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Konnotationen in fremden Sprachen und die Didaktik des ...

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

FRANZ-JOSEPH MEISSNER<br />

<strong>Konnotationen</strong> <strong>in</strong> <strong>fremden</strong> <strong>Sprachen</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Didaktik</strong> <strong>des</strong> Fremdverstehens<br />

Mehrere <strong>Sprachen</strong> s<strong>in</strong>d nicht ebensoviele Bezeichnungen e<strong>in</strong>er Sache; es s<strong>in</strong>d<br />

verschiedene Ansichten derselben, <strong>und</strong> wenn <strong>die</strong> Sache ke<strong>in</strong> Gegenstand der äußeren<br />

S<strong>in</strong>ne ist, s<strong>in</strong>d es oft ebensoviele, von jedem anders gebildete Sachen, <strong>in</strong> denen jeder nur<br />

soviel von dem se<strong>in</strong>igen wiederf<strong>in</strong>det, um das Fremde dar<strong>in</strong> erfassen <strong>und</strong> <strong>in</strong> sich<br />

übertragen zu können. (VII, 602)<br />

Sätze wie <strong>die</strong>ser, den Wilhelm von Humboldt im Jahre 1835 <strong>in</strong> der berühmten Abhandlung<br />

Über <strong>die</strong> Verschiedenheit <strong>des</strong> menschlichen Sprachbaues zu Papier brachte, s<strong>in</strong>d für den<br />

Zwischenbereich von Sprache <strong>und</strong> Fremdverstehen <strong>in</strong> mehrfacher H<strong>in</strong>sicht aufschlußreich:<br />

- sie beleuchten <strong>die</strong> geistige Abhängigkeit der Menschen von ihren <strong>Sprachen</strong><br />

- sie unterstreichen, daß Kulturen soziale Schöpfungen s<strong>in</strong>d, welche von Geme<strong>in</strong>schaft zu<br />

Geme<strong>in</strong>schaft unterschiedliche Formen <strong>und</strong> Inhalte annehmen<br />

- sie erkennen e<strong>in</strong>e begrenzte Perzeptionsfähigkeit <strong>des</strong> Menschen gegenüber fremdkulturellen<br />

Ersche<strong>in</strong>ungen<br />

- <strong>in</strong>dem sie <strong>die</strong> Diskrepanz zwischen der Fremdwahrnehmung <strong>und</strong> den kulturellen<br />

Eigenerfahrungen herausstellen, unterstreichen sie <strong>in</strong>direkt <strong>die</strong> sich heraus ergebende<br />

Notwendigkeit, e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>terkulturellen Erziehung - aus der <strong>die</strong> Fremdsprachen auzuschließen<br />

e<strong>in</strong>er contradictio <strong>in</strong> a<strong>die</strong>cto gleichkäme, denn vor allem <strong>Sprachen</strong> s<strong>in</strong>d Ausdruck von<br />

Kulturen, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s heißt auch: Fremdsprachen von <strong>fremden</strong> Kulturen.<br />

- Humboldts Worte lassen offen, was konkret mit ‘Verständnis’ zu fassen ist. Da das frühe 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert noch e<strong>in</strong> weitgehend vortheoretisches Verständnis <strong>des</strong> Psychologischen hatte,<br />

wie der von E. Scheerer verfaßte Artikel ‘Psychologie’ im Historischen Wörterbuch der<br />

Philosophie ausweist, muß angenommen werden, daß Wilhelm von Humboldt noch nicht<br />

jene Vorstellungen geläufig waren, <strong>die</strong> erst <strong>die</strong> Psychologie <strong>des</strong> letzten Drittels <strong>des</strong> 19. <strong>und</strong><br />

vor allem <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts erarbeitete. Die Chiffre ‘Verstehen’ ist von uns daher nicht<br />

alle<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>e Angelegenheit <strong>des</strong> Sprachbaus zu <strong>in</strong>terpretieren, sondern vor allem auch <strong>in</strong><br />

ihrer psychologischen Dimension. Es steht dem Fremdsprachendidaktiker schlecht an,<br />

hierzu etwas vor <strong>die</strong>sem Kreis zu sagen. Dies überläßt er gern den Fachleuten. Doch möge<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

es e<strong>in</strong>em psychologischen Laien nahezu am Ausklang <strong>des</strong> 20., von der Psychologie so<br />

mitgeprägten Jahrh<strong>und</strong>erts gestattet se<strong>in</strong>, zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t daran zu er<strong>in</strong>nern, daß Verstehen auch<br />

<strong>in</strong> emotiven Erfahrungen <strong>und</strong> Erlebnissen gründet. Vielleicht er<strong>in</strong>nerte <strong>des</strong>halb <strong>die</strong> Träger<strong>in</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>die</strong>sjährigen Friedenspreises, Annemarie Schimmel, daran, daß es auch <strong>des</strong> Gefühls, der<br />

Liebe zu <strong>fremden</strong> Kulturen, ihren <strong>Sprachen</strong> <strong>und</strong> ihren Menschen - wie sie e<strong>in</strong>drucksvoll zu<br />

sagen pflegt - bedarf, um <strong>die</strong>se zu verstehen.<br />

Um den Zusammenhang von <strong>fremden</strong> Wortschätzen <strong>und</strong> ihren Gefühlen, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> der<br />

Dialektik von Fremd- <strong>und</strong> Eigenverstehen soll im folgenden <strong>die</strong> Rede se<strong>in</strong>.<br />

Wer Mutter- <strong>und</strong> Fremdsprache, Eigen- <strong>und</strong> Fremdverstehen thematisieren will tut gut daran<br />

ause<strong>in</strong>anderzuhalten, was Sprache mitteilt <strong>und</strong> was <strong>in</strong> sprachlicher Mitteilung mitkl<strong>in</strong>gt, bzw.<br />

was <strong>die</strong>se konnotiert. Der Dictionnaire du français contempora<strong>in</strong> def<strong>in</strong>iert connotation als<br />

„ensembles <strong>des</strong> valeurs affectives, prises par un mot en dehors de sa signification (ou<br />

dénotation)“. In ähnlicher Weise spricht Theodor Lewandowski apropos Konnotation von der<br />

„emotional gefärbte(n) <strong>und</strong> affektiv getönte(n), auch wertende(n) oder beurteilende(n) Neben-<br />

oder Mitbedeutung, <strong>die</strong> den begrifflichen bzw. sachlichen Kern e<strong>in</strong>er Wortbedeutung<br />

überlagert oder umgibt.“ (585) Die Schwächen <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition s<strong>in</strong>d jedem klar, der sich<br />

e<strong>in</strong>gehender mit semantischen Theoriebildungen beschäftigt hat; sie reicht jedoch für e<strong>in</strong>e<br />

erste E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> unser Thema aus.<br />

Me<strong>in</strong>e Damen <strong>und</strong> Herren, ich möchte <strong>die</strong>sen Zusammenhang unter Abarbeitung der<br />

folgenden Schritte untersuchen:<br />

- Erläuterung der Sprachfunktion <strong>in</strong> Anlehnung an Karl Bühlers Organon-Modell mit der<br />

Verortung affektiver Strukturen<br />

- <strong>die</strong> Nähe- <strong>und</strong> Distanzregister von <strong>Sprachen</strong> <strong>in</strong> ihrem Verhältnis zu Affektivität <strong>und</strong><br />

Fremdverstehen<br />

- <strong>die</strong> Segmentierung <strong>des</strong> Wortschatzes mit der Beschreibung se<strong>in</strong>er Emotivität<br />

- Fremdsprachen- <strong>und</strong> Kulturkenntnis als Voraussetzung für den Aufbau von <strong>in</strong>terkultureller<br />

Nähenkompetenz<br />

Sprachfunktionen im Organon-Modell <strong>und</strong> Verortung affektiver Strukturen<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

Nach Karl Bühler (<strong>und</strong> nach ihm vor allem nach Roman Jakobson) „erheben „drei variable<br />

Momente das konkrete Schallphänomen (Sprache) zum Rang e<strong>in</strong>es Zeichens“ (28):<br />

„Es ist Symbol kraft se<strong>in</strong>er Zuordnung zu Gegenständen <strong>und</strong> Sachverhalten, Symptom<br />

(Anzeichen, Indicium) kraft se<strong>in</strong>er Abhängigkeit vom Sender, <strong>und</strong> Signal kraft se<strong>in</strong>es<br />

Appells an den Hörer, <strong>des</strong>sen äußeres <strong>und</strong> <strong>in</strong>neres Verhalten es steuert...“<br />

Die e<strong>in</strong>zelnen Elemente der Trias Symbol, Symptom <strong>und</strong> Signal, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> Wörtern, Texten,<br />

Themen, Schreib- <strong>und</strong> Sprechstilen feststellen lassen, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sofern ane<strong>in</strong>ander geb<strong>und</strong>en, als<br />

