Kabarett in Theresienstadt - Synagoge in Vöhl
Kabarett in Theresienstadt - Synagoge in Vöhl
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<strong>Synagoge</strong> <strong>in</strong> <strong>Vöhl</strong><br />
64. <strong>Synagoge</strong>nkonzert<br />
(im Rahmen von “10 Jahre Förderkreis <strong>Synagoge</strong> <strong>in</strong> <strong>Vöhl</strong> e.V.”)<br />
Samstag, 7. November 2009, 20 Uhr<br />
…UND DIE MUSIK SPIELT DAZU!<br />
<strong>Kabarett</strong> <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong><br />
In diesem Konzert widmen sich Mitglieder der Neuköllner Oper Berl<strong>in</strong> dem bislang noch nicht<br />
ausreichend erforschten und dokumentierten Thema „<strong>Kabarett</strong> <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>“. Im so genannten<br />
„Vorzugslager“ gab es nicht weniger als fünf <strong>Kabarett</strong>-Formationen, die m<strong>in</strong>destens die gleiche<br />
Bedeutung hatten, wie die anderen, ambitionierten künstlerischen Betätigungen der Ghetto-<br />
Bewohner (Chorkonzerte, Theater, Kammermusik) - nämlich so etwas wie menschliche Identität zu<br />
bewahren und den Gefangenen für e<strong>in</strong>ige Stunden „Normalität“ zu vermitteln – e<strong>in</strong>e Hilfe zum<br />
Überleben!<br />
Wir hören u.a. Texte von Leo Strauss, Manfred Greiffenhagen, Frieda Rosenthal, sowie<br />
Vertonungen von Mart<strong>in</strong> Roman, Otto Skutecki, Adolf Strauss, sowie Parodien auf Melodien von<br />
E. Kálmán oder F. Raymond. E<strong>in</strong> besonderer Schwerpunkt liegt auf den Liedern und Texten von<br />
Ilse Weber, die als damals sehr bekannte Autor<strong>in</strong> und Komponist<strong>in</strong> mit ihrem Sohn <strong>in</strong> Auschwitz<br />
ermordet wurde; Ihr Schicksal und ihr Werk s<strong>in</strong>d erst jetzt, <strong>in</strong> den letzten Jahren <strong>in</strong>s öffentliche<br />
Bewusstse<strong>in</strong> getreten.<br />
Maria Thomaschke, Andreas Jocksch<br />
W<strong>in</strong>fried Radeke
Programmfolge<br />
E<strong>in</strong>ladung Text: Leo Strauss<br />
Ich wandre durch <strong>Theresienstadt</strong> Text und Melodie: Ilse Weber<br />
Satz: W<strong>in</strong>fried Radeke<br />
* * *<br />
Und die Musik spielt dazu! Text: Walter L<strong>in</strong>denbaum<br />
Musik: Fred Raymond<br />
Als ob Text: Leo Strauss<br />
Musik: Alexander Ste<strong>in</strong>brecher<br />
Terez<strong>in</strong>-Lied Text: Unbekannt<br />
Musik: Emmerich Kálmán<br />
Dank dem lieben Cabaret Text: Frieda Rosenthal<br />
Auf Wiedersehn, Herr Fröhlich… Text: Bobby John<br />
Musik: Karl Inwald, Bruno Uher<br />
Die Ochsen Text: Manfred Greiffenhagen<br />
Musik: Mart<strong>in</strong> Roman<br />
Gib mir bald e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Lebenszeichen Text: Leo Strauss<br />
Ich weiß bestimmt, ich werd dich wiederseh´n Text: Ludwig Hift<br />
Musik: Adolf Strauss<br />
Drunt´ im Prater Text: Leo Strauss<br />
Melodie: Otto Skutecky<br />
* * *<br />
Und der Regen r<strong>in</strong>nt… Text und Melodie: Ilse Weber<br />
Satz: W<strong>in</strong>fried Radeke<br />
Theresienstädter K<strong>in</strong>derreim Text: Ilse Weber<br />
Wiegala Text und Melodie: Ilse Weber<br />
Satz: W<strong>in</strong>fried Radeke<br />
Ohne Butter, ohne Eier, ohne Fett Text: Walter Ste<strong>in</strong>er<br />
Ich muß sitzen Text: Manfred Greiffenhagen<br />
Musik: Mart<strong>in</strong> Roman<br />
Karussell Text: Manfred Greiffenhagen<br />
Musik: Mart<strong>in</strong> Roman<br />
2
„Freizeitgestaltung“ <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong><br />
1987 erlebte der Verfasser dieser Zeilen im Berl<strong>in</strong>er Hebbel-Theater (jetzt: „HAU 1“) Taboris<br />
Inszenierung des „Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann. Es traf ihn wie e<strong>in</strong> Keulenschlag.<br />
Was hatte er von der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts gelernt? Warum kannte er<br />
diesen Komponisten nicht, warum stand der Name nicht <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>schlägigen Musiklexika?<br />
War diese Bildungslücke eigenes Versäumnis oder e<strong>in</strong> kollektives der sich Musikwelt<br />
nennenden Gesellschaft?<br />
Man war <strong>in</strong>formiert über Auschwitz, <strong>Theresienstadt</strong> und alle andern Vernichtungslager, man<br />
wusste um die Millionen ermordeter Juden. Aber, dass Tausende unter ihnen sich <strong>in</strong> der<br />
kurzen Zeit, die ihnen bis zur ihrer Ermordung blieb, künstlerisch betätigten, sei es, um<br />
ihrem Schmerz, sei es ihrer Hoffnung auf Menschenwürde e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles Zeugnis zu<br />
verleihen, e<strong>in</strong> Gedicht, e<strong>in</strong>e Zeichnung, e<strong>in</strong> Lied, e<strong>in</strong> Streichquartett…, ne<strong>in</strong> davon erfuhr<br />
man nur, wenn man sich selbst darum kümmerte. Und diese Stimme der geschundenen und<br />
entwürdigten Kreatur war im „Kaiser von Atlantis“ unüberhörbar. Unüberhörbar aber war<br />
auch ihr allerhöchster künstlerischer Rang, <strong>in</strong> Text (Peter Kien) wie <strong>in</strong> Musik.<br />
Es stand fest, dass Ullmanns Spiel um Tod und Leben (Harlek<strong>in</strong>), se<strong>in</strong> Welttheater um<br />
zynischen Machtmissbrauch (Kaiser Overall) gleich nach Eröffnung des nun eigenen<br />
Domizils der „Neuköllner Oper“ aufgeführt werden sollte. Nun hieß es, sich „zu kümmern“,<br />
denn man bewegte sich auf noch unbekanntem und ansche<strong>in</strong>end vergessenem Terra<strong>in</strong>.<br />
Der Weg dieser Produktion eröffnete e<strong>in</strong> bisher nicht gekanntes „Netzwerk von Gleichges<strong>in</strong>nten“.<br />
Dramaturgen nannten Namen von Leuten, die „mehr wissen“. Schließlich landete man <strong>in</strong> Dornach,<br />
wo das Autograph des „Kaiser“ liegt. Dort war man sehr hilfsbereit und schickte sofort e<strong>in</strong>e Kopie<br />
der autographen Partitur, Und siehe da, das schon vorher besorgte Leihmaterial wies e<strong>in</strong>e Fülle<br />
von Ungereimtheiten auf. Auf die Frage nach Dornach, ob man anhand der orig<strong>in</strong>alen Partitur e<strong>in</strong>e<br />
Neufassung des Werkes erarbeiten und aufführen dürfe, wurde prompt mit „Ja“ geantwortet.<br />
Und woh<strong>in</strong> gehen die Tantiemen? Doch nicht zu dem Bearbeiter des Leihmateriales, der bis dato<br />
