Aufzeichnung, ke<strong>in</strong>e Messung. Nur jene Interaktionen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur, die<br />

permanente Spuren (Aufzeichnungen) h<strong>in</strong>terlassen, zählen als<br />

Messungen. Nur aufzeichnende Geräte haben die Macht, vielwertige<br />

Möglihckeiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>wertige Tatsachen zu verwandeln. 37<br />

Tonaufzeichnung <strong>in</strong> technischen Schriften<br />

Kehren wir aus <strong>der</strong> Erforschung ferner Welten zurück <strong>in</strong>s Reich<br />

<strong>der</strong> kulturellen Klänge, also irdische Musik. Resümiern wir:<br />

Durch Fourier­Analyse hat Kultur das Ereignis Klang <strong>in</strong> den<br />

37 Nick Herbert, Werner alone has looked on reality bare. Proposal for a really new "New<br />

Physics", dt. u. engl. <strong>in</strong>: Gottfried Hatt<strong>in</strong>ger u. a. (Hg.), Ars Electronica 1990, Bd. II:<br />

Virtuelle Welten, L<strong>in</strong>z 1990, 39-49 (42)


numerischen Griff bekommen, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>e Analyse des<br />

zeitlichen Ereignisses Klang auf <strong>der</strong> Frequenzebene ermöglich<br />

und auf e<strong>in</strong>en Blick, als Klangbild, sichtbar macht. Signale,<br />

also zeitlichen Ereignisse, werden so im Raum archivierbar ­<br />

Less<strong>in</strong>gs Laokoon­Theorem von 1766 <strong>in</strong> überraschen<strong>der</strong> Form.<br />

Gesang und Sprache werden so zählbar macht, das "Alpha"<br />

sozusagen numerisiert. Von daher das die Motivwahl auf dem<br />

Buchumschlag des Buchs Die Geburt des Vokalalphabets auf dem<br />

Geist <strong>der</strong> Poesie; hier sehen wir e<strong>in</strong>erseits auf <strong>der</strong> Diplyon­<br />

Kanne aus Athen e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> frühesten hexametrischen, also noch<br />

<strong>der</strong> oralen Poesie zugehörigen Schriftzeugnisse im Vokalalphabet<br />

("Wer nun von all den Tänzern am anmutigsten tanzt, <strong>der</strong> soll<br />

dies erhalten" 38 ), aber unterlegt mit dem l<strong>in</strong>ear skalierten<br />

Spektrogramm <strong>der</strong>selben Worte <strong>in</strong> Altgriechisch, gelesen und<br />

gesprochen vom maßgeblichen Erforscher des Zusammenhangs von<br />

Homer und Vokalalphabet, dem Altphilologen Barry Powell. 39 Der<br />

Untertitel des Buches lautet "Schrift, Zahl und Ton im<br />

Medienverbund", denn Zahlen, also Numerik ist es, die hier <strong>der</strong><br />

Musikalität des phonetischen Alphabets auf die Spur kommt.<br />

In diesem (fast) frühesten Denkmal des griechischen<br />

Vokalalphabets aus <strong>der</strong> Mitte des 8. Jahrhun<strong>der</strong>ts v. Chr.<br />

vere<strong>in</strong>en sich Tanz und Schrift. Der elegante Hexamter geht am<br />

Ende über <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Kernbestandteil alphabetischer Schreibübung,<br />

die Serie (das Intervall) LMN, aus <strong>der</strong> dann <strong>der</strong> late<strong>in</strong>ische<br />

Begriff elementum entspr<strong>in</strong>gt ­ e<strong>in</strong>e veritable Medienarchäologie<br />

des Vokalalphabets. Doch erst, wenn mit solchen Elementen nicht<br />

nur erzählt, son<strong>der</strong>n auch gezählt, also buchstäblich gerechnet<br />

wird, kommt es im Medienverbund von Schrift, Zahl und Ton zu<br />

e<strong>in</strong>em techno­mathematischen Tanz, auf daß junge Berl<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />

Jetztzeit es an Grazie mit antiken Griechen aufzunehmen<br />

vermögen. So erreichen wir über die Fourier­Analysen am Ende<br />

die Welt <strong>der</strong> Wavelets; auf <strong>der</strong> Basis dieser Analyse wird das<br />

Spektrogramm des von Barry Powell artikulierten ersten<br />

vokalalphabetisch notierten Hexameters zum Mosaikbild.<br />

Dergleiche Satz läßt sich mit <strong>der</strong> Software Signalscope<br />

analysieren. Hier kommt zum Vollzug, was Mart<strong>in</strong> Heidegger <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Schrift Die Zeit des Weltbilds anhand <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>en<br />

38 Lesart und Umschrift <strong>der</strong> Inschrift nach Autopsie von Barry B. Powell, The Dipylon<br />

o<strong>in</strong>ochoe and the spread of literay <strong>in</strong> eight-century Athens, <strong>in</strong>: Kadmos. Zeitschrift <strong>für</strong><br />

vor- und frühgriechische Epigraphik, Bd. XXVII, Heft 1 (1988), 65-86<br />

39 Wolfgang Ernst / Friedrich Kittler (Hg.), Der Ursprung des Vokalalphabets aus dem<br />

Geist <strong>der</strong> Poesie, München (F<strong>in</strong>k) 2006


Physik und Geschichtsschreibung diagnostizierte: Technologie<br />

transzendiert das Humane als Anspruch, <strong>der</strong> über den Menschen,<br />

über dessen Planen und Betreiben h<strong>in</strong>ausgeht. "Das Eigenste <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen Technik ist ke<strong>in</strong> bloß menschliches Gemächte" mehr 40 ,<br />

und laut Norbert Wiener we<strong>der</strong> Materie noch Energie, son<strong>der</strong>n<br />

Information. Zwischen Materie und Energie tritt medienoperativ,<br />

also computergeworden, die mathematische Ebene ­ e<strong>in</strong>e neue<br />

Qualität (wenn nicht Kategorie) des aristotelischen to metaxy.<br />

Aus <strong>der</strong> passiven Fourier­Analyse folgt medientechnisch aktiv<br />

die Synthetisierbarkeit von Klang, Stimme und Musik ­ <strong>der</strong><br />

elektronische Synthesizer. Zunächst auf symbolischer Ebene,<br />

doch mit <strong>der</strong> granular synthesis auch als Nachbildung <strong>der</strong><br />

Materialität, <strong>der</strong> Physik <strong>der</strong> Klangorgane (Instrumente, Stimme)<br />

selbst. 41<br />

Hiermit kommen erneut technologische Medien als Meßmedien <strong>in</strong>s<br />

Spiel. Vielleicht steht das Sonoskop gerade als digitales Gerät<br />

auf Seiten <strong>der</strong> Quanten, weil es quantisiert. Das Sonoskop<br />

erlaubt es, Mikrotöne und Mikro<strong>in</strong>tervalle wahrzunehmen, zum<br />

Beispiel jene Obertöne, die bei <strong>der</strong> Flöte, Klar<strong>in</strong>ette, Tuba und<br />

<strong>der</strong> menschlichen Stimme aus m<strong>in</strong>imalen Bewegungen <strong>der</strong> Lippen<br />

resultieren. 42 Wenn Norbert Wieners mathematische Kybernetik<br />

harmonische Klanganalyse "sub specie aeternitatis" gegen<br />

kle<strong>in</strong>ste zeitliche Än<strong>der</strong>ungen ausspielt, er<strong>in</strong>nert dies an jenen<br />

Neuplatonismus, <strong>in</strong> dem die Bedeutung des Wortes aión (Ewigkeit)<br />

dah<strong>in</strong>gehend verschoben wurde, daß sie "<strong>in</strong> kurzen, blitzhaften<br />

Momenten aufsche<strong>in</strong>t" 43 ­ das Wesen <strong>der</strong> elektrischen Funken.<br />

Der Medienarchäologen nimmt dabei (im theoretisch­methodischen<br />

"als ob") die Perspektive <strong>der</strong> Aufzeichnungsmedien selbst e<strong>in</strong>,<br />

die bekanntlich nicht e<strong>in</strong>seitig auf die Wahrnehmung <strong>der</strong><br />

kulturellen Akts ausgerichtet ist, son<strong>der</strong>n den Gesang und Musik<br />

gleichrangig wie jedes an<strong>der</strong>e akustische o<strong>der</strong> klangliche<br />

40 Mart<strong>in</strong> Heidegger, Überlieferte Sprache und technische Sprache [*Vortrag 1962], St.<br />

Gallen (Erker) 1989, 19<br />

41 Siehe Timothy Druckrey, Chaos-Piloten/Ereignis-Horizonte, <strong>in</strong>: Elisabeth Schweeger<br />

(Hg.), Granular Synthesis / Gelat<strong>in</strong>, Ostfil<strong>der</strong>n-Ruit (Cantz) 2001, 41-52<br />

42 Luigi Nono, Auf dem Weg zu Prometheus. Fragmente aus den Tagebüchern, <strong>in</strong>:<br />

Massimo Cacciari / Dieter Rexroth (Hg.), Luigi Nono: "Prometeo", Programmheft Alte<br />

Oper Frankfurt 1987. Nono zielt hier vor allem auf bislang kaum wahrnehmbare<br />

Mikroereignisse <strong>in</strong> <strong>der</strong> hebräischen Phonetik.<br />

43 Nils Röller, Leise Musik hört man besser. Luigi Nonos und Massimo Cacciaris Arbeit<br />

an <strong>der</strong> Tragödie des Hörens, <strong>in</strong>: LAB. Jahrbuch 2001/01 <strong>der</strong> Kunsthochschule <strong>für</strong> Medien<br />

Köln, Köln (Walther König) 2001, 291-301 (292), unter Bezug auf Massimo Cacciaris<br />

Hauptwerk Dell´<strong>in</strong>izio.


Ereignis auch behandelt ­ um den Preis, daß e<strong>in</strong> technisches<br />

Medium ke<strong>in</strong>en Begriff von "Musik" hat, weil dieser Begriff mit<br />

kultureller Semantik unauflöslich verstrickt ist. Dies ist<br />

zugleich schon die Perspektive <strong>der</strong> Physiologie des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts, die hochtechnische Mediensysteme kognitiv<br />

vorbereitet. So schreibt Hermann von Helmholtz „Ueber die<br />

physiolosgischen Ursachen <strong>der</strong> musikalischen Harmonie“ (1857):<br />

Es ist gleichgültig, ob <strong>der</strong> Ton gebildet wird durch die schw<strong>in</strong>genden Saiten des<br />

Clavieres und <strong>der</strong><br />

Viol<strong>in</strong>e, durch die Stimmbän<strong>der</strong> des menschlichen Kehlkopfes o<strong>der</strong> durch die<br />

Brechung <strong>der</strong> Luft an<br />

den scharfen Lippen <strong>der</strong> Orgelpfeifen und Flöten. Zwei Töne von gleicher<br />

Schw<strong>in</strong>gungszahl s<strong>in</strong>d<br />

immer gleich hoch. 44<br />

Claude Shannon hat se<strong>in</strong>e mathematische Theorie <strong>der</strong><br />

Kommunikation gleichrangig <strong>für</strong> den ganzen Bereich von<br />

menschlicher bis h<strong>in</strong> zu teleapparativer Signalübertragung<br />

formuliert ­ allesamt "communication <strong>in</strong> the presence of<br />

noise". Lange Zeit galten Geräusche als häßlich gegenüber<br />

harmonischen Tönen 45 , doch gerade hier wird das Fourier­Theorem<br />

mächtig, demzufolge je<strong>der</strong> beliebige Schw<strong>in</strong>gungsverlauf, also<br />

auch e<strong>in</strong> geräuschhaft­häßlicher, durch die Addition e<strong>in</strong>facher<br />

S<strong>in</strong>usschw<strong>in</strong>gungen nachgebildet werden kann. Schreiben wir an<br />

<strong>der</strong> Tafel die Buchstabenfolge "MEDIUM" an, läßt sich dieses<br />

Wort sequentiell zerlegen; als Ton empfundenen aber wären<br />

diese Buchstaben <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zuschreiben.<br />

"Nichts<strong>in</strong>usförmige Schw<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d bei <strong>der</strong> Tonerzeugung <strong>der</strong><br />

Regelfall" , sei es nun die menschliche<br />

Stimme, Musik<strong>in</strong>strumente o<strong>der</strong> die meisten Geräuschquellen. Da<br />

das menschliche Ohr se<strong>in</strong>erseits offenbar e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige<br />

Fourier­Analyse vollzieht, rückt das Theorem <strong>in</strong>s Zentrum e<strong>in</strong>er<br />

dezidiert medienanthropologischen Sicht ­ im Unterschied zum<br />

technischen Recor<strong>der</strong>, <strong>der</strong> gerade nicht schon von sich aus<br />

Klangaufnahmen fourieranalysiert. Was also macht die<br />

musikalische Differenz? Die Analyse <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gehenden Welle im<br />

Innenohr (Basilarmembran) steht immer schon im zeitkritischen<br />

Verbund mit komplexen Vorgängen an<strong>der</strong>er Art: "Es werden<br />

E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Hörbahn und im Gehirn <strong>in</strong> <strong>der</strong>en weiteren<br />

Analyse und S<strong>in</strong>ngebung von Schallen e<strong>in</strong>gesetzt" . Erst im<br />

44<br />

In: <strong>der</strong>s., Vorträge und Reden, Bd. I, Braunschweig (Vieweg) 1896 (Erstaufl. 1865),<br />

124f<br />

45 Alle<strong>in</strong> Archytas von Terent wagt hier über Pythagoras h<strong>in</strong>auszugehen; dazu Kittler<br />

2006


Kopplung mit dieser "S<strong>in</strong>ngebung" wird aus Klang Musik; <strong>der</strong><br />

strikt medienarchäologische Anteil bescheidet sich mit <strong>der</strong><br />

Erklärung von Prozessen <strong>der</strong> Analyse und <strong>der</strong> Signalübertagung.<br />

Reformulieren wir diese Erkennntnisse <strong>in</strong> ihrer<br />

epistemologischen Dimension: Fourier setzt <strong>der</strong> altgriechischatomistischen,<br />

primär statischen Analyse von Materie (im<br />

Verbund mit den stoicheia des Alphabets) die dynamische<br />

Beschreibung von Naturersche<strong>in</strong>ungen als Summen von Schw<strong>in</strong>gungen<br />

entgegen ­ die ganze Differenz zwischen alphabetischer Schrift<br />

und <strong>der</strong> kl<strong>in</strong>genden Saite.<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts r<strong>in</strong>gt sich dann<br />

quantenphysikalisch die Erkenntnis durch, daß Licht Wellen­ und<br />

Teilchencharakter hat ­ e<strong>in</strong> Dualismus. Bei dieser Beschreibung<br />

s<strong>in</strong>d Impuls und Wellenvektor über die Plancksche Konstante h<br />

mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verknüpft; 1924 machte Louis de Broglie den<br />

Vorschlag, Teilchen etwa vom Typ Elektronen umgekehrt auch<br />

Welleneigenschaften zuzuschreiben. 46<br />

An dieser Stelle erneut die Er<strong>in</strong>nerung an jene Szene, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

dieses Verhältnis zu e<strong>in</strong>em kulturellen wird: die im Zuge <strong>der</strong><br />

Parry/Lord­Expeditionen nach Südjugoslawien erstellte<br />

Tonfilmaufnahme e<strong>in</strong>er Darbietung des Guslars Avdo Medejovich:<br />

<br />

Was vermag e<strong>in</strong> mit FFT erstelltes Spektrogramm solcher Gesänge<br />

zu erfassen? Gewiß den puren akustischen Signalfluß,<br />

<strong>in</strong>differenz gegenüber an<strong>der</strong>en Ereignissen. Signalanalyse als<br />

Ents<strong>in</strong>nlichung, d. h. Loslösung vom Primat <strong>der</strong><br />

Wahrnehmungskanäle im Menschen, wurde von den klassischen<br />

audiovisuellen Analogtechniken längst praktiziert, bevor es zu<br />

Mathematik und medientheoretisch e<strong>in</strong>geholt wurde. Denn<br />

Grammophon und Film speichern akustische und optische Daten<br />

e<strong>in</strong>erseits strikt seriell ­ gerade damit aber "mit<br />

übermenschlicher Zeitachsen­Präzision" .<br />

Damit ist das Monopol des Alphabets und des Buchdrucks auf<br />

Speicherung serieller Daten gebrochen, mit Konsequenzen <strong>für</strong><br />

die poetische Kultur selbst.<br />

46 Webpage "Elektronenbeugung" des RCL (Remotely Controlled Laboratories); URL:<br />

http://rcl.physik.uni-kl.de (Zugriff 7. Dezember 2006)


Zwar gel<strong>in</strong>gt die Speicherung serieller Daten im Speichermedium<br />

Buch, das selbst aber eher wie e<strong>in</strong>e Zeichenmatrix aus Zeilen<br />

und Spalten aufgebaut ist; Joseph Frank (1981) nennt dies die<br />

"spatial form" von Texten gegenüber <strong>der</strong> chronologischen<br />

Ordnung. 47 Erst durch den lesenden Mensch werden diese Symbole<br />

wie<strong>der</strong> serialisiert. Solche Ingangsetzung von Zeichenketten<br />

wird mit dem Phonographen und <strong>der</strong> K<strong>in</strong>ematographie erstmals<br />

durch Apparate geleistet, Datenreproduktion im Vollzug ­ vorab<br />

e<strong>in</strong>e exklusive menschiche Kulturleistung, die nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt<br />

technischer Medien sich vollzieht.<br />

Das Argument Platons, wir er<strong>in</strong>nern uns, lautete: Schrift tötet<br />

die mündliche (orale) Gedächtniskultur; daran schlossen Milman<br />

Parry und Albert Lord an <strong>in</strong> ihrem Versuch, schriftlose<br />

homeroide Poesie <strong>in</strong> Serbien­Montenegro zu fassen, und erhielt<br />

e<strong>in</strong>en medientheoretischen Unterbau mit McLuhan 1962. Zugleich<br />

tritt mit Parry/Lord an die Stelle von Schrift als<br />

Stimmaufzeichnung <strong>der</strong> technische Apparat: das<br />

elektromechanische Direktschneidegerät, <strong>der</strong> elektromagnetische<br />

Tondraht. Erfunden zum Zweck <strong>der</strong> Notation <strong>der</strong> Gesänge Homers,<br />

gereichte die Kulturtechnik Vokalalphabet zur symbolischen<br />

Analyse <strong>der</strong> sprachlichen Klänge (Barry Powell); demgegenüber<br />

unterläuft die medientechnische Klangaufzeichnung diese Schrift<br />

und bedeutet damit das Ende des Vokalalphabets zugunsten<br />

tatsächlicher Phonographie (Speichern) und Telegraphie<br />

(Übertragen). Rudyard Kipl<strong>in</strong>g schreibt über die damaligen<br />

Unterseekabel (die Bed<strong>in</strong>gung <strong>für</strong> das Britische Empire 48 ):<br />

Sprachliche Worte lösen sich, <strong>in</strong> elektromagnetische Impulse<br />

verwandelt, auf <strong>in</strong> klanglose Signalketten, die auf dem Grunde<br />

des Meeres nur flüstern "Let us be one" 49 ­ <strong>der</strong> Fluch <strong>der</strong><br />

Diskretisierung (ob <strong>in</strong> alphabetischer Form o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Signalform).<br />

Auf diesem tiefen telegraphischen Meeresgrund aber nistet e<strong>in</strong>e<br />

<strong>der</strong> größten Provokationen <strong>der</strong> elektrischen Medien, denn sie<br />

erschüttert die Grundlagen elektromagnetischer<br />

Energieübertragung. Die drahtlose Signalübertragung ­ <strong>für</strong> die<br />

He<strong>in</strong>rich Hertz epistemologisch steht ­ war seit <strong>der</strong> Zeit ihres<br />

Aufkommens als e<strong>in</strong> Durchbruch betrachtet worden. "In<br />

Wirklichkeit jedoch hemmte sie die theoretische Entwicklung." 50<br />

47 Dazu David J. Bolter, Writ<strong>in</strong>g space. The computer, hypertext, and the history of<br />

writ<strong>in</strong>g, xxx, 159<br />

48 Dazu Bernhard Siegert, Eskalation e<strong>in</strong>es Mediums. Die Lichtung des Radiohörens im<br />

Hochfrequenzkrieg, <strong>in</strong>: On the Air. Katalog, hg. v. Transit (Innsbruck), Redaktion: Heidi<br />

Grundmann / Nicola Mayr, Wien 1993, 13-39<br />

49 H<strong>in</strong>weis Daniel Gethmann, Tagung 100 Jahre Radio, ORF Wien, 19. Januar 2007<br />

50 Ivor Catt, Fundamentals of electromagnetic energy transfer, <strong>in</strong>: Electronics & Wireless


In den Jahren nach 1870 arbeitete Oliver Heaviside daran, die<br />

Impuls­Signalgabe längs e<strong>in</strong>er Übertragungsleitung zu<br />

verbessern (konkret die Untersee­Telegraphen­L<strong>in</strong>ie zwischen<br />

Newcastle und Dänemark). Diese praktische Erfahrung führte ihn<br />

zur Electromagnetic Theory und konkret zur Entdeckung des<br />

Konzepts des "Energie­Stromes".<br />

Die drahtlose Übertragung ist e<strong>in</strong>e resonante, stationäre Aktivität. Sie ist weit weniger<br />

bestimmend <strong>für</strong> die erfolgreiche Entwicklung <strong>der</strong> elektro-magnetischen Theorie als ihr<br />

sche<strong>in</strong>bar primitiver Vorläufer, <strong>der</strong> transversale elektro-magnetische Übergang<br />

o<strong>der</strong> Impuls. Er pflanzt sich - geführt von zwei elektrischen Leitern - unverzerrt mit<br />

Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit fort. Der Zauber, die magische Natur <strong>der</strong> drahtlosen<br />

Signalübertragung verursachte die Unterdrückung und den späteren Verlust e<strong>in</strong>es<br />

Verständnisses, durch welchen Mechanismus sich e<strong>in</strong> Signalimpuls von e<strong>in</strong>em logischen<br />

Gatter zum nächsten mit Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit fortpflanzt. <br />

E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> aber leuchtete durchaus nicht e<strong>in</strong>, daß, wenn man e<strong>in</strong>en<br />

Lichtstrahl mit <strong>der</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit c (also<br />

Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit im Vakuum) verfolgt, e<strong>in</strong>en solchen<br />

Lichtstrahl als e<strong>in</strong> räumlich ruhendes, oszillierendes elektromagnetisches<br />

Feld beobachten können solle ­ we<strong>der</strong> aufgrund <strong>der</strong><br />

Erfahrung noch gemäß Maxwells Gleichungen. 51 Seitdem klafft e<strong>in</strong><br />

epistemologischer Abgrund zwischen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Physik und dem<br />