Rede - <strong>die</strong> produzierte Abfolge sprachlicher Zeichen - immer auch e<strong>in</strong> Bild von ihrem Autor<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzung e<strong>in</strong>es realen oder fiktiven Adressaten mitliefert. So verraten uns auf der<br />

Signalebene bereits der Roman Werther ‘symptomatisch’ <strong>die</strong> Sensibilität <strong>des</strong> Dichters <strong>und</strong> wir<br />

vermuten <strong>die</strong> Verliebtheit <strong>des</strong> jungen Goethe; so weist se<strong>in</strong>e Farbenlehre e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Kenntnisstand <strong>und</strong> e<strong>in</strong> konkretes Interesse aus. In ähnlicher Weise belegen <strong>die</strong> sprachlichen<br />

Eigenheiten e<strong>in</strong>er Person, ihr Idiolekt, ihr Dialekt oder Soziolekt, Kontakterfahrungen mit<br />

sozialen Gruppen. Die Sprache <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Sprachen</strong> e<strong>in</strong>es Menschen lassen <strong>in</strong> jedem Fall<br />

erhebliche Rückschlüsse auf se<strong>in</strong>e Biographie zu. - Mit der Appellfunktion steht es ähnlich:<br />

Wem-man-was-wozu sagt steht steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em situativen Zusammenhang, <strong>des</strong>sen<br />

E<strong>in</strong>zelkomponenten mit e<strong>in</strong>er Partnerhypothese, d.h. mit e<strong>in</strong>em bei dem Sprachpartner<br />

vermuteten Welt- <strong>und</strong> Sprachwissen e<strong>in</strong>hergeht. So spricht <strong>die</strong> Soziol<strong>in</strong>guistik z.B. von<br />

partnerorientierten Sprechweisen den foreigner-talk, den baby-talk, <strong>und</strong> auch <strong>die</strong> Fachsprache<br />

wird über den Adressaten def<strong>in</strong>iert: mediz<strong>in</strong>ische Fachsprache zwischen Ärzten unterscheidet<br />

sich von jener Art der Fachsprache, <strong>die</strong> der Arzt im Gespräch mit Patienten anwendet.<br />

Mith<strong>in</strong> unterscheiden wir zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t zwei Dimensionen <strong>des</strong> Sprechens: <strong>die</strong> narrative, das<br />

Sprechen über <strong>die</strong> Welt, <strong>und</strong> <strong>die</strong> dramatische, <strong>in</strong> der sich Sprache mit Handeln vere<strong>in</strong>t.<br />

<strong>die</strong> narrative Funktion zur Besprechung <strong>und</strong> zum Erzählen von Welt.<br />

Sie stellt zum e<strong>in</strong>en Sachverhalte <strong>und</strong> Vorgänge mit der Referenz <strong>des</strong> ‘Es’ als das dar, woran<br />

ich nicht beteiligt b<strong>in</strong> <strong>und</strong> was mich kaum berührt. Da ich absehbar ke<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> sehe,<br />

weshalb ich nach Pek<strong>in</strong>g reisen sollte, <strong>in</strong>teressieren mich Nachrichten über <strong>die</strong> Tarifzonen <strong>in</strong><br />

der ch<strong>in</strong>esischen Hauptstadt kaum. ‘Angesprochen’ fühle ich mich aus Ihnen allen bekannten<br />

Gründen h<strong>in</strong>gegen, wenn es z.B. um Gießen oder <strong>die</strong> Deutsche Bahn bzw. <strong>die</strong> Französischen<br />

Eisenbahnen geht. Den Gr<strong>und</strong> für unterschiedliche Reaktionen liefert das Maß an<br />

‘Betroffenheit’, d.h. e<strong>in</strong>e motivationale <strong>und</strong> <strong>des</strong>halb sprachenpädagogisch höchst relevante<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

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Größe. Das Betroffense<strong>in</strong> oder das Interesses s<strong>in</strong>d Variablen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Negation von Interessen<br />

gegenüber D<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> auch dem Fremden ist legitim, schon weil es uns e<strong>in</strong>fach unmöglich<br />

ist, alles Informationen <strong>und</strong> Fremdheiten als Bezügen <strong>des</strong> Es nachzugehen. Von Texten mit<br />

narrativer Funktion läßt sich also feststellen, daß sie mal unsere Betroffenheit erzeugen oder<br />

zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t auf unser Interesse stoßen, mal nicht. Und genaus so ist es mit den Fremdheiten. Es<br />

ist <strong>die</strong> Spezifik der Relation zwischen Stoff <strong>und</strong> Rezipient, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> echte Kenntnisnahme,<br />

<strong>die</strong> mehr als e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>hören ist, entscheidet. Halten wir im Zusammenhang mit dem Verstehen<br />

<strong>des</strong> Fremden fest, daß Texte <strong>und</strong> Wörter als Ausdruck der Fremdheit <strong>in</strong> dem Maße unser<br />

Interesse f<strong>in</strong>den, wie wir uns betroffen wähnen. Damit s<strong>in</strong>d sie hochgradig abhängig von<br />

unserer Sensibilität <strong>und</strong> unserer Perzeptionsfähigkeit. Offensichtlich verstellt mangelnde<br />

Perzeptionsfähigkeit <strong>in</strong> jedem Falle das Verstehen <strong>des</strong> Fremden.<br />

dramatische Funktion mit den Polen Ich <strong>und</strong> Du<br />

Während wir der epischen oder narrativen Dimension von Sprache unsere Aufmerksamkeit<br />

verweigern können, ist <strong>die</strong>s weitaus weniger der Fall, wenn wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er oralen<br />

kommunikativen Situation stehen, <strong>die</strong> von der Interaktion zwischen den Polen Ich <strong>und</strong> Du,<br />

Wir <strong>und</strong> Ihr markiert ist. Hier wird <strong>die</strong> Interaktion selbst zum Merkmal von Betroffenheiten,<br />

wie schon <strong>die</strong> hier ablesbare Struktur Sprechen = Handeln ausweist. Die Sprechakttheorie<br />

versuchte <strong>die</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er Typologie von Sprechakten, <strong>die</strong> sich im Grad <strong>des</strong><br />

Handlungscharakters von Sprache unterscheiden. Es würde an <strong>die</strong>ser Stelle viel zu weit<br />

führen, deren Klassifikation, <strong>die</strong> ja bekanntlich alles andere als unproblematisch ist, hier<br />

wiederzugeben. Illokutive Sprechakte bezeichnen z.B. das Urteilen, E<strong>in</strong>schätzen, Bewerten,<br />

Erkennen, Anweisen, Warnen, Versprechen, Absichterklären, Beglückwünschen, Empfehlen,<br />

Sichentschuldigen <strong>und</strong> das Angeben der Funktion e<strong>in</strong>er Äußerung im Gespräch. Zudem gibt<br />

es Formen erzählter Darstellung, <strong>die</strong> per se den Sprechakten zuzuordnen s<strong>in</strong>d; so der Witz,<br />

<strong>des</strong>sen Intentionalität ja nicht <strong>in</strong> der Mitteilung e<strong>in</strong>es Sachverhaltes besteht, sondern <strong>in</strong> dem<br />

Wunsch, im Sprachpartner - also im Du-Bezug - e<strong>in</strong>e konkrete Reaktion zu erzeugen. Die<br />

Übergänge zwischen illokutiven <strong>und</strong> propositionalen Äußerungen, <strong>in</strong> denen der Es-Bezug<br />

überwiegt, s<strong>in</strong>d graduell <strong>und</strong> ambig. So kann <strong>die</strong> zwischen Ehegatten fallende Äußerung Il est<br />

midi etwas ganz anderes bedeuten als ‘es ist zwölf Uhr mittags’, <strong>und</strong> zwar: ‘ich habe Hunger,<br />

wann stellst Du das Essen auf den Tisch’. Die Sprachformel läßt trotz iher elliptisch<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

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anmutenden Kürze vermuten, daß sie zwischen den Partnern e<strong>in</strong>e Menge an Er<strong>in</strong>nerungen -<br />

positiven <strong>und</strong> negativen Gefühlskomplexen - mobilisiert.<br />

Vielleicht wird sich manch e<strong>in</strong>er fragen, was derlei Kurzformeln der Vertrautheit mit<br />

Fremdheit zu tun haben. Er f<strong>in</strong>det <strong>die</strong> Antwort, wenn er sich daran er<strong>in</strong>nert, welche Rolle<br />

frühk<strong>in</strong>dliche Erlebnisse für <strong>die</strong> Kategorie <strong>des</strong> Sich-geborgen- bzw. <strong>des</strong> Sich-zu-Hause-<br />

Fühlens, dem Gegenpol der Fremdheit, spielen. Schon hier ist überall Sprache <strong>und</strong><br />

partnerbezogenes Sprechen zugegen. Die Neurol<strong>in</strong>guistik erkennt <strong>die</strong> Anfänge der<br />

