Akademie Gaesdonck - Jugendbildung in Gesellschaft und ...
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JGW-Schüler<strong>Akademie</strong> <strong>Gaesdonck</strong> 2011<br />
<strong>Jugendbildung</strong> <strong>in</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>und</strong> Wissenschaft e. V.
Mit fre<strong>und</strong>licher Unterstützung von der Bildung & Begabung geme<strong>in</strong>nützigen GmbH,<br />
Bonn.<br />
JGW e. V. bedankt sich herzlich bei den Förderern, von denen die Durchführung der<br />
JGW-Schüler<strong>Akademie</strong> <strong>Gaesdonck</strong> 2011 unterstützt wurde:<br />
Privatspenden:<br />
– Kai Beckhaus<br />
– Dr. Peter Breckle<br />
– Sylvia Dietrich<br />
– Michael Margraf<br />
– Anja Rittmann-Berneiser<br />
– Hans-Peter Tiele<br />
– Rüdiger <strong>und</strong> Barbara Schmolke<br />
– Christa Wahl<br />
– Stefan Wolf<br />
Firmenspenden:<br />
– Private Universität Witten/Herdecke gGmbH<br />
– Spr<strong>in</strong>ger Science+Bus<strong>in</strong>ess Media<br />
– Atmel<br />
Die <strong>in</strong> dieser Dokumentation enthaltenen Texte wurden von den Kursleitern <strong>und</strong> Teilnehmern<br />
der JGW-Schüler<strong>Akademie</strong> <strong>Gaesdonck</strong> 2011 erstellt. Die Autoren der e<strong>in</strong>zelnen Texte s<strong>in</strong>d JGW<br />
e. V. bekannt, wurden aber aus datenschutzrechtlichen Gründen entfernt.<br />
Bei allgeme<strong>in</strong>en Personen- oder Berufsbezeichnungen s<strong>in</strong>d stets Personen männlichen <strong>und</strong><br />
weiblichen Geschlechts gleichermaßen geme<strong>in</strong>t; aus Gründen der Vere<strong>in</strong>fachung wird teilweise<br />
nur die geme<strong>in</strong>same Form, die der männlichen gleicht, verwendet.<br />
Redaktion: JGW-Dokuteam<br />
Endredaktion: Stefan Fechter<br />
Dieses Dokument wurde mit Hilfe von LATEX gesetzt. Als Hauptschriften wurden die L<strong>in</strong>otype<br />
Palat<strong>in</strong>o von Hermann Zapf <strong>und</strong> die Mathpazo von Diego Puga verwendet.<br />
Druck <strong>und</strong> B<strong>in</strong>dung: K&K Copy Druck Service, Heidelberg<br />
Copyright c○ 2012 JGW e. V., Berl<strong>in</strong>. Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort<br />
»Wer will schon <strong>in</strong> Nizza am Strand liegen, wenn er auch <strong>in</strong> <strong>Gaesdonck</strong> se<strong>in</strong> kann«<br />
Dieser Satz – übrigens e<strong>in</strong> Zitat aus dem offiziellen <strong>Akademie</strong>song – sagt eigentlich alles.<br />
Auf den ersten Blick sche<strong>in</strong>t es e<strong>in</strong> bisschen befremdlich, dass 93 Jugendliche zehn Tage<br />
ihrer Sommerferien lieber am Niederrhe<strong>in</strong> verbr<strong>in</strong>gen, als sich faul <strong>in</strong> der Sonne braten<br />
zu lassen. Denn bei e<strong>in</strong>er Schüler<strong>Akademie</strong> geht es alles andere als gemächlich zu. Da<br />
heißt es beispielsweise: früh aufstehen, viel denken bei der Kursarbeit, Chorproben statt<br />
Mittagsschlaf, diskutieren <strong>und</strong> experimentieren im Kurs, Theater-Probe oder Band-Probe.<br />
Nach der <strong>Akademie</strong> hat e<strong>in</strong> Teilnehmer bei Facebook gepostet (frei zitiert): »Ich vermisse<br />
es, morgens mit Elisa darüber zu meckern, wie müde wir s<strong>in</strong>d.«<br />
E<strong>in</strong>e Schüler<strong>Akademie</strong> ist eben e<strong>in</strong> besonderes Erlebnis <strong>und</strong> dafür nahmen die Teilnehmenden<br />
<strong>und</strong> das Leitungsteam gerne konsequenten Schlafmangel <strong>in</strong> Kauf. Es hat<br />
sich gelohnt: Wir haben gelernt, wie sich komplizierte Evolutionsvorgänge als Modell<br />
beschreiben lassen, wir haben die Schaltkreise von Mikrocontrollern selbst gebastelt,<br />
wir haben über die Schnittstelle zwischen Moral <strong>und</strong> Neurowissenschaft philosophiert,<br />
e<strong>in</strong>e Umfrage zu unserem Bild von Familie durchgeführt, die Rebellen <strong>in</strong> der Literatur<br />
ergründet <strong>und</strong> auch etwas Praktisches über Magie <strong>in</strong> der Antike mitgenommen. Und:<br />
Wir haben gesungen, Musik <strong>und</strong> Stille genossen, Orgel gespielt, Bandproben angesetzt<br />
<strong>und</strong> auch e<strong>in</strong> bisschen »die Diva« raushängen lassen.<br />
Auch wir <strong>Akademie</strong>leiter werden die 106 Persönlichkeiten, die wir während unserer<br />
Zeit <strong>in</strong> <strong>Gaesdonck</strong> kennenlernen durften, nicht vergessen. Wir danken allen für die<br />
großartige <strong>Akademie</strong> – vor allem den engagierten Mitarbeitern des Internats, den<br />
Unterstützern, die das Projekt mit Spenden mitf<strong>in</strong>aziert haben <strong>und</strong> dem ehrenamtlichen<br />
Team der JGW-Schüler<strong>Akademie</strong> – <strong>und</strong> wünschen allen Lesern, dass wenigstens e<strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>er Funke des »<strong>Akademie</strong>-Feel<strong>in</strong>gs« wieder überspr<strong>in</strong>gt.<br />
Kai Beckhaus<br />
Katr<strong>in</strong> Schlusen<br />
<strong>Akademie</strong>leitung
GESUNDHEIT<br />
WIRTSCHAFT<br />
KULTUR<br />
Perspektiven.<br />
Wechsel!<br />
www.uni-wh.de/schnuppertag<br />
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anmelden!
Die Teilnehmer<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Teilnehmer der<br />
JGW-Schüler<strong>Akademie</strong> <strong>Gaesdonck</strong> 2011.
Inhaltsverzeichnis<br />
1 Physikalische Modelle der Evolution · 9<br />
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten · 27<br />
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail · 49<br />
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit · 75<br />
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker · 95<br />
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong><br />
Wissenschaft · 117<br />
7 Kursübergreifende Aktivitäten · 136<br />
7
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
1.1 Kursübersicht<br />
Christian Bick <strong>und</strong> David Breuer<br />
Evolution bezeichnet den natürlichen Prozess der Veränderung e<strong>in</strong>er Population im<br />
Laufe der Generationen. Die Evolutionsforschung, die diese Vorgänge untersucht, ist<br />
e<strong>in</strong> stark <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äres Feld. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, wurden im Kurs<br />
verschiedene Teilaspekte der Evolution behandelt.<br />
Schon vor Charles Darw<strong>in</strong> haben sich ursprünglich primär Biologen mit dem Problem<br />
der Evolution <strong>und</strong> der Entstehung der Arten beschäftigt. In den letzten Jahrzehnten<br />
hat speziell die Molekularbiologie viele Fragen beantwortet, zum Beispiel, wie Erb<strong>in</strong>formationen<br />
im Organismus gespeichert s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> was die Quellen für Variationen unter<br />
Individuen s<strong>in</strong>d. Um evolutionäre Prozesse zu beschreiben, reicht es allerd<strong>in</strong>gs nicht,<br />
e<strong>in</strong>zelne Lebewesen zu beschreiben, da bei evolutionären Prozessen die Entwicklung<br />
von ganzen Populationen im Vordergr<strong>und</strong> steht. Die Dynamik von Ensembles jedoch ist<br />
e<strong>in</strong> klassisches Problem <strong>in</strong> der Physik, speziell der statistischen Physik. Dort entwickelte<br />
Methoden lassen sich nun auch auf das ursprünglich biologische Thema der Evolution<br />
anwenden, um die dort ablaufenden Prozesse besser zu verstehen. Die Mathematik<br />
liefert mit Hilfe von Aussagen über bestimmte Klassen von Modellen e<strong>in</strong> wichtiges<br />
Werkzeug für die theoretische Untersuchung von Evolutionsprozessen.<br />
Diese physikalischen Modelle der Evolution haben sich <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten<br />
zu e<strong>in</strong>em sehr aktiven Feld der Forschung entwickelt. Solche Modelle stellen meistens<br />
e<strong>in</strong>en Kompromiss aus biologischem Detail <strong>und</strong> mathematischer Zugänglichkeit dar,<br />
denn mit der Menge an Details im Modell steigt auch dessen Komplexität. Selbst wenn<br />
der mathematische Zugang begrenzt ist, bieten die leistungsfähigen Computer der<br />
heutigen Generation e<strong>in</strong>en Weg, diese Evolutionsmodelle quantitativ zu studieren. Es<br />
existieren zahllose Modelle, die jeweils Teilaspekte der Evolutionstheorie modellieren<br />
<strong>und</strong> Aussagen über bestimmte Phänomene erlauben.<br />
Gleichzeitig wirft die Evolutionstheorie <strong>und</strong> deren Modellierung e<strong>in</strong>ige gesellschaftswissenschaftliche<br />
Fragestellungen auf. Wie bei jeder Modellbildung stellt sich die Frage,<br />
was e<strong>in</strong> Modell leisten kann <strong>und</strong> <strong>in</strong>wiefern es e<strong>in</strong>e Realität widerspiegeln kann. Außerdem<br />
muss sich die Wissenschaft mit gesellschaftlicher Kritik zum Beispiel aus Richtung<br />
geistlicher Schöpfungstheorien ause<strong>in</strong>andersetzen.<br />
Im Rahmen des Kurses erarbeiteten wir zunächst die biologischen, mathematischen<br />
<strong>und</strong> physikalischen Gr<strong>und</strong>lagen. E<strong>in</strong> essentieller Bestandteil war der Modellbildungsprozess<br />
<strong>und</strong> das anschließende Studium von bestimmten Evolutionsmodellen der aktuellen<br />
Forschung. Durch die Implementierung am Computer konnten weitere Aussagen<br />
aus den Modellen gezogen werden. Schließlich betrachteten wir die assoziierten gesellschaftswissenschaftlichen<br />
Bereiche, um über den naturwissenschaftlichen Tellerrand<br />
h<strong>in</strong>auszuschauen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en ganzheitlichen Überblick über das fasz<strong>in</strong>ierende Thema<br />
Evolution zu gew<strong>in</strong>nen.<br />
9
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
Abbildung 1.1: Vier unterschiedliche Arten der Darw<strong>in</strong>-F<strong>in</strong>ken. Quelle: Darw<strong>in</strong> 1845: 379.<br />
1.2 Darw<strong>in</strong>s Beobachtung<br />
Charles Darw<strong>in</strong> (1809–1882) war e<strong>in</strong>er der ersten <strong>und</strong> bedeutendsten Evolutionsforscher.<br />
Auf e<strong>in</strong>er 5-jährigen Weltreise dokumentierte <strong>und</strong> verglich er die Flora <strong>und</strong> Fauna vieler<br />
Orte der Erde (Bayrhuber 2006). Darw<strong>in</strong> stellte fest, dass sich verschiedene Arten oft<br />
ähneln. Bee<strong>in</strong>flusst durch se<strong>in</strong> Wissen aus der Tierzüchtung kam er auf die Idee, dass<br />
mehrere Arten von den selben Vorfahren abstammen. Se<strong>in</strong>e »common ancestor«-Theorie<br />
stieß allerd<strong>in</strong>gs vor allem seitens der Kirche auf heftigen Widerstand. Darw<strong>in</strong> aber ließ<br />
sich nicht beirren. In se<strong>in</strong>en Aufzeichnungen zeichnete er unter den Worten »I th<strong>in</strong>k«<br />
e<strong>in</strong>e erste Skizze e<strong>in</strong>es Stammbaumes.<br />
Der Forscher g<strong>in</strong>g davon aus, dass alle Lebewesen bei der Fortpflanzung e<strong>in</strong>en Teil<br />
