Rosmarie Nüesch - Tüüfner Poscht
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HISTORISCHES<br />
Examens- oder Osterschriften aus Teufen<br />
Ein österlicher Bilderbogen aus der Ortskundlichen Sammlung Teufen und aus dem Museum Herisau.<br />
Thomas Fuchs<br />
Im Museum Herisau und in der Ortskundlichen<br />
Sammlung Teufen befindet sich eine<br />
schöne Anzahl Osterschriften, die von Teufner<br />
Schülerinnen und Schülern verfertigt<br />
wurden. Darunter ist mit einem Exemplar<br />
aus dem Jahre 1711 das älteste Zeugnis von<br />
Volksschule und -bildung im Appenzellerland.<br />
Ein Qualitätsstandard<br />
verkommt zum Ritual<br />
Die Prob- oder Examensschriften – später<br />
wurde der Begriff Osterschrift gebräuchlich<br />
– bildeten im Kanton Appenzell Ausserrhoden<br />
von etwa 1710 bis 1835 den Gradmesser<br />
für die Schulbildung. Jeweils auf das Examen<br />
am Schuljahresende hin konnten Schülerinnen<br />
und Schüler Proben ihrer Schreibfertigkeit<br />
einreichen. Auf Blättern mit vom Lehrer<br />
oder einem von ihm beauftragten Künstler<br />
gestalteten Anfangsbuchstaben und Titelzeilen<br />
mussten die Kinder einen eingeübten<br />
Text schön und fehlerfrei abschreiben und<br />
mit dem Alphabet und einer Zahlenreihe<br />
ergänzen. Der künstlerisch teils sehr aufwändigen<br />
Gestaltung verdanken wir es, dass<br />
TÜÜFNER POSCHT 3/2009<br />
viele dieser Schriften bis heute aufbewahrt<br />
wurden und dass sie als Antiquitäten geschätzt<br />
sind.<br />
Rund eine Woche vor Ostern wurden die<br />
Probschriften einer Expertenkommission<br />
zur Rangierung eingereicht. Jedes Kind, das<br />
ein Schreibstück ablieferte, erhielt von der<br />
Gemeinde einen Batzen. In einigen Orten<br />
wurde dieser am Abgabetag, in anderen am<br />
Ostermontag ausbezahlt. Man nannte diese<br />
Tage den Zahlmontag. Am Karfreitag oder<br />
Ostermontag wurden die Bewertungsresultate<br />
öffentlich bekannt gegeben und die Besten<br />
gefeiert, die Schlechtesten dem öffentlichen<br />
Spott preisgegeben. Gewertet wurde<br />
nur der ästhetische Eindruck der Examensschriften.<br />
Am Ostermontag standen ganz die Schulkinder<br />
im Zentrum der Aufmerksamkeit. In<br />
gewissen Gemeinden fanden Umzüge vom<br />
Schulhaus zur Kirche statt, an der Spitze die<br />
Kinder mit den schönsten Probschriften, zuhinterst<br />
die Schlechtesten, die «Sauen». In<br />
der Kirche ging die Examensfeier über die<br />
Bühne, an der jene mit den besten Schriften<br />
Gedichte vortrugen und an der alle gemeinsam<br />
Lieder sangen. Das Ostersingen bildet<br />
in verschiedenen Gemeinden noch ein Relikt<br />
davon. Am Nachmittag durften die Kinder<br />
mit ihren Examensschriften von Haus zu<br />
Haus ziehen und um Spenden betteln. Ärmeren<br />
erlaubten diese Einnahmen manchmal,<br />
ausstehende Schulgeldschulden zu begleichen<br />
oder Schulbücher anzuschaffen.<br />
Auch das Schicksal der Lehrer hing zu<br />
einem schönen Teil von der Rangierung<br />
ihrer Schützlinge ab. Man vertraute seine<br />
Kinder bevorzugt jenem an, bei dem die<br />
besten Examensschriften entstanden waren.<br />
Gewisse Schulmeister richteten ihren Unterricht<br />
deshalb ganz auf diese Schreibübungen<br />
aus und vernachlässigten andere Stoffe. Die<br />
Osterschriften wurden so zum verabsolutierten<br />
Standard für die Leistungskontrolle<br />
im Volksschulwesen. Dazu taugten sie aber<br />
eigentlich nicht.<br />
Abschaffung der Osterschriften<br />
Diese Einsicht kam im frühen 19. Jahrhundert.<br />
Die aufkommende moderne Pädagogik<br />
sprach diesen reinen Schreibübungen<br />
zu Recht einen besonderen Nutzen ab. Die<br />
Schulkinder hatten sich nämlich nicht dar-<br />
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