Sprachbildung bereits <strong>in</strong> der pränatalen Existenz. So berichtet A. Tomatis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk La<br />

nuit utér<strong>in</strong>e (deutsch: Der Klang <strong>des</strong> Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation, Re<strong>in</strong>beck 1987)<br />

von der Fähigkeit der Föten, <strong>Sprachen</strong> nach ihren Klangbildern zu unterscheiden <strong>und</strong><br />

Mehrsprachigkeit zu erkennen. Nicht nur dank e<strong>in</strong>es komplizierten psychomotorischen<br />

Erwerbsapparates - <strong>in</strong> der Term<strong>in</strong>ologie Noam Chomskys Language Acquisition Device - ist<br />

es uns möglich, Sprache zu erwerben. Wir tun <strong>die</strong>s immer auch mithilfe von Sprachpartnern,<br />

wir benötigen soziale Unterstützung, e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teraktives Language Acquisition Support System.<br />

Es liefert uns phonematische, morphematische, lexematische <strong>und</strong> syntagmatische Vorlagen,<br />

<strong>die</strong> uns beim Aufbau unserer Individualgrammatik - e<strong>in</strong>er Interl<strong>in</strong>gua - helfen: Die Lautketten<br />

von Babies wie rörörörörödödödödö, <strong>die</strong> für den Aufbau von Sprachkompetenz notwendigen<br />

‘Fehler’ frühk<strong>in</strong>dlichen Sprechens: wir haben *gepielt, *meck nich statt schmeckt nicht<br />

(Konsonantenanhäufung als Merkmal schwierige Lautungen <strong>des</strong> Deutschen; man vergleiche<br />

<strong>die</strong> Ausspracheschwierigkeiten von französisch- <strong>und</strong> Spanischsprachige mit dem Eigennamen<br />

Weizsäcker!), Übergeneralisierungen (der Vampir hat sie getöten*, Fehler e<strong>in</strong>es französischen<br />

Schülers beim Deutschlernen mithilfe von Udo L<strong>in</strong>denbergs ‘Vampir’ oder ich habe mich<br />

vertut (Äußerung e<strong>in</strong>es dreijährigen K<strong>in</strong><strong>des</strong>) s<strong>in</strong>d ebenso Ausdrücke e<strong>in</strong>er noch nicht im S<strong>in</strong>ne<br />

der Norm gefestigten Individualgrammatik. Die Festigung der (sozialen) Normentsprechung<br />

vollzieht sich <strong>in</strong> vielerlei Erlebnissen mit Sprache, im Sprechen <strong>und</strong> Hören sowie später im<br />

Schreiben <strong>und</strong> Lesen, <strong>in</strong> jedem Falle <strong>in</strong>nerhalb sozialer, d.h. letztlich partnerschaftlicher<br />

Strukturen. Vor allem aber vollzieht sie sich im Falle <strong>des</strong> ungesteuerten Spracherwerbs <strong>in</strong> der<br />

Regel e<strong>in</strong>deutig oral - <strong>in</strong>teraktiv-partnerorientiert - situativ. So erlernt das K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e<br />

Alltagspraxis, <strong>die</strong> se<strong>in</strong>e Sprachkompetenz gr<strong>und</strong>legt. Mit dem Wort erlernt es das Wissen über<br />

das Wort, es erwirbt <strong>die</strong> Grammatik der Umgangssprache: Vom Typus <strong>die</strong>ser Sprache sagt<br />

Jürgen Habermas:<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

E<strong>in</strong>en transzendentalen Stellenwert hat vielmehr <strong>die</strong> Grammatik der Umgangssprache,<br />

<strong>die</strong> zugleich <strong>die</strong> nichtsprachlichen Elemente e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>geübten Lebenspraxis regelt. E<strong>in</strong>e<br />

Sprachspielgrammatik verknüpft Symbole, Handlungen <strong>und</strong> Expressionen; sie legt<br />

Schemata der Weltauffassung <strong>und</strong> der Interaktion fest. (...) Die Wirklichkeit konstituiert<br />

sich als im Rahmen e<strong>in</strong>er umgangssprachlich organisierten Lebensform<br />

kommunizierender Gruppen. (Habermas 1973: 237)<br />

Symbole, Handlungen, Gestik, Expression, Sprache greifen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses<br />

Ine<strong>in</strong>andergreifen ist hochgradig konventionalisiert <strong>und</strong> fixiert. Die für den Gießener<br />

Stu<strong>die</strong>ngang Neuere Fremdsprachen / <strong>Didaktik</strong> so wichtigen Forschungen zur <strong>in</strong>terkulturellen<br />

Kommunikation <strong>in</strong> Wirtschaftsbeziehungen - ich er<strong>in</strong>nere an <strong>die</strong> von Herbert Christ betreute<br />

Dissertation von Ulrike Litters Interkulturelle Kommunikation aus fremdsprachendidaktischer<br />

Perspektive - greifen demgemäß auf sprachliches <strong>und</strong> außersprachliches<br />

Kommunikationsmaterial bzw. auf <strong>in</strong>terkulturell divergierende Kommunikationsmuster<br />

zurück, um Gr<strong>und</strong>lagen für <strong>die</strong> Erstellung entsprechender Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsprogramme zu entwickeln.<br />

Die Gesten transportieren selbstverständlich affektive Expressionen, worauf schon <strong>die</strong> sie<br />

begleitenden Sprachformeln verweisen: ras-le-bol ‘Schnauze voll’ (frz. <strong>die</strong> rechte Hand über<br />

den Kopf nach unten ziehen), i sont comm’ ça ‘<strong>die</strong> s<strong>in</strong>d wie Feuer <strong>und</strong> Wasser’ (<strong>die</strong><br />

Zeigef<strong>in</strong>ger mit der Spitze gegene<strong>in</strong>anderklopfen), pas un radis ‘überhaupt nichts’ (den<br />

Daumennagel von den oberen Schneidezähnen abschnellen lassen) (Vgl. Meißner et al. 1992).<br />

Wie lernt man derlei Teile der Sprechgrammatik Nur als „soziale Mitspieler“ 1 , wie<br />

Habermas betont. Aber wie gesagt: Spiele lassen sich organisieren.<br />

E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Trennung zwischen verbalen <strong>und</strong> extraverbalen Redekonstituenten entspricht<br />

nicht der Realität von Sprachsituationen. Die Defizienz der Forschungen, <strong>die</strong> Hartwig<br />

Kalverkämper für den Bereich der außerverbalen Körpersprache 1991 feststellte, gilt auch für<br />

<strong>die</strong> Interaktion zwischen der kulturspezifischen Gestik bzw. Proxemik e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong><br />

bestimmten Sprechformeln andererseits; <strong>und</strong> erst recht für <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>des</strong><br />

Persequentialisierens, d.h. der Vervollkommnung <strong>des</strong> situativ Angedeuteten <strong>und</strong> sprachlich<br />

zum Teil Ungesagten durch den kompeten Adressaten. Ich nenne als Beispiel <strong>die</strong><br />

umgangssprachliche französische Abtönung, <strong>die</strong> etwa deutsch na <strong>und</strong> Kümm’re dich um<br />

de<strong>in</strong>en eigenen Mist entspricht: Der Partikel, der stets e<strong>in</strong>e Rede beschließt, lautet ...et ta<br />

sœur. Unser bei Langenscheidt erschienenes Wörterbuch der Umgangssprache Französisch<br />

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verzeichnet zwei Ergänzungsformeln <strong>und</strong> zwei Ergänzungsstufen, <strong>die</strong> französischen<br />

Sprechern <strong>in</strong> der Regel geläufig s<strong>in</strong>d: Es handelt sich zum e<strong>in</strong>en um e<strong>in</strong>e im engeren S<strong>in</strong>ne<br />

‘l<strong>in</strong>guolan<strong>des</strong>k<strong>und</strong>liche’, zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t wird e<strong>in</strong> Hochwertsymbol <strong>in</strong> ihr erwähnt. Sie heißt: ...<br />

elle est au Panthéon où elle prie le Bon Dieu pour que tu sois mo<strong>in</strong>s con ‘sie ist also im<br />

Pantheon, wo sie den lieben Gott darum bittet, daß der Gesprächspartner weniger schwer von<br />

Begriff sei’ (um es milde auszudrücken). Achtung: Der Gesprächspartner wird also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

nicht gerade schmeichelhaften Qualität genannt, weshalb bei der Nennung der durchaus<br />

familiär geläufigen Kurzformel zu äußerster Vorsicht zu raten ist. Das zweite<br />

Persequentialisierungsmuster transportiert im Anschluß an <strong>die</strong> Wiederaufnahme <strong>des</strong> Verbs<br />

battre e<strong>in</strong>e skatologische Formel, <strong>die</strong> Interessierten <strong>in</strong> der Fußnote nachlesbar se<strong>in</strong> wird 2 , <strong>und</strong><br />

sie ist ebenfalls an <strong>die</strong> Du-Relation geb<strong>und</strong>en. Die erst <strong>in</strong> den Ergänzungsformeln sichtbar<br />

werdende konnotative Färbung bestimmt <strong>die</strong> Verwendung bzw. <strong>die</strong> Nichtverwendung der<br />