ihrer Eigenschaften an die nächste Generation weitervererben. Er vermutete, dass es<br />
dabei zu zufälligen Veränderungen kommen kann, die heute auf Mutation <strong>und</strong> Rekomb<strong>in</strong>ation<br />
der Erbanlagen zurückgeführt werden. Durch diese Veränderungen haben e<strong>in</strong>ige<br />
Individuen e<strong>in</strong>en genetischen Vorteil, können <strong>in</strong> ihrer Umwelt besser überleben als ihre<br />
Artgenossen <strong>und</strong> verdrängten diese gegebenenfalls sogar. Diese natürliche Selektion<br />
führt nach Darw<strong>in</strong> zum »survival of the fittest«, also dem Überleben der Bestangepassten.<br />
Fitness bezeichnet hier die Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten e<strong>in</strong>es<br />
Lebensraumes. E<strong>in</strong> Lebewesen, das besser angepasst ist, hat demnach e<strong>in</strong>e größere Chance<br />
zu überleben <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Erb<strong>in</strong>formation durch Fortpflanzung weiterzugeben. Damit<br />
verstand Darw<strong>in</strong> die Evolution als ungerichteten Prozess, im Gegensatz zu früheren<br />
Evolutionstheorien <strong>und</strong> religiösen Schöpfungsideen.<br />
E<strong>in</strong> Beispiel für se<strong>in</strong>e Erkenntnisse s<strong>in</strong>d die Galapagos-F<strong>in</strong>ken, die Darw<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>er<br />
se<strong>in</strong>er Reisen entdeckte <strong>und</strong> beobachtete (Campbell 2005). Er g<strong>in</strong>g davon aus, dass alle<br />
verschiedenen Arten ursprünglich auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Population an Urf<strong>in</strong>ken zurückgehen,<br />
10
1.3 Mendels Vererbungslehre<br />
die bei e<strong>in</strong>em Unwetter vom Festland auf die Insel geweht worden waren, wo sie seitdem<br />
relativ isoliert lebten. Durch die stärkere oder schwächere Ausprägung bestimmter<br />
Merkmale wie Schnabelform <strong>und</strong> -größe entwickelten sich die F<strong>in</strong>ken immer weiter<br />
ause<strong>in</strong>ander. Sie passten sich dabei an verschiedene Nahrungsressourcen wie Früchte,<br />
Obst oder Körner an.<br />
Darw<strong>in</strong> wusste allerd<strong>in</strong>gs noch wenig über die Mechanismen, die zur Vererbung von<br />
Merkmalen führen <strong>und</strong> dabei die für die natürliche Auslese wichtige Variabilität zulassen.<br />
Diese Vorgänge konnten erst später durch die Vererbungslehre erklärt werden. Darw<strong>in</strong>s<br />
Theorie als solche wurde über die Jahre modifiziert <strong>und</strong> erweitert. Ihre Kernaussagen<br />
<strong>in</strong>des s<strong>in</strong>d heute wissenschaftlich unbestritten.<br />
1.3 Mendels Vererbungslehre<br />
Charles Darw<strong>in</strong>s Arbeiten stellten e<strong>in</strong>en große Schritt <strong>in</strong> der Evolutionsforschung dar,<br />
konnten jedoch noch ke<strong>in</strong>e Aussagen über die Mechanismen der Vererbung liefern.<br />
Die Arbeiten von Johann Gregor Mendel (1822–1884) trugen e<strong>in</strong>en wichtigen Teil zur<br />
Klärung dieser Fragen bei.<br />
Durch se<strong>in</strong> naturwissenschaftliches Studium hatte der August<strong>in</strong>ermönch e<strong>in</strong> solides<br />
biologisches Gr<strong>und</strong>wissen. Im Abteigarten se<strong>in</strong>es Klosters begann er mit systematischen<br />
Vererbungsversuchen (Bayrhuber 2006). Dazu kreuzte er Gartenerbsen, die sich zum<br />
Beispiel <strong>in</strong> Blütenfarbe <strong>und</strong> Erbsenform unterschieden. Zu Beg<strong>in</strong>n züchtete er die Erbsen<br />
zwei Jahre lang, um sicherzugehen, dass sie ke<strong>in</strong>e fremden Merkmale besaßen <strong>und</strong><br />
re<strong>in</strong>erbig waren. Dann führte er e<strong>in</strong>e künstliche Bestäubung durch, damit die Blüte sich<br />
nicht selbst bestäuben konnte oder Fremdbestäubungen ausgesetzt war.<br />
Aus se<strong>in</strong>en Versuchen leitete er drei Gesetzmäßigkeiten ab, die später nach ihm<br />
»Mendelsche Regeln« genannt wurden. Sie gelten für Merkmale, deren Ausprägung von<br />
nur e<strong>in</strong>em Gen bestimmt wird. Er unterschied dabei zwischen den Phänotypen <strong>und</strong> den<br />
Genotypen der Pflanzen. Nach der Uniformitätsregel s<strong>in</strong>d die Nachkommen re<strong>in</strong>erbiger<br />
Eltern uniform im Ersche<strong>in</strong>ungsbild. Werden diese untere<strong>in</strong>ander gekreuzt, so ergibt<br />
sich nach der Spaltungsregel e<strong>in</strong> universelles Verhältnis der Phänotypen. Unterscheiden<br />
sich die Eltern <strong>in</strong> zwei oder mehr Merkmalen, so gilt die Neukomb<strong>in</strong>ationsregel, nach<br />
der die Merkmale unabhängig vone<strong>in</strong>ander vererbt werden. Aus se<strong>in</strong>en Beobachtungen<br />
folgerte Mendel, dass die Merkmalsanlagen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zelle immer doppelt <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Keimzelle immer e<strong>in</strong>fach vorliegen müssen.<br />
1865 veröffentlichte Mendel erstmals se<strong>in</strong>e lang erarbeiteten Ergebnisse. Se<strong>in</strong>e Theorie<br />
wurde jedoch zurückgewiesen. Erst um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende entdeckten drei Forscher<br />
unabhängig vone<strong>in</strong>ander bei Vererbungsversuchen die Richtigkeit <strong>und</strong> Qualität der 35<br />
Jahre zuvor erstellten Theorie Mendels. Sie wurde <strong>in</strong>sbesondere durch die Chromosomentheorie<br />
bestätigt. Se<strong>in</strong>e exakte <strong>und</strong> systematische Arbeit wurde zur die Gr<strong>und</strong>lage der<br />
Vererbungslehre, welche zentral ist für das Verständnis der Prozesse der Evolution.<br />
11
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
Abbildung 1.2: Schematische Darstellung der DNA, aus welcher die im Zellkern liegenden<br />
Chromosomen aufgebaut s<strong>in</strong>d. Quelle: Wikipedia [12].<br />
1.4 Vom Molekül zum Lebewesen<br />
DNA (Desoxyribonukle<strong>in</strong>säure) ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong> allen Lebewesen vorkommendes Biomolekül. In<br />
der Evolutionstheorie spielt es e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, da es Träger der Erb<strong>in</strong>formation ist.<br />
Gleichzeitig ermöglicht die DNA Modifikationen der Erb<strong>in</strong>formation, die für das Wirken<br />
der natürlichen Selektion notwendig s<strong>in</strong>d.<br />
Chemisch gesehen ist die Desoxyribonukle<strong>in</strong>säure ist e<strong>in</strong> langes Kettenmolekül (Polymer)<br />
aus vielen Bauste<strong>in</strong>en, die man Nukleotide nennt (Campbell 2005). Jedes Nukleotid<br />
hat drei Bestandteile: E<strong>in</strong>en Phosphorsäurerest, e<strong>in</strong>en Zucker (Desoxyribose) sowie e<strong>in</strong>e<br />
Base. Die Desoxyribose- <strong>und</strong> Phosphorsäure-Untere<strong>in</strong>heiten s<strong>in</strong>d bei jedem Nukleotid<br />
gleich <strong>und</strong> bilden das Rückgrat des Moleküls. Bei der Base kann es sich um e<strong>in</strong> Pur<strong>in</strong>,<br />
nämlich Aden<strong>in</strong> (A) oder Guan<strong>in</strong> (G), oder um e<strong>in</strong> Pyrimid<strong>in</strong>, nämlich Thym<strong>in</strong> (T) oder<br />
Cytos<strong>in</strong> (C), handeln. Da sich die vier verschiedenen Nukleotide nur durch ihre Base<br />
unterscheiden, werden die Abkürzungen A, G, T <strong>und</strong> C auch für die entsprechenden<br />
Nukleotide verwendet. Die Basen spielen <strong>in</strong> der Genetik die Rolle e<strong>in</strong>es Alphabets <strong>und</strong><br />
ermöglichen die wichtige <strong>und</strong> effiziente Codierung der Erb<strong>in</strong>formation.<br />
Im Normalzustand ist DNA <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Doppelhelix aus zwei DNA-E<strong>in</strong>zelsträngen<br />
organisiert. Diese werden durch Wasserstoff-Brückenb<strong>in</strong>dungen zwischen den Basen<br />
zusammengehalten <strong>und</strong> stellen den energetisch günstigsten Zustand des Moleküls<br />
12
1.5 Mathematische Gr<strong>und</strong>lagen stochastischer Prozesse<br />
dar. Die DNA-Helix liegt im Zellkern eukaryotischer Zellen bzw. dem Cytoplasma<br />
prokaryotischer Zellen <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es losen Fadengerüsts vor. Hierbei ist die DNA um<br />
Histone gewickelt <strong>und</strong> weitere Prote<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d an diesen Komplex angelagert, der als<br />
Chromat<strong>in</strong> bezeichnet wird <strong>und</strong> <strong>in</strong> kondensierter Form e<strong>in</strong> Chromatid bildet.<br />
Zwei Chromatiden werden durch e<strong>in</strong> Centromer verknüpft <strong>und</strong> bilden e<strong>in</strong> Chromosom.<br />
Dieses fungiert während der Zellteilung als Träger der genetischen Information.<br />
Chromosomen werden während der Kernteilung e<strong>in</strong>er eukaryontischen Zelle sichtbar<br />
<strong>und</strong> enthalten die Gene. Bei der Mitose (Zellteilung) verdoppelt sich die Erb<strong>in</strong>formation<br />
unter Erhaltung der Chromosomenzahl pro Zelle. Bei der Meiose (Reduktionsteilung)<br />
halbiert sich der Chromosomensatz zur Bildung der zur Fortpflanzung notwendigen<br />
Keimzellen.<br />
E<strong>in</strong> Gen ist e<strong>in</strong> Abschnitt auf der DNA, der die Gr<strong>und</strong><strong>in</strong>formationen zur Herstellung<br />
e<strong>in</strong>es Prote<strong>in</strong>s enthält. Die Orte der Gene werden als Loci bezeichnet, wobei an e<strong>in</strong>em Locus<br />
verschiedene Gen-Varianten, sogenannte Allele, vorliegen können. Sie repräsentieren<br />
bestimmte Merkmale wie Haarfarbe, Augenfarbe oder bestimmte genetische Krankheiten.<br />
Zusammen mit komplexen Regulationsmechanismen <strong>und</strong> Umwelte<strong>in</strong>flüssen<br />
entsteht dann aus den Genen e<strong>in</strong> Lebewesen.<br />
E<strong>in</strong> wichtiges Phänomen <strong>in</strong> der Genetik s<strong>in</strong>d Mutationen. Diese können sich auf<br />
das Fehlen oder den Austausch von Chromosomabschnitten oder ganzen Chromosomen<br />
beziehen. Es gibt aber auch Punktmutationen, bei denen e<strong>in</strong>zelne Basenpaare der<br />
ursprünglichen DNA verändert s<strong>in</strong>d, was bereits gravierende Auswirkung auf den Organismus<br />
haben kann. Mutationen können durch elektromagnetische oder radioaktive<br />
Strahlung entstehen, ebenso wie durch Chemikalien oder Replikationsfehler.<br />
Die molekulare Genetik liefert e<strong>in</strong>e konsistente Erklärung früherer Vererbungstheorien.<br />
Sie ist damit e<strong>in</strong>e f<strong>und</strong>amentale Gr<strong>und</strong>lage der Evolutionstheorie, welche die Vererbung<br />
von Merkmalen sowie deren Variabilität e<strong>in</strong>heitlich beschreibt.<br />
1.5 Mathematische Gr<strong>und</strong>lagen stochastischer Prozesse<br />
Zufallsprozesse spielen unter anderem bei der Modellierung von evolutionären Prozessen<br />
e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Die Mathematik liefert dabei das nötige Handwerkszeug,<br />