nicht nur 100% der Tantiemen e<strong>in</strong>strich, sondern auch noch den Wunsch äußerte, das Werk <strong>in</strong><br />
Neukölln zu dirigieren! Da hieß es dann, die K<strong>in</strong>der von Ullmann seien entmündigt und lebten <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Heim <strong>in</strong> England. E<strong>in</strong> rechtsfreier Raum, e<strong>in</strong> weiteres Unrecht.<br />
Wenn man als Theatermacher die unglaublichen Prozeduren bei Änderungswünschen, bei<br />
Bearbeitungen usw. mit Verlagen und „Rechtsnachfolgern“ kennt, war man schon erstaunt, dass es<br />
offenbar bei dem Komponisten aus <strong>Theresienstadt</strong> diesbezüglich e<strong>in</strong> Vakuum gab.<br />
Und jetzt kam die große Wut. Da gibt es e<strong>in</strong>en begnadeten Komponisten, der von den Nazis<br />
umgebracht wurde, se<strong>in</strong> Werk aber durch glückliche Umstände gerettet wurde, und die Nachwelt<br />
hat nichts Besseres zu tun, als auch noch se<strong>in</strong> Vermächtnis zu boykottieren? Und schließlich:<br />
Warum erfährt man dies erst nach über vierzig Jahren? Es gab nur e<strong>in</strong>en Schluss: E<strong>in</strong>e Ullmann-<br />
Gesellschaft musste her.<br />
Es kam ke<strong>in</strong>e Ullmann-Gesellschaft, aber es gab 1991 die Gründung des Vere<strong>in</strong>s „musica<br />
reanimata“, der sich der Wiederbelebung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke annahm.<br />
Viel ist geschehen <strong>in</strong>zwischen. Komponisten aus <strong>Theresienstadt</strong> wie Viktor Ullmann, Hans Krasa,<br />
Gideon Kle<strong>in</strong> und Pavel Haas s<strong>in</strong>d da, wo sie h<strong>in</strong>gehören: im „normalen“ Konzertbetrieb. Ihre<br />
Werke s<strong>in</strong>d zum größten Teil gedruckt und verlegt, Publikationen, Biographien und<br />
Werkverzeichnisse s<strong>in</strong>d der Öffentlichkeit zugänglich.<br />
Inzwischen wissen wir also mehr über das schier unglaubliche Kulturleben <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>.<br />
Zum größten Teil kamen die Häftl<strong>in</strong>ge aus dem „Protektorat Böhmen-Mähren“ dorth<strong>in</strong>, deutsch oder<br />
tschechisch sprechende Juden und unter ihnen war quasi die ganze geistige wie künstlerische Elite<br />
versammelt: Musiker, Dirigenten, Sänger, Schauspieler, Dichter, Universitätsprofessoren. Man<br />
hatte ihnen nicht nur jeglichen Besitz abgenommen sondern auch ihre Profession, ihren<br />
Lebens<strong>in</strong>halt, ihre Identität. E<strong>in</strong>gepfercht unter schlimmsten, menschenunwürdigen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
hatten sie schwerste Zwangsarbeit zu verrichten. Die Nahrung („Menage“) bestand aus übel<br />
riechenden Wassersuppen aus Kartoffelschalen. Brot, Fett, Zucker waren karger rationiert, als <strong>in</strong><br />
Gefängnissen sonst üblich. Ungeziefer, Krankheiten und unvorstellbare hygienische Zustände<br />
brachten die Menschen an den Punkt, ihre Menschlichkeit und jegliche Form der Zivilisation zu<br />
verlieren. Viele starben oder siechten dah<strong>in</strong>. Andere, die ihren Verfall und das grausige Geschehen<br />
um sie herum um den Verstand brachte, wurden <strong>in</strong> die Irrenabteilung des Lagers gebracht. Als die<br />
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psychischen Zustände im Ghetto sich zu e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Chaos auszuweiten drohten, brachte<br />
der Rabb<strong>in</strong>er Erich We<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>e Mitgefangenen darauf, wieder <strong>in</strong> ihren früheren Berufen tätig zu<br />
se<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong>er drohenden Verelendung zu entgehen. Man nannte die Initiative „Freizeitgestaltung“.<br />
Nun begann <strong>in</strong> den meisten Lagern e<strong>in</strong>e große Betriebsamkeit: Vorträge wurden gehalten,<br />
Stimmbildung und Gesangsunterricht gegeben, Theater- und Chorproben angesetzt, Schach- und<br />
Sportgruppen bildeten sich. In sogenannten „bunten Abenden“ gab es Rezitationen und Lieder.<br />
Später gründeten sich Streichquartette und Kammermusikvere<strong>in</strong>igungen. Man führte Opern auf (mit<br />
Klavierbegleitung und zunächst noch konzertant), und: Es bildeten sich mehrere <strong>Kabarett</strong>-<br />
Formationen.<br />
Zuerst geschah alles geheim, die Veranstaltungen nannten sich „Kameradschaftsabende“. Bei<br />
Konzerten war jeder Applaus verboten, am E<strong>in</strong>gang hielten Wachen Ausschau, um gegebenenfalls<br />
die Veranstaltungen sofort abzubrechen. Denn zunächst waren Musik<strong>in</strong>strumente im Ghetto<br />
strengstens verboten. Doch aufhalten ließ sich die allgeme<strong>in</strong>e künstlerische Betriebsamkeit<br />
dadurch nicht.- es war, als hätte die Kunst den Gefangenen ihre Identität zurückgegeben, auch<br />
wenn diese „Normalität“ Fassade war, e<strong>in</strong>e brüchige zudem; denn immer musste man mit<br />
Transporten rechnen, die Todeslisten waren schon geschrieben.<br />
Später wurden die Kunstausübungen geduldet und dann sogar gefördert. Seit der<br />
Wannseekonferenz zur „Endlösung“ mussten die braunen Machthaber aus dem Ausland<br />
Interventionen befürchten. So konnte man die mannigfaltigen künstlerischen Betätigungen der<br />
Häftl<strong>in</strong>ge als Propaganda-Trick umfunktionieren. <strong>Theresienstadt</strong> wurde zum „Vorzugslager“<br />
deklariert, und alle Welt sollte sehen, wie gut es der jüdischen Prom<strong>in</strong>enz hier g<strong>in</strong>g. Gerüchte um<br />
die immer perfekter funktionierende Vernichtungs<strong>in</strong>dustrie sollten im Keim erstickt werden.<br />
Mit immer neuen Transporten vergrößerte sich auch der Bestand der Bibliothek von Büchern und<br />
Noten. Der Bestand der „Ghettobücherei“ belief sich am Ende auf be<strong>in</strong>ahe 200 000 Bände. Dies ist<br />
ke<strong>in</strong> Wunder, denn der größte Teil stammte aus geraubtem Besitz jüdischer Institutionen und<br />
Privatleute. Ältere Neuankömml<strong>in</strong>ge, denen mit dem makaber-euphämistischen Namen<br />
„Theresienbad“ die Existenz e<strong>in</strong>er Altersresidenz vorgegaukelt wurde, brachten häufig ihre<br />
Bibliotheken mit, die ihnen sofort abgenommen wurden. Schriften überPhilosophie und Geschichte<br />