Ingenieurwesen <strong>der</strong> digitalen Elektronik. "Letztere nämlich<br />

basiert auf dem logischen Impuls, den EINSTEIN als absurd<br />

ablehnte (Innerhalb <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de <strong>der</strong> "Mo<strong>der</strong>nen Physik" ist die<br />

e<strong>in</strong>zig mögliche elektro­magnetische Fortpflanzungsart die<br />

S<strong>in</strong>uswelle, während die digitale Elektronik auf dem Impuls<br />

aufbaut" .<br />

Beschränken wir uns hier jedoch auf den sonischen Impuls.<br />

Fortan ist <strong>der</strong> Vokal A nicht <strong>der</strong> <strong>der</strong> symbolische Garant <strong>für</strong><br />

allen Anfang (die kulturelle Mythologie des Alpha/Aleph),<br />

son<strong>der</strong>n löst sich (aus medienarchäologischer Perspektive <strong>der</strong><br />

Apparate ­ die hier vorgeschlagene Methode) auf, um fortan eher<br />

den Hunden denn den Menschen nahezustehen: "Falls es etwas<br />

gibt, wodurch das Sprechen mit e<strong>in</strong>er absolut a­signifikanten<br />

vokalen Funktion, die dennoch alle möglichen Signifikate<br />

enthält, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>geht, dann ist es wohl das, was uns<br />

schau<strong>der</strong>n läßt, wenn <strong>der</strong> Hund den Mond anbellt." 52 Doch <strong>der</strong><br />

Mund ger<strong>in</strong>nt auf Grammophon zu "his master´s voice".<br />

World, Sept. 1984, 45ff, Auszug; Übersetzung: Ekkehard Friebe. http://www.ekkehardfriebe.de/Catt1984.htm;<br />

Zugriff 25. Januar 2007<br />

51 Siehe Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>. Philosopher-Scientist, hg. v. P. A. Schilpp (= Library of Liv<strong>in</strong>g<br />

Philosophers), 1949, 53<br />

52 Jacques Lacan, Die Psychosen. Das Sem<strong>in</strong>ar, We<strong>in</strong>heim u. a. 1997, 166


"Um 1900 wird die Ersatzs<strong>in</strong>nlichkeit Dichtung ersetzbar <br />

durch Techniken" . Mit dem Begriff <strong>der</strong><br />

"Ersatzs<strong>in</strong>nlichkeit" kl<strong>in</strong>gt Kittlers Mediengeschichtsmodell an:<br />

Die deutsche Romantik <strong>in</strong> Philosophie (Idealismus) und Kunst<br />

(Roman) nimmt proleptisch vorweg, was Medientechniken dann<br />

e<strong>in</strong>holen ­ e<strong>in</strong>e Variable also wird vorweg def<strong>in</strong>iert, die dann<br />

positiv e<strong>in</strong>getragen wird.<br />

"Das Grammophon entleert die Wörter, <strong>in</strong>dem es ihr Imag<strong>in</strong>äres<br />

(Signifikate) auf Reales (Stimmphysiologie) h<strong>in</strong> unterläuft"<br />

. Folglich s<strong>in</strong>d die ersten Sprechproben auf<br />

dem Phonographen, wie sie im Wiener Phonogrammarchiv<br />

überliefert s<strong>in</strong>d, Autoreferenzen des Mediums selbst, nicht mehr<br />

des Menschen. Der Phonograph läßt Kaiser Franz Joseph I. am 2.<br />

August 1903 bei e<strong>in</strong>er Audienz Sigmund Exners <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kaiser­<br />

Villa <strong>in</strong> Ischl sagen, daß hier e<strong>in</strong> Stimmgedächtnis jenseits des<br />

Alphabets festschreibbar wird:<br />

<br />

Wohl s<strong>in</strong>d die Konstruktionsschwierigkeiten des Apparates noch nicht vollständig<br />

überwunden. Doch es wird dessen ungeachtet von Interesse se<strong>in</strong>, auch <strong>in</strong> dieser nicht<br />

ganz vollkommenen Weise die Stimmen hervorragen<strong>der</strong> Persönlichkeiten aus früheren<br />

Zeiten zu vernehmen und <strong>der</strong>en Klang und Tonfall, sowie die Art des Sprechens,<br />

gewissermaßen als historisches Dokument, aufbewahrt zu erhalten. <br />

Und am Ende (ver)heißt es <strong>in</strong> dieser hochwohlgeborenen Aufnahme:<br />

"Es hat mit sehr gefreut, auf Wunsch <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong><br />

Wisenschaften me<strong>in</strong>e Stimme <strong>in</strong> den Apparat h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zusprechen und<br />

dieselbe dadurch <strong>der</strong> Sammlung e<strong>in</strong>zuverleiben." 53 So tritt neben<br />

die zwei Körper des Königs e<strong>in</strong> medialer Drittkörper. Der<br />

Apparat (und die Sammlung) wird e<strong>in</strong> Vampyr, <strong>der</strong> vom<br />

menschlichen Input (als "Inhalt") lebt wie das Mikrophon <strong>der</strong><br />

Radiopionierzeit, das die Reporter zum Schreien zwang.<br />

53 Zugleich Nr. 1 aus <strong>der</strong> Sample-CD-ROM hörBar. Ausschnitte von Aufnahmen aus dem<br />

Phonogrammarchiv des Wiener Phonogramm-Archivs, Österreichische Akademie <strong>der</strong><br />

Wissenschaften, 1999 = OEAW PHA CD D1


Technische Medien s<strong>in</strong>d imstande, akustische und optische Daten<br />

nicht mehr nur symbolisch kodiert, son<strong>der</strong>n als Signalflüsse<br />

selbst aufzuzeichnen und wie<strong>der</strong>zugeben. Schauen wir auf die<br />

verschiedenen Repräsentationsmöglichkeiten e<strong>in</strong>es Musikstücks <strong>in</strong><br />

kulturtechnischer Notation (Notendarstellung), als<br />

oszillographische Anzeige des zeitlichen Verlaufs <strong>der</strong><br />

Schallwellen (Audioanalyse), und als mathematisch­graphisches<br />

Frequenzspektrum (Fouriertransformation):<br />

<br />

Hier s<strong>in</strong>d nicht schlicht "verschiedene Sichten auf e<strong>in</strong><br />

Musikstück" realisiert, son<strong>der</strong>n damit<br />

auch schon <strong>Medientheorie</strong>n vorgegeben. Medienpraktisch erlaubt<br />

e<strong>in</strong>e digitale Darstellung dieser Varianten die Simulation<br />

physikalischer Vorgänge <strong>in</strong> Echtzeit (wie es im parallel<br />

distributed comput<strong>in</strong>g auf die Spitze getrieben wird):<br />

Die Noten können zeitlich verschoben, ihre Dauer verlängert, die Tonhöhe verän<strong>der</strong>t<br />

werden. In <strong>der</strong> Audiodarstellung lassen sich Lautstärkehüllkurven def<strong>in</strong>ieren, um so die<br />

Dynamik anzupassen. Im Frequenzbereich kann das Spektrum durch e<strong>in</strong>e Filterkurve<br />

bearbeitet werden. Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> graphischen Darstellung s<strong>in</strong>d je<strong>der</strong>zeit akustisch<br />

erfahrbar. <br />

Wurden lange Zeit noch analoge Mischpulte samt Schiebe­ und<br />

Drehreglern auf den digitalen Monitoren simuliert, wird im<br />

physikalischen Modell (nicht zu verwechseln mit physical<br />

modell<strong>in</strong>g) die Position e<strong>in</strong>es Instruments im 3­D­Raum<br />

repräsnetiert ­ ikonisch statt diagrammatisch. "Die Position<br />

des 3­D­Instruments wird nun durch das dah<strong>in</strong>terliegende<br />

Programm auf das Stereoklangbild abgebildet, um damit<br />

Lautstärke, Hallanteile und Stereopanorama am realen Mischpult<br />

via MIDI­Verb<strong>in</strong>dung zu steuern" . Die wahrhaft<br />

medienarchäologische Alternative zu dieser Re­Ikonisierung<br />

aber ist die Direkt­Programmierung (Echtzeitprogrammierung) <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Software wie SuperColli<strong>der</strong> auf Code­Ebene selbst, wenn <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Zug die Parameter programmiert und die Programme jeweils<br />

implementiert werden, <strong>in</strong> kürzesten Intervallen ­ <strong>der</strong> vertraute<br />

refresh cycle <strong>in</strong> <strong>der</strong> Programmier­shell selbst, durch Kapselung<br />

von Laufzeiten. Die Devise lautet dann mathematische Vernunft<br />

statt Intuition; Operativität statt <strong>in</strong>tuitiver, also dummer<br />

Schnittstellen.<br />

Doch vermag die Analyse von Klang auf dieser untersten,


medienarchäologischen, akustisch­mathematischen Ebene beitragen<br />

zu ergänzendem Wissen über die Spezifik des kulturellen<br />

Ereignisses oraler Poesie, h<strong>in</strong>aus über das, was die Philologie<br />

mit dem Mitteln ihrer (alphabetischen) Technik (als Subjekt wie<br />

Objekt <strong>der</strong> Philologie) durchforscht?<br />

Zunächst e<strong>in</strong>mal unterliegt die schriftlich, phonographisch o<strong>der</strong><br />

elektromagnetisch fixierte kulturelle Überlieferung <strong>der</strong><br />

Entropie des Materials ­ auf <strong>der</strong> untersten materiellen Ebene,<br />

im krassen Gegensatz zur Makroebene des negentropischen<br />

Archivs. An dieser Stelle werden techno­mathematische Methoden<br />

zur Medienarchäologie im starken S<strong>in</strong>ne des Wortes aktiv:<br />

Archäologisch geborgene Bruchstücke altmesopotamischer<br />

Keilschriftentafeln s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> ihrer Oberfläche zumeist durch<br />

Erosion o<strong>der</strong> Korrosion verrauscht; Risse, Kratzer und<br />

Verunre<strong>in</strong>igungen machen "die erhaltenen Informationen nahezu<br />

unlesbar" 54 . Zum Zuge kommt hier auf Mikroebene e<strong>in</strong> optisches<br />

Verfahren analog zu dem, was Axel Roch anhand von<br />

Wasser(ober)flächen als Brechungsmedium beschreiben hat. 55 Das<br />

epigraphisch traditionelle Nachzeichnen wäre hochsubjektiv;<br />

Photographien wie<strong>der</strong>um "geben wegen <strong>der</strong> Dreidimensionalität <strong>der</strong><br />

Inschriften und damit <strong>der</strong> starken Abhängigkeit von<br />

Schattenbildung nur e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>gen Tei <strong>der</strong> Information wie<strong>der</strong>".<br />

Abklatsche wie<strong>der</strong>um gefährden die Physik <strong>der</strong> brüchigen<br />

Oberflächen ; also weicht die Forschung auf Formen<br />

<strong>der</strong> holographischen Dokumentation aus. Störungen gegenüber dem<br />

idealen Brennpunkt von parallelen Lichtbündeln bzw.<br />

Informationsübertragung führen zu Lichtanteilen, die außerhalb<br />

des Brennpunkts dienen; die Lichtverteilung um diesen Punkt<br />

heißt <strong>in</strong> Analogie zur elektronischen Informationsbertragung<br />

Raumfrequenzspektrum <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fourierebene. Nun werden Hologramme<br />

von Fourierspektren aufgenommen und mit Filtern korreliert; <strong>der</strong><br />

optoelektronische Korrelator wird zur Bestimmung vn<br />

Korrelationen zwischen E<strong>in</strong>zelzeichen und<br />

Keilschriftzeichengruppen e<strong>in</strong>gesetzt. Zu Keilschriftzeichen<br />

gibt es die jeweiligen Fourier­Spektren; es lassen sich<br />

dreidimensionale Fouriergebirge zu Zeichenketten ausgeben.<br />

Erkennbar dar<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d die Autokorrelationspeaks, während die<br />

Kreuzrelationen im Rauschen liegen. Diese Form von character<br />

recognition ist medienarchäologisch strikt asketisch, im<br />

doppelt archäologischen S<strong>in</strong>ne: ebenso medienästhetik (<strong>der</strong> Blick<br />

54 Günther Wernicke, Holographische Zeichenerkennung an Keilschrifttafeln, <strong>in</strong>:<br />

Humboldt-Spektrum 4/95, 22-27 (22)<br />

55 Axel Roch, xxx, <strong>in</strong>: xxx


<strong>der</strong> Optik statt des hermeneutischen Auges) wie mathematisch<br />

(Fourier­Analyse).<br />

Nun sieht es so aus, als ob auch im visuellen System des<br />

Menschen optische Muster nach dem mathematischen Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong><br />

Fourier­Analyse zerlegt werden ­ analog zum Klang auf <strong>der</strong><br />

Basilarmembran des Innenohrs (nach von Helmholtz).<br />

Audiovisualität auf S<strong>in</strong>nesebene: "Die Helligkeitsverteilungen,<br />

die die eigentliche optische Information <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Bildes<br />

darstellen, werden als kont<strong>in</strong>uierliche Signale aufgefaßt, die<br />

sich <strong>in</strong> s<strong>in</strong>usförmige Bestandteile, sog. Ortsfrequenzen<br />

dekomponieren lassen." 56 Mit Gitterverfahren läßt sich die<br />

fraktale Dimension von Bil<strong>der</strong>n bestimmen und auf diese Weise<br />

Zuordnung leisten: als Sortierung durch Computer.<br />

Doch zurück zur Frage, ob techno­mathematische Medienanalyse<br />

(etwa die Fourier­Analyse) neben dem physikalischen Ereignis<br />

auch die kulturelle "Vergangenheit" e<strong>in</strong>er akustischen<br />

Aufzeichnung zu fassen vermag, wenn sie doch <strong>für</strong> unsere<br />

Sensorik jeden akustischen Signalfluß gleich gegenwärtig<br />

behandelt? Ist es das Rauschen <strong>der</strong> damaligen<br />

Aufnahmeappparaturen (ob nun Lords Webster Wire Recor<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

Parrys Alum<strong>in</strong>ium­Direktplatten­Schneidegerät), das den<br />

historischen Index als Spur des Realen im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> triadischen<br />

Semiotik von Charles S. Peirce an sich trägt ­ das Datum se<strong>in</strong>er<br />

Fabrikation, <strong>der</strong> damit festgeschriebene Standard se<strong>in</strong>er<br />

Technik? An dieser Frage entscheidet sich die Epistemologie des<br />

"Analogen" und des "Digitalen" selbst. E<strong>in</strong>e magnetophone<br />

Bandaufnahme transformiert die konzentrischen Schallwellen, die<br />

von e<strong>in</strong>er Person o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Klangquelle ausgehen, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Konfiguraiton von Metalloxydpartikeln auf e<strong>in</strong>em<br />

Polyesterband ­ vermittels e<strong>in</strong>es Mikrophons als mechanischelektrischer<br />

Schnittstelle <strong>für</strong> Akustik, das die physischen<br />

Schallereignisse <strong>in</strong> elektrische Impulse umwandelt und diese <strong>in</strong><br />

verstärkter Form <strong>der</strong> Wicklung e<strong>in</strong>es Magnetkopfes zuführt, <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> zeitlicher und dynamischer Abhängigkeit von den so<br />

erhaltenen Impulsen die Metalloxydpartikel des Bandes<br />

magnetisiert "und von e<strong>in</strong>er zufälligen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e strukturierte<br />

Konstellation br<strong>in</strong>gt" 57 . Die Beziehung zwischen <strong>der</strong><br />

56 Ra<strong>in</strong>er Höger, Strukturelle Bildanalyse prähistorischer Felszeichnungen und Graffiti<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>in</strong>: Klaus Sachs-Hombach / Klaus Rehkämper (Hg.),<br />

Bildgrammatik, Magdeburg (Scriptum) 1998, 155-168 (157)<br />

57 Mark Poster, "Digitale" versus "analoge" Autorschaft, <strong>in</strong>: Hermann Herl<strong>in</strong>ghaus / Utz<br />

Riese (Hg.), Heterotopie <strong>der</strong> Identität, Heidelberg (W<strong>in</strong>ter) 1999, 261-274 (268)


Konfiguration <strong>der</strong> Partikel auf dem Tonband zu den<br />

ursprünglichen Schallereignissen ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Analogie:<br />

Die spezifische Dichte und Verteilung <strong>der</strong> Partikel ist den Charakteristika <strong>der</strong><br />

Wellenstrahlen <strong>in</strong> ihrer Amplitude und Frequenz, ihrer Lautstärke und Höhe<br />

vergleichbar. Dieselbe Ähnlichkeitsbeziehung f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Technologie <strong>der</strong><br />

Schallplatten aus V<strong>in</strong>yl. Die Rillen auf <strong>der</strong> Schallplatte <strong>in</strong> ihrer Breite und Länge bilden<br />

e<strong>in</strong>e anloge Konfiguration zu den akustischen Wellen, so daß <strong>der</strong> Stylus o<strong>der</strong> die / Nadel,<br />

welche den Rillen nachfolgen, die Gestalt des Klanges wie<strong>der</strong>geben <br />

­ wie auch von Theodor W. Adorno <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Essay über "Die Form<br />

<strong>der</strong> Schallplatte" 1935 als die eigentliche Schrift des Tons<br />

def<strong>in</strong>iert. Was als Schrift erkannt ist, läßt sich dekodieren:<br />

"Aufgrund dieser Analogie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige Menschen sogar <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Lage, die Rillen auf V<strong>in</strong>ylplatten zu `lesen´ und zu sagen,<br />

welches Musikstück ihnen e<strong>in</strong>geschrieben ist" . S<strong>in</strong>d auf<br />

e<strong>in</strong>er "Floppy disc"­Schallplatte (e<strong>in</strong>er Beilage zur DDR­<br />

Pionierzeitschrift FRÖSI), e<strong>in</strong>e Dokumentaraufzeichnung betitelt<br />

Der Weg <strong>in</strong> den Kosmos, die dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geprägten Sputnik­Signale<br />

optisch erkennbar? Ist zum<strong>in</strong>dest als Muster lesbar, daß es sich<br />

hier um diskrete, periodische Signale gegenüber e<strong>in</strong>em Rauschen<br />

handelt ­ die tatsächliche (Radio)Sendung des Satelliten?<br />

"Selbst wenn die Aufzeichnung des Klanges auf Tonband o<strong>der</strong><br />

V<strong>in</strong>yl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en materiellen Form als dem des<br />

ursprünglichecn akustischen Ereignis stattf<strong>in</strong>det, so bleibt<br />

doch e<strong>in</strong>e Beziehung <strong>der</strong> Isomorphie o<strong>der</strong> Ähnlichkeit bestehen"<br />

­ was den Bogen zu Ludwig Boltzmanns Sprechprobe von 1899<br />

auf e<strong>in</strong>en Wiener Phonographen schlägt, welche die Kopierbarkeit<br />

solcher Tonkonserven selbst thematisiert.<br />

Wie grundsätzlich an<strong>der</strong>s ist dies bei <strong>der</strong> digitalen<br />

Reproduktion, wo bekanntlich nach Maßgabe des Sampl<strong>in</strong>g­Theorems<br />

die Schallereignisse, also Schallwellen rund vierzigtausendmal<br />

pro Sekunde abgetastet werden? "Der Computer verwandelt dieses<br />

Input <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Reihe von Nullen und E<strong>in</strong>sen entsprechend e<strong>in</strong>er<br />

Formel, die das Klangereignis h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Lautstärke und<br />

Tonhöhe kartographiert" ; betonen wir hier<br />

das entsprechend. Denn damit ist das Analoge nicht<br />

verschwunden, son<strong>der</strong>n verschoben, nämlich <strong>in</strong>s Informatische.<br />

Wir haben es hier mit e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Typus von Analogie zu tun,<br />

e<strong>in</strong>er "diagrammatischen Ikonizität" im S<strong>in</strong>ne von Charles<br />

San<strong>der</strong>s Peirce. Insofern ist die Formel (also das Programm),<br />

welche(s) die Charakteristika des Klanges <strong>in</strong> Beziehung zu<br />

spezifischen Komb<strong>in</strong>ationen von Nullen und E<strong>in</strong>sen setzt,<br />

ke<strong>in</strong>eswegs so "arbiträr", wie es Poster def<strong>in</strong>iert; es


existiert sehr wohl e<strong>in</strong>e Ähnlichkeit o<strong>der</strong> Analogie zwischen<br />

<strong>der</strong> Konfiguration <strong>der</strong> Ziffern und dem Klang. Es sei "völlig<br />

unmöglich, daß die Ziffern gleichsam wie <strong>der</strong> Ton `aussehen´"<br />

­ doch <strong>der</strong> algorithmisch tra<strong>in</strong>ierte Blick sieht auch<br />

Bit­Ketten e<strong>in</strong>e Form (e<strong>in</strong> Muster, gar e<strong>in</strong>en Ton) an, wie e<strong>in</strong>st<br />

<strong>der</strong> Leser von Schallplattenrillen. Diese medienkulturelle<br />

Kompetenz aber ist e<strong>in</strong>e mathematische, nicht mehr am<br />

Buchstabenmodell orientierte, obgleich das Modell des<br />

Vokalalphabets selbst schon e<strong>in</strong>e Abstraktionsleistung gegenüber<br />

ikonischer Abbildung leistete, gegenüber ideographischen<br />

Schriften. In <strong>der</strong> Vokalnotation aber haftet das altgriechische<br />

Alphabet am physikalischen Ereignis des Klangs, hier analog. 58<br />

Buchstäblich dazwischen steht das "Alpha" <strong>in</strong> dem Moment, <strong>der</strong><br />

anfängliche Lautwert <strong>für</strong> den phönizischen Begriff (aleph =<br />

"Ochse") universal akrophonisch verwendbar wird, während <strong>der</strong><br />

altgriechische Begriff <strong>für</strong> dasselbe Tier e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>er ist.<br />

Aus dem Drahtmagnetophon, wenn es aktuell betrieben wird, also<br />

unter Strom steht, ertönt eben nicht nur die Historizität <strong>der</strong><br />

aufgezeichneten Musik und Sprache, son<strong>der</strong>n die je aktuelle<br />

Wie<strong>der</strong>gabe. Elektronische Speichermedien erzeugen e<strong>in</strong>e<br />

Gegenwart <strong>der</strong> Vergangenheit, weil durch sie vergangene Signale<br />

unsere S<strong>in</strong>nesnerven aktuell zu adressieren vermögen. Im<br />

Unterschied zu symbolischen, alphabetbasierten Formen <strong>der</strong><br />

Aktualisierung von Vergangenheit (etwa die Lektüre e<strong>in</strong>es<br />

mittelalterlichen Manuskripts) s<strong>in</strong>d hochtechnische,<br />

signalverarbeitende radikal präsentistisch an sich (und nicht<br />

erst unter E<strong>in</strong>satz menschlicher Symbolverarbeitung).<br />

Gilt die Frage nach <strong>der</strong> (A)Historizität vergangener<br />

Tondokumente im Moment ihrer technisch­operativen<br />

Vergegenwärtigung auch <strong>für</strong> nicht­elektronische Speichermedien,<br />

etwa die Lektüre e<strong>in</strong>er Orig<strong>in</strong>alausgabe von McLuhans<br />