um solche Prozesse zu studieren; die Maß- <strong>und</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitstheorie bietet den<br />
Rahmen, um solche Prozesse formal korrekt zu beschreiben <strong>und</strong> Aussagen darüber<br />
herzuleiten.<br />
Die Maßtheorie liefert die gr<strong>und</strong>legende Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>es Maßes für Teilmengen e<strong>in</strong>es<br />
Raumes (Krengel 2005). Dieses Maß lässt sich mit e<strong>in</strong>er Volumenfunktion vergleichen. Es<br />
lässt sich jedoch nicht für jede Menge s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong> Maß def<strong>in</strong>ieren, was als sogenanntes<br />
Maßproblem bezeichnet wird. Die polnischen Mathematiker Banach <strong>und</strong> Tarski zeigten<br />
dies 1924 an Hand von Kugelvolum<strong>in</strong>a (Banach 1924).<br />
E<strong>in</strong> Kugelkörper A im R 3 lässt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e endliche Anzahl von nicht-konstruierbaren<br />
Teilstücken zerlegen, so dass man diese Teilstücke so drehen <strong>und</strong> verschieben kann,<br />
dass sie zwei Kugelkörper im R 3 ergeben, die jeweils kongruent zu A s<strong>in</strong>d. Es ist somit<br />
13
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
möglich, mit e<strong>in</strong>er geschickten Zerlegung e<strong>in</strong>e Kugel im R 3 beliebig oft zu vervielfachen.<br />
Dies impliziert e<strong>in</strong> Paradoxon, da e<strong>in</strong>e Menge mit Maß m äquivalent zu e<strong>in</strong>er Menge<br />
mit Maß M > m ist. Für die Kugelstücke ist folglich ke<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvolles Maß def<strong>in</strong>iert.<br />
E<strong>in</strong> Maß ist nur dann s<strong>in</strong>nvoll def<strong>in</strong>iert, wenn wir e<strong>in</strong> System von Teilmengen haben,<br />
denen e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvolles Maß zugewiesen werden kann. So auch für die Modellierung von<br />
Zufallsprozessen. Die Teilmengen entsprechen Ereignissen. E<strong>in</strong>em Ereignis muss e<strong>in</strong>deutig<br />
e<strong>in</strong> wohldef<strong>in</strong>iertes Maß zuteilbar se<strong>in</strong>, wobei das Maß gerade die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
des Ereignisses darstellt. Demnach müssen die von Banach <strong>und</strong> Tarski aufgezeigten<br />
pathologischen Fälle ausgeschlossen werden.<br />
Die Lösung liegt <strong>in</strong> der Konstruktion e<strong>in</strong>es beherrschbaren Systems von Teilmengen,<br />
auf dem sich sicher e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvolles Maß def<strong>in</strong>ieren lässt.<br />
E<strong>in</strong> solches Konstrukt heißt σ-Algebra über e<strong>in</strong>er gegebenen Gr<strong>und</strong>menge Ω. Dies<br />
ist e<strong>in</strong>e Menge von Teilmengen von Ω <strong>und</strong> enthält sowohl Ω selbst als auch die leere<br />
Menge ∅. Außerdem enthält sie zu jedem ihrer Elemente auch dessen Komplement <strong>und</strong><br />
für jede abzählbare Familie ihrer Elemente auch deren Vere<strong>in</strong>igungsmenge.<br />
Ist e<strong>in</strong>e solche σ-Algebra konstruiert, so erlaubt dies die Def<strong>in</strong>ition sogenannter Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsräume.<br />
E<strong>in</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsraum lässt sich <strong>in</strong> Form des Tripels (Ω,<br />
F, P) darstellen. Die Gr<strong>und</strong>menge Ω steht dabei für die Menge aller möglichen Ergebnisse<br />
des Zufallsexperiments, F ist e<strong>in</strong>e σ-Algebra, die als Menge alle möglichen<br />
Ereignisse enthält <strong>und</strong> das Maß P gibt gerade die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeiten dieser Ereignisse<br />
an. Zufallsvariablen erlauben es, spezielle Eigenschaften des zu modellierenden<br />
Zufallsprozesses darzustellen <strong>und</strong> stochastische Prozesse s<strong>in</strong>d zeitabhängige Familien<br />
von Zufallsvariablen.<br />
Die Maßtheorie liefert damit den formalen Rahmen für die Modellierung von zeitabhängigen<br />
Zufallsprozessen. Dieser Formalismus ist die Gr<strong>und</strong>lage der Evolutionsmodelle,<br />
die im Folgenden betrachtet werden.<br />
1.6 Markov-Ketten<br />
E<strong>in</strong>e Markov-Kette ist e<strong>in</strong>e spezielle Art e<strong>in</strong>es stochastischen Prozesses, also e<strong>in</strong>er<br />
zeitabhängigen Familie von Zufallsvariablen. Zeitabhängigkeit heißt hier, dass die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
der Ausgänge nicht immer gleich ist, wie beim mehrfachen Würfeln,<br />
sondern von den Ausgängen der vorhergehenden Zufallsexperimente abhängen kann.<br />
Als Beispiel zur Veranschaulichung ziehen wir Karten aus e<strong>in</strong>em Kartenspiel <strong>und</strong> betrachten<br />
die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, zwei Könige auf e<strong>in</strong>mal zu ziehen. Wurde schon e<strong>in</strong><br />
König gezogen, ändert sich die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit <strong>in</strong> den nächsten Zügen e<strong>in</strong> Paar von<br />
Königen zu ziehen, da weniger Könige im Spiel s<strong>in</strong>d. Um diese Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu<br />
berechnen, müssten also alle Ausgänge der vorhergehenden Zufallsexperimente, das<br />
heißt alle bereits gezogenen Karten, bekannt se<strong>in</strong>, um auf Gr<strong>und</strong>lage dieser Information<br />
die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsvariable ausrechnen zu können.<br />
E<strong>in</strong>e Markov-Prozess ist nun e<strong>in</strong> stochastischer Prozess mit »endlichem Gedächtnis«,<br />
das heißt der Ausgang e<strong>in</strong>es Zufallsexperiments zu e<strong>in</strong>em Zeitpunkt hängt nur von dem<br />
14
1.7 Problematik der Modellierung<br />
Ausgang der Zufallsexperimente <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em endlichen Zeitraum vorher ab (Me<strong>in</strong>trup 2005).<br />
E<strong>in</strong> Markov-Prozess mit diskreter Zeit heißt Markov-Kette <strong>und</strong> die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
wird nur an bestimmten Zeitpunkten betrachtet. Das obige Zufallsexperiment ist e<strong>in</strong><br />
Beispiel für e<strong>in</strong>e Markov-Kette, da zu Beg<strong>in</strong>n des Kartenspiels die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
nur von der Anzahl der Könige im Deck abhängt. Dieser stochastische Prozess hat<br />
also e<strong>in</strong> »endliches Gedächtnis« <strong>und</strong> wird nicht durch Ereignisse vor dem Mischen der<br />
Karten bee<strong>in</strong>flusst.<br />
Als weiteres Beispiel e<strong>in</strong>er Markov-Kette stellen wir uns e<strong>in</strong> Spiel vor, bei dem e<strong>in</strong>e<br />
Spielfigur auf von 1 bis 4 durchnummerierten Feldern entweder e<strong>in</strong> Feld nach vorne oder<br />
e<strong>in</strong> Feld nach h<strong>in</strong>ten gesetzt wird. Wir betrachten die Feldnummer als Zufallsvariable <strong>und</strong><br />
untersuchen, wie wahrsche<strong>in</strong>lich es ist, dass e<strong>in</strong> bestimmtes Feld erreicht wird. Steht die<br />
Spielfigur auf Feld 2, so liegt die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass Feld 4 im nächsten Zug erreicht<br />
wird, bei 0 %. Steht die Spielfigur jedoch auf Feld 3, so ist es mit der Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
50 % möglich, das Feld 4 zu erreichen. Wir sehen also, dass die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong><br />
Feld zu erreichen von dem Ausgang des letzten Zufallsexperiments abhängt.<br />
Um e<strong>in</strong>e Markov-Kette zu charakterisieren, wird e<strong>in</strong>e Matrix von Übergangswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
angegeben, die def<strong>in</strong>iert, wie wahrsche<strong>in</strong>lich es ist, dass e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
Zustandsänderung e<strong>in</strong>tritt. Bleibt diese Matrix für jeden Zeitschritt gleich, wie im obigen<br />
Beispiel, heißt die Markov-Kette homogen. Weiterh<strong>in</strong> wird e<strong>in</strong> Startpunkt benötigt, e<strong>in</strong>e<br />
sogenannte Anfangsverteilung. In unserem Beispiel ist diese Anfangsverteilung das Feld,<br />
auf dem sich die Figur zu Beg<strong>in</strong>n des Experiments bef<strong>in</strong>det.<br />
Auf das Thema der physikalischen Modelle der Evolution bezogen, lassen sich mit<br />
Markov-Ketten e<strong>in</strong>ige Teilaspekte modellieren. Zum Beispiel kann als Matrix der Übergangswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten<br />
angeben werden, wie wahrsche<strong>in</strong>lich es ist, dass e<strong>in</strong> bestimmtes<br />
Individuum mutiert oder wie sich die Größe e<strong>in</strong>er Population ändert. E<strong>in</strong>ige weitere<br />
Beispiele werden <strong>in</strong> späteren Kapiteln untersucht.<br />
1.7 Problematik der Modellierung<br />
Modelle s<strong>in</strong>d Formulierungen wissenschaftlicher Theorien, welche die Vergangenheit<br />
beschreiben <strong>und</strong> Vorhersagen ermöglichen sollen. Die Qualität e<strong>in</strong>es Modells wird stets<br />
auf Gr<strong>und</strong>lage von Beobachtungen beurteilt. Die Konflikte bei der Konstruktion e<strong>in</strong>es<br />
Modells werden im Folgenden am Beispiel e<strong>in</strong>es physikalischen Modells der Evolution<br />
veranschaulicht.<br />
Evolution beschreibt den Prozess der Entwicklung e<strong>in</strong>er Population durch natürliche<br />
Prozesse wie Variation durch Rekomb<strong>in</strong>ation, Selektion durch Konkurrenz, zufällige<br />
Entstehung neuer Genotypen durch Mutation <strong>und</strong> weitere Faktoren. E<strong>in</strong> Modell der<br />
Evolution, das all diese komplexen Faktoren berücksichtigen soll, stellt daher e<strong>in</strong>e große<br />
Herausforderung dar.<br />
Im ersten Schritt ist es s<strong>in</strong>nvoll, zu überlegen, welche Aspekte modelliert werden<br />
sollen <strong>und</strong> welche Annahmen diesen Vere<strong>in</strong>fachungen zugr<strong>und</strong>e liegen. Dabei ergeben<br />
sich bereits gravierende Unterschiede zwischen den möglichen Modellen. Soll beispiels-<br />
15
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
weise die Sterbe- bzw. Geburtenrate oder die Populationsgröße <strong>in</strong> Abhängigkeit der<br />
Zeit darstellt werden Im e<strong>in</strong>en Fall wird implizit von e<strong>in</strong>er unendlichen Anzahl an<br />
Lebewesen ausgegangen, die e<strong>in</strong>e determ<strong>in</strong>istische Dynamik aufweist, während im<br />
anderen Fall e<strong>in</strong>e endliche Population betrachtet wird, die stochastische Effekte <strong>und</strong><br />
Phänomene wie Artensterben erfassen kann. Welche Mechanismen der Fortpflanzung<br />
sollen für das Modell gewählt werden Die Evolution von Bakterien basiert auf asexueller<br />
Reproduktion durch Zellteilung, woh<strong>in</strong>gegen viele Lebewesen sich geschlechtlich<br />
fortpflanzen, was e<strong>in</strong>en starken E<strong>in</strong>fluss auf die Variabilität der Population haben kann.<br />