waren vertreten, e<strong>in</strong>e große Menge Hebraica, aber auch landwirtschaftliche, mediz<strong>in</strong>ische und<br />
sonstige Fachliteratur, Kochbücher und besonders stark vertreten late<strong>in</strong>ische und altgriechische<br />
Schriftsteller.<br />
Hatten die Musiker im Ghetto sich anfangs noch mühsam Bruchstücke ihrer Standardwerke<br />
zusammenklauben, hatten Sänger<strong>in</strong>nen und Sänger sich zunächst noch auswendig ihres<br />
Repertoires er<strong>in</strong>nern müssen, so waren <strong>in</strong> den späteren Jahren fast alles da, was das Herz<br />
begehrte: Klavierauszüge zu Opern und Operetten, zudem Werke, die im Reich auf dem Index<br />
stammten, wie z.B. „Elias“ von Mendelssohn-Bartholdy.<br />
Der Dirigent Raffael Schächter konnte mit se<strong>in</strong>em Chor mehrmals das Requiem von G. Verdi<br />
aufführen. Er musste den Chor mehrmals neu aufbauen, da die Mitglieder nach der Aufführung<br />
nach Auschwitz <strong>in</strong> die Gaskammern geschickt wurden.<br />
Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass jene Menschen, die am Tage harte<br />
Zwangsarbeit zu verrichten hatten, unterernährt und krank, dabei immer die Angst im Nacken, am<br />
nächsten Morgen auf „Transport <strong>in</strong> den Osten“ (wie man die grausige Wirklichkeit verschleiernd<br />
sagte) geschickt zu werden, die Kraft und Energie aufbrachten, am Abend Proben abzuhalten,<br />
Rollen und Texte zu lernen, um für e<strong>in</strong> paar Stunden ihre Wirklichkeit zu vergessen.<br />
Viktor Ullmann, der von jeglicher Zwangsarbeit befreit war, erlebte die produktivste Zeit se<strong>in</strong>es<br />
kurzen Lebens. Welch bittere Ironie des Schicksals. Hören wir heute se<strong>in</strong>e Werke und die der<br />
anderen wie Pavel Haas, Hans Krasa oder Gideon Kle<strong>in</strong> (der auch e<strong>in</strong> grandioser Pianist war), so<br />
kann man sich schwer vorstellen, unter welch unmenschlichen Bed<strong>in</strong>gungen sie entstanden.<br />
Wie es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>wesen von Künstlern aller Sparten zugeht, kennt man aus der Normalität<br />
freier Lebensformen. Da gibt es Neid, Eifersucht, Intrigen. Man gönnt dem Kollegen den Erfolg nur<br />
sehr schwer. Makabererweise war dies <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong> nicht viel anders. Auch Spannungen unter<br />
den verschiedenen Nationalitäten blieben nicht aus. Diese leider unvermeidlichen menschlichen<br />
Schwächen wurden immer wieder <strong>in</strong> den <strong>Kabarett</strong>-Programmen aufs Korn genommen. Wir hören<br />
dies am besten im Lied „von den Ochsen“ von Manfred Greiffenhagen und Mart<strong>in</strong> Roman.<br />
4
Erschütternd, wie sie vone<strong>in</strong>ander reden,<br />
Wie man sich hier noch nach Nationen trennt,<br />
Um ausgerechnet sich noch zu befehden<br />
In e<strong>in</strong>er Stadt die sich e<strong>in</strong> Ghetto nennt.<br />
Das traf, und der Schluss des Liedes schließlich:<br />
Denn Juden, und nur Juden, s<strong>in</strong>d wir alle,<br />
So wie die Ochsen alle Ochsen s<strong>in</strong>d.<br />
war starker Tobak für die Zuhörer. Andere Texte beschrieben e<strong>in</strong> anderes tägliches Übel:<br />
Das miserable Essen, die „Menage“, bei der sich die Lager<strong>in</strong>sassen mit ihrem Blechnapf<br />
(„Eßschuß“) für e<strong>in</strong>e Wassersuppe anstellen mussten. Wenn man ganz großes Glück hatte, konnte<br />
man sich e<strong>in</strong> zweites Mal anstellen, um noch e<strong>in</strong> paar Reste, e<strong>in</strong>en Nachschlag („Nachschub“) zu<br />
bekommen. Wenn <strong>in</strong> der Wassersuppe nicht nur Kartoffelschalen, sondern sogar noch e<strong>in</strong>e<br />
Kartoffel schwamm, war man gut dran. Der tägliche Hunger ist immer wieder Thema <strong>in</strong> den<br />
<strong>Kabarett</strong>s, und: das allgegenwärtige Ungeziefer.<br />
Hört man die Texte über die alltäglichen Missstände im Ghetto und erlebt sie <strong>in</strong> ihrer<br />
schlagergemäßen Leichtfertigkeit, <strong>in</strong> ihrem geschliffenen Chanson-Stil, so stellt sich etwas e<strong>in</strong>, was<br />
man nur sehr unvollkommen mit „doppeltem Boden“ bezeichnen kann. E<strong>in</strong> Versuch der Erklärung:<br />
Hören wir <strong>in</strong> Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ den Dialog des Overall mit se<strong>in</strong>em<br />
„Lautsprecher“:<br />
Die E<strong>in</strong>wohner s<strong>in</strong>d tot. Leichen wurden der Verwertungsanstalt übergeben<br />
So lässt der Text an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sicherlich waren e<strong>in</strong>ige Ausführende<br />
während der Probe an der Oper nicht e<strong>in</strong>verstanden, entweder weil sie die grausige Wirklichkeit<br />
nicht wahrhaben wollten, oder weil sie Angst vor Sanktionen seitens der Nazis hatten. Es gibt <strong>in</strong> der<br />
Orig<strong>in</strong>alpartitur e<strong>in</strong>e Menge von Textänderungen, die von e<strong>in</strong>em diesbezüglichen Disput zeugen<br />
mögen.<br />
Deutliche Worte an die real existierende Diktatur und ihre menschenverachtende Willkür darf man<br />
bei den <strong>Kabarett</strong>-Texten nicht erwarten. Die <strong>Kabarett</strong>s <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong> hatten zu allererst die<br />
Funktion, die Zuhörer zu unterhalten, aufzumuntern und an schönere Tage zu er<strong>in</strong>nern.<br />
Drunt´ im Prater ist e<strong>in</strong> Platzerl, r<strong>in</strong>gs die Bäume decken´s zu<br />
Und dort hab ich mit mei´m Schatzerl alle Tag e<strong>in</strong> Rendezvous<br />
E<strong>in</strong> Durchhaltelied, noch dazu im beschw<strong>in</strong>gten Walzertakt? Vielleicht, doch nur an der Oberfläche,<br />
die zweite Strophe br<strong>in</strong>gt das schöne Gebäude gefährlich <strong>in</strong>s Wanken:<br />
Dann kam die Reise ohne Kosten, zu der man uns gezwungen hat,<br />
nun bist du irgendwo im Osten und ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>…<br />
Der wieder e<strong>in</strong>setzende Walzer-Refra<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>t nun schal und wie das berühmte Pfeifen im Wald,<br />
um se<strong>in</strong>e Ängste zu vertreiben, der „doppelte Boden“.<br />
Noch klarer tritt das Spannungsfeld e<strong>in</strong>er oberflächlich-beschw<strong>in</strong>gten Gebrauchsmusik <strong>in</strong> nahezu<br />