Un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g Media von 1964, aktuell von uns gelesen? Wenn<br />

hier die Person, die Energie, das Temperament des Autors<br />

McLuhans lange nach se<strong>in</strong>em Tod (1980) <strong>in</strong> erstaunlicher<br />

Gegenwart auf uns durchschlägt, geschieht dies doch nur auf<br />

<strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> kognitiven, lesenden Imag<strong>in</strong>ation, an<strong>der</strong>s als etwa<br />

die Unmittelbarkeit Stimme e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Toten, <strong>der</strong> ägyptischen<br />

Starsänger<strong>in</strong> Umm Kulthum, aus e<strong>in</strong>em Tonfilm <strong>der</strong> 1930er Jahre<br />

o<strong>der</strong> von CD:<br />

58 Siehe Poster 1999: 270, unter Bezug auf Walter Ong 1982


Denn es macht e<strong>in</strong>en Unterschied, ob die operative<br />

Vergegenwärtigung (das Prozessuale ist das notwendige Korrelat<br />

zur bloßen Anwesenheit des Objekts, des D<strong>in</strong>gs, des Zeugs) erst<br />

im den Köpfen und Körpern <strong>der</strong> Menschen geschieht (<strong>der</strong> Akt des<br />

Lesens, das Spielen o<strong>der</strong> S<strong>in</strong>gen "historischer" Partituren),<br />

o<strong>der</strong> von diesen D<strong>in</strong>gen selbst geleistet wird, als genu<strong>in</strong>e und<br />

exklusive medientechnische Vergegenwärtigung, die von <strong>der</strong><br />

menschlichen Gegenwart nur noch angestoßen werden muß ­ am<br />

Stromschalter.<br />

E<strong>in</strong> elektronischer Tonträger vermag "gegenwärtig" Frequenzen<br />

zu re­produzieren (also <strong>für</strong> unsere S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>en<br />

Gegenwartse<strong>in</strong>druck zu generieren), obgleich er als Gerät an<br />

sich historisch ist. Tatsächlich vollzieht sich hier e<strong>in</strong>e<br />

"blitzhafte Konstellation" im S<strong>in</strong>ne von Walter Benjam<strong>in</strong>s<br />

Thesen über den Begriff <strong>der</strong> Geschichte, die im elektronischen<br />

Funk(en) "blitzhaft" wirklich wird. Ebenso plausibel ist (so<br />

gedeutet) Benjam<strong>in</strong>s Begriff vom "Nu" als zeitkritischem Quant,<br />

vielmehr e<strong>in</strong> temporaler Kurzschluß im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Elektrotechnik<br />

denn e<strong>in</strong> "geschichtlicher" Sprung. Unsere Wahrnehmung ist<br />

e<strong>in</strong>erseits sensorisch unmittelbar <strong>der</strong> aktuellen "Sendung" des<br />

technischen Mediums ausgeliefert (das "unhistorische" Abspielen<br />

von Tonaufnahmen aus elektro­magnetisiertem Stahldraht),<br />

an<strong>der</strong>erseits weiß sie kognitiv um den unübersehrbar<br />

"historischen" Index des damaligen Stands <strong>der</strong> (Röhren­)Technik<br />

e<strong>in</strong>es solchen Webster Wire Recor<strong>der</strong> von 1948 ­ e<strong>in</strong>e<br />

gegenstrebige Fügung, e<strong>in</strong> medientheoretisches double­b<strong>in</strong>d.<br />

Historie ist aus Sicht <strong>der</strong> zeitkritischen Perspektive nicht<br />

ausgehebelt, aber quer zu ihr kommt e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e<br />

(mikro)zeitliche Ökonomie, e<strong>in</strong>e genu<strong>in</strong>e Medienzeit zu ihrem<br />

Recht, wie sie Götz Großklaus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Medien­Zeit,<br />

Medien­Raum. Zum Wandel <strong>der</strong> raumzeitlichen Wahrnehmung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne 1997 ansatzweise thematisiert hat.<br />

Frühe Tondokumente auf Edison­Walzen thematisieren vor allem<br />

die Möglichkeiten und Defekte des (damals neuen) Mediums. Die<br />

vertraute Sprechprobe se<strong>in</strong>er Majestät Kaiser Franz Joseph I.<br />

ist da<strong>für</strong> ebenso e<strong>in</strong> Beispiel wie e<strong>in</strong> Mann <strong>der</strong> Wissenschaft, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er frühen Aufnahme vom 30. Oktober 1899 im Wiener<br />

Phonogrammarchiv:


"Ich glaube, daß die Orig<strong>in</strong>alaufnahmen ganz gut ausfallen<br />

werden, bezweifle aber sehr, ob das Kopieren wirklich ...<br />

[gel<strong>in</strong>gen wird]." Boltzmann spricht die Reproduzierbarkeit an:<br />

Pikanterweise wurde die Walze am 22. November 1907 von Fritz<br />

Hauser umkopiert.<br />

Ludwig Boltzmann begründet die statistische Physik. „Wenn man<br />

e<strong>in</strong>en Becher Wasser <strong>in</strong>s Meer schüttet, kann man die gleiche<br />

Menge Wassers nicht mehr herausbekommen“, sagte vorweg bereits<br />

James Clerk Maxwell im Vorgriff auf den Begriff <strong>der</strong><br />

Unumkehrbarkeit molekularer o<strong>der</strong> atomarer Bewegungen. Der<br />

Zeitpfeil ist unerbittlich; Boltzmann beendete ­ "fast bl<strong>in</strong>d,<br />

schwer leidend und depressiv" 59 ­ am 5. September 1906<br />

freiwillig se<strong>in</strong> Leben. Es war Boltzmann, <strong>der</strong> zwischen <strong>der</strong><br />

klassischen Physik und <strong>der</strong> Atom­ und Quantenphysik e<strong>in</strong>e erste<br />

tragfähige Brücke zu schlagen wußte. Se<strong>in</strong>e Entropieformel<br />

lautet<br />

S = k * log W<br />

Die Transkription von Boltzmanns phonographischer Sprechprobe<br />

zeigt das Verrauschen <strong>der</strong> Stimme an, als solle die von ihm<br />

physikalisch def<strong>in</strong>ierte Entropie thermodynamischer Systeme sich<br />

hier durch ihn sprechen, auf se<strong>in</strong>en eigenen Grabste<strong>in</strong> auf dem<br />

Wiener Zentralfriedhof die so genannten Boltzmann­Formel<br />

meißeln ließ, se<strong>in</strong>e eigene Vergänglichkeit damit nicht als<br />

allegorische Figur, son<strong>der</strong>n als präzise Formulierung sagend:<br />

<br />

Neben dem <strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> gemeißelten Portrait Boltzmanns sehen wir<br />

se<strong>in</strong>e Lebensdaten (1844­1906) und die Formel S=k.logW; dah<strong>in</strong>ter<br />

stehen die Koord<strong>in</strong>aten des Ehrengrabs selbst (Gruppe 14C,<br />

Nummer 1). An dieser Stelle <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Moment e<strong>in</strong> Wechsel im<br />

Ton. Anstatt Ihnen nämlich die Stimme des Toten, Boltzmann, <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er weiteren Sonagraphie zu zeigen, greife ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

akustischen Gedenkm<strong>in</strong>ute vor dem Wiener Grabste<strong>in</strong> Boltzmanns<br />

59 E<strong>in</strong>trag von 2006 Rudolf Öller, unter http://www.scientific.at/2006/roe_0637.htm;<br />

Zugriff 7. Dezember 2006


auf e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Wiener zurück: nicht Norbert Wiener, son<strong>der</strong>n<br />

Richard Strauss. Wir hören se<strong>in</strong>e 1947er Vertonung von Joseph<br />

von Eidendorffs Gedicht Im Abendrot, und sehen diese Töne nicht<br />

als nüchterne Oszillographie, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> Option "visueller<br />

Effekt" <strong>der</strong> Software iTunes:<br />

<br />

Die letzten Zeilen lauten, optisch treffend untermalt: "So tief<br />

im Abendrot. Wie s<strong>in</strong>d wir wan<strong>der</strong>müde ­ / ist dies etwa <strong>der</strong><br />

Tod?" In an<strong>der</strong>er Schreibweise gelesen aber heißt dieser Satz<br />

aus Boltzmanns Grab:<br />

Die Entropie S e<strong>in</strong>es Makrozustandes ist proportional dem natürlichen Logarithmus <strong>der</strong><br />

Zahl Ω <strong>der</strong> entsprechend möglichen Mikrozustände, bzw. die Entropie e<strong>in</strong>es<br />

Makrozustandes ist proportional dem Maß se<strong>in</strong>er „Unordnung“. Die<br />

Proportionalitätskonstante ist Boltzmann zu Ehren Boltzmann-Konstante kB genannt<br />

worden; sie ist universal gültig und hat die Dimension Energie/Temperatur. E<strong>in</strong>e<br />

Entropiezunahme entspricht e<strong>in</strong>em Übergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Makrozustand mit e<strong>in</strong>er größeren<br />

Zahl möglicher Mikrozustände. In e<strong>in</strong>em geschlossenen System nimmt die Entropie stets<br />

zu. 60<br />

Noch entropischer ist e<strong>in</strong> phonographisches Dokument des<br />

Tonkünstlers, Pianisten und Komponisten Ignaz Brüll:<br />

<br />

"Vieles, was jetzt modérn ist, wird bald mó<strong>der</strong>n."<br />

Der Philologe Eduard Sievers schließlich spricht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Aufnahme vom 14. April 1921 im Wiener Phonogrammarchiv über die<br />

"mo<strong>der</strong>ne Schallanalyse", wobei die von ihm def<strong>in</strong>ierten sechs<br />

verschiedenen Stimmtypen hier nicht nur semantische Behauptung,<br />

son<strong>der</strong>n performative Aussage selbst s<strong>in</strong>d:<br />

<br />

Die Selbstreferenz <strong>der</strong> Medien, wie sie im Verlauf des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts als mechanische und elektrotechnische im Namen und<br />

zum Zwecke physiologischer Forschung entwickelt werden, läßt<br />

den Mensch selbst zur Botschaft des Mediums ger<strong>in</strong>nen, o<strong>der</strong> gar:<br />

das Leben. Der Screenshot des Froschschenkel­Experiments aus<br />

60 http://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Boltzmann; Zugriff 8. Dezember 2006


dem Virtuellen Labor im Programm SimNerv <strong>der</strong> <strong>in</strong>terActive<br />

Systems zeigt es: e<strong>in</strong>mal ikonisch den Laboraufbau, dann die<br />

Analyse <strong>der</strong> simulierten Zuckung als Frequenzspektrum. 61<br />

E<strong>in</strong> Versuch im "virtuellen Labor" auf <strong>der</strong> CD­ROM im Katalog <strong>der</strong><br />

Historischen Instrumentensammlung des Johannes­Müller­Instituts<br />

<strong>für</strong> Physiologie <strong>der</strong> Humboldt­Universität (2000) zeigt e<strong>in</strong>e<br />

Kymographen­Simulation. 62 Wir sehen, wie vermittels e<strong>in</strong>er<br />

pneumatischen Übersetzung des Drucks sich <strong>der</strong> Puls des Herzens<br />

aus dem Versuchstier auf dem kreisenden<br />

Kymographenzyl<strong>in</strong><strong>der</strong>papier e<strong>in</strong>schreibt. Der Edison­Phonograph<br />

(und als miss<strong>in</strong>g l<strong>in</strong>k dazwischen <strong>der</strong> "Phonautograph" von Léon<br />

Scott) ist nicht nur <strong>der</strong> Anfang von (elektro­)mechanischer<br />

Stimmreproduktion als Massenmedium auf Tonträgern (resultierend<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schallplatte), son<strong>der</strong>n zugleich das eher genealogisch<br />

denn teleologisch faßbare Ende e<strong>in</strong>er Entwicklung von<br />

Meßtechnik, also <strong>der</strong> analytischen Seite von Medien. Diese<br />

verschobene Perspektive ist <strong>der</strong> Medienarchäologie eigen.<br />

Die zeiträumlich immediate Ökonomie des Internet erlaubt es<br />

<strong>in</strong>zwischen, nicht nur von Speichemedien, son<strong>der</strong>n onl<strong>in</strong>e <strong>in</strong><br />

(fast­)Echtzeit Analysen am tatsächlichen Oszilloskop im Labor<br />

ferngesteuert durchzuführen, als Tele­Kontrolle e<strong>in</strong>er<br />

oszilloskopischen Messung:<br />

<br />

Remote Controlled Labs (RCLs) s<strong>in</strong>d reale Experimente, die über das Internet fern<br />

gesteuert werden können: E<strong>in</strong> Benutzer am Ort A mit PC (Client) kann e<strong>in</strong>en Versuch an<br />

e<strong>in</strong>em entfernten Ort B bedienen. Der Versuch wird hierbei über Interface,<br />

Kontrollrechner und Webserver zugänglich und bedienbar gemacht. Webcams erlauben<br />

die Beobachtung des Experiments. <br />

Die Schw<strong>in</strong>gungen des Oszilloskop korrespondieren ganz und gar<br />

analog als Index mit den Nadelkurven des Phonographen von<br />

Milman Parry, <strong>der</strong> Guslari­Gesänge aufzeichnet; dem g<strong>in</strong>gen die<br />

physiologischen Aufzeichnungen mit dem Kymographen im 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t (Emil du Bois­Reymond) voraus .<br />

E<strong>in</strong> neuer Typus von Elektroden erlaubt es <strong>der</strong> Physiologie und<br />

61 Aktuelle URL: http://www.thieme.de/elm/sim/nerv2.html (Zugriff 7-12-06) = Virtual<br />

Physiology - Neue Wege <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lehre<br />

62 Katalog/katalogdaten/animationen/kymographionversuch.html


Neurobiologie heute, Nervenzellen auch am wachen, also noch<br />

lebenden Tier und ohne <strong>in</strong>vasiven E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> ihr Gewebe zu<br />

erfassen ­ gekoppelt an Methoden <strong>der</strong> Kernsp<strong>in</strong>tomographie,<br />

welche die jeweils bei Wahrnehmungs­ und Er<strong>in</strong>nerungsakten<br />

aktivierten Areale im Gehirn sichtbar werden läßt.<br />

Die Erkenntnis, daß Hirnfunktionen dynamisch ko­emergent, nicht<br />

vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er geheimen Kommandozentrale erfolgen,<br />

legt e<strong>in</strong>erseits Analogien mit <strong>der</strong> verschalteten Intelligenz im<br />

Internet nahe, das ­ geplant o<strong>der</strong> ungeplant ­ somit zur Makro­<br />

Prothese komplexer Nervenwelten wird (wie von McLuhan<br />

angedeutet). Doch die eigentliche "zeitkritische" Botschaft ist<br />

e<strong>in</strong>e Funktion <strong>der</strong> Meßmedien selbst: Wird durch solche<br />

Elektroden "die Aktivität zahlreicher Neurone gleichzeitig"<br />

erfaßt, lautet die Erkenntnis promt, daß "Neurone im Gleichtakt<br />

zu schw<strong>in</strong>gen beeg<strong>in</strong>nen", e<strong>in</strong> "synchrones Oszillieren" 63 . Nicht<br />

länger dom<strong>in</strong>iert also das Modell, daß Hirnzellen erst auf<br />

e<strong>in</strong>en audiovisuellen Reiz h<strong>in</strong> zur elektrischen Signalsendung<br />

aktiviert werden, um auf diese Art mit an<strong>der</strong>en Zellen zu<br />

kommunizieren. E<strong>in</strong> Modell zur Analyse von Reaktionswerten<br />

e<strong>in</strong>zelner Zellen im primären visuellen Kortex des Menschen<br />

zeigt es: Fourieranalytisch o<strong>der</strong> im Wavelet­Verfahren s<strong>in</strong>d<br />

Bildsignale im Menschen wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e analysierbar, etwa<br />

durch Gabor­Filter.<br />

<br />

Doch läßt sich damit <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> menschlichen Imag<strong>in</strong>ation<br />

(hier im S<strong>in</strong>ne Vilém Flusser geschrieben) aus transformierten<br />

Datensätzen rekonstruieren? Inzwischen r<strong>in</strong>gt sich ­ als<br />

Funktion e<strong>in</strong>er neuen Generation von Meßmedien ­ die E<strong>in</strong>sicht<br />

durch stattdessen herrscht offenbar e<strong>in</strong>e primordiale<br />

Synchronisation gleichzeitiger "Feuerung". Diesen<br />

zeitkritischen Mechanismus zu erforschen gerät an die Grenzen<br />

<strong>der</strong> Möglichkeiten des Labors und "macht völlig neue Algorithmen<br />

und an<strong>der</strong>e <strong>in</strong>formationsverearbeitende Strukturen erfor<strong>der</strong>lich",<br />

so daß "viele <strong>der</strong> mit Hirnforschung befaßten Physiker und<br />

63 Barbara Hobom, Auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> universellen Sprache des Gehirns, <strong>in</strong>:<br />

Frankfurter Allgeme<strong>in</strong>e Zeitung Nr. 284 v. 6. Dezember 2006, N2


Mathematiker von <strong>der</strong> theoretischen Seite her e<strong>in</strong>e Lösung<br />

suchen" . Hier er<strong>in</strong>nert <strong>der</strong> Fachbegriff <strong>der</strong><br />

Nervensignalfeuerung selbst an Norbert Wiener, <strong>der</strong> die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Feuerleitung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Flugabwehr des Zweiten Weltkriegs, also<br />

die anti­aircraft prediction, mit mächtigen mathematischen<br />

Werkzeugen (wie das Lebesgue­Integral) beantwortete, aber an<br />

<strong>der</strong> damaligen Kapazität von Rechenleistungen <strong>in</strong> ­ vorrangig von<br />

analogen Computern (vom Typ Differential Analyzer,<br />

implementiert durch Wieners damaligen Forschungsleiter Vannevar<br />

Bush) ­ scheiterte: weshalb Wiener <strong>für</strong> den beschleunigten<br />

E<strong>in</strong>satz von Elektronenröhren statt Relais <strong>in</strong> solchen digitalen<br />

Rechnern plädierte, also Rechnung im Medium <strong>der</strong> Elektrizität<br />

mit (fast­)Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit. 64<br />

Klanganalyse als <strong>Medientheorie</strong> (Gabor, Meyer­Eppler)<br />

Licht ist im E<strong>in</strong>gangskapitel von McLuhans Un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g Media<br />

das re<strong>in</strong>ste Beispiel da<strong>für</strong>, wie das Medium selbst die Botschaft<br />

ist (sofern es nicht zur optisch­telegraphischen Morsezwecken<br />

o<strong>der</strong> als Leuchtreklame e<strong>in</strong>gesetzt wird). Erst auf<br />

mikrophysikalischer Ebene <strong>der</strong> Medien aber wird die Botschaft<br />

von Licht die zeitkritische Verarbeitung von Information<br />

(Laserdisc). Doch erst allmählich wurde Licht im<br />

abendländischen Wissen als etwas faßar, das nicht unmittelbar<br />

ist (ontisch wie Sonnensche<strong>in</strong>), son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e zeitliche<br />

Erstreckung, Geschw<strong>in</strong>digkeit hat. In <strong>der</strong> <strong>Antike</strong> wurde vor allem<br />

Akustik als Funktion von Laufzeiten entdeckt und durchdacht, da<br />

sich Ohren die Zeitlichkeit von Klang unmittelbar entbirgt,<br />

woh<strong>in</strong>gegen Augen Licht nur als sche<strong>in</strong>bare Unmittelbarkeit, als<br />

pure Präsenz, als re<strong>in</strong>es Sche<strong>in</strong>en sonnenhaft h<strong>in</strong>nehmen. Zeigt<br />

sich Zeus im Blitz, folgt <strong>der</strong> Donner erst zeitverzogen, o<strong>der</strong><br />

frei nach Thomas Panchons Gravity´s Ra<strong>in</strong>bow formuliert: Hört<br />

man die V2­Rakete <strong>in</strong> London sich nähern, ist sie schon<br />

e<strong>in</strong>geschlagen. Aristoteles fragt skeptisch zurück:<br />

Stimmt es, was e<strong>in</strong>ige Musiktheoretiker sagen, dass die Töne nämlich nicht zugleich<br />

unser Ohr erreichen, dass es uns nur so vorkommt und dass wir dies nicht merken,<br />

wenn es sich um e<strong>in</strong>e nicht wahrnehmbare Zeitdauer handelt? Dementsprechend könnte<br />

man auch gleich sagen, dass wir deshalb glauben, zugleich zu sehen und zu hören, weil<br />

wir dei Zeit dazwischen nicht merken. Das stimmt wohl nicht und es ist wohl unmöglich,<br />

64 Dazu P. R. Masani, Norbert Wiener 1894-1964, Basel / Boston / Berl<strong>in</strong> (Birkhäuser)<br />

1990, bes. 78ff (über das Lebesgue-Integral <strong>für</strong> irreguläre Bewegungen)


dass es e<strong>in</strong>e Zeit gibt, die nicht wahrgenommen werden kann und die wir nicht<br />

merken. 65<br />

Und überhaupt: Erst an <strong>der</strong> nanotemporalen Zeitwahrnehmung, im<br />

∆t, offenbart sich, "daß man existiert" . Das Hörbare<br />

berührt den existentiellen S<strong>in</strong>n gerade deshalb, weil er <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er privilegierten Weise dessen Se<strong>in</strong>s­ als Zeitweise teilt.<br />

In den pseudo­aristotelischen Problemata Physica wird<br />

konzediert, daß auch die Farbe e<strong>in</strong>e Bewegung hervorruft,<br />

nämlich im Sehvermögen; Hermann von Helmholtz benennt später<br />

umgekehrt die bewußt noch merklichen Unterschied zweier<br />

Lichtblitze mit 1/10 Sek. 66 , und Karl Ernst von Baer def<strong>in</strong>iert<br />

"geistiges Leben" überhaupt als das "Bewußtse<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> unserem Vorstellungsvermögen", quasi<br />

k<strong>in</strong>e(ma)tisch: "So haben wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekunde durchschnittlich<br />

etwa sechs Lebensmomente, höchstens zehn." 67 Von Baer korreliert<br />

Lebenszeit und Taktung <strong>der</strong> Wahrnehmung, so daß e<strong>in</strong>e Stauchung<br />

des Menschenlebens auf 29 Tage e<strong>in</strong>e Vertausendfachung <strong>der</strong><br />

Taktung <strong>der</strong> Nervenlaufzeit hervorrufen würde; Menschen würden<br />

die Perioden <strong>der</strong> Sterne zwar nicht mehr wahrnehmen, weil sich<br />

diese dann überzeitkritisch den S<strong>in</strong>nen entziehen, doch da<strong>für</strong><br />

erlaubt dies die ruhige Beobachtung e<strong>in</strong>er vorbeifliegenden<br />