Soll stets dieselbe Art betrachtet werden oder auch die Neubildung von Arten In vielen<br />
Fällen ist es e<strong>in</strong>facher nur die Entwicklung e<strong>in</strong>er Art zu studieren, aber die Vielfalt des<br />
Lebens basiert auf Prozessen der Artbildung <strong>und</strong> Interaktionen zwischen Arten spielen<br />
<strong>in</strong> der Evolution e<strong>in</strong>e wichtige Rolle.<br />
Im nächsten Schritt stellt sich die Frage, welche konkreten Vorhersagen das Modell<br />
treffen soll. Diese Vorhersagen werden im letzten Schritt mittels Experimenten oder<br />
Simulationen überprüft <strong>und</strong> das Modell gegebenenfalls modifiziert. Bis dah<strong>in</strong> ist es e<strong>in</strong><br />
komplizierter Weg der E<strong>in</strong>igung <strong>und</strong> Spezifizierung, bei dem es von höchster Bedeutung<br />
ist, zunächst stark zu vere<strong>in</strong>fachen, um e<strong>in</strong>e Vorstellung über den Umfang des Modells zu<br />
bekommen. Trotz dieser Schwierigkeiten <strong>und</strong> Annahmen gibt es zahlreiche erfolgreiche<br />
Modelle, die <strong>in</strong>teressante E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die fasz<strong>in</strong>ierenden Vorgänge der Evolution liefern.<br />
1.8 Simulieren von Evolutionsmodellen mit GNU Octave<br />
Aufgr<strong>und</strong> ihrer Komplexität s<strong>in</strong>d viele physikalische Modelle der Evolution nicht mehr<br />
re<strong>in</strong> analytisch studierbar, können also nicht mit Hilfe exakter mathematischer Formeln<br />
gelöst werden. Stattdessen werden diese Modelle <strong>in</strong> Simulationen am Computer numerisch<br />
untersucht. Die im Kurs betrachteten Evolutionsmodelle basieren auf stochastischen<br />
Prozessen, wie Markov-Ketten, die <strong>in</strong> Kapitel 1.6 besprochen wurden.<br />
Für die Implementierung der Programme wurde GNU Octave gewählt, e<strong>in</strong>e MatLabkompatible,<br />
imperative Programmiersprache. In GNU Octave wird hauptsächlich mit<br />
dem Datentyp Matrix gearbeitet, der an vielen Stellen aufwändige Schleifen überflüssig<br />
macht. Außerdem s<strong>in</strong>d neben den üblichen Schleifen <strong>und</strong> Fallunterscheidungen auch<br />
viele Funktionen zum wissenschaftlichen Rechnen bereits implementiert. So lassen sich<br />
z. B. Zufallsverteilungen <strong>und</strong> Exponentialfunktionen mit Hilfe kurzer Befehle effizient berechnen.<br />
Weiter besitzt GNU Octave verschiedene Funktionen, mit welchen Daten grafisch<br />
dargestellt werden können, was beim Entwickeln e<strong>in</strong>es anschaulichen Verständnisses der<br />
simulierten Modelle hilft. GNU Octave ist damit gut geeignet für e<strong>in</strong>en schnellen E<strong>in</strong>stieg<br />
<strong>in</strong> das wissenschaftliche Programmieren <strong>und</strong> praktisch zum Umsetzen von e<strong>in</strong>fachen<br />
Markov-Prozessen. Sollen ausgedehntere numerische Analysen durchgeführt werden,<br />
bieten sich jedoch effizientere <strong>und</strong> leistungsfähigere Programmiersprachen an.<br />
Die Simulation von Evolutionsmodellen am Computer bietet den Vorzug, dass theoretisch<br />
nicht zugängliche Modelle untersucht werden können. Beispielsweise lassen<br />
sich stochastische Prozesse über viele Realisierungen mitteln, um Aussagen über den<br />
16
1.9 Wright-Fisher-Modell<br />
Abbildung 1.3: Realisierung e<strong>in</strong>es Wright-Fisher-Prozesses mit zwei Arten <strong>und</strong> Aussterben e<strong>in</strong>er<br />
der beiden.<br />
Erwartungswert e<strong>in</strong>er Messgröße zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Probleme,<br />
deren mathematische Lösung e<strong>in</strong>fach zu f<strong>in</strong>den ist, während die numerische Simulation<br />
nicht <strong>in</strong> vertretbarer Zeit durchzuführen ist. Das ist <strong>in</strong>sbesondere der Fall, wenn<br />
das Langzeitverhalten e<strong>in</strong>es Modells untersucht wird oder e<strong>in</strong>e Implementation sehr<br />
speicher<strong>in</strong>tensiv ist. Zusammenfassend gilt, dass Simulationen evolutionärer Modelle<br />
aus der Physik heutzutage nicht mehr wegzudenken <strong>und</strong> unerlässlich s<strong>in</strong>d. Doch gilt es<br />
stets die E<strong>in</strong>schränkungen des Modells, sowie die beschränkte Aussagekraft numerischer<br />
Untersuchungen zu bedenken. Die praktische Programmierarbeit im Kurs wird nun an<br />
e<strong>in</strong>igen Beispielen vorgestellt.<br />
1.9 Wright-Fisher-Modell<br />
Das Wright-Fisher-Modell war e<strong>in</strong>es der ersten Modelle, um e<strong>in</strong>en evolutionären Vorgang<br />
physikalisch zu beschreiben. Es beschränkt sich auf e<strong>in</strong>e Population konstanter Größe N,<br />
die <strong>in</strong> zwei Arten A <strong>und</strong> a unterteilt ist (Drossel 2001). Betrachtet wird die Änderung ihrer<br />
Anteile an der Gesamtpopulation. E<strong>in</strong>e neue Generation wird durch zufälliges Ziehen<br />
von Individuen aus der vorherigen bestimmt. Durch diese Modellierung lassen sich die<br />
Bedeutung der Populationsgröße auf das Aussterben oder die Fixierung e<strong>in</strong>er Art, sowie<br />
die zeitliche Entwicklung e<strong>in</strong>er Art <strong>und</strong> die Rolle von Mutationen untersuchen.<br />
Das Wright-Fisher-Modell beschreibt e<strong>in</strong>en stochastischen Prozess, der sich <strong>in</strong> Simulationen<br />
untersuchen lässt. Genauer gesagt liegt sogar e<strong>in</strong>e Markov-Kette vor, da<br />
der Zustand der Population nur vom vorherigen, zeit-diskreten Zustand des Systems<br />
abhängt. In der Umsetzung des Modells am Computer entsprechen die zwei Arten e<strong>in</strong>er<br />
0 (Art a) oder e<strong>in</strong>er 1 (Art A) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Vektor mit N Elementen. Das eben beschriebene<br />
zufällige Auswahlverfahren wird über T Generationen iteriert. Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
<strong>in</strong> der Generation t ∈ {1, ..., T} e<strong>in</strong> A-Individuum zu treffen sei p A (t). Für gegebene<br />
Populationgröße N, die Anzahl der Generationen T <strong>und</strong> die Anfangswahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
p A (t = 1) lässt sich dieses Modell e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> GNU Octave implementieren.<br />
17
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
N = 100; # Populationsgröße<br />
T = 100; # Generationenzahl<br />
p_A(t=1) = 0.4; # Anfangswahrsche<strong>in</strong>lichkeit für Art A<br />
population = zeros(1,N); # Vektor der Elterngeneration<br />
child = zeros(1,N); # Vektor der K<strong>in</strong>dergeneration<br />
# Intialiserung der Startpopulation mit 0 (Art a) <strong>und</strong> 1 (Art A)<br />
for n=1:N<br />
if(rand
1.10 Modell der Fitnesslandschaften<br />
häufiger <strong>und</strong> schneller e<strong>in</strong>treten. Insbesondere ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass Art A<br />
fixiert wird, gegeben durch die Anfangswahrsche<strong>in</strong>lichkeit p A (t = 1), wie durch die<br />
Simulationen bestätigt.<br />
Auch Mutationen können, ausgehend von dieser Basissimulation, modelliert werden.<br />
Dabei wird e<strong>in</strong> Individuum mit e<strong>in</strong>er festgelegt Übergangswahrsche<strong>in</strong>lichkeit von e<strong>in</strong>er<br />
der Arten <strong>in</strong> die andere umgewandelt. Dadurch ergibt sich e<strong>in</strong> sogenanntes Mutationsgleichgewicht,<br />
gegen das der Anteil p A (t) der A-Individuen strebt. Auch hier tritt durch<br />
die endliche Individuenzahl genetische Drift auf, die das genetische Gleichgewicht stört<br />
<strong>und</strong> weiterh<strong>in</strong> zur Fixierung oder zum Aussterben e<strong>in</strong>er Art führen kann.<br />
Mit dem Modell lässt sich sehr e<strong>in</strong>fach die Dynamik e<strong>in</strong>er Population beschreiben.<br />
Dabei werden die E<strong>in</strong>zelheiten der Reproduktion der Individuen ebenso wenig berücksichtigt<br />
wie Selektion oder äußere Umwelte<strong>in</strong>flüsse. Dennoch ist das Modell e<strong>in</strong>e gute<br />
Basis für die Untersuchung von zufälligen Evolutionsprozessen, da es auch mathematisch<br />
exakte Aussagen zulässt.<br />
1.10 Modell der Fitnesslandschaften<br />
Nach der Darw<strong>in</strong>schen Evolutionstheorie ist die elementare Triebfeder der Evolution die<br />
natürliche Auslese. Im sogenannten »struggle for life« setzen sich jene Lebewesen durch,<br />
welche besser an ihre Umwelt angepasst <strong>und</strong> nach Darw<strong>in</strong> »fitter« s<strong>in</strong>d. Seit Mitte des<br />
zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts ist bekannt, dass die Erb<strong>in</strong>formation <strong>in</strong> der DNA durch Gene<br />
kodiert wird. An den Genorten (Loci) können sie <strong>in</strong> verschiedenen Varianten (Allele)<br />
vorliegen. Die spezifische Komb<strong>in</strong>ation der Allele wird als Genotyp bezeichnet, hat<br />
direkten E<strong>in</strong>fluss auf den Phänotyp e<strong>in</strong>es Lebewesens <strong>und</strong> damit auch auf se<strong>in</strong>e Fitness.<br />
Effektiv schlägt sich der Genotyp also auf die Fitness nieder, weshalb jedem erlaubten<br />
Genotyp bzw. jeder erlaubten, möglichen Allelkomb<strong>in</strong>ation e<strong>in</strong> relativer Fitnesswert<br />
zugeordnet werden kann. Die L Loci spannen e<strong>in</strong>en L-dimensionalen Raum auf, den<br />
sogenannten »genotype space«, wobei die Kantenlänge dieses Hypercubus durch die<br />
Anzahl der Allele A begrenzt ist. Damit entspricht jeder Punkt genospace e<strong>in</strong>er Allelkomb<strong>in</strong>ation,<br />
der e<strong>in</strong> Fitnesswert zugeordnet werden kann. Die Entfernung zwischen zwei<br />
Punkten ist dabei e<strong>in</strong> Maß für die genetische Nähe dieser Komb<strong>in</strong>ationen. Für L = 2<br />
ist der Raum e<strong>in</strong>e Fläche <strong>und</strong> die Fitnesswerte können als Höhe <strong>in</strong>terpretiert durch<br />
e<strong>in</strong>e gebirgsähnliche Landschaft visualisiert werden. Man spricht von e<strong>in</strong>er »fitness<br />
landscape« (Gavrilets 2004). Dieses Modell wurde erstmals 1932 von Sewall Wright<br />
beschrieben. Es eignet sich <strong>in</strong>sbesondere, um die Dynamik e<strong>in</strong>er Population, d. h. die<br />
Änderung der Häufigkeiten von Genotypen, abzubilden.<br />
Die Konkurrenz zwischen den Individuen e<strong>in</strong>er Generation wird berücksichtigt, <strong>in</strong>dem<br />
sich von zwei zufällig gewählten Individuen stets das mit der höheren Fitness<br />
durchsetzt <strong>und</strong> den unterlegenen Konkurrenten replizierend substituiert. Erfolgt dieser<br />
Vorgang über mehrere Generationen, verändert sich die Häufigkeitsverteilung der Individuentypen.<br />
Zusätzlich zur Selektion erfasst das Modell auch Mutationen. E<strong>in</strong>e Mutation<br />
ist e<strong>in</strong>e zufällige Ersetzung e<strong>in</strong>es Alles an e<strong>in</strong>em bestimmten Locus durch e<strong>in</strong> anderes<br />
<strong>und</strong> kann als Sprung im genotype space entlang e<strong>in</strong>er Dimension gedeutet werden.<br />