gespenstischer Symbiose zu e<strong>in</strong>em h<strong>in</strong>tergründigen Text zutage wie diesem:<br />
Ich kenn e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Städtchen, e<strong>in</strong> Städtchen ganz tiptop,<br />
Ich nenn es nicht beim Namen, ich nenn die Stadt Als-ob.<br />
Nicht alle Leute dürfen <strong>in</strong> diese Stadt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>,<br />
Es müssen Auserwählte der Als-ob-Rasse se<strong>in</strong>.<br />
Die Wiener Gassenhauer-Polka wird zum Wiener „Schmäh“, zur kle<strong>in</strong>en, aber ganz geme<strong>in</strong>en<br />
Fratze. Das ist große Kunst, die da so h<strong>in</strong>tertückisch daherkommt, dechiffrierbar nur für den, der es<br />
will, für uns heute aber noch um e<strong>in</strong>iges beklemmender als se<strong>in</strong>erzeit <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>.<br />
M<strong>in</strong>destens fünf <strong>Kabarett</strong>-Gruppen gab es <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>. Das tschechische von Karel Svenk,<br />
die deutschsprachigen von Leo Strauß / Kurt Gerron und das von Hans Hofer waren wohl die<br />
5
edeutendsten. Karel Svenk konnte sich die klarsten Satiren leisten, weil der Lagerkommandant<br />
und se<strong>in</strong>e Helfershelfer der tschechischen Sprache nicht mächtig waren. Leo Strauß war der<br />
Meister der Satiren zwischen den Zeilen aber auch der deutlichsten Klage.<br />
Schlimm ist es für uns gekommen, ganz verstört ist nun me<strong>in</strong> S<strong>in</strong>n,<br />
Dich hat man mir fortgenommen, und ich weiß nicht mal woh<strong>in</strong>.<br />
Die stilistischen Übergänge der <strong>Kabarett</strong>beiträge waren fließend. Das Parodiepr<strong>in</strong>zip mit deutlichem<br />
Wiedererkennungseffekt, typisches <strong>Kabarett</strong>mittel<br />
Ja wir <strong>in</strong> Terezín, wir nehmen´s Leben sehr leicht h<strong>in</strong>,<br />
Denn wenn es anders wär, wärs e<strong>in</strong> Malheur…<br />
auf die Melodie von „Komm mit nach Varasd<strong>in</strong>“ von Emmerich Kálmán, gab es ebenso wie<br />
harmlose und sentimentale Er<strong>in</strong>nerungslieder. Schließlich Lieder, die den e<strong>in</strong>zigen S<strong>in</strong>n hatten, die<br />
Zuhörer zum Lachen zu br<strong>in</strong>gen. Für die Ausführenden wie für das Publikum war dies Balsam und<br />
Seelenmassage, man kann auch sagen: e<strong>in</strong>e Stunde Verdrängung der grausigen Wirklichkeit.<br />
Es wurde schon erwähnt, dass die ermordeten und über vierzig Jahre totgeschwiegenen<br />
Komponisten der sogenannten „E-Musik“ nun endlich wieder e<strong>in</strong>e Stimme bekommen haben, dass<br />
sie bekannte Musikliteratur des 20. Jahrhunderts geworden s<strong>in</strong>d. Die Stimme der „U-Musik“ und der<br />
<strong>Kabarett</strong>autoren s<strong>in</strong>d – wenn überhaupt - nur sehr spärlich zu vernehmen. Das liegt e<strong>in</strong>mal daran,<br />
dass die seriöse Musikwissenschaft stets weniger Interesse an ihnen hat, zum anderen, dass es<br />
von ihnen weit weniger erhaltene Aufzeichnungen gibt, die oftmals nur durch Vors<strong>in</strong>gen noch<br />
lebender Zeitzeugen niedergeschrieben werden konnten. Das meiste aber muss wohl als<br />
unwiederbr<strong>in</strong>glich verloren gelten. Umso wertvoller s<strong>in</strong>d die wenigen Zeugnisse, besonders die<br />
Gedichte e<strong>in</strong>es Leo Strauß und Manfred Greiffenhagen, die Melodien und Klaviersätze von Mart<strong>in</strong><br />
Roman.<br />
1986 kam die Sammlung von Chansons und Satiren aus dem KZ <strong>Theresienstadt</strong> von Ulrike Migdal<br />
unter dem Titel „Und die Musik spielt dazu“ heraus. Es ist das noch immer gültige Kompendium<br />
über dies Thema. 1990 produzierte der Hessische Rundfunk e<strong>in</strong>e Sendung „Totentanz – <strong>Kabarett</strong><br />
h<strong>in</strong>ter Stacheldraht“. seit 2000 gibt es sie zusammen mit der CD „Totentanz – <strong>Kabarett</strong> im KZ“ im<br />
Handel. Auf der DVD sehen wir viele –damals noch lebende- Zeitzeugen, unter ihnen auch Mart<strong>in</strong><br />
Roman und hören sie über ihre Zeit <strong>in</strong><strong>Theresienstadt</strong> sprechen. Man fragt sich unwillkürlich: Warum<br />
erst jetzt? Nach 55 Jahren?<br />
Zwei Beispiele mögen diese Frage exemplarisch beantworten:<br />
Ilse Weber, von der wir heute 4 Texte, bzw. 3 Lieder hören können, ist erst jetzt überhaupt <strong>in</strong>s<br />
Blickfeld des Interesses gerückt, da ihr Sohn Hanus Weber, der den Holocaust überlebte, sich erst<br />
jetzt im Stande sah, die Dokumente herauszugeben.<br />
Paul Aron Sandfort, der im Alter von 10 Jahren <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong> bei verschiedenen Orchestern<br />
Trompete spielte, trat erst nach 50 Jahren mit se<strong>in</strong>er Autobiografie „Ben, Vogel aus der Fremde“<br />
aus se<strong>in</strong>em selbst auferlegten, verdrängenden Schweigen heraus. Mit 74 Jahren begann er zu<br />
komponieren, um die Schreckensbilder als se<strong>in</strong> eigenes Memento der Nachwelt zu h<strong>in</strong>terlassen.<br />
Nehmen wir die ausgestreckte Hand und br<strong>in</strong>gen die stummen Zeugnisse zum Kl<strong>in</strong>gen, gegen allen<br />
Zeitgeist, der immer glauben machen will, wir wüssten schon alles! In Wahrheit wissen wir so gut<br />
wie nichts.<br />
W<strong>in</strong>fried Radeke<br />
6
Ich wandre durch <strong>Theresienstadt</strong><br />
Ich wandre durch <strong>Theresienstadt</strong><br />
Das Herz so schwer wie Blei.<br />
Bis jäh me<strong>in</strong> Weg e<strong>in</strong> Ende hat,<br />
Dort knapp an der Bastei.<br />
Dort bleib ich auf der Brücke stehn<br />
Und schau <strong>in</strong>s Tal h<strong>in</strong>aus:<br />
Ich möcht so gerne weiter gehen<br />
Ich möcht so gern nach Haus!<br />
Ich wende mich betrübt und matt,<br />
So schwer wird mir dabei:<br />
<strong>Theresienstadt</strong>, <strong>Theresienstadt</strong>,<br />
Wann wohl das Lied e<strong>in</strong> Ende hat,<br />
Wann s<strong>in</strong>d wir wieder frei?<br />
Und die Musik spielt dazu<br />
Ich liebe <strong>in</strong>fernalisch<br />
Alle, die sehr musikalisch,<br />
Denn die Musik beglückt, berückt, entzückt<br />
Selbst das Herz des Bösewichts.<br />
Doch zur Hölle wird sie schnelle,<br />