Gewehrkugel. Denken wir diesen Gedanken (mit Bernhard Siegert)<br />

nicht nur <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die Chrono­ und Momentphotographie<br />

(Étienne­Jules Marey, Edweard Muybridge, Ernst Mach) weiter,<br />

son<strong>der</strong>n darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong>s Reich <strong>der</strong> elektromagnetischen<br />

Wellen:<br />

Würde unser Leben auf den millionsten Teil se<strong>in</strong>er tatsächlichen Dauer verkürzt, würde<br />

unser Hörvermögen erst weit oberhalb unserer jetzigen Wahrnehmungsschwelle<br />

beg<strong>in</strong>nen. Wir würden das Licht hören, wenn nicht unseren Ohren <strong>in</strong> dem Chaos<br />

hochfrequenter Schw<strong>in</strong>gungen, <strong>in</strong> das sie getaucht wären, alles Hören vergehen würde.<br />

Und: wir könnten endlich Radio hören. 68<br />

65 Aristoteles, Über die Wahrnehmung und die Gegenstände <strong>der</strong> Wahrnehmung, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s.,<br />

Kle<strong>in</strong>e naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart (Reclam) 1997, 82. Dazu Mart<strong>in</strong><br />

Carlé, Zeit des Mediums. Die Genese des Medienbegriffs im griechischen Denken, <strong>in</strong>:<br />

Ana Ofak (Hg.), Medien vor den Medien, München (F<strong>in</strong>k) 2007, 31-59 (53)<br />

66 Hermann Helmholtz, Über die Methoden kle<strong>in</strong>ste Zeittheile zu messen und ihre<br />

Anwendung <strong>für</strong> physiologische Zwecke, Königsberger naturwissenschaftliche<br />

Unterhaltungen 2 (1851), 169-189. Dazu Bernhard Siegert, Das Leben zählt nicht.<br />

Natur- und Geisteswissenschaften bei Dilethey aus mediengschichtlicher Sicht, <strong>in</strong>: Claus<br />

Pias (Hg.), Medien. Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar 1999, 161-182 (bes.<br />

174ff)<br />

67 Karl Ernst von Baer, Schriften, Stuttgart 1907, 141<br />

68 Siegert 1999: 177, unter Verweis auf Theorien, die den Menschen zum Subjekt e<strong>in</strong>er<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrnehmung begrenzten Frequenzband macht: etwa Robert Hooke, Lectures of<br />

Light, explicat<strong>in</strong>g its Nature, Properties, and Effects, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., The Posthumous Works,<br />

London 1705, 134f


Akustische, also Schallwirkung vermag unsere Wahrnehmung <strong>in</strong><br />

ihrer spezifischen Anordnung von Tönen und Rhythmen<br />

anzusprechen ­ wenn sich die Zeit zur Musik konfiguriert. 69 Der<br />

S<strong>in</strong>n <strong>für</strong> Mathematik und Logik stammt aus <strong>der</strong>gleichen Quelle wie<br />

<strong>der</strong> <strong>für</strong> Obertöne und musikalische Zusammenhänge; die Worte <strong>für</strong><br />

Klang und Zahl (harmonia und arithmos) stammen aus <strong>der</strong>gleichen<br />

Wurzel. Unser Ohr lehrt den Menschen das Rechnen.<br />

Der algriechische S<strong>in</strong>n vertraut dem Kosmos. Doch selbst wenn<br />

alle Sterne leuchten, ist <strong>der</strong> Blick <strong>in</strong> den Sternenhimmel "e<strong>in</strong><br />

trügerischer Sche<strong>in</strong>" , <strong>in</strong>sofern etwas das<br />

Licht entfernter Fixsterne von Quellen zeugt, die längst<br />

verloschen s<strong>in</strong>d. "Alles, was wir am Himmel sehen, w a r" . Als <strong>in</strong> Richard Wagners Oper Die Nibelungen die Tötung<br />

Siegfrieds gerade im Übergangsmoment von Geschehen zu<br />

Geschichte ist, fragt <strong>der</strong> Chor mit kle<strong>in</strong>em Intervall: "Hagen,<br />

was tust Du? Hagen, was tatest Du?"<br />

Licht durchläuft auch die größten irdischen Entfernungen "fast<br />

augenblicklich"; daß auch Licht e<strong>in</strong>e<br />

Fortpflanzungsgeschw<strong>in</strong>digkeit hat, ermittelte erst e<strong>in</strong><br />

Astronom, Olaf Römer 1676, anhand <strong>der</strong> Verf<strong>in</strong>sterung <strong>der</strong><br />

Jupiter­Monde bei ihren Umläufen: Wenn die Erde ihre größte<br />

Entfernung vom Jupiter erreicht hat, wird die Verf<strong>in</strong>sterung um<br />

16 M<strong>in</strong>. 36 Sek. später gesehen, als sie nach <strong>der</strong> Berechnung<br />

hätte e<strong>in</strong>treten sollen; Zeit wird hier als Funktion von<br />

Mathematik entdeckt, <strong>der</strong> von Aristoteles bemerkte Zusammenhang<br />

von Zeit und Zahl. "Diese Verspätung kann aber nichts an<strong>der</strong>es<br />

se<strong>in</strong> als die Zeit, welche das von dem Jupitermond im<br />

Augenblick vr se<strong>in</strong>er Verf<strong>in</strong>sterung ausgesandte Licht gtebraucht<br />

hat zum Durchlaufen <strong>der</strong> Strecke, um welche die Erde <strong>in</strong>ihrer<br />

entferntesten Lage vom Jupiter weiter absteht als <strong>in</strong> ihrer<br />

nächsten Lage." 70 Die an<strong>der</strong>e Seite von Techno­Mathematik ist<br />

die Technik: Zeitwahrnehmung als Funktion messen<strong>der</strong> Apparate.<br />

Bradley leitet die Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit von rund 300000<br />

Kilometern/Sek. 50 Jahre später aus <strong>der</strong> Aberration des Lichts<br />

<strong>der</strong> Fixsterne ab, wie sie an <strong>der</strong> Fokussierung von Lichtstrahlen<br />

im Fernrohr ablesbar war. Fizeau schließlich gel<strong>in</strong>gt es 1849<br />

die Lichtgew<strong>in</strong>digkeit auch auf die Erde zu holen, <strong>in</strong>dem er den<br />

Reflex von durch e<strong>in</strong> gezahntes Laufrad geschickten<br />

69 Mart<strong>in</strong> Carlé, Parasémantiké Techné. Die Musiknotation als Paradigma <strong>der</strong><br />

griechischen Medialität, <strong>in</strong>: ebd., 171-191 (196)<br />

70 E. von Lommel, Lehrbuch <strong>der</strong> Experimentalphysik, Leipzig (Barth) 9. neubearb. Aufl.<br />

1902 [*1893], 443


Lichtstrahlen mißt .<br />

Bei irdischen Vorgängen bleiben kle<strong>in</strong>ste zeitliche Unterschiede<br />

meist unbemerkt ­ bestenfalls akustisch, bei e<strong>in</strong>er<br />

Schallgeschw<strong>in</strong>digkeit von 33 Metern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekunde. "Es ist<br />

leicht zu s e h e n, daß die Mannschaften am Ende e<strong>in</strong>er<br />

längeren, nach dem Rhythmus <strong>der</strong> Musik marshcierenden Kolonne<br />

ihre Füße <strong>in</strong> verzögertem Takt bewegen, gerade weil sie den<br />

Schlag <strong>der</strong> großen Trommel g l e i c h z e i t i g zu hören<br />

me<strong>in</strong>en. Der Lichtblitz eilt dem Donner voraus" ­ denn Licht<br />

durchmißt 300000 Kilometer / Sek. "Bei <strong>der</strong> überaus großen<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit des Lichtes entsteht daher leicht die<br />

E<strong>in</strong>bildung als ob unsere Gesichtswahrnehmung uns e<strong>in</strong> Urteil<br />

h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Gleichzeitigkeit von Ereignissen gestattet"<br />

. E<strong>in</strong>e Kommission <strong>der</strong> Pariser Akademie <strong>der</strong><br />

Wissenschaften unter Alexan<strong>der</strong> von Humboldt und Arago ermittelt<br />

die Fortpflanzungsgeschw<strong>in</strong>digkeit von Schall 1822 dadurch, daß<br />

bei Nacht zu verabredeten Zeitpunkten an zwei <strong>in</strong><br />

wohldef<strong>in</strong>ierten Abständen Stationen Kanonen abgefeuert wurden<br />

und an je<strong>der</strong> Station die Zeit zwischen Lichtblitz und gehörtem<br />

Knall registriert wurde. Was hier <strong>für</strong> "historische Ereignisse"<br />

def<strong>in</strong>iert ist ­ also die Makrozeit, gilt <strong>für</strong> das Zustandekommen<br />

des Fernsehbildes konstitutiv, wo <strong>der</strong> Kathodenstrahl <strong>in</strong><br />

elektronischer Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit zeilenförmig das Bild als<br />

sche<strong>in</strong>bar synchrones aufbaut; nur Ultrakurzphotographie vermag<br />

diese Bewegung wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihre Sukzession aufzulösen:<br />

<br />

Die E<strong>in</strong>heit unseres Bewußtse<strong>in</strong>s täuscht uns leicht darüber h<strong>in</strong>weg, daß durch die<br />

verhältnismäßig langsame Signalgebung unsere Nerven (ca. 120 m <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sekunde)<br />

unsere Wahrnehmungen und die Bewegung unserer Organe <strong>in</strong> Wahrheit außer Takt und<br />

durch Zwischenräume getrennt s<strong>in</strong>d, die die sche<strong>in</strong>bare Gleichzeitigkeit im Bewußtse<strong>in</strong><br />

zu e<strong>in</strong>er Täuschung machen. <br />

Daß auch Licht e<strong>in</strong>e Zeit hat, wissen erst (Meß­)Medien.<br />

Christian Huygens verlas 1678 vor <strong>der</strong> Pariser Akademie <strong>der</strong><br />

Wissenschaften se<strong>in</strong> Traktat über das Licht, entwickelt anhand<br />

e<strong>in</strong>es konkreten medialen Artefakts: <strong>der</strong> Reflexion und<br />

(Doppel)Brechung des Lichts im Kristall Kalkspat. 71 Licht, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Antike</strong> noch re<strong>in</strong>e Emanation, wird nun nicht als re<strong>in</strong>es<br />

Se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zeitlichkeit faßbar; wenn e<strong>in</strong><br />

71 Wie es Ana Ofak am Hermann von Helmholtz-Zentrum <strong>für</strong> Kulturtechnik (Humboldt<br />

Universität zu Berl<strong>in</strong>) erforscht; siehe dazu ihren Beitrag xxx im Band Medien vor den<br />

Medien, hg. v. xxx, München (F<strong>in</strong>k) 2007, xxx


Vortragen<strong>der</strong> heute im Hörsaal zum Zweck von Bildprojektion kurz<br />

darum bittet "slow down the light", ist damit (wenngleich eher<br />

unter <strong>der</strong> Hand) Licht als Zeit adressiert, wie es sich erst<br />

durch se<strong>in</strong>en Begriff als Schw<strong>in</strong>gungsmedium äußert. Huygens<br />

berechnete die Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit als 100000fach schneller<br />

denn die Schallgeschw<strong>in</strong>digkeit und modellierte Lichtwellen<br />

analog zu akustischen (allerd<strong>in</strong>gs fehlerhaft) "als elastische<br />

Erregungen, die sich <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Vielzahl extrem kle<strong>in</strong>er und<br />

überaus starrer sphärischer Ätherpartikeln ausbreiten" 72 .<br />

Während Descartes hypothetisch e<strong>in</strong>en Äther aus Wirbeln<br />

(vortices) konstruiert, <strong>der</strong> das Modell e<strong>in</strong>er unverzüglichen<br />

Lichtübertragung erlaubt, beharrt Huygens empirisch darauf, daß<br />

die Fortpflanzung von Licht Zeit (er­)for<strong>der</strong>t: "Uebrigens hat,<br />

was ich als blosse Hypothese e<strong>in</strong>führte, seit Kurzem den hohen<br />

Rang e<strong>in</strong>er feststehenden Wahrheit erhalten durch Römer's<br />

s<strong>in</strong>nreiche Beweisführung, welche ich hier mittheilen will." 73<br />

Römers Beobachtung e<strong>in</strong>er planetarischen Umlaufbahn (Io um<br />

Jupiter) "beweist nicht nur, dass das Licht auf se<strong>in</strong>er<br />

Umlaufbahn Zeit braucht, son<strong>der</strong>n lässt auch erkennen, wieviel<br />

Zeit es braucht" ; die neue epistemologische Dimension<br />

wird damit quantifizierbar.<br />

Begriffe wie Wellenlänge und Periode tauchen bei Huygens jedoch<br />

nicht auf. Die von ihm vollzogene Analogie von optischen und<br />

akustischen Ersche<strong>in</strong>ungen h<strong>in</strong><strong>der</strong>t ihn an <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht: Akustik<br />

handelt von und mit Schallwellen, d. h. die Luftpartikeln<br />

schw<strong>in</strong>gen longitud<strong>in</strong>al (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausbreitungsrichtung <strong>der</strong> Welle).<br />

Dem steht aber die Polarisierbarkeit des Lichts entgegen, die<br />

Huygens selbst bei <strong>der</strong> Doppelbrechnung des Lichts im<br />

isländischen Doppelspat entdeckt hat; durch e<strong>in</strong> solches<br />

Kristall gelesen, verdoppelt sich <strong>der</strong> Druck e<strong>in</strong>es Textes. Wie<br />

auch immer, die Gleichsetzung von Wasserwellen, Licht und<br />

Schall wird bis <strong>in</strong> die Medienkunst <strong>der</strong> Gegenwart fortgetragen,<br />

etwa <strong>in</strong> <strong>der</strong> mixed media­Installation Ondulation von Thomas<br />

McIntosh (2002) mit flachem Wasserbecken, worauf Wellen durch<br />

Schall darunter erzeugt und als Lichtreflexion an <strong>der</strong> Wand<br />

gebrochen werden ­ operierend mit <strong>der</strong> ästhetischen<br />

Simultaneität von Klang und Licht. 74<br />

Die Medientheoría des Lichts wird weiter anhand konkreter<br />

72 Ir<strong>in</strong>a L. Radunskaja, Der gefesselte Lichtstrahl, Moskau (MIR) / Leipzig (Urania) 1974,<br />

12<br />

73 Christian Huyghen, Ueber das Licht, = Oswald's Klassiker xxx, 14<br />

74 Ausstellung Vom Funken zum Pixel, 28. Oktober 2007 bis 14. Januar 2008, Mart<strong>in</strong>-<br />

Gropius-Bau Berl<strong>in</strong>, kuratiert von Richard Catelli, Paris


epistemogener Artefakte (Medien) gewonnen: Isaac Newton<br />

entdeckt beim Auflegen e<strong>in</strong>er schwachkonvexen Glasl<strong>in</strong>se auf e<strong>in</strong>e<br />

ebene Platte Farbr<strong>in</strong>ge. Es bleibt nicht beim philosophischen<br />

Staunen über dieses Phänomen, son<strong>der</strong>n sucht es zu analysieren,<br />

d. h. zu berechnen, und so treibt er e<strong>in</strong>e Fourier­Analyse avant<br />

la lettre. Die chromatische Aberration (die Newton durch<br />

Konstruktion se<strong>in</strong>es Spiegelteleskops dann umgeht) ist<br />

wissensproduktiv: Denn nach Zerlegung des weißen Lichts <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelfarben läßt sich durch Wie<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>igung des<br />

regenbogenfarbenen Streifens wie<strong>der</strong> weißes Licht erhalten ­ von<br />

<strong>der</strong> Analyse zur Synthese, von Fourier zum Synthecizer. Newton<br />

kann so die den verschiedenen Farben entsprechenden<br />

Wellenlängen berechnen. "Newton begriff jedoch, daß, wenn man<br />

die Lichtwellen den Schallwellen gleichsetzt, man nicht nur<br />

die Doppelbrechnung nicht erklären kann, son<strong>der</strong>n daß es dann<br />

auch unmöglich ist, die geradl<strong>in</strong>ige Ausbreitung <strong>der</strong><br />

Lichtstrahlen zu beschreiben" ­ was ihn<br />

zur Erkenntnis des Teilchencharakters des Lichts als<br />

Korpuskelstrom führt. Im Lichte <strong>der</strong> Quantenmechanik wird diese<br />

Sicht teilweise rehabilitiert, zerfällt hier doch <strong>der</strong><br />

Lichtstrahl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Abfolge von Lichtquanten namens Photonen,<br />

von <strong>der</strong>en Menge pro Zeite<strong>in</strong>heit se<strong>in</strong>e Intensität abhängt, wie<br />

von ihrer Energie die Farbwirkung. Dieser Photonenstrom aber<br />

ergießt sich nicht <strong>in</strong> regelmäßigen Intervallen, son<strong>der</strong>n<br />

statistisch verteilt, was sich bei extremer Lichtbündelung<br />

(Lasertechnologie) bemerkbar macht: Hier "prasseln" die<br />

Photonen "<strong>in</strong>s Meßgerät wie Regentropfen auf den Schirm" (worauf<br />

das Max­Planck­Institut <strong>für</strong> Quantenoptik mit <strong>der</strong> Entwicklung<br />

von nichtklassischem Licht antwortet, das gleichmäßig strömt).<br />

"Vergleichbar ist diese Phänomen etwa e<strong>in</strong>em Schuß aus e<strong>in</strong>er<br />

Schrotfl<strong>in</strong>te" , weshalb da<strong>für</strong> von<br />

Schrotrauschen gesprochen wird ­ e<strong>in</strong> nicht exakt<br />

vorhersagbares, nur statistisch beschreibbares Rauschen, das<br />

folgerichtig den durch die Braunsche Molekularbewegung<br />

sensibilisierten Norbert Wiener beim Versuch <strong>in</strong>teressierte,<br />

non­l<strong>in</strong>eare Zeitreihen vorherzusagen, um gegnerische<br />

Kampfflugzeuge vor ihrem Ziel artilleristisch vorgreifend<br />

abschießen zu können. Bekanntlich entwickelte er geme<strong>in</strong>sam mit<br />

Bigelow da<strong>für</strong> das passende mathematische Modell, das aber von<br />

den Computern se<strong>in</strong>er Zeit nicht zeitkritisch, also rechtzeitig<br />

rechenbar war, um im laufenden Zweiten Weltkrieg schon zum<br />

E<strong>in</strong>satz zu kommen. Unsere (Groß)Väter aber kannten dieses<br />

Rauschen noch aus dem Radio, konkret: aus <strong>der</strong> Elektronenröhre.


Thomas Young belebte dann Huygens´ Wellentheorie des Lichts<br />

wie<strong>der</strong>, unter Bezug auf die Ersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> Interferenz, <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Traktat Versuche zu Problemen des Schalles und des<br />

Lichtes (1800). Buch III von Newtons ausdrücklich<br />

Mathematischen Grundlagen <strong>der</strong> Naturphilosophie erwähnte die<br />

Arbeiten des Astronomen Halley, <strong>der</strong> an bestimmten Stellen <strong>der</strong><br />

Philipp<strong>in</strong>en abnormal hohe Flutwellen beobachtet hatte ­<br />

Tsunamis, exemplarisch <strong>für</strong> die Ersche<strong>in</strong>ung von ultraniedrigen<br />

Frequenzen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur. Newton erklärt dies mit <strong>der</strong><br />

gegenseitigen Überlagerung von Flutwellen, was den Anstoß <strong>für</strong><br />

Youngs Überlegungen gibt .<br />

Medientheoretisch beobachten wir e<strong>in</strong> Spiel zwischen optischen<br />

und akustischen Begriffen, bis h<strong>in</strong> zu den "Laserresonatoren".<br />

In optischen Resonatoren wi<strong>der</strong>hallt es, ohne daß e<strong>in</strong> Ton zu<br />

hören ist; beide Phänomene fallen unter den Oberbegriff von<br />

Schw<strong>in</strong>gungsverfahren . Der optische Resonator<br />

entbirgt, "daß e<strong>in</strong>e ganze Klasse von Wellen existiert, die an<br />

beiden Enden dieses erstaunlichen Wellenleiters praktisch<br />

vollständig reflektiert wird und zwischen se<strong>in</strong>en `Wänden´, d.<br />

h. den Spiegeln, e<strong>in</strong> System stehen<strong>der</strong> Wellen erzeugt"<br />

­ <strong>der</strong> von den Li Galli­Inseln vor <strong>der</strong><br />

italienischen Amalfi­Küste akustisch vertraute Frommolt­Carlé­<br />

Effekt, benannt nach se<strong>in</strong>en Entdeckern und Erlauschern mit<br />

medienarchäologischem Ohr. 75<br />

<br />

Womit wir fast schon beim Rundfunk s<strong>in</strong>d, bei He<strong>in</strong>rich Hertz und<br />

beim Radio ­ also Medien im technischen S<strong>in</strong>n. Rundfunk me<strong>in</strong>te<br />

medienarchäologisch (also forschend) zunächst gerade nicht<br />

Sprache und Musik, son<strong>der</strong>n Funkwellen zur drahtlosen<br />

Telegraphie, vor allem die radio telegraphy im Schiffsfunk nach<br />

1900. Radio war dementsprechend wortwörtlich genommen, um die<br />

physikalischen Eigenschaften elektromagnetischer Fel<strong>der</strong> zu<br />

betonen: "die Radialwirkung <strong>der</strong> Wellen, das heißt ihre<br />

gleichmäßige Ausbreitung nach allen Seiten" 76 . Die ersten<br />

Radiosendungen waren ke<strong>in</strong>e Hörspiele und symphonischen<br />

Konzerte, son<strong>der</strong>n die Zeitzeichenssendungen von ortsfesten<br />

75 Dazu W. E. (unter Mitarbeit von Mart<strong>in</strong> Carlé, Karlhe<strong>in</strong>z Frommolt und Tania Hron),<br />

xxx, <strong>in</strong>: Brigitte Fel<strong>der</strong>er (Hg.), Phonorama, xxx, xxx<br />

76 Oskar Blumtritt, Nachrichtentechnik. Sen<strong>der</strong>, Empfänger, Übertragung, Vermittlung,<br />

2. erw. Aufl. München (Deutsches Museum) 1997, 79


Stationen <strong>für</strong> nautische Positionsbestimmungen; die Natur des<br />

Funken wird zur Botschaft diskreter Zeit.<br />

Gehen wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> medientheoretischen Kraftanstrengung<br />

methodisch noch e<strong>in</strong>en Schritt weiter ­ auf´s Ganze, weil e<strong>in</strong>e<br />

vollendete <strong>Medientheorie</strong> <strong>für</strong> die zeitkritische Verfaßtheit<br />

technologischer (o<strong>der</strong> besser techno­mathematischer) Prozesse<br />

sensibel ist. E<strong>in</strong>erseits besagt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Quantisierung<br />

bereits, daß die Welt hier pr<strong>in</strong>zipiell als numerisch faßbar<br />

modelliert wird; komputiert das Universum, mit Pythagoras und<br />

Zuse gefragt? Denis Gabor, besser bekannt als (Mit­)Erf<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

des Holographie, präzisiert die Fourier­Analyse, die ihrerseits<br />

schon e<strong>in</strong>e Algebraisierung von Wellenphänomenen ist, <strong>in</strong><br />