19
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
Abbildung 1.4: Relative Häufigkeiten der Genotypen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gaußschen Fitnesslandschaft mit<br />
Maximum bei (7,7) unter Berücksichtigung von Mutationen.<br />
Die durch je e<strong>in</strong>en Punkt im genotype space def<strong>in</strong>ierten Individuen der Population<br />
konstanter Größe bewegen sich mittels Selektion <strong>und</strong> Mutation <strong>in</strong>nerhalb der Fitnesslandschaft.<br />
Die Selektion führt zu e<strong>in</strong>er gerichteten Tendenz der Population zu e<strong>in</strong>em<br />
lokalen Fitnessmaximum. Ist e<strong>in</strong> lokales Optimum erreicht, f<strong>in</strong>den kaum noch Veränderungen<br />
der Positionen der Individuen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er fitness landscape statt. Dieser<br />
stabile Zustand kann durch Mutationen verändert werden. Populationen, die e<strong>in</strong>e höhere<br />
Mutationsrate besitzen, werden daher auf e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>geren Fitnessniveau verbleiben<br />
als Populationen ger<strong>in</strong>gerer Mutationsrate. Andererseits werden durch die Mutation<br />
auch Möglichkeiten für das Erreichen e<strong>in</strong>es neuen lokalen Optimums geschaffen. Sie<br />
s<strong>in</strong>d daher e<strong>in</strong> wesentlicher Faktor des Modells.<br />
Unsere Implementierung e<strong>in</strong>er numerischen Simulation der Evolution auf Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Modells der Fitnesslandscapes erfolgte <strong>in</strong> der Skriptsprache GNU Octave. Hierbei<br />
g<strong>in</strong>gen wir ausschließlich von e<strong>in</strong>em aus zwei Loci resultierenden genotype space aus, so<br />
dass wir unsere Fitnesslandschaft dreidimensional plotten konnten, um e<strong>in</strong>e Anschauung<br />
der Vorgänge im Modell bekommen zu können. Der genotype space wurde von e<strong>in</strong>er<br />
kle<strong>in</strong>en Zahl von zwölf Allelen aufgespannt. Die Fitnesswerte legten wir mithilfe von<br />
Gaußschen Normalverteilungen fest. Die Genotypen der Individuen e<strong>in</strong>er möglichst<br />
groß gewählten Anfangspopulation wurden als Zufallsvektoren generiert, wobei die<br />
s<strong>in</strong>nvolle Populationsgröße durch die Rechenleistung des Computers begrenzt wird.<br />
Zunächst g<strong>in</strong>gen wir von e<strong>in</strong>er Population aus, die ke<strong>in</strong>erlei Mutationen unterworfen<br />
war. Bei der Simulation der durchschnittlichen Fitness über e<strong>in</strong>e möglichst große Zahl<br />
von Generationen strebte diese, wie zu erwarten, monoton nach oben <strong>und</strong> erreichte e<strong>in</strong>e<br />
konstante Fitness, die meist weit unter dem potenziell möglichen Optimum lag. Dies<br />
lässt sich mit dem Umstand erklären, dass der maximale Fitnesswert bei <strong>in</strong>nerartlicher<br />
Konkurrenz durch den bereits <strong>in</strong> der Anfangsverteilung der Individuen festgeschriebenen<br />
Fitnesswert des angepasstesten Individuums beschränkt ist. Unter Berücksichtigung<br />
20
1.11 Modellbeispiel Artbildung<br />
der Mutation fällt diese Schranke weg <strong>und</strong> die Population ist nunmehr <strong>in</strong> der Lage, den<br />
Fitnesspeak voll zu erschließen. Wie erwartet, kann e<strong>in</strong>e höhere Mutationsrate hierbei<br />
e<strong>in</strong> zügigeres Erreichen des lokalen Peaks bedeuten, geht allerd<strong>in</strong>gs mit e<strong>in</strong>em gesteigerten<br />
Risiko von schädlichen Mutationen e<strong>in</strong>her, welche die mittlere Fitness wiederum<br />
reduzieren.<br />
Wird jedem Punkt im genotype space die gegenwärtige Individuenzahl zugeordnet,<br />
so ergibt sich für verschiedene Zeitpunkte e<strong>in</strong>e Verteilung der Individuen <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Landschaft. Betrachtet man die Verteilung über mehrere diskrete Zeitschritte h<strong>in</strong>weg,<br />
kann man die Dynamik der Individuen zum lokalen Maximum h<strong>in</strong> verfolgen. Anschaulich<br />
ist zu beobachten, wie sich aus e<strong>in</strong>er anfänglich chaotisch anmutenden Verteilung<br />
die klare Struktur e<strong>in</strong>es Verteilungspeaks am lokalen Fitnessmaximum ausbildet, die<br />
durch Mutationen etwas »verschmiert« wird.<br />
Insgesamt ist festzuhalten, dass hier nur e<strong>in</strong> recht beschränktes Modell studiert wurde.<br />
Die E<strong>in</strong>schränkungen liegen im Wesentlichen <strong>in</strong> der fixen Populationsgröße, der Verwendung<br />
nur weniger Loci, der Annahme haploider Individuen <strong>und</strong> dem Vernachlässigen<br />
von Migration <strong>und</strong> Umwelte<strong>in</strong>flüssen. Die Konkretheit des Modells lässt sich u. a. mit<br />
der Komplexität der Landschaft beliebig steigern. Auch kann die Zahl der Loci beliebig<br />
ausgedehnt werden, wodurch die Landschaft jedoch an Anschaulichkeit verliert. Dennoch<br />
stellen fitness landscapes e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressantes <strong>und</strong> gut anwendbares Werkzeug für die<br />
numerische Analyse evolutionärer Prozesse dar.<br />
1.11 Modellbeispiel Artbildung<br />
Nach ausgiebiger Beschäftigung mit den biologischen <strong>und</strong> mathematischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
der Modellbildung gelangten wir zu dem eigentlichen Aufstellen physikalischer Modelle.<br />
Dabei stellt sich gr<strong>und</strong>legend zunächst die Frage, was überhaupt dargestellt werden<br />
soll. In diesem Modell werden das Aussterben von Arten <strong>und</strong> die mögliche Bildung<br />
neuer Arten modelliert. E<strong>in</strong>e Art ist hierbei def<strong>in</strong>iert als Gruppe von Individuen, die nur<br />
untere<strong>in</strong>ander fertile Nachkommen zeugen können.<br />
Ausgangspunkt ist e<strong>in</strong>e Population von N Individuen, deren Genotyp durch L Loci<br />
mit Allelen a l ∈ {−1, +1} für alle l ∈ {1, ..., L} gegeben ist (Higgs 1992). Außerdem<br />
wird die genetische Ähnlichkeit zweier Individuen n <strong>und</strong> m durch den sogenannten<br />
Überlapp u nm erfasst. Zwei Individuen unterscheiden sich <strong>in</strong> allen Merkmalen, wenn<br />
u nm = −1 <strong>und</strong> sie s<strong>in</strong>d genetisch identisch, falls u nm = +1 mit<br />
u nm = 1 L<br />
L<br />
∑<br />
l=1<br />
a (n)<br />
l<br />
a (m)<br />
l<br />
.<br />
Zunächst werden zufällige Paarungen <strong>und</strong> ihre Auswirkungen auf die Population<br />
untersucht. Dazu werden zwei zufällige Eltern der Ausgangsgeneration gewählt <strong>und</strong><br />
gepaart. Der Genotyp des K<strong>in</strong>des ergibt sich durch zufällige Wahl des Allels e<strong>in</strong>es<br />
der Elternteile an jedem Locus des Genoms. Zusätzlich tritt an jedem Locus mit Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
µ e<strong>in</strong>e Mutation auf, welche das Vorzeichen des entsprechenden Allels<br />
21
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
wechselt. Der Vorgang wird N-mal iteriert <strong>und</strong> die K<strong>in</strong>dergeneration stellt die neue<br />
Ausgangspopulation. Jeder solcher Schritt ist e<strong>in</strong> Generationszyklus t ∈ {1, ..., T}, wobei<br />
T Generationen betrachtet werden. Für dieses Modell liefern die Methoden der statistischen<br />
Physik analytische Lösungen. Der gemittelte Überlapp der Population ergibt sich<br />
zu<br />
ū =<br />
1<br />
1 + N(e 4µ − 1) .<br />
Dieses Ergebnis stimmt gut mit den Simulationen übere<strong>in</strong> <strong>und</strong> ist e<strong>in</strong>fach zu <strong>in</strong>terpretieren.<br />
Ohne Mutationen, d. h. µ = 0, sterben bestimmte Allele aus, wie vom<br />
Wright-Fisher-Modell oben bekannt. Das führt schließlich dazu, dass die gesamte Population<br />
den gleichen Genotyp <strong>und</strong> damit den Überlapp ū = 1 besitzt. Mutationen<br />
stören diese Angleichung <strong>und</strong> reduzieren die mittlere genetische Ähnlichkeit ū < 1<br />
der Individuen. Da hier jedoch alle Individuen Nachkommen zeugen können, kann<br />
s<strong>in</strong>nvollerweise nicht von Artbildung gesprochen werden.<br />
Darum wird die Fortpflanzungsdynamik des Modells nun so modifiziert, dass Artbildung<br />
auftreten kann. Die wieder zufällig ausgewählten Eltern n <strong>und</strong> m können sich<br />
nur noch paaren, wenn sie sich genetisch ähneln, d. h. wenn sie e<strong>in</strong>en Überlapp u nm > d<br />
aufweisen. Dabei ist d der M<strong>in</strong>dest-Überlapp für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Paarung. Durch diese<br />
biologisch <strong>in</strong>terpretierbare Paarungsschranke kommt es zu <strong>in</strong>teressanten Phänomenen.<br />
Ausgangspunkt sei e<strong>in</strong>e Population identischer Individuen, die sich alle untere<strong>in</strong>ander<br />
paaren können. Durch zufällige Mutationen, können sich jedoch manche Individuen so<br />
weit von der Population entfernen, dass ke<strong>in</strong>e Paarung mehr möglich ist. Unter Umständen<br />
stirbt das e<strong>in</strong>zelne Individuum ohne weitere Konsequenzen. Kommen jedoch durch<br />
neue Mutationen weitere Individuen h<strong>in</strong>zu, so kann sich diese kle<strong>in</strong>e Gründerpopulation<br />
zu e<strong>in</strong>er eigenen Art ausbilden. Derartige Artbildungsprozesse können sukzessive<br />
ablaufen <strong>und</strong> lassen sich <strong>in</strong> Stammbäumen erfassen, wie sie aus der systematischen<br />
Biologie bekannt s<strong>in</strong>d.<br />
Das Modell geht von e<strong>in</strong>fachen Annahmen aus <strong>und</strong> betrachtet nur haploide Individuen<br />
mit wenigen Loci, wenigen Allelen, sexueller Reproduktion <strong>und</strong> Mutation. Es<br />
ignoriert Selektions-Effekte, Migration <strong>und</strong> Umwelt-E<strong>in</strong>flüsse. Dennoch ist das Modell<br />
sehr nützlich. E<strong>in</strong>erseits ist es nicht nur numerisch, sondern auch noch analytisch behandelbar.<br />
Anderseits liefert es erste E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die fasz<strong>in</strong>ierenden Prozesse der Artbildung,<br />
die zu der enormen Vielfalt an Lebewesen geführt haben, die wir heute beobachten.<br />
1.12 Wissenschaftliche Modelle <strong>und</strong> Erkenntnistheorie<br />
Die Evolution ist e<strong>in</strong> komplexer Vorgang, weshalb Modelle für Voraussagen erforderlich<br />
s<strong>in</strong>d. Es stellt sich aber generell die Frage, was e<strong>in</strong> Modell leisten kann. In diesem<br />
Zusammenhang betrachten wir hier drei philosophische Fragestellungen der Erkenntnistheorie.<br />
Gibt es e<strong>in</strong>e Realität Können wir e<strong>in</strong>e solche erkennen Können wir wissen,<br />
also verlässliche Aussagen machen Dazu existieren zahlreiche Denkrichtungen, wobei<br />
wir uns im Folgenden auf drei davon beschränken.<br />
22
1.12 Wissenschaftliche Modelle <strong>und</strong> Erkenntnistheorie<br />
Der naive Realismus geht davon aus, dass es e<strong>in</strong>e von uns unabhängige Realität gibt<br />