Formel <strong>in</strong> der konkreten Sprechsituation. Skatologie <strong>und</strong> <strong>die</strong> pejorative Markierung ‘saublöd’<br />

oder ähnlich bestimmen <strong>die</strong> soziale Verdiktzone der Formel. Doch gestaltet sich <strong>die</strong>se<br />

komplizierter als es sche<strong>in</strong>t, denn Wörter s<strong>in</strong>d bekanntllich assoziativ mite<strong>in</strong>ander vernetzt,<br />

<strong>und</strong> zwar <strong>in</strong>nerhalb <strong>und</strong> zwischen den Ordnungsschemata Klangähnlichkeit (Rat # Rad, Pferd,<br />

Pfer<strong>des</strong>chwanz, radeau ‘Floß’, rat d’eau ‘Wasserratte’), Kontiguität (Waschlappen,<br />

Wasserkran, Becken, Handtuch), Paradigmatik (H<strong>und</strong> / Katze, Baum, Strauch, Wurzel, Ast,<br />

Blatt). Weil nun <strong>in</strong> manchen Gegenden Frankreichs der Ausruf me<strong>in</strong> lieber Schwan auch mit<br />

ma sœur ! - es liegt also Teilhonomymie vor - wiedergegeben kann, entsteht e<strong>in</strong>e virtuelle<br />

Verknüpfung zu der genannten Formel <strong>und</strong> ihres diskrim<strong>in</strong>ierenden Inhalts. Übrigens<br />

transportiert <strong>die</strong> Konkurrenzformel bonne mère - man vergleiche italienisch / deutsch Mamma<br />

mia - das soziale, <strong>in</strong> der Term<strong>in</strong>ologie Bühlers, ‘symptomatische’ Kennzeichen ‘Wort aus der<br />

Umgangssprache von Marseille’. Wenn auch <strong>die</strong> Frage der Lexikographierung der<br />

französischen Umgangssprache hier nicht verfolgt werden soll, so muß doch festgehalten<br />

werden, daß <strong>die</strong> Lexikographie wohl aller <strong>Sprachen</strong> zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t zwei Verhältnissen nicht<br />

gerecht wird:<br />

1<br />

Die grammatischen Regeln bestimmen den Boden e<strong>in</strong>er gebrochenen Intersubjektivität zwischen<br />

vergesellschaftlichten Individuen; <strong>und</strong> <strong>die</strong>sen Boden können wir nur im Maße der Internalisierung jener Regeln<br />

betreten - als sozialisierte Mitspieler <strong>und</strong> nicht als unparteiische Beobachter. (Habermas, ebd.)<br />

2 ... elle bat le boeurre quand elle battra ce que je pense tu suceras le bâton.<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

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1.) dem idiomatischen Pr<strong>in</strong>zip; auf <strong>die</strong>ses Defizit verweist Hausmann <strong>in</strong> der Besprechung <strong>des</strong><br />

größten Wörterbuches der Welt, <strong>des</strong> Trésor de la Langue Française<br />

2.) der Erfassung von Persequentialisierungen <strong>und</strong> Assoziationsnetzen außerhalb von<br />

e<strong>in</strong>fachen Synonym- <strong>und</strong> Antonymrelationen.<br />

Verzeichnet werden semiotaktisch autonome Wörter, also solche, <strong>die</strong> hochgradig frei mit<br />

anderen komb<strong>in</strong>ierbar s<strong>in</strong>d, wie z.B. agréable: chaise, homme / femme, voiture, vacances,<br />

montre, Président. Hier bestimmt alle<strong>in</strong> der <strong>in</strong> der Sprache zu stiftende S<strong>in</strong>n <strong>die</strong> Grenze der<br />

Anwendung: une *bombe agréable. Natürlich hebt das Nähephänomen der Ironie <strong>die</strong>se<br />

Aussage wieder auf, <strong>in</strong>dem Ironie ja gerade vom Doppels<strong>in</strong>n <strong>und</strong> von der Erkenntnis <strong>des</strong><br />

Kontrastes zwischen Behauptung <strong>und</strong> Realität lebt: e<strong>in</strong>e „schöne“ Bescheerung. Aktive <strong>und</strong><br />

passive Ironiefähigkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fremdsprache ist, wie wir noch sehen werden, e<strong>in</strong> Lernziel,<br />

das <strong>die</strong> Kenntnis der sachlichen <strong>und</strong> affektiven Schichtungen <strong>des</strong> Wortschatzes voraussetzt.<br />

Selbstverständlich hat <strong>die</strong> dramatische Umgangssprache e<strong>in</strong>e eigene Grammatik, deren<br />

Oberflächenphänomene Folge von spontaner Interaktionalität s<strong>in</strong>d. In e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Aufsatz<br />

Feydeau <strong>und</strong> <strong>die</strong> Grammatik <strong>des</strong> Ehestreits habe ich folgende Szene zwischen Mutter <strong>und</strong><br />

K<strong>in</strong>d wiedergegeben: Das Thema lautete offenbar ‘Papi kommt nach Haus, das Spiel muß<br />

abgebrochen werden’. Die Befehlssequenz der Mutter lautete so: Impuls 1: Jean-Claude,<br />

chéri, viens, Papa va rentrer (ohne Reaktion), 2: Jean-Claude, viens! Papa va arriver, 3.:<br />

Jean-Claude, veux-tu venir... enf<strong>in</strong> 4.: Alors, Jean-Claude, est-ce que tu veux venir enf<strong>in</strong><br />

Das Lexikon bleibt ohne Anwendung der sprechsprachlichen Grammatik steril.<br />

Wer e<strong>in</strong>e muttersprachenähnliche Kompetenzstufe anstrebt, muß auch zu Ironie <strong>und</strong><br />

Sprachwitz befähigen, den das Französische wohl weitaus weit mehr als das Deutsche<br />

kultiviert, was auch immer wieder frivole Zweideutigkeiten - Gauloiserien - e<strong>in</strong>schließt.<br />

Entsprechende Beispiele möchte ich weder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em akademischen Vortrag aufgreifen noch<br />

e<strong>in</strong>em auf <strong>die</strong>sen e<strong>in</strong>gestellten deutsch fühlenden Publikum zumuten. Interessenten, welche<br />

dennoch e<strong>in</strong>er l<strong>in</strong>guistisch motivierten Neugierde nachgeben wollen, um sich mit<br />

e<strong>in</strong>schlägigen Textsorten zu beschäftigen, f<strong>in</strong>den zahlreiche Beispiele <strong>in</strong> der Grammatik der<br />

contrepètrie von Louis Perceau sowie l<strong>in</strong>guistischen Rat <strong>in</strong> Franz Josef Hausmanns Stu<strong>die</strong>n zu<br />

e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>guistik <strong>des</strong> Wortspiels. Das Wortspiel im Canard Enchaîné (Tüb<strong>in</strong>gen: Niemeyer<br />

1974).<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

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Sprachwitze, calembours, haben ihren Ort nicht zuletzt <strong>in</strong> der politischen Rede, erst recht,<br />

wenn <strong>die</strong> Zensur im Spiele ist. E<strong>in</strong> unverfängliches Beispiel nennt Hans Weis, dem wir e<strong>in</strong>e<br />

so heitere wie kompetente Kulturgeschichte <strong>des</strong> französischen Wortspiels verdanken<br />

(Dümmler-Verlag, Bonn 1985, 2. Aufl.). „Als sich Napoleon über e<strong>in</strong>en Sappeur beschwerte,<br />

der bei Leipzig e<strong>in</strong>e Brücke zu früh gesprengt hatte, wortspielte der Fürst von Ligne<br />

folgendermaßen: C’est la première fois que Napoléon parle de sa peur (sapeur).“ (47)<br />

Wir alle kennen <strong>die</strong> Formel Me<strong>in</strong> Gott. Das Französische besitzt e<strong>in</strong>e Adäquanz, welche zu<br />

folgendem Witz um <strong>die</strong> Figur <strong>des</strong> Gründers der V. Republik, Charles de Gaulle, Anlaß gab:<br />

Als <strong>die</strong> Ehefrau namens Yvonne den gerade der Wanne entstiegenen Staatslenker, der noch<br />

nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kleidungsstück geschlüpft war, zur beiderseitigen Überraschung bei der Toilette<br />

antraf, rief sie verduzt aus: Mon Dieu! Worauf <strong>die</strong> schlagfertige Replik <strong>des</strong> Generals lautete:<br />

«Yvonne, vous pouvez m’appeler Charles.» Derlei erzählt sich das französische Volk. - Wer<br />

Näheverhältnisse herstellen will, tut gut daran, auch e<strong>in</strong> m<strong>in</strong>imales Repertoire an Witzen der<br />