Richtung Wavelets und wählt den Begriff <strong>der</strong> "acoustic Quanta",<br />

um Wellenmechanik zu illustrieren: "Acoustical phenomena are<br />

discussed by mathematical methods closely related to those of<br />

quantum theory." 77<br />

Um zwischendurch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck zu erhalten, wie sich denn<br />

akustische Quanten wohl anhören, wenn sie zu e<strong>in</strong>er<br />

mathemtaischen Symphonie vere<strong>in</strong>igt werden, mag die Komposition<br />

Persepolis von Iannis Xenakis dienen, erhalten auf den<br />

Tonbän<strong>der</strong>n am Institute National Acoustique­Groupe Recherce<br />

Musique <strong>in</strong> Paris (INA­GRM). Als Protagonist von Computermusik<br />

steht Xenakis <strong>für</strong> Kompositionen auf <strong>der</strong> Grundlage von<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsfunktionen, also Stochastik, als<br />

"compostional methodology" 78 ­ und damit hörbarer<br />

<strong>Medientheorie</strong>. Dieses Werk von 1971 entstand als Auftrag des<br />

früheren Shahs von Persien, Reza Pahlewi, <strong>für</strong> die 2500 Jahr­<br />

Feier <strong>der</strong> Gründung des persischen Großreiches durch Kyrus, <strong>in</strong><br />

den Ru<strong>in</strong>en des früheren Palastes von Persepolis, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>stigen<br />

Hauptstadt, im heutigen Iran. Der von Le Corbusier bee<strong>in</strong>flußte,<br />

frühere Architekt Xenakis war hochsensibel <strong>für</strong> den Zustand<br />

dieser Ru<strong>in</strong>enlandschaft, die zwischen Figuration (geordneter<br />

restlicher Architektur) und Zerfalls <strong>in</strong> Geste<strong>in</strong>smassen<br />

oszilliert, an<strong>der</strong>s ausgedrückt: zwischen Negentropie (Kultur,<br />

Überlieferung als Tradition) und Entropie (die Tendenz zur<br />

wachsenden Unordnung als Zeitpfeil). Der Klang von Persepolis<br />

wird hier zur akustisch vernehmbaren Verrechnung von<br />

Information versus Entropie, vetrat aus <strong>der</strong> Mathematischen<br />

77<br />

Denis Gabor, Acoustical Quanta and the Theory of Hear<strong>in</strong>g, <strong>in</strong>: Nature Nr. 4044 (Mai<br />

1947), 591-594 (591)<br />

78 Booklet zur CD: Iannis Xenakis. Persepolis + Remixes, kuratiert von Zbigniew<br />

Karkowski und Naut Humon, Asphodel LTD 2002


Theorie <strong>der</strong> Kommunikation Claude Shannons.<br />

Folgen wir e<strong>in</strong>em Vorschlag von Seth Llody am Massachusetts<br />

Institute of Technology, <strong>der</strong> ansatzweise e<strong>in</strong> erstes<br />

Quantencomput<strong>in</strong>g realisierte und uns aufruft, die Überlagerung<br />

mehrerer Bits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Quantencomputer analog zu <strong>der</strong><br />

Überlagerung von Schallwellen vorzustellen: E<strong>in</strong>e 0 o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e 1<br />

kl<strong>in</strong>gt dann (wenngleich übersummativ) wie e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Ton,<br />

e<strong>in</strong>e Überlagerung wie e<strong>in</strong> Akkord ­ nur daß <strong>der</strong> Moment <strong>der</strong><br />

Messung diese Gleichwahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>deutigkeit<br />

kollabieren läßt, während das menschliche Ohr den Ton <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Vielheit zur Empf<strong>in</strong>dung werden läßt. Der IBM­Forscher Peter W.<br />

Shor "glaubt, daß dieser symphonische Aspekt des<br />

Quantencomputeres ihn dazu befähigt, große natürliche Zahlen<br />

schnell <strong>in</strong> ihre Faktoren zu zerlegen" ­ so<br />

schnell wird aus Musik Kryptographie. Shor verme<strong>in</strong>t zu hören,<br />

daß die Faktoren e<strong>in</strong>er großen Zahl gegenüber an<strong>der</strong>en<br />

Instrumenten "so deutlich hervortreten wie e<strong>in</strong>e Melodie, die<br />

von Geigen, Bratschen und Celli <strong>in</strong> Oktavparallelen gespielt<br />

wird" . Auch Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitswellen bilden so<br />

Amplituden, doch dies "bedeutet natürlich nicht, daß e<strong>in</strong><br />

Wissenschaftler nun statt des Integralzeichens e<strong>in</strong>en<br />

Viol<strong>in</strong>schlüssel schreibt; nur <strong>in</strong> schlechten Romanen denken<br />

Wissenschaftler, wenn sie Musik hören, daran, daß <strong>der</strong> Oktave<br />

Logarithmen zugrunde liegen." 79 Genau dies aber ist das<br />

medienarchäologische Gehör, wenn es sich als Graph <strong>der</strong><br />

Intensität von Obertönen e<strong>in</strong>es Cellos bei 280 Hz mit Hüllkurve<br />

abbildet. "Um das S<strong>in</strong>gen und Tanzen zu verachten, genügt es,<br />

beide <strong>in</strong> ihre Bestandteile zu zerlegen", me<strong>in</strong>te <strong>der</strong><br />

spätrömische Kaiser Marc Aurel .<br />

Wissenschaft ist Unterschied zur Kunst, und<br />

Naturwissenschaften, denen Medienwissenschaft als mathesis von<br />

Medien, also Mediamatik ebenso nahesteht wie den Kultur­ und<br />

Geisteswissenschaften, vermag nun e<strong>in</strong>mal "nur jene<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen zu erkennen, <strong>der</strong>en Eigenschaften man durch Zahlen<br />

beschreiben kann" . Und doch läßt sich<br />

Musik gerade <strong>in</strong> diese Mathematik br<strong>in</strong>gen.<br />

So konkret ist <strong>der</strong> Zusammenhang von Medien und Mathematik, <strong>für</strong><br />

e<strong>in</strong>e komplexe Reflexion von Medienvorgängen unumgänglich, und<br />

das ganz im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Wissensfelds von Medienvorgängen, das<br />

79 Leonid I. Ponomarjow, Welle o<strong>der</strong> Teilchen? E<strong>in</strong>e populäre Quantenphysik, Moskau<br />

(MIR) / Leipzig et al. (Urania) 1974, 276


etwa an <strong>der</strong> Universität von Zil<strong>in</strong>a <strong>in</strong> <strong>der</strong> Slowakei am<br />

"Department of InfoCom Networks" (neben Time­Series Analyses)<br />

e<strong>in</strong>en eigenen Studiengang darstellt: Mediamatica.<br />

Für die quantenmechanisch <strong>in</strong>formierte Kernphysik ist e<strong>in</strong> Atom<br />

e<strong>in</strong> System von Differentialgleichungen. Dennoch macht es<br />

heuristisch S<strong>in</strong>n, die Wellenfunktionen <strong>der</strong> Quantenmechanik mit<br />

<strong>der</strong> schw<strong>in</strong>genden Saite zu analogisieren ­ ganz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition<br />

von Huygens. Ihm war es gelungen, mit e<strong>in</strong>er gewöhnlichen<br />

Differentialgleichung, wie sie Leibniz und Newton (<strong>für</strong><br />

Planetenlaufbahnen) entwickelten, die K<strong>in</strong>ematik e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen<br />

schw<strong>in</strong>genden Punktes ­ des Pendels als Modell von Oszillation<br />

(die dann auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buchtitel auftaucht) ­ zu entwickeln;<br />

an <strong>der</strong> schw<strong>in</strong>genden Saite aber wird dieser Ansatz komplexer,<br />

weil hier unzählig viele Punkte mit <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itesimal vielen<br />

Freiheitsgraden elastisch gekoppelt s<strong>in</strong>d:<br />

Der mathematischen Analysis bleib nur übrig, dieses Geheimnis e<strong>in</strong>er neuen <br />

Theorie anzuvertrauen . Bei Geigensaiten und Glückentönen, Trommelfellen und<br />

Wasseroberflächen, schließlich auch bei Wirbelstürmen und elektromagnetischen<br />

Schw<strong>in</strong>gungen gelang es nur mehr partiellen Differentialgleichungen, zahllose<br />

bewegte Teile <strong>in</strong> all ihren Dimensionen zu modellieren 80<br />

­ womit die schw<strong>in</strong>gende Saite, je nachdem, wie sie etwa gezupft<br />

wird, potentiell zum Modellfall <strong>für</strong> unstetige Prozesse wird.<br />

Norbert Wiener hat <strong>für</strong> die Vorhersage <strong>der</strong> Gehbewegungen e<strong>in</strong>es<br />

trunkenen Mannes auf dem Trottoir o<strong>der</strong> <strong>für</strong> die Abwehr sich<br />

nähern<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Artillerie ausweichen<strong>der</strong> Flugzeuge e<strong>in</strong>e<br />

spezielle Zeitreihenanalyse entwickelte. Es geht hier um<br />

Vorgänge, die das Innerste des Menschen selbst betreffen ­<br />

nämlich se<strong>in</strong>e Art und Weisen, sich <strong>in</strong> dem Zeitfenster namens<br />

Gegenwart (se<strong>in</strong>em ∆t zwischen dem Nu <strong>der</strong> Jetztvergangenheit<br />

und dem Vorlauf <strong>der</strong> Zu­Kunft im Modus des Futur II) zu<br />

verhalten.<br />

Von hier aus <strong>der</strong> direkte Kurzschluß zu zwei Massenmedien, K<strong>in</strong>o<br />

und Fernsehen. Ausgerechnet elektronisches Fernsehen wird <strong>für</strong><br />

Norbert Wiener modellbildend, genauer: <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong><br />

Bildabtastung <strong>in</strong> ultraschneller Zeit, welche die menschlichen<br />

S<strong>in</strong>ne nicht nur wie K<strong>in</strong>ematographie als Bewegungsillusion durch<br />

e<strong>in</strong>e Serie von schnell h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>geschalteten<br />

photographischen Bil<strong>der</strong>n betrügt, son<strong>der</strong>n im Zustandekommen des<br />

Bildes selbst ­ nahe an dem, was die Neuro<strong>in</strong>formatik <strong>für</strong><br />

Bildgenerierung im Hirn beschreibt: "Es war klar, daß je<strong>der</strong><br />

Bildabtastprozeß die Zahl von Daten, mit denen operiert wird,<br />

80 Friedrich Kittler, Der Mensch, e<strong>in</strong> betrunkener Dorfmusikant, <strong>in</strong>: Renate Lachmann /<br />

Stefan Rieger (Hg.), Text und Wissen. Anthropologische und technologische Asppekte,<br />

Tüb<strong>in</strong>gen 2003, 29-43 (32)


verglichen mit <strong>der</strong> Zahl von Daten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Problem gewöhnlicehr<br />

Differentialgleichnungen, ungeheuer vergrößern mußte" 81 ­ <strong>der</strong><br />

ganze Unterschied zwischen Leibniz´ gewöhnlichen<br />

Differentialgleichungen und den partiellen<br />

Differentialgleichungen von Leonard Euler .<br />

O<strong>der</strong> ist Wieners Fernseh­Modell doch nur <strong>für</strong> e<strong>in</strong>fache<br />

Differentialgleichungen geme<strong>in</strong>t?<br />

Here television technique has shown the proper way: scann<strong>in</strong>g, or the approximate<br />

mapp<strong>in</strong>g of such functions as functions of a s<strong>in</strong>gle variable, the time. This technique<br />

depends on very rapid methods or record<strong>in</strong>g, operationg on, and read<strong>in</strong>g quantities or<br />

numbers. 82<br />

McLuhan sieht die Botschaft des TV­Mediums <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Modus <strong>der</strong><br />

Massage auf neuronaler, sensorischer Ebene ­ nicht auf <strong>der</strong><br />

vor<strong>der</strong>gründig ikonologischen o<strong>der</strong> narrativen. Dieser allgeme<strong>in</strong>e<br />

Gedanke wäre ­ mit McLuhan über McLuhan h<strong>in</strong>aus ­ <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht<br />

auf das Zeitkritische zu präzisieren. Die eigentliche<br />

Medienbotschaft des Fernsehbildes ist "nicht das<br />

Mo<strong>der</strong>atorenverhalten <strong>in</strong> Fernsehshows", son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong>e (im S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>der</strong> Videobild­Def<strong>in</strong>ition Bill Violas) zeitliche Wesenheit, denn<br />

se<strong>in</strong>e technisch­mediale Eigenlogik "modelliert sowohl<br />

<strong>in</strong>dividuell als auch kollektiv die Wahrnehmung von Zeit.<br />

Spätens an diesem Punkt hat Zeit damit aufgehört, überhaupt<br />

noch <strong>in</strong>dividuell zu se<strong>in</strong>. Zeit ist damit auch die<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>er Medienwissenschaft" 83 . Hier spielt sich<br />

vorweg auf, was dann fort von menschlicher ret<strong>in</strong>aler<br />

Wahrnehmung <strong>in</strong> den Computer selbst wan<strong>der</strong>t und dort<br />

zeitkritisch eskaliert: "Die kybernetischen Masch<strong>in</strong>en<br />

erschöpfen das kle<strong>in</strong>ste Intervall. E<strong>in</strong>e Addition geschieht <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er fünfmillionstel Sekunde . Bereits hier ersche<strong>in</strong>t das<br />

beson<strong>der</strong>e Zeitverhältnis dieser Masch<strong>in</strong>e: sie arbeitet <strong>in</strong> den<br />

Fe<strong>in</strong>strukturen, <strong>in</strong> den Mikroverläufen <strong>der</strong> Zeit, die durch<br />

menschliches Handeln o<strong>der</strong> Denken nicht ausgenützt werden<br />

können." 84<br />

Wenn <strong>der</strong> Videokünstler Bill Viola also den Gegenstand se<strong>in</strong>er<br />

Kunst als "Klang <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zeilen­Abtastung" def<strong>in</strong>iert 85 , kommt<br />

die Saite als medienepistemologischer Modellfall wie<strong>der</strong> <strong>in</strong>s<br />

Spiel ­ und sei es die e<strong>in</strong>saitige bosnisch­serbische Kniegeige<br />

Gusle, das Begleit<strong>in</strong>strument epischer Sänger und Beispiel <strong>für</strong><br />

neuro­senso­motorische Rückkopplung e<strong>in</strong>es Prozesses, wo<br />

sprachliche Artikulation ­ also Diskretisierung, das Operieren<br />

mit Symbolen ­ auf die Welt <strong>der</strong> Schw<strong>in</strong>gungen im Realen trifft.<br />

81 Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung <strong>in</strong> Lebewesen<br />

und Masch<strong>in</strong>e, Re<strong>in</strong>bek b. Hamburg 1968, 23; dazu Rieger 2003, 64-82<br />

82 Norbert Wiener, Memorandum on mechanical solzutio of partial differential equations,<br />

Coll. Works, IV, 125-134 (133)<br />

83 Stefan Rieger, Kybernetische Anthropologie. E<strong>in</strong>e Geschichte <strong>der</strong> Virtualität,<br />

Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2003, 143<br />

84 Max Bense, Kybernetik o<strong>der</strong> die Metatechnik e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., Ausgewählte<br />

Schriften, 2. Bd., Stuttgart/Weimar 1998, 429-446 (440)<br />

85 Bill Viola, Der Klang <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zeilen-Abtastung, <strong>in</strong>: Theaterschrift xxx


"Selbst wenn im Atom ke<strong>in</strong>erlei reale Schw<strong>in</strong>gungen ähnlich denen<br />

<strong>der</strong> Saite vonstatten gehen, so bleibt diese Anlogie dennoch<br />

nützlich" ; die mathematische<br />

Gleichung <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e schw<strong>in</strong>gende Saite ist <strong>der</strong><br />

Schröd<strong>in</strong>gergleichung ähnlich, gerade weil sie e<strong>in</strong>e<br />

Wellengleichung darstellt. 86 Wer es nicht als Formel entziffern<br />

mag, dem ist es als Graphik anschaulich. In beiden Fällen<br />

erkennen wir S<strong>in</strong>uskurven. "Der S<strong>in</strong>n dieser Kurven ist klar: Sie<br />

stellen die Form <strong>der</strong> Saite zu e<strong>in</strong>em bestimten Zeitpunkt dar,<br />

sie s<strong>in</strong>d gleichsam e<strong>in</strong>e Momentaufnahme ihres<br />

Schw<strong>in</strong>gungsprozesses" ­ aber nicht <strong>der</strong> E<strong>in</strong>­ und<br />

Ausschw<strong>in</strong>gvorgänge, die erst den Schmelz des musikalischen<br />

Genusses, <strong>der</strong> humanen Tonempf<strong>in</strong>dung ausmachen. Ort und Impuls,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat, s<strong>in</strong>d kaum gleichzeitig zu fassen (worauf dann Gabor<br />

mit se<strong>in</strong>en akustischen antwortet).<br />

Nicht von ungefähr hält sich e<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong><br />

Elementarteilchen beharrlich an das Bild von str<strong>in</strong>gs ­ e<strong>in</strong><br />

weiteres Beispiele <strong>für</strong> akustische Modellierung von Wissen, die<br />

ihren sche<strong>in</strong>bar metaphorischen Charakter verlieren, wenn wir<br />

uns klarmachen, daß die Schw<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er Saite <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat<br />

auf e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>sicht sowohl <strong>der</strong> Quanten­ als auch <strong>der</strong><br />

<strong>Medientheorie</strong> <strong>in</strong>dexialisch verweisen ­ <strong>in</strong> das Wesen von Welten<br />

als wallen<strong>der</strong> Übertragungen (metaphore<strong>in</strong>).<br />

­ ­ ­<br />

Um e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum an Mathematik kommen wir nicht umh<strong>in</strong>, wenn<br />

<strong>Medientheorie</strong> und Klanganalyse konvergieren. Umgekehrt gilt<br />

dies auch <strong>für</strong> die Medienanalyse von Klang.<br />

Interpolieren wir hier e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> diesem Zusammenhang allzu<br />

schnell verklungenen Namen, Werner Meyer­Eppler. Neben den<br />

üblichen Verdächtigen e<strong>in</strong>er nachrichtentechnisch und<br />

mathematisch <strong>in</strong>formierten Kommunikations­ als <strong>Medientheorie</strong><br />

(Claude Shannon, Norbert Wiener) kommt er <strong>in</strong>s Spiel, wenn es um<br />

die dezidiert akustische und sonische Applikation dieser<br />

Theorien geht. Meyer­Eppler studierte Mathematik, Physik und<br />

Chemie; se<strong>in</strong>e Dissertation an <strong>der</strong> Universität Bonn behandelt<br />

E<strong>in</strong>e Anordnung zur direkten photoelektrischen Ausmessung von<br />

86 Zum Streit zwischen d´Alembert und Euler um den Charakter <strong>der</strong> schw<strong>in</strong>genden Saite<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er medienepistemologischen Dimension siehe Bernhard Siegert, Passage des<br />

Digitalen. Zeichenpraktiken <strong>der</strong> neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berl<strong>in</strong><br />

(Br<strong>in</strong>kmann & Bose) 2003, 212ff


Funkenspektren (1939, kurz vor Kriegsausbruch); im September<br />

1942 habilitiert er sich an <strong>der</strong> Mathematisch­<br />

Naturwissenschaftlichen Fakuktät <strong>der</strong>selben Universität mit<br />

e<strong>in</strong>er (avant la lettre) medienwissenschaftlichen, weil die<br />

Rolle von Meßmedien im Zustandekommen von<br />

naturwissenschaftlichen Daten behandelnden Schrift über<br />

Verzerrungen, die durch die endliche Durchlaßbreite<br />

physikalischer Apparate hervorgerufen werden, nebst Anwendung<br />

auf die Periodenforschung. "Periodenforschung" ist das<br />

Stichwort, das <strong>in</strong>s Zentrum <strong>der</strong> neuzeitlichen Episteme weist,<br />

wo e<strong>in</strong>e dynamische Welt aus Schw<strong>in</strong>gungen die quasi­stationäre<br />

antike Welt aus numerisch­kosmischen Proportionsverhältnissen<br />

ersetzt; ihr meßmediales S<strong>in</strong>nbild ist das Oszilloskop.<br />

Als Dozent <strong>für</strong> experimentelle Physik verfaßte Meyer­Eppler, <strong>der</strong><br />

die H<strong>in</strong>wendung zu akustischen Prozessen aus<br />

naturwissenschaftlicher Perspektive mit prom<strong>in</strong>enten Kollegen<br />

wie Hermann von Helmholtz, Sigmund Exner sowie Erich Moritz von<br />

Hornbostel teilt, <strong>in</strong>mitten des Zweiten Weltkriegs den Aufsatz<br />

"Die Untersuchung von Schw<strong>in</strong>gungsvorgängen mit dem<br />

Projektionsperiodographen". 1947 wechselt er die Fakultäten,<br />

als ihn das Phonetische Institut an <strong>der</strong> Philosophischen<br />

Fakultät <strong>der</strong> Universität Bonn engagiert ­ zugleich e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis<br />

darauf, wie Medienwissenschaft <strong>in</strong> beiden Fakultäten anzusiedeln<br />

ist. Das Bonner Institut nennt sich später <strong>in</strong><br />

"Kommunikationsforschung und Phonetik" um; markant ist <strong>in</strong><br />

diesem Zusammenhang, daß damit ke<strong>in</strong> publizistischer Begriff von<br />

Kommunikation, son<strong>der</strong>n Informationstheorie im S<strong>in</strong>ne Shannons<br />

geme<strong>in</strong>t ist. Meyer­Eppler beruft sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Vortrag<br />

"Metamorphose <strong>der</strong> Klangelemente" (Basel 1955) ausdrücklich auf<br />

Claude Shannons allgeme<strong>in</strong>e Kommunikationstheorie, "die sich<br />

auch auf den Fall <strong>der</strong> elektronischen Musik wie überhaupt jedes<br />

akustische Geschehen anwenden läßt, und die es gestattet,<br />

verb<strong>in</strong>dliche Aussagen über Schallstrukturen zu gew<strong>in</strong>nen."<br />

1955 hält er unter dem Titel Metamorphose <strong>der</strong> Klangelemente<br />

e<strong>in</strong>en Vortrag, <strong>der</strong> die mathematische Theorie <strong>der</strong> Kommunikation<br />

auf elektronische Musik "wie überhaupt jedes akustische<br />

Geschehen" 87 anwendet. Dieses sich­E<strong>in</strong>lassen auf Shannons<br />