<strong>und</strong> wir diese auch durch unsere Wahrnehmungen erkennen <strong>und</strong> folglich verlässliche<br />
Aussagen über die Wirklichkeit treffen können (Tschepke 2004). Ansonsten käme der<br />
Erfolg e<strong>in</strong>er Theorie aus realistischer Sicht e<strong>in</strong>em W<strong>und</strong>er gleich. Viele Realisten nehmen<br />
an, dass Theorien zwar nicht verifizierbar s<strong>in</strong>d, aber durch die Methode der Falsifikation<br />
e<strong>in</strong>e Annäherung wissenschaftlicher Theorien an die Wirklichkeit möglich ist.<br />
E<strong>in</strong>ige dieser Argumente werden durch den sogenannten Skeptizismus entkräftet.<br />
Diese Position bezweifelt die Existenz e<strong>in</strong>er feststellbaren Realität (Tschepke 2004). Sie<br />
kritisieren den Realismus h<strong>in</strong>sichtlich der gesicherten Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung durch Wahrnehmung,<br />
da unsere S<strong>in</strong>ne getäuscht werden können, z. B. durch e<strong>in</strong>e Fatamorgana.<br />
Klassische skeptizistische Gedankenexperimente versuchen weiterh<strong>in</strong> zu verdeutlichen,<br />
dass wir auch dauerhaft getäuscht werden könnten, wie das Höhlengleichnis, der Genius<br />
malignus <strong>und</strong> das Gehirn-im-Tank-Szenario darlegen. Oft verweisen Skeptiker auf das<br />
Münchhausen-Trilemma, nach welchem Aussagen sich nie letztbegründen lassen, was<br />
den Anspruch e<strong>in</strong>es gesicherten Wissens untergräbt. Kritisch am Skeptizismus ist, dass es<br />
sich bei der Aussage »Es gibt ke<strong>in</strong>e Wahrheit« um e<strong>in</strong>en Selbstwiderspruch handelt. Skeptiker<br />
umgehen dieses Problem, <strong>in</strong>dem sie sagen, dass der Allgeme<strong>in</strong>gültigkeitsanspruch<br />
nicht vertreten werden muss <strong>und</strong> dass der Widerspruch nur unter der Annahme der Gültigkeit<br />
der Logik resultiert. Da Realismus <strong>und</strong> Skeptizismus gute (Gegen-)Argumente<br />
br<strong>in</strong>gen, konnte bis heute diese sogenannte Realismus-Antirealismus-Debatte nicht<br />
entschieden werden.<br />
Der Instrumentalismus schließt e<strong>in</strong>e solche Entscheidung aus. Für Instrumentalisten<br />
ist nicht der verme<strong>in</strong>tliche Wahrheitsgehalt e<strong>in</strong>er Theorie relevant, sondern nur ihr Erfolg<br />
<strong>und</strong> ihre Anwendbarkeit (Glasersfeld 1997). Instrumentalisten würden demnach auch<br />
falsifizierte Modelle nutzen, wenn diese e<strong>in</strong>em bestimmten Zweck dienen. E<strong>in</strong>ige Instrumentalisten<br />
vertreten diese These mit dem zusätzlichen Argument, dass Wissen nicht<br />
objektiv ist, sondern <strong>in</strong>dividuell auf Gr<strong>und</strong>lage der persönlichen Erfahrung konstruiert<br />
wird.<br />
Es gibt also sehr unterschiedliche Positionen zur Erkenntnistheorie, deren <strong>in</strong>haltliche<br />
Beurteilung aus heutiger Sicht nicht möglich ist. Trotzdem können gewisse metatheoretische<br />
Schlussfolgerungen gezogen werden. E<strong>in</strong>erseits kann die Herangehensweise<br />
beim Konstruieren e<strong>in</strong>es Modells deutlich von der Denkrichtung abhängen, da Realisten<br />
eventuell durch den regulativen Gedanken e<strong>in</strong>er Wirklichkeit <strong>in</strong>spiriert werden, während<br />
Instrumentalisten vielleicht flexibler s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> zielorientierter arbeiten. Andererseits<br />
ist es immer hilfreich, sich der Annahmen bewusst zu se<strong>in</strong>, die bei der Modellierung<br />
getroffen werden, um nicht unbegründeten Geltungsansprüchen zu verfallen. Die erkenntnistheoretische<br />
Debatte spielt auch <strong>in</strong> der sogenannten Ursprung-Debatte e<strong>in</strong>e<br />
Rolle.<br />
23
1 Physikalische Modelle der Evolution<br />
1.13 Kreationismus <strong>und</strong> Evolutionstheorie<br />
Der Begriff »Kreationismus« beschreibt die Idee, dass die Evolution <strong>und</strong> damit die<br />
Entstehung <strong>und</strong> Weiterentwicklung des Lebens auf der Erde durch das Alte Testament<br />
der christlichen Bibel beschrieben wird. In den USA flammte vor Kurzem die Diskussion<br />
auf, ob e<strong>in</strong>e Variante des Kreationismus namens »Intelligent Design« <strong>in</strong> der Schule im<br />
Biologieunterricht gelehrt werden soll, was die Aktualität <strong>und</strong> politische Relevanz der<br />
sogenannten Ursprung-Debatte unterstreicht. Was die Kernaussagen dieser Theorie s<strong>in</strong>d<br />
<strong>und</strong> wie sie aus Sicht wissenschaftlich anerkannter Evolutionstheorien zu beurteilen<br />
s<strong>in</strong>d, soll im Folgenden gezeigt werden.<br />
Die wohl zentralste Aussage der Kreationisten ist der Schöpfungsgedanke. Sie argumentieren,<br />
dass die Evolution viel zu kompliziert sei, als dass sie auf Zufällen basieren<br />
könne. Daher müsse es e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>telligenten Schöpfer geben, der <strong>in</strong>nerhalb der letzten<br />
10 000 Jahre den Menschen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er heutigen Gestalt erschaffen habe. Damit grenzen<br />
sich die Kreationisten klar von der naturwissenschaftlichen Auffassung der Entstehung<br />
<strong>und</strong> Weiterentwicklung des Lebens ab. Sie behaupten, es gäbe ke<strong>in</strong>erlei Beweise für<br />
diesen Ablauf <strong>und</strong> der wissenschaftliche Gedanke basiere auf frei gewählten Postulaten,<br />
die sich nicht verifizieren ließen. So kommen sie zu dem Schluss, dass die naturwissenschaftliche<br />
Ansicht über die Evolution eben nur e<strong>in</strong>e Theorie <strong>und</strong> ke<strong>in</strong> Faktum darstelle.<br />
Für e<strong>in</strong>e solche ungerichtete Evolution gibt es heute jedoch konsistente Erklärungen,<br />
die biologisches <strong>und</strong> geologisches Wissen mit physikalischen Modellen verknüpfen <strong>und</strong><br />
die Annahme e<strong>in</strong>es Schöpfers nicht benötigen. Weiterh<strong>in</strong> ist festzustellen, dass nach<br />
dem wissenschaftlichen Ansatz Theorien nie bewiesen, sondern allenfalls widerlegt<br />
werden können. Die Evolutionstheorie konnte bisher nicht falsifiziert werden. Außerdem<br />
beurteilen viele Wissenschaftler Theorien nach ihrer Anwendbarkeit. Während<br />
Evolutionstheorien erfolgreich Vorhersagen treffen, macht die Annahme e<strong>in</strong>es noch<br />
heute aktiven Designers solche Versuche von vornhere<strong>in</strong> unmöglich. E<strong>in</strong>en weiteren<br />
kreationistischen Ansatzpunkt stellt das Autoritätsargument dar. So suchen die Kreationisten<br />
Unterstützung ihrer Idee bei berühmten Persönlichkeiten, wie dem ehemaligen<br />
US-Präsident George W. Bush, der während se<strong>in</strong>er Amtszeit forderte, dass sowohl naturwissenschaftliche<br />
als auch kreationistische Ideen im Schulunterricht vermittelt werden<br />
sollten. Teilweise berufen sich Kreationisten auch fälschlicherweise auf berühmte Forscher<br />
wie Albert E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong>. Festzustellen ist allerd<strong>in</strong>gs, dass sich die meisten Christen<br />
h<strong>in</strong>ter die Kernaussagen der Evolutionstheorie stellen <strong>und</strong> auch der Papst diese Theorie<br />
anerkennt.<br />
Es gibt viele weitere kreationistische Argumente. Dazu gehören angebliche »miss<strong>in</strong>g<br />
l<strong>in</strong>ks«, die Behauptung der Unvere<strong>in</strong>barkeit der Evolution mit den Gesetzen der Thermodynamik<br />
<strong>und</strong> viele weiter, die aber von der wissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft als<br />
ungerechtfertigt betrachtet werden. Die Ursprungs-Debatte ist damit ke<strong>in</strong>e wissenschaftliche,<br />
sondern e<strong>in</strong>e religiös-motivierte politische Diskussion.<br />
24
1.14 Literaturverzeichnis<br />
1.14 Literaturverzeichnis<br />
[1] Banach, S.; Tarski, A.: Sur la décomposition des ensembles de po<strong>in</strong>ts en parties respectivement<br />
congruentes. In: F<strong>und</strong> math Vol. 6 1924, 244–277.<br />
[2] Bayrhuber, H.; Kull, U. et al.: L<strong>in</strong>der-Biologie. Braunschweig 2006.<br />
[3] Campbell, N. A.; Reece, J. B.: Biology. 7th Edition. San Francisco 2005.<br />
[4] Darw<strong>in</strong>, C. R.: Journal of Researches. John Murray 1845.<br />
[5] Drossel, B.: Biological evolution and statistical physics. In: Advances <strong>in</strong> physics Vol. 50,2<br />
2001, 209–295.<br />
[6] Gavrilets, S.: Fitness landscapes and the orig<strong>in</strong> of species. In: Austral Ecology Vol. 30,5<br />
2004, 610–611.<br />
[7] Glasersfeld, E.: Radikaler Konstruktivismus. Berl<strong>in</strong> 1997.<br />
[8] Higgs, P. G.; Derrida, B.: Genetic distance and species formation <strong>in</strong> evolv<strong>in</strong>g populations.<br />
In: Journal of molecular evolution Vol. 35,5 1992, 454–465.<br />
[9] Krengel, U.: E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitstheorie <strong>und</strong> Statistik. Wiesbaden<br />
2005.<br />
[10] Me<strong>in</strong>trup, D.: Stochastik: Theorie <strong>und</strong> Anwendungen. Berl<strong>in</strong> 2005.<br />
[11] Tschepke, F.: Wissenschaftlicher Realismus. Gött<strong>in</strong>gen 2004.<br />
[12] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chromosom.svg<br />
25
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
2.1 Kursübersicht<br />
Heiko Panzer <strong>und</strong> Lasse Schnepel<br />
Die digitale Revolution der vergangenen Jahrzehnte manifestierte sich nicht nur <strong>in</strong> Form<br />
der allgegenwärtigen PCs; m<strong>in</strong>destens ebenso entscheidend für ihren Verlauf war auch<br />
die Entwicklung der sogenannten Mikrocontroller. Diese kle<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tegrierten Schaltkreise,<br />
kurz Chips genannt, ersetzten nach <strong>und</strong> nach die komplizierten <strong>und</strong> unflexiblen<br />
Schaltungen, die bis dato aus diskreten Halbleitern aufgebaut werden mussten: Oft<br />
kle<strong>in</strong>er als e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>gernagel, s<strong>in</strong>d Mikrocontroller heutzutage dennoch mit leistungsfähigen<br />
Prozessoren ausgestattet, können <strong>in</strong>dividuell programmiert werden <strong>und</strong> bilden<br />
die Schaltzentrale fast aller moderner elektrischer Geräte von der Armbanduhr bis zur<br />
Waschmasch<strong>in</strong>e.<br />
Im Kurs wurde diese Erfolgsgeschichte detailliert nachvollzogen. Angefangen von<br />
l<strong>in</strong>earen Netzwerken (bestehend aus Widerständen, Spulen <strong>und</strong> Kondensatoren) behandelten<br />
wir die Funktionsweise von Halbleitern <strong>und</strong> lernten diverse Schaltungen<br />
mit diskreten Halbleitern, <strong>in</strong>sbesondere Bipolartransistoren <strong>und</strong> MOSFETs, kennen. Wir<br />
untersuchten, wie Transistoren zum Aufbau logischer Gatter verwendet <strong>und</strong> diese zu<br />
immer komplexeren funktionellen E<strong>in</strong>heiten bis h<strong>in</strong> zu Prozessoren komb<strong>in</strong>iert werden<br />
können. Gr<strong>und</strong>lagen der logischen <strong>und</strong> b<strong>in</strong>ären Mathematik wurden hierfür ebenfalls<br />