Zielkultur bereitzuhalten.<br />

Affektivität <strong>in</strong> Nähe <strong>und</strong> Distanzfunktion<br />

Im Rahmen e<strong>in</strong>er Betrachtung zum Verstehen <strong>des</strong> Fremden, das sich ja immer <strong>in</strong> der<br />

Konkretisierung <strong>und</strong> der Gestaltung e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>terkulturellen Beziehung realisiert, ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e<br />

Unterscheidung erwähnenswert, <strong>die</strong> wir der Forschung zur Sprechgrammatik, also <strong>in</strong> der<br />

Romanistik <strong>des</strong> gesprochen Französisch, Italienisch, Spanisch usw. verdanken. Es handelt<br />

sich um <strong>die</strong> von Nähe- <strong>und</strong> Distanzfunktionen bzw. um <strong>die</strong> Register von Nähe- <strong>und</strong><br />

Distanzsprache (Koch & Oesterreicher).<br />

Distanzsprache<br />

Nähesprache<br />

Offizialität, soziale Distanz, aktualisiertes<br />

Sozialgefälle zwischen den Partnern,<br />

Fremdheit, ke<strong>in</strong>e emotionale Beteiligung<br />

Privatheit, Vertrautheit, Fre<strong>und</strong>schaftlichkeit, emotionale<br />

Beteiligung, Sozialgefälle bleibt unberücksichtigt bzw.<br />

rezessiv<br />

ger<strong>in</strong>ge Handlungse<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

starke Handlungs- oder Situationse<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />

tendenziell hohe Zahl von Rezipienten <strong>und</strong><br />

Monologizität<br />

tendenzielle Dialogizität / Gespräch / starke<br />

Partnerzuwendung<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

<strong>in</strong>tensive Vorplanung der Rede; ger<strong>in</strong>ge<br />

Spontaneität, maximale Reflektiertheit<br />

maximale Spontaneität, ger<strong>in</strong>ge Reflektiertheit<br />

physische Distanz räumlich (<strong>und</strong> zeitlich) oft<br />

groß<br />

tendenziell face-to-face mit visueller <strong>und</strong> situativer<br />

Stützung. Proxemik: Gestik, Mimik, K<strong>in</strong>esik<br />

hohe Textdichte<br />

ger<strong>in</strong>ge Textdichte, statt <strong>des</strong>sen: Tendenz zur<br />

Wiederaufnahme von Wörtern (Red<strong>und</strong>anz)<br />

abstraktes Hören / Lesen.<br />

Versprecher, Akoluthe, Kontaktsignale, Stimmführung,<br />

Gestik, Verbesserungen <strong>in</strong> der Situation usw.<br />

Wie man unschwer erkennen kann, enthält vor allem <strong>die</strong> Nähesprache stark affektive Züge. -<br />

Aufschlußreich ersche<strong>in</strong>t im didaktischen Zusammenhang <strong>die</strong> Frage, <strong>in</strong> welchen Lebensabschnitten<br />

e<strong>in</strong> Individuum welche Sprachsegmente erwirbt. Offenbar geht der Erwerb der<br />

e<strong>in</strong>deutig eher oral markierten Nähesprache dem der Distanzsprache voraus. Nähesprache<br />

wird <strong>in</strong> der Familie, zwischen Spielkameraden <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en gesprochen. So wächst uns dank<br />

der Begegnung mit Sprache <strong>in</strong> dramatischer Funktion e<strong>in</strong>e hohe ‘nähesprachliche Kompetenz’<br />

<strong>in</strong> den ersten zwölf Lebensjahren zu. Wir lernen hier <strong>die</strong> Worte <strong>und</strong> ihre soziale Verwendung<br />

kennen. Erst das Lesen, <strong>die</strong> Schule <strong>und</strong> <strong>die</strong> Berufsausbildung macht uns verstärkt mit der<br />

Distanzsprache bekannt. Schon <strong>die</strong>s erklärt, weshalb Nähesprache - <strong>die</strong> Sprache <strong>des</strong> Tröstens,<br />

Ermutigens, Befehlens, Schimpfens, Lobens mit starken Elementen der Betroffenheit<br />

e<strong>in</strong>hergeht. Nähesprache ist <strong>des</strong>hab par excellence dramatische Sprache, der Fremdsprachenunterricht<br />

kehrt <strong>die</strong>s um, <strong>und</strong> zwar mit der Folge, daß wir Nähesprache vor allem erst<br />

durch den Kontakt mit nativen Sprechern lernen. Fremdsprachenunterricht als re<strong>in</strong>er<br />

Buchunterricht vermittelt <strong>des</strong>halb viel zu wenig-pragmatisches Wissen. Deshalb bedarf er <strong>des</strong><br />

Pr<strong>in</strong>zips Öffnung.<br />

Die Rolle der Nähesprache für das <strong>in</strong>terkulturelle Lernen wird deutlich, wenn man sich<br />

er<strong>in</strong>nert, <strong>in</strong> welchen Stufungen sich <strong>in</strong>terkulturelles Lernen vollzieht. - 1978 beschrieb Robert<br />

N. Hanvey <strong>in</strong>terkulturelle Erfahrungsprozesse von Angehörigen <strong>des</strong> amerikanischen Peace<br />

Corps, welche <strong>in</strong> Ländern erheblicher kultureller Distanz arbeiteten. Er unterscheidet<br />

bezüglich <strong>des</strong> fremdkulturellen Tiefenverstehens folgende Stufungen:<br />

Niveau 1.1: unreflektierte eigenkulturelle Wahrnehmungsebene. Man hat den E<strong>in</strong>druck, alle<br />

Japaner s<strong>in</strong>d (übertrieben) höflich. // B<strong>und</strong>esrepublikaner (vor der Wende) halten Franzosen<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

oft für national-chauv<strong>in</strong>istisch, Italiener glauben, daß Deutschland <strong>die</strong> EU <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>er<br />

Form dom<strong>in</strong>ieren will.. Sprachkenntnisse spielen hier ke<strong>in</strong>e bedeutende Rolle.<br />

Niveau 1.2: Bewußtheit der eigenen Andersartigkeit. // B<strong>und</strong>esrepublikaner halten sich selbst<br />

für aufgeschlossen, unnationalistisch <strong>und</strong> kosmopolitisch. - Das Niveau kennzeichnet z.B. den<br />

Touristen, der e<strong>in</strong>e „Me<strong>in</strong>ung“ über e<strong>in</strong> konkretes Frem<strong>des</strong> hat.<br />

Niveau 2.1: Differenzierung <strong>des</strong> Vorurteils. Interpretation der japanischen Höflichkeit als<br />

äußeres Zeichen <strong>des</strong> Respekts zwischen höher- <strong>und</strong> niedriger gestellten Personen als<br />

Ausdruck e<strong>in</strong>er stark hierarchisierten, jahrh<strong>und</strong>ertelang vergleichsweise geschlossenen<br />

Gesellschaft, <strong>die</strong> sich im Kontakt mit dem europäisch-amerikanischen Fortschrittsbegriff stark<br />

veränderte <strong>und</strong> dabei eigene Traditionen bewahren konnte. // Deutsche erkennen, daß <strong>die</strong><br />

mémoire collective <strong>die</strong> Komplexe républicanisme / droits de l’homme <strong>und</strong> patriotisme, nation<br />

française sowie humanité über <strong>die</strong> starke Aktivierung bestimmter historischer Referenzen<br />

[Französische Revolution (vor dem Jakob<strong>in</strong>ismus), Gegnerschaft zu dem „<strong>und</strong>emokratischen“<br />

borussischen Militarismus <strong>und</strong> zur Nazidiktatur, Gaullismus usw.] tendenziell <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s setzt.<br />

Sie erfahren, daß etwa <strong>die</strong> vor bleu-blanc-rouge-strotzenden Veteranenverbände <strong>und</strong> -<br />

stiftungen z.T. karitative Funktionen übernommen haben usw. Sie lernen auch französische<br />

Versuche kennen, mit den dunklen Schattierungen der eigenen Geschichte umzugehen. Diese<br />

Stufe wird nur durch sensiblen Kontakt mit der Zielkultur erreicht. Nur Sprachkenntnisse<br />

erlauben den Nachvollzug der Konstitution zielkultureller Wirklichkeit.<br />

Niveau 2.2: Umarbeitung <strong>des</strong> Autostereotyps durch Fremdperspektiven. Hierzu ist Wissen,<br />

Interesse <strong>und</strong> vor allem Bereitschaft zur Revision <strong>des</strong> eigenkulturellen Vor-Urteils<br />

erforderlich. Infolge der Tatsache, daß sich zielkulturelle Konstellationen ständig verändern<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Kultur <strong>in</strong> toto von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen nicht - erst recht nicht e<strong>in</strong> für allemal -<br />

„begriffen“ werden kann, ersche<strong>in</strong>t das affektive Lernziel <strong>des</strong> Verstehen- = Differenzieren-<br />