Mathematik bedeutet zugleich e<strong>in</strong>e radikale Abwendung von den<br />

"analogen" Vorstellungen und (Meß)Medien <strong>der</strong> Musik, denn die<br />

87 Zitiert aus dem Vortragstyposkript nach: Elena Ungeheuer, Wie die elektronische<br />

Musik "erfunden" wurde ... Quellenstudie zu Werner Meyer-Epplers Entwurf zwischen<br />

1949 und 1953, Ma<strong>in</strong>z et al. (Schott) 1992, 217


aus Shannons diskreter Mathematik gezogenen Konsequenz lautet:<br />

"Es gibt nur e<strong>in</strong>e endliche Zahl von akustisch unterscheidbaren<br />

Schallereignissen von nicht unbegrenzter Dauer" ­ und diese<br />

Unterscheidbarkeit ist die Bed<strong>in</strong>gung <strong>für</strong> das Informationsmaß.<br />

"Nicht <strong>der</strong> kont<strong>in</strong>uierliche Schw<strong>in</strong>gungsverlauf, das<br />

Oszillogramm, ist deshalb das angemessenste<br />

Beschreibungsmittel, son<strong>der</strong>n das diskont<strong>in</strong>uierliche Schema, die<br />

Matrix" . Geme<strong>in</strong>t ist hier sehr konkret das Zeit­<br />

Frequenz­Spektrum nach Gabor ­ e<strong>in</strong>e zweidimensionale,<br />

diskont<strong>in</strong>uierliche Matrix, die Meyer­Eppler nicht nur zur<br />

Analyse von Klangereignissen, son<strong>der</strong>n zugleich auch als<br />

Partitur und Baumaterial <strong>für</strong> elektronische Kompositionen <strong>in</strong><br />

Mosaiktechnik empfiehlt. Zweidimensionale, diskont<strong>in</strong>uierliche<br />

Matrizenmathematik ­ und hier kommen wir wie<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong><br />

unumgängliches Grundlagenwissen von Mathematik <strong>für</strong><br />

Medienwissenschaftler ­ war schon <strong>für</strong> Werner Heisenberg (<strong>in</strong><br />

Differenz zu Erw<strong>in</strong> Schröd<strong>in</strong>ger) das quantentheoretische<br />

Instrument, dem Welle/Teilchen­Dualismus beizukommen. An<br />

an<strong>der</strong>er Stelle beschreibt Meyer­Eppler die "matrizielle<br />

Notation" mit Blick auf dem sampl<strong>in</strong>g theorem (von ihm als<br />

"Auswahl­Theorem" übersetzt). Die Mächtigkeit dieses<br />

<strong>in</strong>formations­ und nachrichtentechnischen Theorems erstreckt<br />

sich auf jeden beliebigen Schw<strong>in</strong>gungsvorgang, "von dem<br />

lediglich verlangt wird, daß er ke<strong>in</strong>e Frequenzkomponenten<br />

außerhalb des Hörbereichs hat und von begrenzter Dauer ist"<br />

. Hier ist <strong>der</strong> medienanthropologische<br />

Maßstab (und damit die Beschränkung) des Sampl<strong>in</strong>g­Theorems <strong>in</strong><br />

aller Deutlichkeit ausgesprochen, während Medienarchäologie mit<br />

distanziertem Blick auf menschenferne Medienvorgänge<br />

reflektiert.<br />

Sofern e<strong>in</strong> solcher Schw<strong>in</strong>gungsvorgang von begrenzter Dauer ist,<br />

läßt er sich stets durch e<strong>in</strong>e endliche Zahl von reelen o<strong>der</strong><br />

komplexen Amplitudenwerten "völlig e<strong>in</strong>deutig darstellen" 88 ­<br />

e<strong>in</strong> neuer Begriff von (high) fidelity, von "Treue", geboren aus<br />

<strong>der</strong> Medienästhetik selbst, <strong>in</strong>sofern sie e<strong>in</strong>e technomathematische<br />

ist. Friedrich Kittler schreibt es gleich zu<br />

Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es Werks Aphrodite: "Wir möchten euch Musik und<br />

Mathematik erzählen: das Schönste nach <strong>der</strong> Liebe, das Schwerste<br />

nach <strong>der</strong> Treue." 89<br />

88 Werner Meyer-Eppler, Elektronische Musik, <strong>in</strong>: F. W<strong>in</strong>ckel (Hg.) 1955, 133-158 (150)<br />

89 Musik und Mathematik Bd. I/1, München (F<strong>in</strong>k) 2006, 12


Bezeichnet B die spektrale Breite des akustischen Ereignisses<br />

und T se<strong>in</strong>e Dauer, bedarf es höchstens n = 2BT relle<br />

Amplitudenwerte ("Informationsquanten" o<strong>der</strong> "Logonen") zu<br />

se<strong>in</strong>er Darstellung (im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> genannten<br />

s<strong>in</strong>nesanthropologischen Beschränkung). Von hier <strong>der</strong> Schritt zu<br />

den Gaborschen "Elementarsignalen", die je aus e<strong>in</strong>er "gaußisch<br />

berandeten S<strong>in</strong>us­ o<strong>der</strong> Kos<strong>in</strong>usschw<strong>in</strong>gung" bestehen. E<strong>in</strong><br />

akustisches Elementarteilchen (Gaborsche Elementarsignale<br />

verschiedener effektiver Dauer ∆t) läßt sich entwe<strong>der</strong><br />

mathematisch "<strong>in</strong> reeller Schreibweise" darstellen,<br />

<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> graphischer Form . Genau deshalb<br />

wollen wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berl<strong>in</strong>er Schule <strong>der</strong> Medienwissenschaft unsere<br />

Texte <strong>in</strong> LaTeX verfassen: um an solchen Stellen <strong>der</strong><br />

Argumentation nicht auf Overheadfolien zur Illustration<br />

mathematischer Formeln zurückgreifen zu müssen, an denen die<br />

Textedition <strong>in</strong> Microsofts WORD scheitert, das bestanfalls noch<br />

Wurzelzeichen zu <strong>in</strong>terpolieren vermag.<br />

<br />

Vier Parameter kennzeichnen also e<strong>in</strong> Gaborsches Klangatom: die<br />

zeitliche Lage t0, die frequenzmäßige Lage v0, das<br />

Zeit<strong>in</strong>tervall ∆t (die "effektive Dauer") und die komplexe<br />

Amplitude c. Und so werden physikalische Ereignisse (akustische<br />

Signale) als "Informationszellen" rechenbar und lassen sich zu<br />

e<strong>in</strong>er "Kompositions­Matrix" anordnen:<br />

<br />

Es kommt nicht von ungefähr, daß diese Sicht auf Musik vor<br />

allem von Physikern, Mathematikern, Kybernetikern (heute sagen


wir: Informatiker), allgeme<strong>in</strong>: von Naturwissenschaftlern<br />

getragen wurde. Deren Antwort auf die Frage nach <strong>der</strong> Musik<br />

lautet e<strong>in</strong>deutig: Klang; diesem Appell des Sonischen schließt<br />

sich Medienarchäologie an. Doch die detaillierte<br />

Frequenzanalyse akustischer Vorgänge ist nicht h<strong>in</strong>reichend zur<br />

Erklärung e<strong>in</strong>es Phänomens namens Klang; erst die operative<br />

Mathematik <strong>der</strong> wavelets kommt heute im Computer dem nahe, was<br />

das menschliche Gehör längst leistet: akustische Signale<br />

zugleich als Zeitfunktion und als Frequenzspektrum zu<br />

<strong>in</strong>tegrieren. 90<br />

Dennis Gabor (<strong>der</strong> uns ansonsten <strong>für</strong> die Erf<strong>in</strong>dung <strong>der</strong><br />

Holographie vertraut ist) holte im Namen <strong>der</strong> "subjective<br />

acoustics" die Zeit zurück <strong>in</strong> die Klanganalyse, welche Fourier<br />

durch se<strong>in</strong>e Transformation vom Zeit­ und den Frequenzbereich<br />

extrapoliert hatte. Zunächst referiert Gabor die von Ohm und<br />

Helmholtz entwickelte Theorie des Hörens:<br />

The ear analyses the sound <strong>in</strong>to its spectral components, and our sensations are made<br />

up of the Fourier components, or rather of their absolute values. But Fourier analysis is<br />

a timeless description <strong>in</strong> terms of exactly periodic waves of <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ite duration. On the<br />

other hand, it is our most elementary experience that sound has a time pattern as well<br />

as a frequency pattern. This duality of our sensations f<strong>in</strong>ds no expression either <strong>in</strong> the<br />

description of sound as a signal s(t) <strong>in</strong> function of time, or <strong>in</strong> its representation by<br />

Fourier components S(t). A mathematical descriptionis wanted which ab ovo takes<br />

accountof this duality. Let us therefore consi<strong>der</strong> both time and frequency as co-ord<strong>in</strong>ates<br />

of sound <br />

­ eben so, wie auch <strong>für</strong> operative Technologien <strong>der</strong> zeitlose<br />

Zeichenbegriff und <strong>der</strong> zeitkritische Signalbegriff<br />

<strong>in</strong>e<strong>in</strong>slaufen. 91<br />

Gabor def<strong>in</strong>iert zunächst exakt mathematisch die "uncerta<strong>in</strong>ty<br />

relation between time and frequency" als Delta t: "What we have<br />

obta<strong>in</strong>ed is a classical model of one­dimensional static wave<br />

mechanis, <strong>in</strong> which unity replaces Planck´s constant h. We<br />

see now that the quanta <strong>in</strong> this model of wave mechanism are<br />

quanta of <strong>in</strong>formation. Each quantum represents one complex<br />

numerical datum or two real data" . Folgt e<strong>in</strong> Verweis auf<br />

90 Dazu Julia Kursell / Arm<strong>in</strong> Schäfer, Klangwolken, <strong>in</strong>: Archiv <strong>für</strong> Mediengeschichte,<br />

Themenheft Wolken (2005), 167-180<br />

91 Mart<strong>in</strong> Heidegger faßt diesen entscheidenden Unterschied von Zeichen und Signal <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Kritik an <strong>der</strong> Informatisierung von Sprache als Programmierung nicht präzise.<br />

Siehe »Zeichen«, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., Aus <strong>der</strong> Erfahrung des Denkens 1910-1976, Frankfurt/M.,<br />

211. Dazu Erich Hörl, Parmenideische Variationen. McCulloch, Heidegger und das<br />

kybernetische Ende <strong>der</strong> Philosophie, <strong>in</strong>: Claus Pias (Hg.), Cybernetics / Kybernetik. The<br />

Macy-Conferences 1946-1953, Bd. II: Essays und Dokumente, Zürich / Berl<strong>in</strong><br />

(diaphanes) 2004, 209-226


die analytische Verwendung <strong>der</strong> "`sound spectrography´ developed<br />

by the Bell Telephone Laboratories dur<strong>in</strong>g the War" ; <strong>der</strong><br />

Kriegsbezug lag konkret <strong>in</strong> <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />

Piloten(tele)kommunikation auch <strong>in</strong> lärmenden Flugzeugen noch<br />

aufrechterhalten zu können ­ "communication <strong>in</strong> the presence of<br />

noise" (frei nach Claude Shannon).<br />

An den (Meß­)Grenzen <strong>der</strong> <strong>Medientheorie</strong>: Quantenphysikalische<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

Mit <strong>der</strong> entscheidenden Differenz zwischen menschlicher und<br />

medientechnischer, mith<strong>in</strong> medienarchäologischer aisthesis<br />

kommt die Rolle <strong>der</strong> Meß<strong>in</strong>strumente <strong>in</strong> Quantenanalyse <strong>in</strong>s Spiel:<br />

There is an important difference between an acoustical quantum as registered by a<br />

physical measur<strong>in</strong>g <strong>in</strong>strument, and as registered by the ear. In the experiments<br />

consi<strong>der</strong>ed the ear was called upon only to answer "yes" or "no" to a simple question. To<br />

a measur<strong>in</strong>g <strong>in</strong>strument, on the other hand, a quantum of <strong>in</strong>formation conveys a compelx<br />

numerical datum (two real data), and every exact datum carries <strong>in</strong> itself an <strong>in</strong>f<strong>in</strong>ite<br />

number of "yes"s´ and "no"s´. the best ear <strong>in</strong> the optimum frequency-range can<br />

just about discrim<strong>in</strong>ate one acoustical quantum <br />

­ verkehrte Welten des Analogen und des Digitalen.<br />

"Alle Bewegung verursacht Schw<strong>in</strong>gungen, alle<strong>in</strong> uns<br />

fehlen die Ohren, sie zu hören" (Mar<strong>in</strong> Mersenne, Harmonie<br />

Universelle). Es vielmehr die Mathematik, welche uns die<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen nahe br<strong>in</strong>gt; sie "macht sie uns messbar und<br />

sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Begabung des menschlichen Geistes zu<br />

se<strong>in</strong>, um das, was ihm durch den Mangel se<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>ne und<br />

die Kürze se<strong>in</strong>es Lebens verloren geht, zu ersetzen"<br />

(Joseph de Fourier, Analytische Theorie <strong>der</strong> Wärme). 92<br />

Von <strong>der</strong> antiken Proportion zur Identifizierung <strong>der</strong> Tonhöhe mit<br />

<strong>der</strong> Schw<strong>in</strong>gungsfrequenz war es ke<strong>in</strong>e schlichte historische<br />

Entwicklung, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> dramatischer Sprung von epistemischer<br />

Dimension, e<strong>in</strong>e kopernikanische Wende <strong>für</strong> den Begriff von<br />

Natur­ als Zeitprozessen:<br />

Im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t ist die pythagoräische Numerologie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Musiktheorie noch weit<br />

verbreitet, doch durch die Entwicklung <strong>der</strong> Polyphonie, den daraus entstehenden<br />

Stimmungsproblemen und den Anfängen <strong>der</strong> physikalischen Untersuchungen von<br />

Schallphänomenen wird das Gebäude <strong>der</strong> alten Universellen Harmonie zunehmend<br />

92 Beide Zitate nach Volmar 2003, motti


marode. ganz im Gegensatz zu ihren antiken Vorgängern <br />

­ denn hier werden ­ Fourier avant la lettre ­ Klänge als<br />

Zusammensetzungen aus verschiedenen Tönen faßbar. Von daher ist<br />

die physikalische Str<strong>in</strong>g­Theorie modelliert nach dem Modell <strong>der</strong><br />

schw<strong>in</strong>genden Saite; diese hat potentiell alle verschiedenen<br />

E<strong>in</strong>zelzustände gleichzeitig wie e<strong>in</strong> Q­bit im Quantencomputer.<br />

Damit korrespondiert auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, medientechnischen Seite<br />

<strong>der</strong> Synthecizer ­ die neue Epistemé gegenüber <strong>der</strong> schw<strong>in</strong>genden<br />

Saite. Der Synthecizer wird zum medienepistemischen D<strong>in</strong>g; nicht<br />

von ungefähr fallen die Anfänge <strong>der</strong> Str<strong>in</strong>g­Theorie (1968) und<br />

die <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen elektrotechnischen Synthecizer (1964)<br />

zusammen.<br />

Auch Gabor beschreibt "the two mechanisms of hear<strong>in</strong>g" ­ e<strong>in</strong>mal<br />

die Ohren als Resonatoren, dann <strong>der</strong> höchstwahrsche<strong>in</strong>lich nichtmechanische<br />

Vorgang "one might be tempted to locate it <strong>in</strong> the<br />

bra<strong>in</strong>" , als neuronale o<strong>der</strong> besser neuro<strong>in</strong>formatische<br />

Funktion (<strong>in</strong>sofern die Wahrnehmung selbst rechnet, also<br />

Information verarbeitet). Hier erfolgt <strong>der</strong> Sprung vom<br />

Akustischen und Sonischen zur musikalischen Semantik: "We<br />

beg<strong>in</strong> to perceive a sound as `musical´ just at the po<strong>in</strong>t where<br />

the second mechanism takes over. Speech would be perfectly<br />

<strong>in</strong>telligible by the first mechanism alone" .<br />

Und so fragt Gabor schließlich konsequent "whether quantum<br />

theory has anyth<strong>in</strong>g to learn from the acoustical model:<br />

In a formal sense the answer must be <strong>in</strong> the negative. From the fact, however, that<br />

two different fields admit the same formal treatment it follows that, so far as the<br />

mathematics goes, there can be noth<strong>in</strong>g <strong>in</strong> one which is not implicit <strong>in</strong> the other. <br />

Und so gilt es zu unterscheiden: "between <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sic features of<br />

the phenomenon, and others which are <strong>in</strong>troduced by the method<br />

of analysis" bzw. solche, die durch Meß<strong>in</strong>strumente (als<br />

materialisierte Medienanalyse) buchstäblich determ<strong>in</strong>iert<br />

werden. E<strong>in</strong>e quantenmechanisch <strong>in</strong>formierte <strong>Medientheorie</strong> folgt<br />

Gabors Methode, "the same phenomenon simultaneously from two<br />

different aspects" zu sehen ­ <strong>der</strong> Welle/Teilchen­Dualismus<br />

führt hier selbst zum Begriff <strong>der</strong> "acoustical quanta".<br />

Charakteristisch <strong>für</strong> e<strong>in</strong>e Epistemologie, die ­ und das ist<br />

unsere Lage ­ zugleich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt des Newtonschen Physik und<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Quantenmechanik lebt, gilt: "ask simultaneously two<br />

k<strong>in</strong>ds of questions about the same th<strong>in</strong>g" . Denn


One might be <strong>in</strong>cl<strong>in</strong>ed to th<strong>in</strong>k that sharply def<strong>in</strong>ed states, characterized by <strong>in</strong>tegral<br />

numbers, are peculiar to quantum phenomena, or at least that they require special<br />

mechanisms to imitate them classically, such as str<strong>in</strong>gs or membrance. But we have seen<br />

that <strong>in</strong> the acoustical model the <strong>in</strong>tegers emerge as a part of the mathematical<br />

background before any physical phenomenon has appeared on the stage <br />

­ e<strong>in</strong>e Emergenz aus <strong>der</strong> medienarchäologischen Ebene, welche 93<br />

immer auch die mathematische me<strong>in</strong>t.<br />

"Integer" bezeichnen bekanntlich die ganzen Zahlen, die<br />

erstaunlicherweise nicht nur als "Harmonische" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Musik,<br />

son<strong>der</strong>n auch im Kern <strong>der</strong> physikalischen D<strong>in</strong>ge, im Atom<br />

(modelliert von Bohr) die zentrale Rolle spielen und als ganze<br />

Quantenzahlen e<strong>in</strong>e neue Form von Anschaulichkeit jenseits <strong>der</strong><br />

klassischen Ästhetik vermitteln. Die ganze Zahl schuf <strong>der</strong><br />

liebe Gott, hat <strong>der</strong> Mathematiker Leopold Kronecker e<strong>in</strong>mal<br />

formuliert, alles übrige sei Menschenwerk. 94 Dies war die<br />

buchstäblich an e<strong>in</strong>em schw<strong>in</strong>genden Medium, also<br />

medienarchäologisch gewonnene Entdeckung von Pythagoras, als er<br />

auf die ganzen Zahlen als dem <strong>der</strong> Musik zugrunde Liegenden<br />

traf: theos arithmetizei, Gott zählt . Das Schwanken<br />

zwischen Wellen­ und Korpuskulartheorie ist nur noch auf<br />

mathematischer Ebene aufhebbar. <strong>Medientheorie</strong> hat es mit e<strong>in</strong>er<br />

mittleren Ebene operativen Vollzug zu tun, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Kern jedoch<br />

ihre Überw<strong>in</strong>dung durch die Techno­Mathematik steht.<br />

In diesem Zusammenhang weist Axel Volmar darauf h<strong>in</strong>, daß<br />

Musiktheoretiker <strong>der</strong> frühen Neuzeit wie Mar<strong>in</strong> Mersenne (se<strong>in</strong>e<br />

Harmonie universelle von 1636/37) sich gerade nicht mehr damit<br />

zufrieden gaben, mit pythagoräischen Verhältnissen relative<br />

Tonhöhen zu beschreiben, son<strong>der</strong>n zu untersuchen begannen, wie<br />

diese zustande kamen: "Sie begannen, neben physikalischen<br />

Ursachen <strong>für</strong> die Tonhöhe auch das Se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Töne selbst zu<br />

93 Wenngleich Michel Foucaults Archäologie <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Aussagenlogik me<strong>in</strong>t: Mart<strong>in</strong><br />

Kusch, Foucault’s Strata and Fields. And Investigation <strong>in</strong>to Archaelogical and<br />

Genealogical Science Studies, Dordrecht / Boston / London 1991. Mathematik selbst<br />

wird <strong>in</strong> Foucaults Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge <strong>für</strong> die Beschreibung <strong>der</strong> nachklassischen Epoche<br />

(jenseits <strong>der</strong> Leibniz´schen mathesis) weitgehend ausgeklammert; die Skepsis des<br />

Diskursanalytikers h<strong>in</strong><strong>der</strong>t ihn, "e<strong>in</strong> mathematisch-anthropologisches Argument"<br />

weiterzudenken, wie es ansatzweise Johann Friedrich Herbart und dann vollends<br />

Norbert Wieners Kybernetik - <strong>für</strong> die <strong>Medientheorie</strong> folgenreich - leisteten: Stefan<br />

Rieger, Kybernetische Anthropologie. E<strong>in</strong>e Geschichte <strong>der</strong> Virtualität, Frankfurt/M.<br />

(Suhrkamp) 2003, 280, unter Bezug auf Michel Foucault, Die Ordnung <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge. E<strong>in</strong>e<br />

Archäologie <strong>der</strong> Humanwisesnschaften, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 9. Aufl. 1990, 419<br />

94 Zitiert nach: Ernst Zimmer, Umsturz im Weltbild <strong>der</strong> Physik, München (Knorr & Hirth)<br />

2. Aufl. 1934, 150


ergründen." 95<br />

Die Mathematisierung <strong>der</strong> absoluten Tonhöhe und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge das<br />

Verständnis des Tons ist mehr als e<strong>in</strong> musikologisch<br />

<strong>in</strong>teressantes Detail, son<strong>der</strong>n soll vor dem H<strong>in</strong>gtergrund e<strong>in</strong>es<br />

epistemologischen Bruchs vom epochaler Foucaultscher Dimension<br />

entziffert werden: e<strong>in</strong>er Transformation mathematischer Praxis,<br />

die sich <strong>in</strong> den "physicomathematischen Wissenschaften" wie<br />

Astronomie, Musiktheorie, Ballistik und Mechanik im 16.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t mit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> exakten Wissenschaften<br />

abzeichnete, "weg vom Vermessen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge und ihrer Größen h<strong>in</strong><br />

zu e<strong>in</strong>em Verfolgen ihrer Bahnen im Raum und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit", also<br />

fort von <strong>der</strong> mythologischen Ordnung des Kosmos <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er immer<br />

gleich wie<strong>der</strong>kehrenden Rekursion (e<strong>in</strong>e "Wie<strong>der</strong>kehr des<br />