Ist zur Stelle die Kapelle,<br />
Und ich zitier den Shakespeare hier,<br />
Und zwar: Viel Lärm um Nichts.<br />
Der E<strong>in</strong>satz ist geme<strong>in</strong>sam,<br />
Der Dirigent setzt e<strong>in</strong>,<br />
Am Schluß da steht er e<strong>in</strong>sam,<br />
Dirigiert für sich alle<strong>in</strong>:<br />
Refra<strong>in</strong>: Und das Publikum, das steht herum,<br />
Die Trommel macht tsch<strong>in</strong> tsch<strong>in</strong>-bum bum.<br />
E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d, das schreit: lulu,<br />
Und die Musik spielt dazu.<br />
Das Bombardon, das Helikon, das Saxophon, das Akkordeon,<br />
Mit Anstand hält man Takt,<br />
Denn das gehört zum guten Ton.<br />
Am letzten Loch, da pfeift man doch<br />
Und man gibt noch<br />
Ka Ruh,<br />
Und die Musik spielt dazu.<br />
Ob Meyerbeer, ob Mozart,<br />
Bei uns kl<strong>in</strong>gt alles so zart,<br />
Denn das Forte ist <strong>in</strong> diesem Orte streng verpönt.<br />
Obwohl Musik hier chronisch,<br />
Leben viele disharmonisch,<br />
Sie haben ans Zusammenspieln sich leider nicht gewöhnt.<br />
Denn alle wolln hier zeigen:<br />
Sie spieln die ersten Geigen,<br />
E<strong>in</strong> jeder ist hier Dirigent,<br />
Zum<strong>in</strong>dest prom<strong>in</strong>ent.<br />
Refra<strong>in</strong>: Und das Publikum, das steh herum…<br />
Walter L<strong>in</strong>denbaum war Texter <strong>in</strong> den Revuen von Hans Hofer, <strong>in</strong> Auschwitz ermordet.<br />
Fred Raymond, von den Nazis als „arischer“ Operettenkomponist gefördert, schrieb den<br />
gleichnamigen Titel für se<strong>in</strong>e Operette„Saison <strong>in</strong> Salzburg“ – Das Lied ist e<strong>in</strong>e Parodie darauf<br />
7
Dank dem lieben Cabaret Text: Frieda Rosenthal - Lebensdaten unbekannt<br />
Als ob<br />
Ich kenn e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Städtchen,<br />
E<strong>in</strong> Städtchen ganz tiptop,<br />
Ich nenn es nicht beim Namen,<br />
Ich nenns: die Stadt Als-ob.<br />
Nicht alle Leute dürfen<br />
In diese Stadt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>,<br />
Es müssen Auserwählte<br />
Der Als-ob-Rasse se<strong>in</strong>.<br />
Sie leben dort ihr Leben,<br />
Als obs e<strong>in</strong> Leben wär,<br />
Und freun sich mit Gerüchten,<br />
Als obs die Wahrheit wär.<br />
Die Menschen auf den Straßen,<br />
Die laufen im Galopp –<br />
Wenn man auch nichts zu tun hat,<br />
Tut man doch so als ob.<br />
Es gibt auch e<strong>in</strong> Kaffeehaus<br />
Gleich dem Café de l´Europe,<br />
Und bei Musikbegleitung<br />
Fühlt man sich dort als ob.<br />
Und mancher ist mit manchem<br />
Auch manchmal ziemlich grob –<br />
Daheim war er ke<strong>in</strong> Großer,<br />
Hier macht er so als ob.<br />
Des Morgens und des Abends<br />
Tr<strong>in</strong>kt man Als-ob-Kaffee,<br />
Am Samstag, ja am Samstag,<br />
Da gibt’s Als-ob-Haché.<br />
Man stellt sich an um Suppe,<br />
Als ob da etwas dr<strong>in</strong>,<br />
Und man genießt die Dorsche (= Kohlstrunk)<br />
Als Als-ob-Vitam<strong>in</strong>.<br />
Man legt sich auf den Boden,<br />
Als ob das wär e<strong>in</strong> Bett,<br />
Man denkt an se<strong>in</strong>e Lieben,<br />
Als ob man Nachricht hätt.<br />
Man trägt das schwere Schicksal<br />
Als ob es nicht so schwer,<br />
Und spricht von schönrer Zukunft,<br />
Als obs schon morgen wär.<br />
Leo Strauss war e<strong>in</strong>er der bekanntesten Texter <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>. Er hatte e<strong>in</strong> eigenes <strong>Kabarett</strong><br />
und trat auch im „Karussell“ von Kurt Gerron auf. 1944 wurde er mir se<strong>in</strong>er Frau Myra <strong>in</strong><br />
Auschwitz ermordet.<br />
Alexander Ste<strong>in</strong>brecher war Komponist und Kapellmeister beim Wiener Burgtheater. Das<br />
Orig<strong>in</strong>al des hier parodierten Stückes war bislang nicht zu ermitteln.<br />
Terezín-Lied<br />
Ich bitte nicht lachen Sie über die Sachen,<br />
Die täglich mir hier oft passiern,<br />
Die Öfen, die Löcher, die Stühlchen, die Dächer,<br />
Mich kann das aber gar nicht mehr geniern.<br />
Ich f<strong>in</strong>d es entsetzlich, wenn jemand so plötzlich<br />
So stürmisch ´nen Redeschwall lässt los,<br />
8
Gespart wird da mit Worten nicht, mit zarten,<br />
Es kann halt niemand warten,<br />
Wenns auch e<strong>in</strong> Uns<strong>in</strong>n bloß.<br />
Ja das geht nicht, so mancher es versteht nicht,<br />
Ich hör nur zu und red nicht<br />
Und sage nur:<br />
Refra<strong>in</strong>: Ja wir <strong>in</strong> Terzín,<br />
Wir nehmen´s Leben sehr leicht h<strong>in</strong>,<br />
Denn wenn es anders wär,<br />
Wärs e<strong>in</strong> Malheur.<br />
Es gibt hier schöne Fraun,<br />
E<strong>in</strong> Vergnügen sie anzuschaun,<br />
Drum nehm ganz gern ich h<strong>in</strong><br />
T e r e z í n.<br />
B<strong>in</strong> frei von jeder Schuld<br />
Und habe deshalb viel Geduld,<br />
Wenn <strong>in</strong> der Brust das Herz auch voller Sehnsucht ist,<br />
Ja wir <strong>in</strong> Terezín,<br />
Wir nehmen´s Leben sehr leicht h<strong>in</strong><br />
Und lieben unser kle<strong>in</strong>es Terezín.<br />
Sollt ich hier mal sterben, wird man nach mir erben<br />
Die Garderobe und das Ghettogeld,<br />
Ich rausch durch den Äther, begrüß me<strong>in</strong>e Väter<br />
Und b<strong>in</strong> schon nicht mehr hier auf dieser Welt.<br />
Erzähl me<strong>in</strong>en Lieben, was ich hier getrieben,<br />
Wie e<strong>in</strong>fach wir gelebt ganz ohne Frag,<br />
Bei Kaffee, bei Rübe und bei Suppe,<br />
Bei Fleisch nur durch die Lupe,<br />
Und das fast jeden Tag,<br />
Auch Knödl mit Creme vom süßen Mädel,<br />
Von Hunger ke<strong>in</strong>e Spur, da sagt ich nur:<br />
Refra<strong>in</strong>: Ja wir <strong>in</strong> Terezín…<br />
Textautor unbekannt<br />
Emmerich Kálmán schrieb se<strong>in</strong>e Operette „Gräf<strong>in</strong> Mariza“ 1924. Die bekannte Melodie daraus:<br />
„Komm mit nach Varasd<strong>in</strong>“ wurde für das Terezín-Lied verwendet.<br />
Auf Wiedersehn, Herr Fröhlich, auf Wiedersehn, Herr Schön…<br />
Grundlage ist e<strong>in</strong>e beliebte Nummer von Franz Engel und Fritz Wiesenthal aus den 30er Jahren.<br />
Wiesenthal starb 1937. Im holländischen Zwischenlager Westerbork wurden die Nummern von<br />