Wollens vorrangig. Das e<strong>in</strong>stellungsbezogene Lernziel kann nicht alle<strong>in</strong> kognitiv, es muß über<br />

das Erlebnis- <strong>und</strong> Handlungslernen angegangen werden. Soll das Erlebnis- <strong>und</strong> Handeln<br />

<strong>in</strong>nerhalb der B<strong>in</strong>nenstrukturen der Zielkultur stattf<strong>in</strong>den, so ist das Handeln <strong>in</strong> deren Sprache<br />

erforderlich.<br />

Niveau 3: Wie e<strong>in</strong> Japaner // Franzose fühlen <strong>und</strong> handeln. Diese Fähigkeit verlangt nicht nur<br />

Empathie, sondern soziale Partizipation an der Zielkultur. Das bikulturelle Individuum nimmt<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensivem Maße an der Kommunikation mit der Ausgangs- <strong>und</strong> Zielgesellschaft teil. Die<br />

hier begegnete Lernzielebene ist vor allem <strong>in</strong> bil<strong>in</strong>gualen Zügen erreichbar. Hanvey<br />

unterstreicht <strong>die</strong> Bereitschaft zur zielkulturellen Näheerfahrung, d.h. eigenkulturelle Vor-<br />

Urteile auszusetzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> sozialen Standards der Zielgesellschaft zu übernehmen. Er<br />

unterstreicht <strong>die</strong> Wichtigkeit von to learn their dialect (sic), to make friends“. Ohne<br />

Sprachkenntnisse s<strong>in</strong>d Näheerfahrung nicht möglich.<br />

Letztlich macht das Individuum mit dem Erwerb zielkultureller <strong>und</strong> stets sprachgeb<strong>und</strong>ener<br />

Denk-, Wertungs- <strong>und</strong> Handlungsmuster e<strong>in</strong>en zusätzlichen Sozialisationsprozeß durch.<br />

Def<strong>in</strong>iert man Lernen als Bewußtse<strong>in</strong>sspaltung - schizé - bzw. -erweiterung zwischen e<strong>in</strong>em<br />

vorherigen - (jetzigen) - zukünftigen mentalen Status, dann macht <strong>die</strong>s deutlich, daß<br />

Zugehörigkeits- <strong>und</strong> Ablösungsprozesse bezüglich der Pole Ausgangs- <strong>und</strong> Zielgruppe nicht<br />

spannungsfrei verlaufen können. Fremdbeobachtung <strong>und</strong> -verstehen bewirken <strong>die</strong> <strong>in</strong>tensive<br />

Eigen- <strong>und</strong> Selbstanalyse. Fragestereotypen lauten: Warum sehe / bewerte ich es / ihn / sie /<br />

das Fremdkulturelle so Durch welche eigenkulturellen Schemata ist me<strong>in</strong>e Wahrnehmung<br />

gefiltert Wie muß me<strong>in</strong> fremdkulturelles Gegenüber me<strong>in</strong>e eigenen Schemata e<strong>in</strong>ordnen<br />

Wie ist Erfahrung <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Ursprungssprache abgelegt Wo steuert sie me<strong>in</strong> Urteil <strong>und</strong> me<strong>in</strong><br />

Fühlen Was eröffnet mir <strong>die</strong> Zielsprache Möglichkeiten, <strong>die</strong> ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Sprache gar nicht<br />

so e<strong>in</strong>fach ausdrücken kann. Wo <strong>und</strong> wie lenkt sie me<strong>in</strong> Empf<strong>in</strong>den <strong>und</strong> me<strong>in</strong> Urteil Wie<br />

strukturiert sie me<strong>in</strong> Sprachhandeln<br />

Wortschatz <strong>des</strong> politisch-sozialen Bezirks<br />

Während bislang vor allem von der Nähesprache <strong>und</strong> ihrem Wortschatz <strong>die</strong> Rede war,<br />

ersche<strong>in</strong>t es für <strong>die</strong> Erfassung der <strong>in</strong> der Sprache wirkenden konnotativen Dimensionen<br />

vorteilhaft, <strong>die</strong> Wortschätze nach ihren thematischen Segmenten auszuleuchten. Mit Blick auf<br />

<strong>in</strong>terkulturelles Verstehen <strong>und</strong> Mißverstehen zeigen unterschiedliche Bezirke e<strong>in</strong>e jeweils<br />

unterschiedliche Kulturspezifik <strong>und</strong> damit auch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>terkulturell unterschiedliches Potential<br />

von Konfliktualität. Während <strong>die</strong> Fachwortschätze hochgradig <strong>in</strong>terkulturell neutral s<strong>in</strong>d,<br />

werden überall dort <strong>in</strong>terkulturelle Asymmetrien sichtbar, wo Wertungen im Spiele s<strong>in</strong>d bzw.<br />

wo <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Kulturen jeweils eigene Wertsysteme ausbilden. Dies ist vor allem im<br />

politisch-sozialen, aber auch z.B. dem religiösen Bezirk der Fall, wobei letzteres heutzutage<br />

vor allem im Verhältnis zwischen traditionell christlichen <strong>und</strong> z.B. muslimischen<br />

Gesellschaften akut dem gegenseitigen Verstehen H<strong>in</strong>dernisse <strong>in</strong> den Weg legt. Als<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

Besonderheit <strong>des</strong> politisch-sozialen Wortschatzes ist derweil se<strong>in</strong>e Offenheit gegenüber<br />

anderen Bezirken zu nennen. Dem entspricht, daß <strong>in</strong> demokratischen Gesellschaften je<strong>des</strong><br />

Phänomen zum Politikum, aber das Politische selbst nicht zu e<strong>in</strong>em von Teil- oder<br />

Fachbezirken gemacht werden kann.<br />

Es bedarf ke<strong>in</strong>er Erläuterung, daß <strong>die</strong> - um es mit e<strong>in</strong>em Titel von Mart<strong>in</strong> Greiffenhagen zu<br />

sagen - im Kampf um Wörter e<strong>in</strong>gesetzten direkten <strong>und</strong> <strong>in</strong>direkten f<strong>in</strong>anziellen <strong>und</strong> personalen<br />

Mittel kaum abschätzbar s<strong>in</strong>d. Dies betrifft selbstverständlich ke<strong>in</strong>eswegs nur <strong>die</strong> auf <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>nenpolitische Dimension zugeschnittene Sprache. Im Zeitalter der europäischen Integration,<br />

ja e<strong>in</strong>er ‘Welt<strong>in</strong>nenpolitik’ betrifft <strong>die</strong>s auf vielfache Weise <strong>in</strong> der Regel auch <strong>die</strong> jeweiligen<br />

Außenbeziehungen mit. Es sei nur daran er<strong>in</strong>nert, daß das sog. Dritte Reich den Krieg - ehe es<br />

ihn militärisch verlor - <strong>die</strong>sen bereits agitatorisch verloren hatte, denn Goebbels Reichspropagandam<strong>in</strong>isterium<br />

hatte auf Dauer der Allianz zwischen Stal<strong>in</strong> <strong>und</strong> Roosevelt, Churchill <strong>und</strong><br />

De Gaulle schon quantitativ nur wenig entgegenzusetzen. Die Nachkriegsgeschichte zeigt, daß<br />

Deutschland nicht nur den Wiederaufbau <strong>in</strong>s Werk zu setzen hatte, erhebliche Anstrengungen<br />

kostete es, <strong>die</strong> selbst verursachten <strong>und</strong> von der alliierten Propaganda <strong>in</strong> den Bevölkerungen<br />

der Welt verbreiteten Perhorreszierung Deutschlands entgegenzuwirken. Es ist kaum zu<br />

übersehen, daß damals angelegte Ressentiments bis heute zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t latent fortwirken <strong>und</strong><br />

immer wieder rasch zu neuem Leben erweckt werden können.<br />

Die politische Semantik, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Untersuchung <strong>des</strong> Wirkungsaspekts von Wörtern e<strong>in</strong>e<br />

ziemliche Rolle spielt, unterscheidet zwischen appraisativen <strong>und</strong> <strong>des</strong>appraisativen oder<br />

perhorreszierenden Dimensionen. Soziale Werte werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft zwischen mit<br />

<strong>die</strong>sen Term<strong>in</strong>i bezeichneten Polen <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung um politische Ziele <strong>und</strong><br />

Methoden ausgehandelt. Sie konstituieren <strong>die</strong> politische Korrektheit. Werthaltungen,<br />

Integrations- <strong>und</strong> Des<strong>in</strong>tegrationsbezirke entstehen hier. Wehe dem, der sie verletzt: er riskiert<br />

gesellschaftlichen Ausschluß <strong>und</strong> Diskrim<strong>in</strong>ation; <strong>und</strong> <strong>die</strong>s hat durchaus e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>terkulturelle<br />