Gleichen", frei nach Nietzsche), h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em dynamischen,<br />

mith<strong>in</strong> medienoperativen Begriff:<br />

Die Tonhöhe wird nicht mehr auf materielle Parameter akustischer Instrumente<br />

bezogen, son<strong>der</strong>n auf die frei im Raum und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit sich ausbreitenden<br />

Schw<strong>in</strong>gungen o<strong>der</strong> Tonstöße, die durch die Rückschwünge <strong>der</strong> Instrumentensaiten<br />

entstehen, konkret also auf Wellenlängen e<strong>in</strong>erseits und Schw<strong>in</strong>gungszahlen o<strong>der</strong><br />

Frequenzen an<strong>der</strong>erseits. <br />

Neue Formen <strong>der</strong> Analyse klanglicher und an<strong>der</strong>er<br />

Wellenereignisse eröffneten sich mit mit <strong>der</strong> elektronischen<br />

Meßbarkeit von Schw<strong>in</strong>gungsvorgängen (Oszilloskop), <strong>der</strong><br />

mathematischen Fourier­Analye und den Gabor­Quanten: Wie<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>e "Elementarisierung" sche<strong>in</strong>bar kont<strong>in</strong>uierlicher Ereignisse<br />

(analog zur Operation des Vokalalphabets), doch diesmal nicht<br />

mehr als symbolische Notation, son<strong>der</strong>n als Adressierung des<br />

Reellen, das sich unseren unmittelbaren S<strong>in</strong>nen entzieht. Die<br />

Belohung <strong>für</strong> solche Formen <strong>der</strong> Analyse (und dem Medienwerden<br />

<strong>der</strong> Analyse als Synthese) ist Hörbarkeit, die medien<strong>in</strong>duziert<br />

wie<strong>der</strong>kehrt:<br />

<br />

Was wir hören, ist das "Morph<strong>in</strong>g" von zwei gleichen<br />

Orgelbasiswellen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, die dabei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Gra<strong>in</strong>­Wolke<br />

zerlegt werden. Audiodateien werden <strong>in</strong> Gra<strong>in</strong>s aufgebrochen und<br />

resynthetisiert ­ die vertraute Basisoperation analytischen<br />

95 Axel Volmar, Parametrisierungsgeschichte <strong>der</strong> neuzeitlichen Akustik, 15. Juli 2003; e<strong>in</strong><br />

Text, <strong>der</strong> am <strong>Lehrstuhl</strong> <strong>für</strong> Ästhetik und Geschichte <strong>der</strong> Medien (Friedrich Kittler)<br />

entstanden ist: www.aesthetik.hu-berl<strong>in</strong>.de/medien/texte.php


Medienwissens im Abendland, hier klanggeworden im Software­<br />

Synthesizer Absynth 4 des Herstellers Native Instruments. 96<br />

Entsprechende Softwarekritik gehört zum Berufsfeld <strong>der</strong><br />

Medienwissenschaft.<br />

Das Morph<strong>in</strong>g von Sound­Körnern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> sche<strong>in</strong>bar<br />

kont<strong>in</strong>uierlichen Klangteppich er<strong>in</strong>nert an Aristoteles, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Schrift Über die Wahrnehmung das Unhörbarwerden<br />

kle<strong>in</strong>ster Intervalle o<strong>der</strong> Quanten des Wahrnehmbaren (aistheta)<br />

am Beispiel von auf den Boden fallenden Hirsekörnern<br />

demonstriert, die als E<strong>in</strong>zelne unhörbar s<strong>in</strong>d, wie auch die<br />

Körnigkeit e<strong>in</strong>es gerasterten Bildes dasselbe sich auflösen<br />

läßt, je genauer wir h<strong>in</strong>schauen.<br />

Gesteuert werden im Softwaresyntecizer Absynth die<br />

Wellenbereiche selbst; werden Bereiche e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>uswelle mit<br />

Wellenbereichen des Rauschens überlagert, ergeben sie e<strong>in</strong>e<br />

rauschmodulierte S<strong>in</strong>uswelle, als ob nun das Reale die Musik<br />

steuert.<br />

<br />

Nun können wir solche Orgeltöne drahtlos senden, selbst (und<br />

gerade) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sogenannten Hörsaal <strong>der</strong> Universität, gebastelt<br />

mit Anleitungen direkt aus dem Internet als FM­Oszillator mit<br />

e<strong>in</strong>fachsten Bauteilen (e<strong>in</strong>e Schaltung aus Kondensator und<br />

Wi<strong>der</strong>stand, gekoppelt an e<strong>in</strong>e Spule, gepeist von e<strong>in</strong>er<br />

marktgängigen Batterie). Moduliert wird diese hochfrequente<br />

Schw<strong>in</strong>gung durch sogenannten content (Sprache, Musik) und gerät<br />

damit erst zu e<strong>in</strong>er wun<strong>der</strong>samen Ersche<strong>in</strong>ung von Kultur. E<strong>in</strong>mal<br />

mehr s<strong>in</strong>d mit <strong>der</strong> Frage konfrontiert, ob Medienvorgänge im<br />

elektromagnetischen Raum nur metaphorisch hör­ und sehbar s<strong>in</strong>d,<br />

mith<strong>in</strong> also Töne und Bil<strong>der</strong> nur Phänomene <strong>der</strong> eigentlichen<br />

Medienvorgänge darstellen. Licht aber ist das Phänomen e<strong>in</strong>es<br />

Ausschnitts im elektromagnetischen Spektrum selbst.<br />

Zu den grundlegenden Arbeitstechniken <strong>der</strong> Medienwissenschaft<br />

gehört es, daß sie ihre Gegenstände und Methoden anhand<br />

konkreter Beispiele gew<strong>in</strong>nt und demonstriert, mith<strong>in</strong> Empirie<br />

gepaart mit epistemologischer Reflexion und kritischer Analyse<br />

dessen, was sich vollzieht. Die medienspezifische Leistung <strong>der</strong><br />

96 Dazu Maximilian Schönherr, Softwarekritik von "N. I. Absynth 4" <strong>in</strong>: Sound &<br />

Record<strong>in</strong>g Heft 12/2006, 78-81, samt zugefügtem Klangbeispiel auf CD


schw<strong>in</strong>genden Saite, thematisiert von Mersenne, wird so zum<br />

H<strong>in</strong>tergrund spezifischer <strong>Medientheorie</strong>n. Gegenstand von<br />

<strong>Medientheorie</strong> im wohldef<strong>in</strong>ierten, engeren S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d weniger<br />

starre o<strong>der</strong> schlicht mechanisch bewegte Körper denn<br />

spezifische, nämlich techno­logisch beherrschte "Vorgänge mit<br />

e<strong>in</strong>er eigenen Verlaufszeit" , <strong>für</strong> die<br />

elektromagnetische Wellen zurecht paradigmatisch stehen. Den<br />

größten Teil existierten sie nicht im Wissenshaushalt des<br />

Abendlands, bis daß Michael Faraday sie experimentell zu<br />

vermuten beg<strong>in</strong>nt und James Clerk Maxwell mathematisch nachweist<br />

­ und He<strong>in</strong>rich Hertz sie dann "als etwas entdeckt, das<br />

tatsächich physikalisch vorhanden ist" . E<strong>in</strong>erseits haben<br />

wir es nur noch mit "Sche<strong>in</strong>bil<strong>der</strong>n" e<strong>in</strong>es unfaßlichen<br />

Referenten zu tun (denn niemand hat je Elektromagnetismus als<br />

solchen, vielmehr nur dessen Phänomene gesehen).<br />

Wir machen uns <strong>in</strong>nere Sche<strong>in</strong>bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Symbole <strong>der</strong> äußeren Gegenstände, und zwar<br />

machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> stets wie<strong>der</strong><br />

die Bil<strong>der</strong> seien von den naturnotwendigen Folgen <strong>der</strong> abgebildeten Gegenstände. Damit<br />

diese For<strong>der</strong>ung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übere<strong>in</strong>stimmungen<br />

vorhanden se<strong>in</strong> zwischen <strong>der</strong> Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, daß<br />

die For<strong>der</strong>ung erfüllbar ist und daß also solche Übere<strong>in</strong>stimmungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat<br />

bestehen. 97<br />

Als folgenreichen Rezipienten dieses Sche<strong>in</strong>bil<strong>der</strong>theorems<br />

entdeckt Wolfgang Hagen Ludwig Boltzmann, <strong>der</strong><br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit und Probabilistik, also Näherungen und<br />

Ungenauigkeiten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> System absoluter Maße und Werte zu<br />

<strong>in</strong>tegrieren suchte ­ <strong>in</strong> das System <strong>der</strong> klassischen Mechanik.<br />

Für se<strong>in</strong>e wahrsche<strong>in</strong>lichkeitstheoretische Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong><br />

Entropie, gemeißelt als Formel <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Grabste<strong>in</strong> auf dem<br />

Zentralfriedhof <strong>in</strong> Wien, die über Shannon und die Kybernetik<br />

bis <strong>in</strong> Luhmanns Evolutionsbegriff nachwirkt, war nicht<br />

<strong>in</strong>tegrierbar <strong>in</strong> das Newtonsche System. Im Anschluß das<br />

Hertzsche Mechanikbuch und dessen Revision <strong>der</strong> theoretischen<br />

Koord<strong>in</strong>aten Masse, Raum, Zeit und Kraft sucht Hertz den<br />

physikalischen Begriff <strong>der</strong> letzteren durch e<strong>in</strong> Konzept<br />

“verborgener Massen” zu ersetzen. “Die Bil<strong>der</strong>, von welchen wir<br />

reden, s<strong>in</strong>d unsere Vorstellungen von den D<strong>in</strong>gen; es ist<br />

<strong>für</strong> ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend e<strong>in</strong>e weitere<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung mit den D<strong>in</strong>gen haben” . Hagen<br />

folgert daraus e<strong>in</strong>e Absage an die klassische Ontologie <strong>der</strong><br />

97 He<strong>in</strong>rich Hertz, Die Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Mechanik <strong>in</strong> neuem Zusammenhange dargestellt:<br />

Drei Beiträge (1891-1894) (= Ostwalds Klassiker <strong>der</strong> exakten Wissenschaften, Nr. 263)<br />

Nachdruck <strong>der</strong> Ausgabe Leipzig: Akademie Verlags-Gesellschaft Geest und Portig 1984,<br />

Thun, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1996, S. 67


Physik als Naturlehre:<br />

Der Grund <strong>für</strong> diese Absage waren zweifellos wie<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>, nämlich die, die He<strong>in</strong>rich<br />

Hertz sich selbst, wenige Jahre zuvor, von se<strong>in</strong>er eigenen Entdeckung zu machen hatte,<br />

nämlich von den elektromagnetischen Wellen. Aber was s<strong>in</strong>d Bil<strong>der</strong> von<br />

elektromagnetischen Wellen? Wie soll man sie anschaulich machen? 98<br />

Hagen zitiert Richard Feynman, es sei viel leichter<br />

“unsichtbare Engel” zu verstehen als e<strong>in</strong>e elektromagnetische<br />

Welle:<br />

Wenn ich anfange, die Ausbreitung des Magnetfeldes über den Raum zu beschreiben,<br />

von den E- und den B-Fel<strong>der</strong>n spreche und dabei glücklich die Arme schwenke, dann<br />

glauben Sie wohl, daß ich diese E- und B-Fel<strong>der</strong> sehe. Ich werde Ihnen sagen, was ich<br />

sehe. Ich sehe so etwas wie schwimmende, schw<strong>in</strong>gende, undeutliche L<strong>in</strong>ien - hier und<br />

da erkenne ich die Buchstaben E und B auf ihnen und auf e<strong>in</strong>igen L<strong>in</strong>ien vielleicht auch<br />

Pfeile - e<strong>in</strong> Pfeil hier und dort, aber er verschw<strong>in</strong>det, wenn ich zu genau h<strong>in</strong>sehe. Wenn<br />

ich von Fel<strong>der</strong>n spreche, die durch den Raum zischen, verursache ich e<strong>in</strong>e <strong>für</strong>chterliche<br />

Verwirrung zwischen den von mir benutzten Symbolen zur Beschreibung <strong>der</strong> Objekte<br />

und den Objekten selbst. Vielleicht sehen sie die letzte Rettung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

mathematischen Standpunkt. Aber was ist e<strong>in</strong> mathematischer Standpunkt?<br />

Mathematisch gesehen gibt es an jedem Punkt im Raum e<strong>in</strong>en elektrischen und e<strong>in</strong>en<br />

magnetischen Feldvektor; das bedeutet, daß jedem Punkt sechs Zahlen zugeordnet s<strong>in</strong>d.<br />

Können Sie sich vorstellen, wie jedem Punkt im Raum sechs Zahlen zugeordnet s<strong>in</strong>d?<br />

Ich kann mir so etwas wie die Temperatur an jedem Punkt im Raum vorstellen.<br />

Aber die Idee e<strong>in</strong>er Zahl an jedem Ort ist mir wirklich unverständlich. 99<br />

Angenommen, Physik sie "e<strong>in</strong>e Theorie beobachtbarer Größen, die<br />

die Natur beschreibt, wie sie sich zeigt, wenn man sie mit<br />

realen Meßgeräten und Uhren untersucht." 100 Daraus folgert Hagen<br />

im Anschluß an Foucault und Luhmann: die Episteme <strong>der</strong> Physik<br />

weiß nichts über die Natur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ontologischen S<strong>in</strong>n, son<strong>der</strong>n<br />

beobachtet <strong>in</strong> erster Ordnung ­ nach Maßgabe e<strong>in</strong>er Theorie,<br />

welche alle<strong>in</strong> dazu verfaßt ist, Vorhersagen über Meßergebnisse<br />

zu machen, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur mit reellen Meßapparaten<br />

reproduzieren lassen. Physik im zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t hat<br />

aufgehört Naturlehre zu se<strong>in</strong> ­ und beg<strong>in</strong>nt genu<strong>in</strong>e<br />

Medientheoría zu werden. Methoden <strong>der</strong> Medienwissenschaft werden<br />

konkret <strong>in</strong> dem, was <strong>der</strong> Wissenschaftshistoriker Hans­Jörg<br />

Rhe<strong>in</strong>berger auf den Begriff <strong>der</strong> Experimentalsysteme gebracht<br />

hat. Experimentalsysteme generieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> “irreduziblen<br />

98<br />

Wolfgang Hagen, Fotofunken und Radiowellen. Über Fed<strong>der</strong>sens Bil<strong>der</strong> und die<br />

Hertzschen Versuche<br />

(http://www.whagen.de/publications/FotofunkenRadiowellen/FotofunkenRadiowellen.htm<br />

; Zugriff 13-1-07). Publiziert <strong>in</strong>: Christoph Hoffmann / Peter Berz, Über Schall.<br />

Experiment und Medium <strong>in</strong> Ernst Machs und Peter Seilchers Geschossfotografie,<br />

Gött<strong>in</strong>gen (Wallste<strong>in</strong>) 2001, 225-258<br />

99 Richard Feynman, Robert Leighton und Matthew Sands, Vorlesungen über Physik<br />

(1963), Bd. 2, München 1991, S. 382f<br />

100 Peter Mittelstaedt, Philosophische Probleme <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Physik, 7. Aufl. Mannheim<br />

1989, S13


Vagheit” und “bl<strong>in</strong>den Taktik” e<strong>in</strong>es differentiellen Prozesses<br />

ihren Gegenstand, nämlich e<strong>in</strong> “epistemisches D<strong>in</strong>g” als etwas,<br />

das man noch nicht weiß, aber möglicherweise längst schon<br />

experimentell gestellt hat. An den Hertzschen Versuchen, <strong>in</strong><br />

denen sich Physik und Medien auf e<strong>in</strong>e doppelt folgenreiche<br />

Weise kreuzen, kann man das zeigen. 101 Auch technische Medien<br />

operieren <strong>in</strong> ihren Anfängen mit Experimentalfragmenten, wie es<br />

am Beispiel <strong>der</strong> Telegraphie und des Radios überdeutlich ist:<br />

Dann aber geschieht e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Übertragung als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physik. Es gibt ke<strong>in</strong><br />

f<strong>in</strong>alistisches Theoriemodell und auch ke<strong>in</strong>e Epistemologie, zu deutsch also: es gibt ke<strong>in</strong><br />

Wissen, <strong>in</strong> welches das, was Medien s<strong>in</strong>d und tun, übertragen werden könnte. Gesteuert<br />

von dem, was man getrost e<strong>in</strong>e ‚Anwendungsschicht‘ nennen könnte, dissem<strong>in</strong>ieren die<br />

Fragmente aus den Experimentalumgebungen <strong>der</strong> Physik, auch <strong>der</strong> Chemie und an<strong>der</strong>er<br />

Teilwissenschaften, <strong>in</strong> die technischen Medien, werden zerfled<strong>der</strong>t und neu<br />

zusammengesetzt, reprogrammiert, und so es funktioniert, f<strong>in</strong>det auch hier e<strong>in</strong>e<br />

f<strong>in</strong>alistische Umdeutung statt. Es ist e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>alismus <strong>der</strong> Unvordenklichkeit e<strong>in</strong>es<br />

Prozesses. <br />

Den Ort des Geschichtlichen verschiebt sich <strong>in</strong> den Medien auf<br />

den Vollzug. So spielt sich, aller kulturwissenschaftlichen<br />

Dekonstruktion zum Trotz, anhand dieser Hertzschen<br />

"Sche<strong>in</strong>bil<strong>der</strong>", so historisch relativ die Experimentalsysteme<br />

auch se<strong>in</strong> mögen, etwas ab, das sich <strong>der</strong> Wissenschaftsgeschichte<br />

durch se<strong>in</strong>e Gültigkeit entzieht. So wird ­ medienhistorisch<br />

arbiträr ­ e<strong>in</strong>e mediale Wahrheit entborgen; e<strong>in</strong> brisantes Spiel<br />

von Notwendigkeit (etwas, das sich zeigen will) und Kont<strong>in</strong>genz<br />

(denn es bedarf entsprechen<strong>der</strong> Diskurse), von<br />

technomathematischem Se<strong>in</strong> (Technologie) und Wissenskultur<br />

(Epistemologie).<br />

Faraday br<strong>in</strong>gt ­ ganz unmathematisch, re<strong>in</strong> experimentell ­ den<br />

Elektromagnetismus auf den Begriff ­ den des "Feldes" (von<br />

Ernst Cassirer später zum "Inbegriff physikalischer Relationen"<br />

überhaupt erhoben). Elektrizität ist recht eigentlich nur <strong>in</strong><br />

den vier Maxwellschen Gleichungen darstellbar, gesteht auch<br />

He<strong>in</strong>rich Hertz am Ende. Der eigentümlich medientheoretische<br />

Zug dieser elektromagnetischen Wellen ist ihr geradezu<br />

Lacanscher Mangel, e<strong>in</strong> "Mangel an Evidenz" (Rieger); ihr<br />

Vorhandense<strong>in</strong> entbirgt sich alle<strong>in</strong> im Vollzug (also<br />

medientechnisch und massenmedial) o<strong>der</strong> als mathematische<br />

Operation. Gegen Goethe zitiert Zimmer P. A. M. Dirac: "Die<br />

e<strong>in</strong>zige Aufgabe <strong>der</strong> theoretischen Physik besteht dar<strong>in</strong>,<br />

101 Hans-Jörg Rhe<strong>in</strong>berger, Experimentalsysteme, Epistemische D<strong>in</strong>ge,<br />

Experimentalkulturen. Zu e<strong>in</strong>er Epistemologie des Experiments, <strong>in</strong>: Deutsche Zeitschrift<br />

<strong>für</strong> Philosophie, Bd. 42 (1994), 405-418 (408)


Vorhersagen zu machen, die sich mit <strong>der</strong> Erfahrung vergleichen<br />

lassen" . Die klassische Kausalkette ­ vom<br />

anschaulichen Ereignis zur analytischen Begründung ­ wird hier<br />

vom Kopf auf die Füße gestellt, und diesen Weg g<strong>in</strong>g auch die<br />

Physik. "Spektroskopische Beobachtungen müssen wir mathematisch<br />

richtig fassen. Aus dieser mathematischen Formulierung können<br />

wir dann neue Experimente prophezeien" ; so wurde Radio.<br />

In e<strong>in</strong>er Hörerdiskussion im onl<strong>in</strong>e­Forum "Ask your scientist"<br />

des Österreichischen Rundfunks <strong>in</strong> Wien (ORF) entspann sich<br />

e<strong>in</strong>mal die Diskussion um die Wirklichkeit o<strong>der</strong> eben<br />

Unwirklichkeit des elektromagnetischen Feldes. So schreibt<br />

Hörer deafmax: "Physikalische Fel<strong>der</strong> haben Wirkungen. Ist die<br />

Anziehung e<strong>in</strong>es Stahlkugels zu e<strong>in</strong>er Magnetpol e<strong>in</strong>e abstrakte<br />

Kraft? Für mich ist es nicht, da das magnetische Feld Wirkung<br />

zeigt und somit etwas reales ist." Und Hörer slartibartfast:<br />

"Mir ist es egal, ob das `elektromagnetische feld´ real ist<br />

o<strong>der</strong> nicht (was *ist* überhaupt wirklichkeit?) ­ hauptsache,<br />

man kann damit rechnen, damit elektromotoren antreiben, damit<br />

ORF­sendungen übertragen :­>." 102<br />

Doch verlieren wir uns nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> ontologischen Fragen.<br />

E<strong>in</strong> strategischer Vorteil von Medienwissenschaft ist <strong>der</strong><br />

Positivismus se<strong>in</strong>er Objektorientierung. Epistemologischer<br />

Kronzeuge ist hier e<strong>in</strong>mal mehr e<strong>in</strong> Physiker, Werner Heisenberg;<br />

dieser war strikt darum bemüht, die Reichweite von Theorie auf<br />

die wirklich beobachtbaren D<strong>in</strong>ge zu begrenzen, und entwickelte<br />

von daher se<strong>in</strong>e mathematische Beschreibung des durch<br />

Experimente gesicherten (womit Medien auf <strong>der</strong> Meßebene wie<strong>der</strong>um<br />

sehr konkret <strong>in</strong>s Spiel kommen). Heisenbergs Quantenmechanik ist<br />

ke<strong>in</strong>e mechanische im S<strong>in</strong>ne klassischer Masch<strong>in</strong>en mehr, son<strong>der</strong>n<br />

e<strong>in</strong>e mathematische, und wird von Zimmer wie<strong>der</strong>um musikalisch<br />

modelliert:<br />

Der Zustand e<strong>in</strong>es Atoms soll also nicht durch den unbeobachtbaren Ort und<br />