Franz Engel und Max Ehrlich fortgeführt, ebenso <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>. Franz Engel und Max<br />
Ehrlich wurden 1944 <strong>in</strong> Auschwitz ermordet.<br />
Die Ochsen<br />
Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten,<br />
Ke<strong>in</strong> Tag vergeht, an dem man Euch nicht sieht.<br />
Wie Ihr den Wagen, me<strong>in</strong>e guten alten,<br />
Bedächt´gen Schrittes durch die Straßen zieht.<br />
Ich seh, wie Ihr uns Menschen hier betrachtet,<br />
In unserm Kle<strong>in</strong>mut, unsrem Hass und Streit,<br />
Und weiß genau, wie sehr Ihr uns verachtet,<br />
Im Herzen froh, dass Ihr zwei Ochsen seid.<br />
Wenn sich die Leute zanken hier und boxen,<br />
Ihr bleibt zufrieden, ruhig stets und satt,<br />
Darum seid Ihr für mich, Ihr beiden Ochsen,<br />
Die klügsten Wesen <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>.<br />
9
Es kennt e<strong>in</strong> jeder von uns die Gerüchte,<br />
Von denen ke<strong>in</strong>s den Menschen hier zu dumm,<br />
E<strong>in</strong> jeder sagt dem andern die Geschichte,<br />
So ist es <strong>in</strong> der ganzen Stadt bald rum.<br />
So etwas Tolles hört ich diese Tage,<br />
Als ich Euch traf auf dem Kasernenhof,<br />
Ich bat um De<strong>in</strong>e Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> der Frage,<br />
Da sagtest Du, me<strong>in</strong> alter Philosoph:<br />
„Das R<strong>in</strong>dvieh hat Gefühl fürs Paradoxe,<br />
Ihr Menschen seht und hört nur alles halb,<br />
Das glaubt bei uns nicht mal der größte Ochse,<br />
Darüber lacht das allerkle<strong>in</strong>ste Kalb“.<br />
Der Mensch muss essen, das verlangt se<strong>in</strong> Magen,<br />
Doch hier ist die Ernährung e<strong>in</strong> Problem,<br />
Und hört er mittags se<strong>in</strong>e Stunde schlagen,<br />
Dann ist der Weg zur Küche nicht bequem.<br />
Unwiderstehlich zieht es zur Menage<br />
Die Menschen oft zu eigenem Verdruss,<br />
Und gar zu häufig kommt man dort <strong>in</strong> Rage,<br />
Wenn man so furchtbar lange warten muss.<br />
Ihr werdet gut bedient, <strong>in</strong> Euren Boxen<br />
Wird Euch das Essen franco Haus serviert,<br />
Und draußen warten stundenlang wir Ochsen,<br />
Wer von uns hat nun richtig disponiert?<br />
Ihr hört die Menschen hier verschieden sprechen,<br />
Nicht <strong>in</strong> der Mundart nur, auch nach dem S<strong>in</strong>n,<br />
Die Holländer, die Dänen und die Tschechen<br />
Und deutsch aus Prag, aus Wien und aus Berl<strong>in</strong>.<br />
Erschütternd, wie sie vone<strong>in</strong>ander reden,<br />
Wie man sich hier noch nach Nationen trennt,<br />
Um ausgerechnet sich noch zu befehden,<br />
In e<strong>in</strong>er Stadt, die sich e<strong>in</strong> Ghetto nennt.<br />
In diesem und speziell <strong>in</strong> diesem Falle,<br />
Gibt´s ke<strong>in</strong>en Unterschied bei Mensch und R<strong>in</strong>d;<br />
Denn Juden, und nur Juden, s<strong>in</strong>d wir alle,<br />
So wie die Ochsen – alle Ochsen s<strong>in</strong>d!<br />
Manfred Greiffenhagen – neben Leo Strauss e<strong>in</strong>er der hervorragenden Autoren des Lager-<br />
<strong>Kabarett</strong>s – wurde 1944 nach Auschwitz deportiert, starb 1945 im KZ Dachau<br />
Mart<strong>in</strong> Roman war <strong>in</strong> den 30er Jahren Pianist bei den We<strong>in</strong>traub Syncopaters und im Orchester<br />
Marek Weber. In <strong>Theresienstadt</strong> komponierte und spielte er für das Hofer-<strong>Kabarett</strong>, das<br />
„Karussell“ und übernahm er die Leitung der „Ghetto-Sw<strong>in</strong>gers“. 1944 kam er nach Auschwitz.<br />
Nach se<strong>in</strong>er Befreiung emigrierte er <strong>in</strong> die USA.<br />
Gib mir bald e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Lebenszeichen (Auszüge) Text: Leo Strauss<br />
Ich weiß bestimmt, ich werd dich wiedersehn<br />
Als ich Dich gesehn zum ersten Mal,<br />
War ich gebannt von De<strong>in</strong>em Blick,<br />
Und De<strong>in</strong> Lächeln schien mir wie e<strong>in</strong> Strahl<br />
Von Sonn und von Glück,<br />
Und ich suchte De<strong>in</strong>e Nähe,<br />
G<strong>in</strong>gst Du auch an mir vorbei,<br />
Fühlte mich so reich<br />
Und ich ahnte gleich:<br />
Bald lacht uns e<strong>in</strong> Lebensmai.<br />
10
Refra<strong>in</strong>: Ich weiß bestimmt, ich werd Dich wiedersehn<br />
Und <strong>in</strong> die Arme schließen,<br />
Und alles jauchzt <strong>in</strong> mir, wie wird das schön,<br />
Dich immerfort zu küssen.<br />
Was früher war, das ist versunken und vergessen,<br />
Ke<strong>in</strong> Schatten trübt der Sonne Sche<strong>in</strong>.<br />
Wer kann dann unser Glück ermessen,<br />
Und immer will ich bei Dir se<strong>in</strong>.<br />
Doch das Schicksal riss Dich fort von mir<br />
Weit über Länder und das Meer,<br />
Und nun liegen zwischen mir und Dir<br />
Viel Jahre sorgenschwer.<br />
Doch mich macht die tiefe Sehnsucht,<br />
Die ich nach Dir fühlt, nicht müd.<br />
Ich hab Tag und Nacht<br />
Nur an Dich gedacht,<br />
Und es s<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> mir das Lied:<br />
Refra<strong>in</strong>: Ich weiß bestimmt, ich werd Dich wiedersehn…<br />
Drunt´ im Prater<br />
Wenn andre Leut´ auf Urlaub reisen<br />
In e<strong>in</strong> Gebirge, an die See,<br />
Ich konnte mir das niemals leisten,<br />
Zu schmal war stets me<strong>in</strong> Portemonnaie..<br />
Doch kamen heim sie von der Reise<br />
Und schwärmten von der schönen Tour,<br />
Dann sagte ich zu ihnen leise:<br />
In Wien gibt’s schließlich auch Natur.<br />
Drunt´ im Prater ist e<strong>in</strong> Platzerl,<br />
R<strong>in</strong>gs die Bäume decken´s zu,<br />
Und dort hab ich mit meim Schatzerl<br />
Alle Tage Rendezvous.<br />
Auf der kle<strong>in</strong>en Praterwiese<br />
Träumen wir zu zweit alle<strong>in</strong><br />
Und es könnt im Paradiese<br />
Sicherlich nicht schöner se<strong>in</strong>.<br />
Leise kl<strong>in</strong>gt Musik herüber<br />
Und die Luft ist leicht und warm<br />
Und die Wolken ziehn vorüber<br />
Und du hältst mich fest im Arm.<br />
Drunt´ im Prater…<br />
Dann kam die Reise ohne Kosten,<br />
Zu der man uns gezwungen hat,<br />
Nun bist du irgendwo im Osten,<br />
Und ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>.<br />
Doch Träume kennen ke<strong>in</strong>e Schranken,<br />