Komponente: Denn derjenige, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>fremden</strong> Gesellschaft kommuniziert, verbleibt<br />

zunächst im Wertsystem se<strong>in</strong>er eigenen Gesellschaft, ihrer Kultur <strong>und</strong> ihrem tra<strong>die</strong>rten<br />

Wertsystem. Das kollektive Bewußtse<strong>in</strong> der Zielgesellschaft ist ihm weitgehend unbekannt;<br />

zum e<strong>in</strong>en, weil er an der geschichtlichen Erfahrung der Zielgruppe ke<strong>in</strong>en Anteil hat, zum<br />

anderen, weil er ihre neuesten <strong>in</strong>neren Entwicklungen <strong>in</strong> der Regel nicht h<strong>in</strong>reichend kennt,<br />

um gemäß e<strong>in</strong>er Erwartungsnorm handeln zu können. Zu alledem erkennt er nicht <strong>die</strong><br />

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Diskurse 15), Gießen: Ferber’sche Verlagsbuchhandlung, 155-175.<br />

lexikalischen Fallen der Zielkultur. Allzu leicht verkennt, betritt oder verletzt er gar Tabu- <strong>und</strong><br />

Mirandazonen, eventuell ohne <strong>die</strong>s zu bemerken. So merkt e<strong>in</strong> deutscher Turist, der <strong>die</strong><br />

Architektur <strong>des</strong> augustäischen Roms mit heutiger Stadtplanung vergleicht, kaum, wie sehr<br />

se<strong>in</strong>e Worte jenen gleichen, <strong>die</strong> Mussol<strong>in</strong>i am 31. Dezember 1925 schrieb <strong>und</strong> <strong>die</strong> der Popolo<br />

d’Italia am 1. Januar 1926 abdruckte: „Le miei idee sono chiare, i miei ord<strong>in</strong>i sono precisi<br />

(...). Tra c<strong>in</strong>que anni Roma deve apparire meravigliosa a tutte le genti del mondo: vasta,<br />

ord<strong>in</strong>ata, potente, come fu al tempo del primo impero di Augusto“. (Zit. bei Meißner 1990)<br />

Wer glaubt, derlei Worte seien längst aus dem kollektiven Gedächtnis der Italiener getilgt,<br />

übersieht, daß <strong>die</strong> Reden <strong>des</strong> ‘Duce’, wie <strong>die</strong> anderer faschistischer Führer, über zwei<br />

Jahrzehnte h<strong>in</strong>weg Anlässe zu vielfacher Dauerzitation lieferten. In jedem Falle wird sich<br />

derjenige, dem <strong>die</strong>se oder e<strong>in</strong>e vergleichbare stilistische Tradition bewußt ist, zur<br />

Zurückhaltung entschließen. Die Wirkung der ungewollten Tabuverletzung ist nicht nur mit<br />

Blick auf den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fremde Gesellschaft H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>tretenden zu betrachten, sondern auch aus der<br />

Sicht derer, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>em Fremden begegnen. Im Gespräch mit ihm müssen wir zu e<strong>in</strong>er<br />

Partnerhypothese fähig se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> <strong>die</strong> zu vermutende Lückenhaftigkeit se<strong>in</strong>er Kompetenz im<br />

eigenkulturellen Bereich gesprächsstrategisch verarbeitet. Daß <strong>die</strong>s nicht immer leicht fällt,<br />

wird besonders im Gespräch mit Auslandsdeutschen bzw. Deutschstämmigen sichtbar, <strong>die</strong> -<br />

um es sehr vorsichtig auzudrücken - nicht allzu selten von e<strong>in</strong>em Deutschland schwärmen, das<br />

es seit e<strong>in</strong>em halben Jahrh<strong>und</strong>ert nicht mehr gibt <strong>und</strong> <strong>des</strong>sen Werte nicht <strong>die</strong> unsrigen s<strong>in</strong>d.<br />

Schon hier ergibt sich als e<strong>in</strong>e notwendige Forderung <strong>die</strong> e<strong>in</strong>er „sprachbezogenen<br />

Lan<strong>des</strong>k<strong>und</strong>e“, wie sie der Gießener Kollegiat Marcus Re<strong>in</strong>fried beschreibt (1994). Es<br />

entspricht <strong>in</strong><strong>des</strong> dem Lernkontext der Europäischen Union, wenn <strong>die</strong>se nicht nur auf <strong>die</strong><br />

Erfordernisse <strong>des</strong> elementaren Bereichs <strong>des</strong> Fremdsprachenunterrichts begrenzt bleibt, denn<br />

<strong>Sprachen</strong>lernen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den Nachbarkulturen ist ja längst e<strong>in</strong>e Sache<br />

<strong>des</strong> lebenslangen Lernens. Das <strong>in</strong>terkulturelle Verstehen der europäischen Bürger benötigt<br />

dr<strong>in</strong>gend e<strong>in</strong>e Enzyklopä<strong>die</strong> der europäischen Wortschätze <strong>des</strong> politisch-sozialen Bezirks.<br />

Anders als derjenige, der e<strong>in</strong>en sprachlichen Fehler macht, s<strong>in</strong>d ‘<strong>in</strong>terkulturelle ‘Fehler’ dem<br />

zielkulturellen Partner nicht transparent. Er ‘verurteilt’ <strong>in</strong> Verstoßfall sehr schnell den<br />

Fremden, weil ihm selbst <strong>des</strong>sen ursprüngliches Wertesystem verschlossen ist. - Der sich hier<br />

andeutete Hermetismus ist gerade für das Zusammenwirken der vielnationalen Demokratie<br />

der Europäischen Union von kaum abschätzbarer Relevanz. Denn solange <strong>die</strong> Wertesysteme<br />

im jeweilgen nationalen Rahmen def<strong>in</strong>iert <strong>und</strong> dem anderssprachigen <strong>und</strong> anders<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

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kulturalisierten Nachbarn verschlossen bleiben, s<strong>in</strong>d schwere Konflikte vorprogrammiert. Die<br />

Europäische Demokratie setzt e<strong>in</strong>en hohen Grand an Mehrsprachigkeit <strong>und</strong> <strong>in</strong>terkultureller<br />

Kompetenz ihrer Bürger voraus. Das zeigt auch gerade e<strong>in</strong> Vergleich der affektiven Seiten der<br />

europäischen Wortschätze.<br />

Wortfunktionen<br />

Allgeme<strong>in</strong> dimensioniert <strong>die</strong> Lexikologie Bedeutungen auf der isolierten Wortebene <strong>in</strong>:<br />

• <strong>des</strong>ignative; Beispiel: Stuhl: ‘Gerät zum Sitzen mit vier Be<strong>in</strong>en <strong>und</strong> Rückenlehne, eher<br />

ohne Armlehnen’, <strong>und</strong><br />

• konnotatative, Beispiel: <strong>in</strong> dem deutschen Wort Frankreich kl<strong>in</strong>gt so derzeit e<strong>in</strong>e Menge<br />

von ‘Sek<strong>und</strong>ärbedeutungen’ mit: <strong>die</strong> Mururoa-Problematik, das Bild der Präsidenten<br />

Chirac, Mitterand <strong>und</strong> z.B. de Gaulle, Eiffeltum, Pernodreklame, das sozialistische <strong>und</strong><br />

gaullistische Frankreich, <strong>die</strong> Architektur, <strong>die</strong> französische république <strong>des</strong> lettres, <strong>die</strong><br />

deutsch-französische Fre<strong>und</strong>schaft als Kern der Europapolitik, der <strong>in</strong> Frankreich völlig<br />

ungebräuchliche Ausdruck Grande Nation. Mit <strong>die</strong>sem Pseudogallizismus, der <strong>in</strong><br />

Frankreich ungebräuchlich <strong>und</strong> unverständlich ist, bzeichnen Deutsche - man hat <strong>die</strong> alte<br />

B<strong>und</strong>esrepublik immer wieder als politischen Zwerg <strong>und</strong> ökonomischen Riesen bezeichnet<br />

- oft ironisierend das Partnerland, wenn es um se<strong>in</strong>e nationale Selbstdarstellung oder um<br />

<strong>in</strong>ternatiole Politik geht usw. E<strong>in</strong> Wort wie Grande Nation, wird natürlich <strong>in</strong> Frankreich<br />

verstanden, <strong>und</strong> ist geeignet, aufgr<strong>und</strong> der Parallelität se<strong>in</strong>er Bildung se<strong>in</strong>erseits<br />

französische Er<strong>in</strong>nerungen mit Deutschland wachzurufen: (ich erlaube mir den<br />

französischen Akzent) Gross-Berl<strong>in</strong>, Gross-Paris, Grossdeutschland. Gegner der<br />

deutschen E<strong>in</strong>igung glaubten ähnlich wie <strong>die</strong> deutschen Verwender von Grande Nation<br />

Frankreichwissen zu signalisieren, als sie <strong>in</strong> französischen Kontexten vom vere<strong>in</strong>ten<br />

Deutschland - es an Bösartigkeit oder Unwissend jenen gleichtuend - als von dem neuen<br />