Impuls se<strong>in</strong>er Elektronen beschrieben werden, son<strong>der</strong>n durch die meßbaren Frequenzen<br />

und Intensitäten se<strong>in</strong>er Spektrall<strong>in</strong>ien. Jede Schw<strong>in</strong>gungszahl e<strong>in</strong>er Spektrall<strong>in</strong>ie hängt<br />

von zwei Energiestufen ab, sagen wir <strong>der</strong> nten und <strong>der</strong> mten, denn sie entsteht durch<br />

den Übergang von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en zur an<strong>der</strong>en. Gleichgültig, welcher Art auch die wirklichen<br />

Muster s<strong>in</strong>d, die uns die optische Musik <strong>der</strong> Atome vorspielen, Heisenberg denkt sich<br />

jetzt Hilfsmusiker; je<strong>der</strong> spielt nur e<strong>in</strong>en Ton mit e<strong>in</strong>er bestimmten Stärke. Je<strong>der</strong> dieser<br />

Musiker wird dargestellt durch e<strong>in</strong>en mathematischen Ausdruck, qmn genannt, <strong>der</strong><br />

Stärke und Schw<strong>in</strong>gungszahl <strong>der</strong> Spektrall<strong>in</strong>ie so enthält wie die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Akustik den<br />

Physikern vertrauten Ausdrücke. Diese Hilfsmusiker werden nach Anfangs- und<br />

Entzustand n und m des betrachteten Überganges zu e<strong>in</strong>er / Kapelle aufgestellt. Der<br />

102 http://science.orf.at/science/ays/131185; Zugriff 25-1-07


Mathematiker nennt solch e<strong>in</strong>e Anordnung e<strong>in</strong>e "Matrix". <br />

Diese Matrix enthält also ausschließlich jene Zahlangaben, die<br />

man über das jeweilige Atom machen kann; <strong>der</strong> Wert q summiert<br />

sich dann folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

q00 q01 q02 q03 ...<br />

q10 q11 q12 q13 ...<br />

q20 q21 q22 q23 ...<br />

q30 q31 q32 q33 ...<br />

... ...<br />

... ...<br />

Zeitgleich zu Leibniz hatte schon Newton sich mit <strong>der</strong><br />

Differential­ und Integralrechnung e<strong>in</strong> mathematisches Werkzeug<br />

erschaffen, um die nicht mehr h<strong>in</strong>reichenden anschaulichen<br />

Begriffe von Druck und Stoß als Energieoperationen an<br />

Gegenständen zu ersetzen ­ von <strong>der</strong> sprachlichen Semantik zur<br />

Mathematik als (Trans­)Medientechnologie. Ähnlich verfuhren<br />

Maxwell und E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> mit Feldgleichungen und Tensor­Rechnung.<br />

"Immer wie<strong>der</strong> ergibt sich die Notwendigkeit neuer<br />

mathematischer Formen, die neu erforschten Tatsachen besser<br />

angepaßt s<strong>in</strong>d als die alten" , und fortan ist<br />

diese mobile Mathematik die Möglichkeitsbed<strong>in</strong>gung<br />

medientechnischer Operationen. Medientheoretisch entscheidend<br />

ist hierbei, zwischen <strong>der</strong> quantenphysikalischen Ebene zu<br />

trennen, <strong>für</strong> die nur noch hybride Begriffe wie "Materiewellen"<br />

S<strong>in</strong>n machen, und <strong>der</strong> mittleren, eigentlich medienoperativen<br />

Ebene; nur so ist es erklärbar, daß <strong>für</strong> e<strong>in</strong>en medientechnisch<br />

pragmatischen Begriff <strong>der</strong> Elektronen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Kathodenstrahlröhre (also auch Fernsehen, um hier massenmedial<br />

konkret zu werden) das Partikelmodell wi<strong>der</strong> bessere E<strong>in</strong>sicht<br />

(de Broglies E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Wellennatur) h<strong>in</strong>reicht. Auch<br />

Licht läßt sich nach wie vor nach dem Modell kle<strong>in</strong>ster<br />

Korpuskeln behandeln, sofern man es nicht durch engste Gitter<br />

schickt, weil hier die Unschärferelation <strong>der</strong> Beobachtung ke<strong>in</strong>e<br />

entscheidende Differnz macht (systemtheoretisch formuliert).<br />

Die kle<strong>in</strong>ste E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Elektronik, das Elektron, war als<br />

Ersche<strong>in</strong>ung (<strong>der</strong> Funkeneffekt des namensgebenden Bernste<strong>in</strong>s)<br />

seit <strong>der</strong> Naturphilosophie <strong>der</strong> <strong>Antike</strong> (Thales von Milet)<br />

vertraut, doch erst die frühe Neuzeit (W. Gilbert, um 1600)<br />

sucht nach <strong>der</strong> Substanz, welche den Bernste<strong>in</strong> bewegt, sich


durch Reibung elektrisieren zu lassen. Am Ende dieser Suche<br />

steht das Atommodell, doch auf <strong>der</strong> Innsbrucker<br />

Naturforscherversammlung äußerte Sommerfeld 1924, daß "das<br />

Atommodell mehr e<strong>in</strong> Rechenschema als e<strong>in</strong>e Zustandsrealität" ist<br />

. Nachdem uns also die frühe Neuzeit e<strong>in</strong>e<br />

Welt <strong>der</strong> Schw<strong>in</strong>gungen erschlossen hatte, wird sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche<br />

<strong>der</strong> Quantentheorie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Welt <strong>der</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitswellen<br />

überführt, <strong>der</strong> nur noch Wahrsche<strong>in</strong>lichkeits­ und<br />

Matrizenrechnung Herr werden ­ die Unschärferelation <strong>in</strong><br />

mathematischer Form.<br />

Die von Meßmedien selbst vorgegebene Grenze <strong>der</strong> Beobachtbarkeit<br />

mikrophysikalischer Vorgänge ist also auch e<strong>in</strong>e Grenze<br />

medientheoretischer Reichweiten ­ die nämlich dort enden, wo<br />

Wirklichkeiten nur noch mathematisch begriffen werden können.<br />

Denn Mathematik "dient nicht etwa nur dazu, wie <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

klassischen Physik zahlenmäßig genaue Resultate zu geben<br />

von Vorgängen,die qualitativ auch ohne Mathematik anschaulich<br />

<strong>in</strong> ihren logischen Zusammenhängen gefaßt werden können" . In <strong>der</strong> Tat, Musikhören und Fernsehen erschließen<br />

sich unseren S<strong>in</strong>nen auch unmathematisch. Goethe, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong><br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Newtons Optik bekanntlich um e<strong>in</strong>e<br />

anschauliche Naturwissenschaft stritt (und zwar gegen die von<br />

<strong>der</strong> Kulturtechnik des Alphabets <strong>in</strong>duzierten Analyse, beharrend<br />

auf <strong>der</strong> morphologischen Gesamtgestalt des Phänomens, nicht<br />

e<strong>in</strong>er Summe von vorher <strong>in</strong> Beobachtung o<strong>der</strong> Experiment zerlegten<br />

E<strong>in</strong>zelteile: "Man suche nur nichts h<strong>in</strong>ter den Phänomenen: sie<br />

selbst s<strong>in</strong>d die Lehre" 103 ; so war <strong>für</strong> ihn auch die Zerlegung des<br />

Lichts <strong>in</strong> Spektrall<strong>in</strong>ien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dunklen Kammer ­ Newtons<br />

Versuchsanordnung ­ e<strong>in</strong>e künstliche Anordnung, e<strong>in</strong> im S<strong>in</strong>ne<br />

Hans­Jörg Rhe<strong>in</strong>bergers "epistemisches D<strong>in</strong>g", das <strong>der</strong> Natur des<br />

Lichts nicht entspricht. Licht als re<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung<br />

sonnenhafter Ideen (wie <strong>in</strong> Platons "Höhlengleichnis", also <strong>in</strong><br />

Buch VII se<strong>in</strong>er Politeia formuliert), verschw<strong>in</strong>det hier<br />

zugunsten e<strong>in</strong>er beschleunigten Zeit, wie es Paul Virilios<br />

<strong>Medientheorie</strong> namens Dromologie diagnostiziert. Doch diese Zeit<br />

"hat sich zur absoluten Lichtgeschw<strong>in</strong>digkeit beschleunigt, <strong>der</strong><br />

Raum <strong>in</strong>s Nichts virtualisiert" 104 .<br />

103 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, Weimar 1907, 575; siehe J.<br />

Teichmann, E. Ball und J. Wagmüller, E<strong>in</strong>fache physikalische Versuche aus Geschichte<br />

und Gegenwart, hg. v. Deutschen Museum München, 7. Aufl. München 1999 (über<br />

Goethes Farbenlehre)<br />

104 So prägnant formuliert von Gudrun Lena Stölzl, Studierende <strong>der</strong> Medienwissenschaft,<br />

Hausarbeit Ver-Kapp-te <strong>Medientheorie</strong> am Sem<strong>in</strong>ar <strong>für</strong> Medienwissenschaft <strong>der</strong><br />

Humboldt-Universität zu Berl<strong>in</strong>, März 2006


"Wo die anschaulichen Begriffe <strong>der</strong> makroskopische Welt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Mikrowelt nur noch <strong>in</strong> dem Rahmen gültig s<strong>in</strong>d, den ihnen die<br />

Unschärfebeziehungen lassen, ist <strong>in</strong> den matheamtischen<br />

Folgerungen <strong>der</strong> Quantenphysik alles Wesentliche, was sich über<br />

die Vorgänge aussagen läßt, enthalten" . Max<br />

Bense beschreibt es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz "Technische Intelligenz":<br />

"Jetzt spricht man von Molekülen und ihren Geschw<strong>in</strong>digkeiten<br />

und den Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten ihrer Anordnung. Das<br />

Elementare verliert an Sichtbarkeit, aber gew<strong>in</strong>nt an Hypothese,<br />

und man muß die Intelligenz von <strong>der</strong> Gewißheit an die<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit gewöhnen." 105<br />

Setzen wir noch e<strong>in</strong>mal an mit Goethe ­ diesmal auf se<strong>in</strong>er<br />

Seite. Er läßt se<strong>in</strong>en Faust an e<strong>in</strong>er Stelle des Dramas etwas<br />

formulieren, was auf die Grenzen <strong>der</strong> Beschreibbarkeit <strong>der</strong><br />

Elektronen und Photonen als den neuen Basiselementen medialer<br />

Technologien verweist, e<strong>in</strong> Versagen: "Um sie ke<strong>in</strong> Ort, noch<br />

weniger e<strong>in</strong>e Zeit, Von ihnen sprechen ist Verlegenheit"<br />

. Die Phänomene s<strong>in</strong>d noch s<strong>in</strong>nlich<br />

faßbar, nicht aber <strong>der</strong> eigentlich mediale Prozeß, <strong>der</strong>en<br />

"Theorie" damit zu e<strong>in</strong>er mathematischen wird: "Die magnetelektrischen<br />

Phänomene werden durch e<strong>in</strong> Medium erzeugt, <br />

nicht aber durch directe Fernwirkung zwischen Magneten o<strong>der</strong><br />

elektrischen Strömen", schreibt Maxwell 106 ; wo die Sprache<br />

buchstäblich ver­sagt, muß gerechnet werden (calculemus, ruft<br />

uns Leibniz zu). Von diesem Moment an ist Mathematik nicht<br />

länger e<strong>in</strong> bescheidenes Hilfs<strong>in</strong>strument <strong>der</strong> Medienwissenschaft,<br />

son<strong>der</strong>n tritt das epistemologische Erbe des medialen<br />

fundamentum <strong>in</strong> re selbst an, e<strong>in</strong>e Verschiebung: "Das<br />

mathematische Symbol, etwa die Wellengleichung Schröd<strong>in</strong>gers,<br />

wird von e<strong>in</strong>em Rüstzeug zur Sache selbst" ­ ganz analog<br />

dazu, wie e<strong>in</strong>st die elektromagnetischen Wellen, die alle<strong>in</strong><br />

Maxwells Gleichungen zu beschreiben vermögen, zu e<strong>in</strong>er<br />

operativen Mathematik namens Radio wurden. "Das wahrhaft<br />

Existierende ist das zugrunde liegende Mathematische" . An die Stelle <strong>der</strong> klassischen Medienapparatur tritt <strong>der</strong><br />

zurecht so genannte mathematische Apparat, <strong>der</strong> alle<strong>in</strong> zu<br />

beschreiben vermag, was sich <strong>der</strong> durch menschliche S<strong>in</strong>ne<br />

wahrnehmbaren Welt entzieht ­ und damit auch die Grenze <strong>der</strong><br />

105 Max Bense, Technische Intelligenz, <strong>in</strong>: <strong>der</strong>s., xxx, 139<br />

106 James Clerk Maxwell, Über phyikalische Kraftl<strong>in</strong>ien (1861/62), Wie<strong>der</strong>abdruck <strong>in</strong>:<br />

Ostwalds Klassiker <strong>der</strong> Exakten Wissenschaften, Repr<strong>in</strong>t von Bd. 102, Thun / Frankfurt<br />

a. M. (Thun) 19xx, 52 u. 48


Prothesentheorie von Medien (McLuhans "extensions of men")<br />

angibt.<br />

In <strong>der</strong> mikrophysikalischen Welt setzt sich fort, was Galileo<br />

Galilei bereits anhand des teleskopischen Blicks <strong>in</strong> den<br />

Makrokosmos und die zeitgleiche holländische Mikroskopie<br />

festgestellt hatten: Um E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> solche Welten zu erhalten<br />

werden die laut Max Planck "anthropomorphen" Elemente, durch<br />

menschliche S<strong>in</strong>nesorgane und die sie verlängernden Meßgeräte<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>getragen, zunehmend ausgeschaltet . Ort und Geschw<strong>in</strong>digkeit e<strong>in</strong>es Elektrons o<strong>der</strong><br />

Photons s<strong>in</strong>d nicht gleichzeitig exakt meßbar, "denn alle<br />

Meßmittel, nämlich Apparate und Lichtstrahlen, die selbst<br />

wie<strong>der</strong> aus Elektronen und Photonen bestehen, bee<strong>in</strong>flussen ja<br />

das zu Messende <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht zu kontrollierenden Weise. Und<br />

Meßmittel kle<strong>in</strong>erer Art existieren nicht" .<br />

Apparate und Lichstrahlen beschreiben zwei Se<strong>in</strong>sweisen von<br />

Medien: die technologische und die physikalische. Auf <strong>der</strong><br />

mittleren, medienarchäologischen Ebene (zwischen Nanophysik<br />

e<strong>in</strong>erseits und Makrophysik an<strong>der</strong>erseits) wurde die<br />

quantenmechanisch erkannte Interferenz von Messmedium und<br />

Meßobjekte längst praktisch: Die Entwicklung des Lightpen als<br />

Peripheriegerät zur <strong>in</strong>teraktiven E<strong>in</strong>gabe von Daten direkt auf<br />

den Computerbildschirm (im E<strong>in</strong>satz als "Lightgun" etwa im<br />

militärischen Whirlw<strong>in</strong>d­Radarsystem 107 )<br />

<br />

wurde zugunsten <strong>der</strong> vertrauten "Maus" abgebrochen, da <strong>der</strong><br />

Leuchtstift zuweilen Kurzschlüsse mit <strong>der</strong> elektrischen Ladung<br />

auf <strong>der</strong> Phosphorschicht <strong>der</strong> Mattscheibe erzeugte ­ e<strong>in</strong><br />

transitiver Medienmoment, tödlich im Ernstfall desgleichen<br />

Elektronenblitzes als atomare Bombe. Im Unterschied zu<br />

buchstäblich "digitalen", also mit F<strong>in</strong>gerberührung operierenden<br />

Datene<strong>in</strong>gaben unmittelbar auf dem Bildschirm (qua<br />

Wi<strong>der</strong>standsmembran, den Kapazitätssensorbildschirm o<strong>der</strong> dem<br />

Oberflächenwellensensorbildschirm), die jeweils mit folien­<br />

o<strong>der</strong> drahthafter Belegung operieren, arbeitet die<br />

Lichtstrahlführung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Opto­Tastatur <strong>der</strong>art, daß <strong>der</strong><br />

Brechungs<strong>in</strong>dex des Glaskörpers selbst genutzt wird.<br />

107 Siehe Axel Roch, Die Maus. Von <strong>der</strong> elektrischen zur taktischen Feuerleitung, <strong>in</strong>: Lab.<br />

Jahrbuch 1995/96 <strong>für</strong> Künste und Apparate, hg. v. d. Kunsthochschule <strong>für</strong> Medien, Köln<br />

(König) 1996, 166-173


Empf<strong>in</strong>dliche Orte <strong>der</strong> Totalreflexion lösen durch Berührung mit<br />

dem F<strong>in</strong>ger (o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em konzentrierten Lichtstrahl)<br />

Photonenbewegungen aus, die das <strong>in</strong>nere Strahlungsfeld<br />

bee<strong>in</strong>flussen ­ vergleichbar mit dem Tunneleffekt <strong>der</strong><br />

Quantenmechanik, e<strong>in</strong>e Kommunikationsform, wie sie nur <strong>in</strong> Medien<br />

existiert. 108<br />

Auch die Anfänge <strong>der</strong> Elektronenmikroskopie beschreiben den<br />

Moment, wo Subjekt und Objekt des Meßmediums zusammenfallen.<br />

An<strong>der</strong>s als im gewöhnlichen Mikroskop benutzt man statt<br />

Lichtstrahlen Elektronenstrahlen und lenkt sie durch geeignet<br />

angebrachte, geladene Metallplatten von ihrer geraden Bahn ab:<br />

Als Vergrößerungsgegenstand dient die Glühkathode e<strong>in</strong>er Radioröhre, die gleichzeitig<br />

die nötigen Elektronen aussendet. Es ist ebenso, als ob man e<strong>in</strong>e leuchtend elektrische<br />

Lampe durch e<strong>in</strong> gewöhnliches Mikroskop ansieht. Auf e<strong>in</strong>em durch die auftreffenden<br />

Elektronen zum leuchten erregten Fluoreszensschirm entsteht e<strong>in</strong> vergrößertes Bild <strong>der</strong><br />

Glühkathode. Es ist von hohem, technischem Interesse, mit diesem<br />

Elektronenmikroskop die allmähliche Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Glühkathode während ihres<br />

Gebrauches zu verfolgen <br />

­ und wie<strong>der</strong> ertrahlt die Vakuum­Elektronenröhre <strong>in</strong> ihrem<br />

medienepistemologischen Licht, als Medium im<br />

mikrophysikalischen Ver­ und Vollzug.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wird im 1934 von Max Knoll beschriebenen und 1937<br />

durch von Ardenne konstruierten Rasterelektronenmikroskop<br />

gerade die Unschärferelation medientechnisch wie<strong>der</strong> operativ.<br />

E<strong>in</strong> Elektronenstrahl wird auf die Oberfläche des zu<br />

untersuchenden Objekts fokussiert und rastert dieselbe Punkt<br />

<strong>für</strong> Punkt ikonoskopisch ab ­ die an<strong>der</strong>e Seite von Fernsehen,<br />

nämlich primär unbildlich. Erst die Wechselwirkung zwischen <strong>der</strong><br />

Probenoberfläche, die elektrisch leitfähig se<strong>in</strong> muss, und dem<br />

Elektronenstrahl führt zur Emission von Sekundärelektronen, die<br />

als Signale erst nachträglich zu e<strong>in</strong>em Bild zusammengesetzt<br />

werden.<br />

Das Rastermikroskop läßt sich demgegenüber noch erstaunlich gut<br />

<strong>in</strong> Begriffen <strong>der</strong> klassischen Mechanik beschreiben. 109 Wo die<br />

Meßspitze, idealerweise e<strong>in</strong>e Atomgröße umfassend, selbst<br />

Schlieren mit den zu vermessenden atomaren Oberflächen bildet,<br />

wird es möglicht, auf atomarer Ebene selbst nicht alle<strong>in</strong> passiv<br />

108 Zu "Datene<strong>in</strong>gabe über den Bildschirm" siehe Karl-He<strong>in</strong>z Schubert, Elektronisches<br />

Jahrbuch <strong>für</strong> den Funkamateur, Berl<strong>in</strong> (Militärverlag) 1987, 67ff<br />

109 Marc-Denis Weitze, Das Rasterkraftmikroskop. E<strong>in</strong> Werkzeug zum Tasten, Ziehen und<br />

Graben <strong>für</strong> die Nanowissenschaft, Berl<strong>in</strong> / München (Diepholz) 2003, 6


zu messen, son<strong>der</strong>n aktiv zu schreiben ­ bis h<strong>in</strong> zur Option<br />

neuer Digitalspeicher auf atomarer Ebene. E<strong>in</strong>e solchermaßen<br />

bedruckte Fläche (die Rückkehr <strong>der</strong> Gutenberg­Galaxis im<br />

Elektronischen als Ätz­Methode <strong>der</strong> Halbleitertechnik) läßt sich<br />

ihrerseits im Rasterelektronenmikroskop abbilden:<br />

<br />

Die Botschaft dieses Mediums an <strong>der</strong> Grenze zur<br />

Speicherkapazität, die sich theoretisch überhaupt mit<br />

magnetischen Medien erreichen läßt, heißt vor<strong>der</strong>gründig "IBM"<br />

(so lesbar), aber h<strong>in</strong>ters<strong>in</strong>nig schreIBMasch<strong>in</strong>e (<strong>der</strong><br />

Nadeldrucker).<br />

Noch e<strong>in</strong>mal: die Unschärferelation ist e<strong>in</strong>e Grenze <strong>der</strong><br />

Reichweite von <strong>Medientheorie</strong>n und zugleich e<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung<br />

daran, daß es <strong>Medientheorie</strong> nicht mit <strong>der</strong> Frage nach dem<br />

beharrenden Se<strong>in</strong>, nicht mit beharrlicher Ontologie, son<strong>der</strong>n mit<br />

Prozessen, eben mit Medien im Vollzug zu tun hat. Auch die<br />

Atomphysik handelt Heisenberg zufolge "nicht vom Wesen und Bau<br />

<strong>der</strong> Atome, son<strong>der</strong>n von den Vorgängen, die wir beim Beobachten<br />

<strong>der</strong> Atome wahrnehmen" .<br />

Grenzwertig wird die Beobachtung, wenn e<strong>in</strong>e nicht<br />

kontrollierbare Bee<strong>in</strong>flussung des Objekts mit dem Meßmedium<br />

e<strong>in</strong>tritt, so daß Nils Bohr (unbeabsichtigt, aber grundlegend<br />

<strong>für</strong> e<strong>in</strong>en Begriff von <strong>Medientheorie</strong>n) an den epistemologischen<br />

Zusammenhang von theoría und Theater er<strong>in</strong>nert, wenn er sagt,<br />

"daß wir sowohl Zuschauer als Teilnehmer <strong>in</strong> dem großen<br />

Schauspiel des Dase<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d" . Dieses<br />

Schauspiel aber ist nicht mehr durch optische E<strong>in</strong>sicht,<br />

son<strong>der</strong>n nur noch wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsmathematisch faßbar.

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