im Kurs geschaffen.<br />
Dann widmeten wir uns nach <strong>und</strong> nach der Programmierung der Mikrocontroller;<br />
dazu bauten die Teilnehmer auf dem Steckbrett e<strong>in</strong> Reaktionsspiel auf <strong>und</strong> entwickelten<br />
<strong>in</strong> Assemblersprache Code zu dessen Ansteuerung. Sie lernten periphere Komponenten<br />
der e<strong>in</strong>gesetzten Mikrocontrollern der Firma Atmel kennen <strong>und</strong> nutzten diese zum<br />
Auslesen von Tastern <strong>und</strong> Ansteuern von Leuchtdioden, um das Spiel zu programmieren.<br />
Dabei kamen später auch Techniken wie Unterprogramme <strong>und</strong> Interrupts zum E<strong>in</strong>satz.<br />
Die nachfolgenden Dokumentations-Beiträge bieten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne behandelte<br />
Kursthemen.<br />
Abschließend danken wir der Firma Atmel für das großzügige Sponsor<strong>in</strong>g der AVRISP<br />
mkII Programmieradapter, mit deren Hilfe sich die Teilnehmer des Kurses auch <strong>in</strong><br />
Zukunft selbstständig mit der Programmierung von Mikrocontrollern ause<strong>in</strong>andersetzen<br />
können.<br />
2.2 Von der Glühbirne zum <strong>in</strong>tegrierten Schaltkreis<br />
Bevor die ersten e<strong>in</strong>satzfähigen Mikrocontroller gebaut werden konnten, musste sich<br />
zunächst die Röhrentechnik zur Transistortechnik <strong>und</strong> diese schließlich zu den <strong>in</strong>tegrierten<br />
Schaltkreisen (engl. <strong>in</strong>tegrated circuits: ICs) entwickeln. Die erste Gr<strong>und</strong>lage wurde<br />
27
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
1883 von Edison geschaffen, der bei se<strong>in</strong>en Experimenten mit der Glühbirne entdeckte,<br />
dass durch die Hitze im Glühdraht e<strong>in</strong> Elektronenfluss <strong>in</strong> der Luft entsteht, später als<br />
Edison-Richardson-Effekt benannt.<br />
Dieser konnte 21 Jahre später von Flem<strong>in</strong>g zur Vakuum Diode weiterentwickelt<br />
werden, die sich den Effekt zur Gleichrichtung zu Nutze machte <strong>und</strong> somit die Basis für<br />
die Röhrentechnik bildete.<br />
Bereits 1906 wurden dann mithilfe der Liebenröhre elektrische Signale verstärkt, womit<br />
beispielsweise die Telefonie verbessert werden konnte. Jedoch kam es zwischen Lieben<br />
<strong>und</strong> dem Entwickler des Röhrenverstärkers De Foret zu e<strong>in</strong>em jahrelangen Rechtsstreit,<br />
da beide zeitgleich an e<strong>in</strong>em Verstärker für elektrische Signale forschten. 1912 setzte sich<br />
De Foret schließlich mit se<strong>in</strong>em Röhrenverstärker durch, da er se<strong>in</strong> Modell mit Hilfe e<strong>in</strong>es<br />
Hochvakuums markttauglich machte <strong>und</strong> bei der Firma Bell Telephone Laboratories<br />
vorstellte. Auf diese Weise konnte nicht nur die Telefonverb<strong>in</strong>dung zwischen New York<br />
<strong>und</strong> Baltimore entstehen, sondern auch die Signale auf dem Atlantik-Seekabel verstärkt<br />
werden.<br />
Mit der Entwicklung des ersten Transistors im Jahre 1947 wurde die Röhrentechnik<br />
allmählich von der Transistortechnik abgelöst. So konnte der bei der Entwicklung des<br />
Radars erf<strong>und</strong>ene Transistor zur analogen Schaltungstechnik genutzt werden.<br />
Der erste <strong>in</strong>tegrierte Schaltkreis wurde 1958 von Kilby entwickelt <strong>und</strong> bestand zunächst<br />
nur aus zwei Transistoren, die über e<strong>in</strong> Substrat <strong>und</strong> Golddrähte verb<strong>und</strong>en wurden.<br />
E<strong>in</strong> Jahr später verbesserte Noyce diesen Schaltkreis noch weiter, <strong>in</strong>dem sowohl die<br />
Bauelemente, als auch die Verdrahtung auf e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Substrat angebracht wurde<br />
(monolithisch).<br />
Mit der Entwicklung der Dünnschichttransistoren <strong>in</strong> den 60er Jahren konnte schließlich<br />
e<strong>in</strong>e große Anzahl elektronischer Schaltungen hergestellt werden. 1970 machte man sich<br />
dieses Pr<strong>in</strong>zip zu Nutze <strong>und</strong> brachte 30 bis 1000 Transistoren auf e<strong>in</strong>em Chip unter.<br />
Diese medium-scale <strong>in</strong>tegration (MSI) wurde wenig später bereits von der large-scale<br />
<strong>in</strong>tegration (LSI) abgelöst, wo e<strong>in</strong>ige Tausend Transistoren Platz auf e<strong>in</strong>em Chip fanden.<br />
Auf diese Weise konnte der komplette Hauptprozessor e<strong>in</strong>es Computers auf e<strong>in</strong>en Chip<br />
untergebracht werden, was zur e<strong>in</strong>er enormen Kostenreduktion führte. Heute können<br />
sogar ICs bestehend aus mehr als 500 Millionen Transistoren produziert werden.<br />
Mittlerweile enthalten e<strong>in</strong>ige Grafik-Prozessoren bis zu 3 Milliarden Transistoren <strong>und</strong><br />
die ICs machen mehr als 50 % der Wertsteigerung der Auto<strong>in</strong>dustrie aus, was die Chips<br />
zum von der Menschheit <strong>in</strong> der höchsten Gesamtstückzahl produzierten Bauteil macht.<br />
2.3 Widerstände <strong>und</strong> elektrische Netzwerke<br />
2.3.1 Ohmsches Gesetz<br />
Das Ohmsche Gesetz besagt, dass die Spannung U zwischen den zwei Enden e<strong>in</strong>es<br />
Leiters direkt proportional zur Stromstärke I ist. Der elektrische Widerstand R ist der<br />
Proportionalitätsfaktor, mit<br />
R = U/I.<br />
28
2.4 Das B<strong>in</strong>ärsystem<br />
2.3.2 Leitfähigkeit von Materialien<br />
E<strong>in</strong> Material muss freie Ladungsträger aufweisen, damit es e<strong>in</strong>en Strom ermöglichen<br />
kann. In Gitternetzstrukturen von Metallen liegen viele freien Elektronen vor, weshalb<br />
diese Materialien den elektrischen Strom sehr gut leiten. Stoffe, die den elektrischen<br />
Strom nicht leiten, werden als Isolatoren bezeichnet. Hier s<strong>in</strong>d Ladungen fest an e<strong>in</strong>e<br />
Position geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> können somit ke<strong>in</strong>en elektrischen Strom transportieren. Die<br />
spezifische Leitfähigkeit ρ beschreibt, wie stark e<strong>in</strong> bestimmter Leiter den Strom leitet.<br />
Die Übergänge <strong>in</strong> der Leitfähigkeit zwischen Leitern <strong>und</strong> Isolatoren s<strong>in</strong>d fließend: Jedes<br />
Material hat e<strong>in</strong>e unterschiedliche Leitfähigkeit, da sie von den Materialeigenschaften,<br />
wie beispielsweise der Anzahl der freien Ladungsträger, abhängt.<br />
2.3.3 Bauelement Widerstand<br />
Der Widerstand ist e<strong>in</strong> elektrisches Bauelement, das dem elektrischen Strom entgegenwirkt.<br />
Folglich gelangen weniger Ladungen von e<strong>in</strong>em Pol zum anderen, was wegen des<br />
Ohmschen Gesetzes e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Stromstärke oder e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Stromspannung zur<br />
Folge hat. E<strong>in</strong> Widerstand besteht aus e<strong>in</strong>em Material mit e<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>gen spezifischen<br />
Leitfähigkeit.<br />
2.3.4 Elektrische Netzwerke<br />
Bei elektrischen Schaltungen existieren Knoten <strong>und</strong> Maschen, die das Netz e<strong>in</strong>er Schaltung<br />
bilden. E<strong>in</strong> Knoten def<strong>in</strong>iert e<strong>in</strong>en Punkt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schaltung, an dem e<strong>in</strong>e Spannung<br />
oder Stromstärke gemessen werden kann. E<strong>in</strong>e Masche stellt e<strong>in</strong>en Ausschnitt e<strong>in</strong>es<br />
Schaltkreises dar. Sie ist e<strong>in</strong> beliebig geschlossener Kreis. Die erste Kirchhoffsche Regel<br />
(Knotenregel) besagt, dass die Summe aller Ströme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Knoten Null ist:<br />
∑ I = 0.<br />
Die zweite Kirchhoffsche Regel (Maschenregel) besagt, dass die Summe der Spannungen<br />
entlang jeder Masche Null ist:<br />
∑ U = 0.<br />
2.4 Das B<strong>in</strong>ärsystem<br />
2.4.1 Technische Notwendigeit von B<strong>in</strong>ärzahlen<br />
Zur Kommunikation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rechner (z. B. Mikrocontroller) benötigt man b<strong>in</strong>äre<br />
Zahlen, da der Rechner nur zwei Zustände, 0 <strong>und</strong> 1, kennt: Entweder es liegt e<strong>in</strong>e<br />
Spannung an (1) oder nicht (0). Folglich werden auch die Befehle <strong>in</strong> B<strong>in</strong>ärschreibweise<br />
formuliert.<br />
29
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
2.4.2 Codierung von Zahlen<br />
Die kle<strong>in</strong>ste Informationse<strong>in</strong>heit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rechner ist e<strong>in</strong> Bit, d. h. e<strong>in</strong>e Stelle, die zwei<br />
Zustände annehmen kann (0 <strong>und</strong> 1). Das B<strong>in</strong>ärsystem zählt zu den Stellenwertsystemen,<br />
bei welchen die Position e<strong>in</strong>er Ziffer über deren Wert entscheidet. Die allgeme<strong>in</strong>e Formel<br />
lautet:<br />
Zahl = ∑ b i · B i = b n B n + b n−1 B n−1 + . . . + b 1 B 1 + b 0 .<br />
Dabei ist B die Basis des Systems (hier: 2) <strong>und</strong> b der Stellenwert (1 oder 0). E<strong>in</strong> Byte<br />
besteht aus acht Bit <strong>und</strong> kann die Zahlen 0–255 annehmen (2 8 = 256).<br />
E<strong>in</strong> anderes Stellensystem ist das Hexadezimalsystem mit der Basis 16 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Stellenwertbereich von 0-9 <strong>und</strong> A-F. Das Byte lässt sich <strong>in</strong> diesem System darstellen,<br />
<strong>in</strong>dem immer vier Stellen der B<strong>in</strong>ärzahl (Nibble) zu e<strong>in</strong>er Hexadezimalstelle zusammengefasst<br />
werden. E<strong>in</strong> Beispiel: 0b1010 1100 = 0xAC.<br />
2.4.3 Rechnen im B<strong>in</strong>ärsystem<br />
Um bestimmte Operationen auszuführen, ist es häufig erforderlich mit B<strong>in</strong>ärzahlen<br />
rechnen zu können. Die Rechenoperationen können hierbei äquivalent zu denen des<br />
Dezimalsystems verwendet werden, da dieses ebenfalls e<strong>in</strong> Stellenwertsystem ist. E<strong>in</strong><br />
Beispiel e<strong>in</strong>er Addition ist <strong>in</strong> der folgenden Tabelle zu sehen:<br />
010 0<br />
+ 010 1<br />
1001<br />
Der Rechner kennt als Rechenoperation nur die Addition. Alle anderen Rechenarten<br />
können jedoch mit ihrer Hilfe über bestimmte Algorithmen ausgeführt werden. So wird<br />
z. B. die Subtraktion als Addition e<strong>in</strong>er negativen Zahl realisiert. Dann tritt allerd<strong>in</strong>gs<br />
das Problem auf, dass b<strong>in</strong>äre Zahlen ke<strong>in</strong> Vorzeichen erhalten können, da nur 0 <strong>und</strong> 1<br />
zur Verfügung stehen. Um negative Zahlen trotzdem darstellen zu können, werden sie<br />
im Komplement geschrieben. Es gibt zwei verschiedene Arten von Komplementen:<br />
30
2.5 B<strong>in</strong>äre Logik<br />
X1 X2 Y<br />
0 0 0<br />
0 1 0<br />
1 0 0<br />
1 1 1<br />
(a) Und (Konjunktion)<br />
X1 X2 Y<br />
0 0 0<br />
0 1 1<br />
1 0 1<br />