Großen Deutschland bzw. von Großdeutschland sprachen. Großdeutschland <strong>und</strong> Grande<br />

Nation s<strong>in</strong>d Begriffe emotiver Prägung; sie sagen mehr über denjenigen aus, der sie<br />

benutzt. Ihre <strong>des</strong>ignative Nachricht ist m<strong>in</strong>imal.<br />

Untersuchungen zum Wortschatz <strong>des</strong> Politischen aber auch der Werbung unterteilen das<br />

Konnotat <strong>in</strong> weitere Dimensionierungen, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> Emotat <strong>und</strong> - so <strong>die</strong> vormalige SED-<br />

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L<strong>in</strong>guistik um Voluntat. Schon <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition <strong>des</strong> politischen Schlag- oder Werbewortes easy<br />

to remember, pleasant to repeat betont <strong>die</strong> Wirkungsperspektive von Wörtern.<br />

Das von Ogden & Richards neu aufgelegte triadische Wortmodell, bekannt als sogenanntes<br />

semantisches Dreieck, bestehend aus A, dem Signifikanten / Zeichenkörper, B, dem<br />

Bezeichneten oder der Referenz, <strong>und</strong> C, dem Konzept / Vorstellung / Gefühl, das e<strong>in</strong> Sprecher<br />

mit e<strong>in</strong>em verbalen Zeichen verb<strong>in</strong>det, erlaubt <strong>die</strong> Darstellung der politisch-praktischen<br />

Relevanz von Wörtern: Denn es liegt im Interesse der Herrschaftsstabilisierung, <strong>die</strong> Strecke<br />

zwischen B <strong>und</strong> C kle<strong>in</strong>, d.h. im Rahmen sozial erträglicher <strong>und</strong> tolerierbarer Distanz zu<br />

halten. Sprachregelungen <strong>des</strong> politischen Bezirks zielen daher immer darauf, <strong>die</strong> subjektive<br />

Erfahrung der Distanz zwischen e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> den Köpfen der Bürger bestehenden ‘Soll’ <strong>und</strong> dem<br />

erfahrenden ‘Ist’ kle<strong>in</strong> zu halten. Dieser Umstand auch erklärte <strong>die</strong> Etablierung e<strong>in</strong>er sog.<br />

‘Sprachwirkungsforschung’ der DDR. Osgood, Suci & Tannenbaum lieferten mit der<br />

Entwicklung <strong>des</strong> semantischen Differentials e<strong>in</strong> l<strong>in</strong>guistisches Instrument zur Messung von<br />

Emotaten. Neuere Forschungen zur Wirkung von Wörtern arbeiten mit dermatometrischen<br />

Methoden, welche körperliche Reaktionen auf psychische Reize messen. Wörter, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Deutschen <strong>in</strong> der Vergangenheit ärgerten, waren z.B. Juso, heutzutage <strong>die</strong> ‘Ossi / Wessi’-<br />

Problematik e<strong>in</strong>schließlich <strong>des</strong> Wortes Solidaritätsbeitrag, Laswell betrachtet Wörter als<br />

„Mittel zur Err<strong>in</strong>gung oder Bewahrung politischer Macht“ (Dieckmann 1975: 21).<br />

Fragen <strong>des</strong> Fremdverstehens <strong>und</strong> <strong>des</strong> Umgangs mit der Fremdheit s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> unseren<br />

‘multikulturellen <strong>und</strong> globalen Informationsgesellschaften’ solche der Lebenspraxis. Dies gilt<br />

nicht alle<strong>in</strong> für <strong>die</strong> deutsche Gesellschaft <strong>in</strong> ihren B<strong>in</strong>nenbezügen, sondern auch <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Europäischen Union. Was deren vielnationale Demokratien angeht, so darf nicht übersehen<br />

werden, daß es sich um das politische Zusammenspiel von unterschiedlichen nationalen<br />

Kulturen <strong>und</strong> <strong>Sprachen</strong> handelt. Der Politologe von Kielmannsegg unterstreicht <strong>die</strong>s zu recht<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> der Frankurfter Allgeme<strong>in</strong>en Zeitung erschienenen Artikel:<br />

"Was <strong>die</strong> Vielsprachigkeit für <strong>die</strong> Europäische Geme<strong>in</strong>schaft eigentlich bedeutet, darüber<br />

ist ernsthaft bisher noch nicht nachgedacht worden. Sie ist vermutlich das elementarste<br />

aller H<strong>in</strong>dernisse, <strong>die</strong> dem Projekt e<strong>in</strong>er europäischen Demokratie entgegenstehen.<br />

Gewiß, es gibt nicht nur negative Erfahrungen mit mehrsprachigen Demokratien. Aber<br />

<strong>die</strong> Dimension <strong>des</strong> europäischen Problems s<strong>in</strong>d ganz <strong>und</strong> gar e<strong>in</strong>zigartig. Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />

Demokratie, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> meisten Bürger sich mit den meisten anderen Bürger nicht<br />

verständigen können. Nicht e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Politiker haben es ja <strong>in</strong> vierzig Jahren bei aller<br />

europäischen Rhetorik dah<strong>in</strong> gebracht, ohne Dolmetscher mite<strong>in</strong>ander reden zu können.<br />

Die wenigsten von ihnen s<strong>in</strong>d imstande, sich auch nur e<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>derzahl der europäischen<br />

Wähler <strong>in</strong> ihrer Sprache verständlich zu machen. Es gibt ke<strong>in</strong>e europäische Zeitung <strong>und</strong><br />

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ke<strong>in</strong> europäisches Fernsehprogramm. All das zusammengenommen bedeutet: Es gibt<br />

ke<strong>in</strong>e europäische öffentliche Me<strong>in</strong>ung, es gibt ke<strong>in</strong>en europäischen politischen Diskurs.<br />

Was an Sprache geb<strong>und</strong>en ist, <strong>und</strong> der politische Prozeß der Demokratie ist essentiell an<br />

Sprache geb<strong>und</strong>en, bleibt offenbar weitgehend an Sprachräume geb<strong>und</strong>en."<br />

Es entspricht offenbar dem Wesen der Politik, daß auf dem Wege von der Vielzahl der<br />

Individualme<strong>in</strong>ungen, der volonté de tous, zur Konkretisierung <strong>des</strong> politischen<br />

Handlungswillens, der volonté générale, unweigerleich verschiedene Interessen berührt<br />

werden. Ihre Behandlung geschieht geweils durch das Prisma der nationalen <strong>Sprachen</strong> <strong>und</strong><br />

Kulturen <strong>und</strong> deren spezifischen Brechungen. Kulturen s<strong>in</strong>d - mit Luhmann def<strong>in</strong>iert als<br />

‘spezifische Repertoire von Themen’ - welche jeweils an <strong>die</strong> Weltsicht <strong>und</strong> Welterfahrung<br />

ihrer <strong>Sprachen</strong>, wie Humboldt me<strong>in</strong>t, geknüpft s<strong>in</strong>d. Für <strong>die</strong> Prozeduren der Europäischen<br />

Entscheidungen bedeutet <strong>die</strong>s Fragilität, denn ebenso wenig wie es e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same<br />

öffentliche Me<strong>in</strong>ung Europas gibt, ebenso wenig lassen sich durch Übersetzungen<br />

ungebrochene Geme<strong>in</strong>samkeiten entdecken. Dies betrifft weniger <strong>die</strong> Sachkonstellationen, als<br />

vielmehr das Verständnis, das <strong>in</strong> der politischen Ause<strong>in</strong>andersetzung <strong>die</strong> Vertreter<br />

unterschiedlicher Me<strong>in</strong>ungen den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Nation formulierten Partikular<strong>in</strong>teressen<br />

entgegenbr<strong>in</strong>gen können oder wollen. Dies zu kompensieren ersche<strong>in</strong>t mir nur möglich durch<br />

<strong>die</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>er sprachenteiligen Gesellschaft, <strong>in</strong> der immer mehr Bürger <strong>in</strong> der Lage<br />

s<strong>in</strong>d, der Me<strong>in</strong>ungsbildung der europäischen <strong>und</strong> verschieden-nationalen <strong>und</strong><br />

verschiedensprachigen Mitbürger zu folgen. Die hiervon zu erhoffende Akzeptanz hängt von<br />

der breiten Kenntnis der europäischen Kulturen <strong>und</strong> ihrer <strong>Sprachen</strong> ab - <strong>und</strong> hier wiederum<br />

vor allem der neuralgischen Zonen, <strong>die</strong> eher das Fühlen als das Denken bee<strong>in</strong>flussen, konkret<br />

von europäischen Nähesprachen <strong>und</strong> ihrer politischen Kulturen - das s<strong>in</strong>d nicht zuletzt <strong>die</strong><br />

affektiven <strong>und</strong> konnotativen Dimensionen der Wortschätze.<br />

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In: Lothar Bredella & Herbert Christ (Hrsg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Giessener<br />

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