Ich schwor dir, als ich Abschied nahm,<br />
Ich treff dich täglich <strong>in</strong> Gedanken,<br />
Dort, wo das Glück e<strong>in</strong>st zu mir kam.<br />
Drunt´ im Prater…<br />
Ludwig Hift war Autor der Hofer-. und der Morgan-Revuen <strong>in</strong><br />
<strong>Theresienstadt</strong>. Lebensdaten unbekannt.<br />
Adolf Strauss Komponist, Pianist und Dirigent <strong>in</strong> Brüx-Bux und<br />
Leipzig. Er wurde 1944 <strong>in</strong> Auschwitz ermordet.<br />
Die Lebensdaten des Komponisten Otto Skutecki s<strong>in</strong>d bisher nicht<br />
ermittelt. Wahrsche<strong>in</strong>lich wurde er <strong>in</strong> Auschwitz ermordet.<br />
11
Und der Regen r<strong>in</strong>nt<br />
Und der Regen r<strong>in</strong>nt, und der Regen r<strong>in</strong>nt,<br />
Ich denk im Dunkeln an dich, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d.<br />
Hoch s<strong>in</strong>d die Berge und tief ist das Meer,<br />
Me<strong>in</strong> Herz ist müd und sehnsuchtsschwer.<br />
Und der Regen r<strong>in</strong>nt, und der Regen r<strong>in</strong>nt…<br />
Warum bist du so fern, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d?<br />
Und der Regen r<strong>in</strong>nt, und der Regen r<strong>in</strong>nt,<br />
Gott selbst hat uns getrennt, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d.<br />
Du sollst nicht Leid und Elend sehn,<br />
Sollst nicht auf ste<strong>in</strong>igen Gassen gehn.<br />
Und der Regen r<strong>in</strong>nt, und der Regen r<strong>in</strong>nt…<br />
Warum bist du so fern, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d?<br />
Theresienstädter K<strong>in</strong>derreim Text: Ilse Weber<br />
Wiegala<br />
Wiegala, wiegala, weier,<br />
Der W<strong>in</strong>d spielt auf der Leier.<br />
Er spielt so süß im grünen Ried,<br />
Die Nachtigall, die s<strong>in</strong>gt ihr Lied.<br />
Wiegala, wiegala, weier,<br />
Der Mond spielt auf der Leier.<br />
Wiegala, wiegala, werne,<br />
Der Mond ist die Laterne,<br />
Er steht am dunklen Himmelszelt<br />
Und schaut hernieder auf die Welt.<br />
Wiegala, wigala, werne,<br />
der Mond ist die Laterne.<br />
Wiegala, wiegala, wille,<br />
Wie ist die Welt so stille.<br />
Es stört ke<strong>in</strong> Laut die süße Ruh,<br />
Schlaf, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dchen, schlaf auch du.<br />
Wiegala, wiegala, wille,<br />
Wie ist die Welt so stille.<br />
12<br />
Das Lied schrieb Ilse Weber für ihren ersten Sohn,<br />
Hanus, den sie noch kurz vor der Deportation zu<br />
Freunden nach Schweden schicken konnte.<br />
Ilse Weber schrieb vor ihrer Inhaftierung K<strong>in</strong>derbücher, Radiosendungen,<br />
Gedichte, Lieder und Theaterstücke. 1944 wurde sie mit ihrem Mann und ihrem<br />
zweiten Sohn Tommy <strong>in</strong> Auschwitz ermordet.<br />
Ohne Butter, ohne Eier, ohne Fett Text: Walter Ste<strong>in</strong>er – Lebensdaten unbekannt<br />
Ich muß sitzen<br />
Man hat mich geschafft,<br />
Ich muß <strong>in</strong> die Haft,<br />
Man hat mich bestraft, ich muß sitzen,<br />
Weil auch <strong>in</strong> der Nacht<br />
Die Obrigkeit wacht,<br />
Um Ruhe und Ordnung zu schützen.<br />
Es klopft an die Tür,<br />
Was machen Sie hier?<br />
Ich schlaf´, me<strong>in</strong>e Herren, ich schlafe!<br />
Was fällt Ihnen e<strong>in</strong>?<br />
Wie komm´n Sie hier re<strong>in</strong>?
Das kostet ´ne ganz schöne Strafe!<br />
Sie haben heut´ hier illegal genächtigt,<br />
Dazu waren Sie <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Fall berechtigt!<br />
Nachts zu sündigen, me<strong>in</strong> Herr, steht Ihnen frei,<br />
Aber wo Sie´s tun, bestimmt die Polizei!<br />
Das Unglück kam schnell,<br />
Ich wurd krim<strong>in</strong>ell,<br />
Was für mich e<strong>in</strong> neues Gefühl war.<br />
Und die Polizei<br />
Fragt mich, wer ich sei<br />
Und was früher ich <strong>in</strong> Civil war!<br />
Ich sah alles e<strong>in</strong>,<br />
Das darf ja nicht se<strong>in</strong>,<br />
Das Recht muß man stets unterstützen,<br />
Ich hatte die Wahl,<br />
Ob ich lieber bezahl,<br />
Sonst müsste ich schon dafür sitzen.<br />
Doch leider fehlte mir die halbe Summe,<br />
So erklärte ich den Herren: Gut, ich brumme,<br />
Steckt mich ruhig nur zwei Tage <strong>in</strong> Arrest,<br />
Schuldbeladen stell ich armer Sünder fest:<br />
Alles hat se<strong>in</strong>e Moral:<br />
Und darum auch me<strong>in</strong> Skandal:<br />
Ich b<strong>in</strong> gegen die Entwesung!<br />
Wozu macht man sich die Spesen,<br />
Ganze Straßen zu entwesen,<br />
Wozu schnürt man se<strong>in</strong>en Ranzen,<br />
Und kriegt anderswo die Wanzen?<br />
Ist entwest erst das Gebäude,<br />
Kommen dann zu uns´rer Freude<br />
Wieder Möbel zum Entwesen,<br />
Die bereits bewest gewesen!<br />
Jeder weiß dann nach zwei Wochen:<br />
Frisch entwest ist halb zerstochen,<br />
Und man sagt beim ersten Stich:<br />
Dieser Punkt ist wesentlich!<br />
Und ganz zerknirscht muß ich me<strong>in</strong> Urteil lesen<br />
Für das Delikt <strong>in</strong> der bewussten Nacht,<br />
Behüt´ Dich Gott, schön wäre das Entwesen,<br />
Wenn man davon nicht soviel Wesen macht!<br />
Karussell<br />
In den lang entschwundnen Jahren,<br />
Da wir kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der waren,<br />
Hatten wir e<strong>in</strong> Ideal.<br />
Wollt man Ruhe <strong>in</strong> der Wohnung<br />
Oder gab es als Belohnung<br />
E<strong>in</strong> Geschenk nach unsrer Wahl,<br />
Riefen alle K<strong>in</strong>der schnell:<br />
Karussell, ach bitte, bitte, Karussell…<br />
„Entwesung“ hieß <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong> die Unterabteilung Des<strong>in</strong>fektion im „Gesundheitswesen“.<br />
„Wesen“ steht hier für Ungeziefer, das vernichtet werden muss. Der Autor spielt auf brillante<br />
Weise mit dem Wort „Wesen“ <strong>in</strong> der <strong>in</strong>famen Def<strong>in</strong>ition des NS-Sprachgebrauchs. Trotz der<br />
Des<strong>in</strong>fektionen gab es im Ghetto Wanzen ohne Ende.<br />
Mart<strong>in</strong> Roman vertonte von der dritten Strophe nur die e<strong>in</strong>gerückten vier Zeilen. In der heutigen<br />
Version erkl<strong>in</strong>gen die 15 Zeilen der dritten Strophe anhand der Strophen 1 und 2 rekonstruiert.<br />
13
Refra<strong>in</strong>: Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />
Und werden im Kreise gedreht.<br />
Wir sehnen uns, schw<strong>in</strong>dlig zu werden,<br />
Bevor noch das R<strong>in</strong>gelspiel steht.<br />
Das ist e<strong>in</strong>e seltsame Reise,<br />
Das ist e<strong>in</strong>e Fahrt ohne Ziel –<br />
Wir kommen nicht fort aus dem Kreise<br />
Und dennoch erleben wir viel.<br />
Und die Musik vom Leierkasten<br />
Vergessen wir im Leben nie,<br />
Wenn lang die Bilder schon verblassten,<br />
Tönt noch im Ohr die Melodie:<br />
Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />
Und werden im Kreise gedreht.<br />
Wenn schw<strong>in</strong>dlig wir haltmachen werden,<br />
Dann wird man erst sehn, wo man steht.<br />
Leer ist meistenteils das Leben<br />
Und erst Leidenschaften geben<br />
Se<strong>in</strong>em Ablauf S<strong>in</strong>n und Wert.<br />
Ehrgeiz, Börse, Lotterbetten,<br />
K<strong>in</strong>o, Fußball, Zigaretten –<br />
Jeder hat se<strong>in</strong> Steckenpferd.<br />
Lasst uns unsre Sensation:<br />
Illusion, ach bitte, bitte, Illusion…<br />
Refra<strong>in</strong>: Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />
Und werden im Kreise gedreht.<br />
Wir sehnen uns, schw<strong>in</strong>dlig zu werden,<br />
Bevor noch das R<strong>in</strong>gelspiel steht.<br />
Menschen haben Ambitionen –<br />
Selbst wenn sie im Elend wohnen,<br />
Wollen sie was Bessres se<strong>in</strong>.<br />
Hat auch ke<strong>in</strong>er was zu reden,<br />
Ist doch e<strong>in</strong> Genuss für jeden,<br />
Mit noch Ärmeren zu schre<strong>in</strong>:<br />
Hört ihr das Gespensterlied:<br />
Unterschied, ach bitte, bitte, Unterschied…<br />
Refra<strong>in</strong>: Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />
Und werden im Kreise gedreht.<br />
Wir sehnen uns, schw<strong>in</strong>dlig zu werden,<br />
Bevor noch das R<strong>in</strong>gelspiel steht.<br />
Das ist e<strong>in</strong>e seltsame Reise,<br />
Das ist e<strong>in</strong>e Fahrt ohne Ziel –<br />
Wir kommen nicht fort aus dem Kreise<br />
Und dennoch erleben wir viel.<br />
Und die Musik vom Leierkasten<br />
Vergessen wir im Leben nie.<br />
Wenn lang die Bilder schon verblassten,<br />
Tönt noch im Ohr die Melodie:<br />
Wir reiten auf hölzernen Pferden<br />
Und werden im Kreise gedreht.<br />
Wenn schw<strong>in</strong>dlig wir haltmachen werden,<br />
Dann wird man erst sehn, wo man steht.<br />
Das Lied war „das“ Erkennungslied von Kurt Gerrons <strong>Kabarett</strong> „Karussell“.<br />
Das Zitat bei den Worten „Und die Musik vom Leierkasten“ ist der berühmte<br />
Walzer „Wiener Praterleben“ von Siegfried Translateur (1875-1944).<br />
Grausige Ironie des Schicksals: Der Komponist war als „Halbjude“ auch <strong>in</strong> <strong>Theresienstadt</strong>.<br />
14
Als 69jähriger wurde auch er <strong>in</strong> Auschwitz ermordet. Se<strong>in</strong> berühmter Walzer wurde <strong>in</strong><br />
den 20er Jahren <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zum „Sportpalast-Walzer“, den alle Berl<strong>in</strong>er kennen und noch<br />
immer pfeifen. Ob sie vom Schicksal ihres Schöpfers etwas wissen? Wohl kaum.<br />
Quellen:<br />
Ulrike Migdal: Und die Musik spielt dazu – Chansons und Satiren aus dem KZ <strong>Theresienstadt</strong> (Piper 1986)<br />
Volker Kühn: Deutschlands Erwachen – <strong>Kabarett</strong> unterm Hakenkreuz 1933-1945 (Quadriga)<br />
Volker Kühn: Texte zur CD „<strong>Kabarett</strong> im KZ“ (Edition Mnemosyne)<br />
Texte zur CD Bente Kahan – Stimmen aus <strong>Theresienstadt</strong>.<br />
Wir danken:<br />
Tilman Kannegießer vom Verlag Boosey & Hawkes für die Überlassung der Noten e<strong>in</strong>er geplanten Edition<br />
und David Bloch, „Terezín Music Memorial Projekt“, für se<strong>in</strong>e hilfreichen Informationen.<br />
15<br />
* * *<br />
Maria Thomaschke bekam bereits mit sechs Jahren Gesangsunterricht im K<strong>in</strong>derchor der<br />
Komischen Oper Berl<strong>in</strong>, dem sie 10 Jahre angehörte. Ihr Gesangsstudium schloss sie an der<br />
Musikhochschule Lübeck 2004 mit e<strong>in</strong>em Diplom ab.<br />
Sie war als Schauspieler<strong>in</strong> u.a. <strong>in</strong> Potsdam (Dreigroschenoper), Magdeburg<br />
(Sommernachtstraum, Bettleroper) und Leipzig (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern) tätig.<br />
Seit 2002 gibt sie regelmäßig Chanson-Abende.<br />
Im Bundeswettbewerb Gesang / Chanson erhielt sie 2003 den zweiten und 2005 den dritten Preis.<br />
Andreas Jocksch war von 1988 an lange Zeit Dauergast der Neuköllner Oper. Zunächst als<br />
Schauspieler (Amphitryon, Der Kaiser von Atlantis, Aurora) und schließlich, nach se<strong>in</strong>em<br />
Gesangsstudium an der „Hochschule für Musik Hanns Eisler“ auch als Sänger (Der e<strong>in</strong>gebildete<br />
Kranke, Krabat, Die Nacht des Cherub). 2003 sang er die Titelpartie <strong>in</strong> W.Radekes Oper Bracke<br />
sowie 2005 im Ensemble der Tanzoper Hautkopf.<br />
Neben zahlreichen Konzertauftritten war er Mitglied im Ensemble Weill (Mahagonny-Songspiel,<br />
Happy End) und im a-cappella-Ensemble Mäq.<br />
W<strong>in</strong>fried Radeke ist Komponist, Kapellmeister und Regisseur. Lange Jahre leitete er das Collegium<br />
Musicum der Berl<strong>in</strong>er Universitäten und die Chorwerkstatt Berl<strong>in</strong>. 1977 gründete er die Neuköllner<br />
Oper, deren Direktorium er als Künstlerischer Leiter 30 Jahre angehörte. 1989 löste se<strong>in</strong>e Fassung<br />
des Kaiser von Atlantis die spätere Gründung des Vere<strong>in</strong>s musica reanimata aus, <strong>in</strong> dessen Vorstand<br />
er tätig ist.Er schrieb u.a. 16 Opern, 3 Oratorien, e<strong>in</strong>e Symphonie, Chormusik, Lieder und<br />
K<strong>in</strong>derlieder, zu denen er auch die Texte verfasste, ferner zahlreiche Bearbeitungen.<br />
u.a. Deutscher Kritikerpreis, Bundesverdienstkreuz. Seit 2006 setzt er sich verstärkt bei den<br />
Gesprächskonzerten von musica reanimata e<strong>in</strong> (Paul Aron Sandfort, Ilse Weber, He<strong>in</strong>z Tiessen ).<br />
H<strong>in</strong>weis:<br />
Am Dienstag, 10. November 2009 können Sie im Deutschland Radio Kultur ab 21.05 e<strong>in</strong>en<br />
Mitschnitt e<strong>in</strong>es Gesprächskonzertes mit Texten und Liedern von Friedrich Hollaender und den<br />
Künstlern des heutigen Abends als Mitwirkenden hören. Gesprächsgast ist Volker Kühn.