1 1 1<br />
(b) Oder (Disjunktion)<br />
Abbildung 2.1: Logikgatter.<br />
X1 X2 Y<br />
0 0 0<br />
0 1 1<br />
1 0 1<br />
1 1 0<br />
(c) Entweder Oder<br />
(Antivalenz)<br />
1. Das E<strong>in</strong>erkomplement, welches sich aus der Differenz von n E<strong>in</strong>sen <strong>und</strong> der<br />
umzuwandelnden Zahl zusammensetzt (bitweise Inversion).<br />
2. Das Zweierkomplement, welches sich aus der Differenz e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>s mit n Nullen<br />
<strong>und</strong> der umzuwandelnden Zahl bildet. Vor e<strong>in</strong>er Operation muss def<strong>in</strong>iert werden,<br />
ob das Komplement berücksichtigt werden soll, d. h. ob mit negativen Werten<br />
gearbeitet wird. Ist die erste Stelle (von l<strong>in</strong>ks) e<strong>in</strong>e 1, so ist die Zahl negativ, sonst<br />
ist sie positiv.<br />
2.5 B<strong>in</strong>äre Logik<br />
Um Logikgatter, welche den Kern von Mikroprozessoren bilden, zu verstehen, benötigt<br />
man e<strong>in</strong>e b<strong>in</strong>äre Logik.<br />
2.5.1 Logikgatter<br />
Für die Informationsverarbeitung im Computer s<strong>in</strong>d Logikgatter (auch Verknüpfungen<br />
genannt) von essentieller Bedeutung. Logikgatter s<strong>in</strong>d elektronische Bauteile, welche<br />
e<strong>in</strong> oder mehrere E<strong>in</strong>gangssignale (die als logische 1 oder 0 <strong>in</strong>terpretiert werden) zu<br />
e<strong>in</strong>em Ausgangssignal (welches auch als 1 oder 0 <strong>in</strong>terpretiert wird) vere<strong>in</strong>en. Die<br />
Funktionsweise e<strong>in</strong>es Logikgatters kann durch e<strong>in</strong>e Wahrheitstabelle (siehe Abbildung<br />
2.1) dargestellt werden, wobei die X-Spalten die E<strong>in</strong>gänge <strong>und</strong> die Y-Spalte den Ausgang<br />
bezeichnen.<br />
Durch Verknüpfungen mehrerer Logikgatter lassen sich beliebig komplexe logische<br />
Funktionen erzeugen. Logikgatter s<strong>in</strong>d wiederum durch Verschalten mehrerer Transistoren<br />
realisiert. Besondere Wichtigkeit besitzen die NAND- <strong>und</strong> NOR-Gatter, da sich alle<br />
anderen Verknüpfungen entweder durch NAND- oder durch NOR-Technik ersetzen lassen<br />
<strong>und</strong> die Umsetzung mit Transistoren besonders e<strong>in</strong>fach ist.<br />
2.5.2 Logikpegel<br />
E<strong>in</strong>en def<strong>in</strong>ierten Bereich der physikalischen Größe, welche Logikpegel genannt wird,<br />
<strong>in</strong>terpretiert man als 1 <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en anderen def<strong>in</strong>ierten Pegelbereich <strong>in</strong>terpretiert man<br />
als 0. Technisch realisiert werden diese Logikzustände durch physikalische Größen<br />
wie elektrische Spannung, elektrischer Strom, Luftdruck, Lichtstärke etc. (meistens<br />
elektrische Spannung).<br />
31
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
Abbildung 2.2: Schaltzeichen des Kondensators.<br />
2.5.3 Registermanipulation durch Logikverknüpfungen<br />
Es können durch Logikverknüpfungen bestimmte Bits e<strong>in</strong>es Bytes gesetzt, gelöscht oder<br />
<strong>in</strong>vertiert werden. Wird beispielsweise e<strong>in</strong> Bit mit e<strong>in</strong>er logischen 1 »Oder«-verknüpft,<br />
ist das Ergebnis immer e<strong>in</strong>e 1. Dies kann anhand der Wahrheitstabelle nachvollzogen<br />
werden. Die restlichen Bits werden mit e<strong>in</strong>er logischen 0 oder-verknüpft, da diese<br />
Operation die Bits nicht verändert. Analog hierzu können »Entweder Oder« <strong>und</strong> »Und«<br />
Verknüpfungen e<strong>in</strong>zelne Bits <strong>in</strong>vertieren beziehungsweise löschen.<br />
2.6 Kondensatoren<br />
2.6.1 Allgeme<strong>in</strong>es<br />
Seit mehr als 150 Jahren s<strong>in</strong>d Kondensatoren Gegenstand der Forschung. Obwohl sich<br />
ihre elektrische Gr<strong>und</strong>funktion nicht geändert hat, werden heutzutage weltweit Milliarden<br />
dieser Bauelemente produziert <strong>und</strong> e<strong>in</strong>gesetzt. Es handelt sich um Bauelemente,<br />
die auf gegene<strong>in</strong>ander isolierten, räumlich ausgedehnten Leiterflächen im geladenen<br />
Zustand ungleichartige elektrische Ladungen tragen. Zwischen den Leitern besteht e<strong>in</strong><br />
elektrostatisches Feld. Der isolierende Stoff zwischen den Leitern wird als Dielektrikum<br />
bezeichnet. Das Schaltzeichen ist <strong>in</strong> Abbildung 2.2 dargestellt. Fließen elektrische Ladung<br />
auf die Leiterflächen e<strong>in</strong>es Kondensators, speichert dieser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em elektrischen Feld<br />
die zum Aufladen benötigte Energie.<br />
2.6.2 Bauformen <strong>und</strong> Eigenschaften<br />
Kondensatoren s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> verschiedenartigen Ausführungen wie beispielsweise Keramikfestkondensatoren,<br />
Folienkondensatoren oder Elektrolytkondensatoren verfügbar. Keramikfestkondensatoren<br />
haben e<strong>in</strong> Dielektrikum aus Oxidkeramik. E<strong>in</strong>gebrannte Schichten<br />
aus Silber oder Nickel bilden die Beläge. Es existieren verschiedene Bauformen, wobei<br />
heute für die Elektronik vorallem keramische Scheiben- <strong>und</strong> Vielschichtkondensatoren<br />
von Bedeutung s<strong>in</strong>d. Letztere erweitern den Kapazitätsbereich auf mehrere h<strong>und</strong>ert<br />
Mikrofarad <strong>und</strong> verm<strong>in</strong>dern gleichzeitig die kapazitätsbezogene Baugröße.<br />
Folienkondensatoren werden vorwiegend als Wickelkondensatoren gefertigt. Es s<strong>in</strong>d<br />
Ausführungen als Belagfoliekondensatoren <strong>und</strong> als metallisierte Kunststofffolie-Kondensatoren<br />
möglich. Bei Belagfoliekondensatoren bestehen die Kondensatorwickel aus zwei<br />
Kunststofffolien als Dielektrikum <strong>und</strong> zwei Metallfolien als Kondensatorelektroden<br />
(Kondensatorbeläge). Der Aufbau der Wickel für Kunststofffolie-Kondensatoren erfolgt<br />
s<strong>in</strong>ngemäß durch Wickeln von zwei metallisierten Kunststofffolien.<br />
32
2.7 Spulen<br />
Mit Elektrolytkondensatoren (Elkos) lassen sich Kapazitätswerte bis zu mehreren<br />
Millifarad realisieren. E<strong>in</strong> Alum<strong>in</strong>iumelko besteht aus e<strong>in</strong>em Alum<strong>in</strong>iumbehälter mit<br />
e<strong>in</strong>em Wickel aus e<strong>in</strong>er mit e<strong>in</strong>em Elektrolyten durchtränkten Papierfolie sowie zwei<br />
Alum<strong>in</strong>iumfolien. Das Dielektrikum bildet e<strong>in</strong>e sehr dünne Alum<strong>in</strong>iumoxidschicht auf<br />
der Anodenfolie, welche beim Betrieb durch e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Gleichstrom, den Reststrom,<br />
aufrechterhalten wird. Die Kathodenfolie dient als großflächige Stromzuführung für den<br />
Elektrolyten, der die eigentliche Gegenelektrode zur Anodenfolie bildet.<br />
2.6.3 Anwendungsmöglichkeiten<br />
Kondensatoren als klassisches elektrisches Bauelement s<strong>in</strong>d vielseitig e<strong>in</strong>setzbar. Mit<br />
ihrer Hilfe lässt sich z. B. Spannung mit unzulässig hoher Welligkeit am Ausgang e<strong>in</strong>es<br />
Gleichrichters glätten, e<strong>in</strong> frequenzselektives Verhalten von Schaltungen realisieren oder<br />
kurzzeitige Unterbrechungen der Stromversorgung überbrücken.<br />
2.7 Spulen<br />
Bei e<strong>in</strong>er Spule handelt es sich um zyl<strong>in</strong>drisch gewickelten, gegen sich selbst isolierten<br />
Draht oder anderen Leiter, der, von e<strong>in</strong>em Strom durchflossen, e<strong>in</strong> Magnetfeld erzeugt.<br />
Dieses ähnelt z. B. bei e<strong>in</strong>er Zyl<strong>in</strong>derspule dem e<strong>in</strong>es Stabmagneten – mit dem Unterschied,<br />
dass die Stärke des Feldes über den Erregerstrom stufenlos regelbar ist. Andere<br />
Spulenformen, wie z. B. R<strong>in</strong>gspulen, erzeugen anders geformte Felder für andere E<strong>in</strong>satzzwecke.<br />
Das Schaltzeichen für e<strong>in</strong>e Spule ohne Kern (Luftspule) s<strong>in</strong>d vier Halbkreise.<br />
Dieses Bild kann um weitere Elemente erweitert werden, z. B. e<strong>in</strong>en parallelen Balken,<br />
der e<strong>in</strong>en Eisenkern symbolisiert.<br />
2.7.1 Bauformen<br />
Hieran erkennt man bereits, dass es Spulen <strong>in</strong> ebendiesen verschiedenen Bauformen<br />
gibt: Luftspulen <strong>und</strong> Spulen mit ferromagnetischem Kern. Luftspulen besitzen e<strong>in</strong>en freitragenden<br />
oder auf e<strong>in</strong> nicht ferromagnetisches Material aufgewickelten Leiter. Vorteil:<br />
die L<strong>in</strong>earität (Unveränderlichkeit der Induktivität) wird durch ke<strong>in</strong>en Kern gestört. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
erfordern hohe Induktivitäten hier sehr viele W<strong>in</strong>dungen, d. h. mehr Draht, was<br />
den ohmschen Widerstand deutlich erhöht. Dem kann man durch e<strong>in</strong>en größeren W<strong>in</strong>dungsdurchmesser<br />
entgegenwirken, was dann allerd<strong>in</strong>gs Volumen <strong>und</strong> Masse steigert.<br />
Jedes Kernmaterial besitzt e<strong>in</strong>e Permeabilitätskonstante µ r . Diese gibt an, um welchen<br />
Faktor es das Spulenmagnetfeld verstärkt. Für große Induktivitäten werden Kerne mit<br />
µ r ≫ 1 benötigt. Der e<strong>in</strong>fachste gebräuchliche Kern besteht aus, zur Vermeidung von<br />
Wirbelströmen gegene<strong>in</strong>ander isoliert geschichteten, Eisenblechen. Sie können Induktivitäten<br />
von 0,1 bis 10 H erreichen; es treten aber immer noch Wirbelstromverluste auf,<br />
weshalb sie nur bis ca. 20 kHz geeignet <strong>und</strong> <strong>in</strong> der modernen Hochfrequenz (HF)-Technik<br />
kaum anzutreffen s<strong>in</strong>d. Deutlich häufiger s<strong>in</strong>d HF-Eisenkerne aus mit Kunststoff vermengtem<br />
Eisenpulver. Durch die weitgehende Isolierung der Pulverteilchen vone<strong>in</strong>ander<br />
entstehen nur sehr ger<strong>in</strong>ge Wirbelströme. Noch etwas besser geeignet s<strong>in</strong>d Ferritkerne,<br />
keramische Stoffe aus nichtleitenden Metalloxiden (hohes µ r ), deren Materialkosten<br />
allerd<strong>in</strong>gs deutlich höher liegen.<br />
33
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
2.7.2 Induktionsgesetz<br />
Die von e<strong>in</strong>er Spule <strong>in</strong>duzierte Spannung folgt dem Induktionsgesetz, wobei die Induktivität<br />
der Spule ist. Wird e<strong>in</strong>e Spule abrupt vom Strom getrennt, entsteht kurzzeitig<br />
e<strong>in</strong>e theoretisch unendliche Spannung, was zu Funkenbildung <strong>und</strong> Schaltungsschäden<br />
führen kann.<br />
2.7.3 Anwendungen<br />
Die bekannteste Anwendung der Spule ist der Transformator, bei dem e<strong>in</strong>e durch e<strong>in</strong>en<br />
Wechselstrom angeregte Spule über e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Kern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Spule<br />
e<strong>in</strong>en weiteren Wechselstrom <strong>in</strong>duziert. E<strong>in</strong> Elektromotor besitzt m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />
drehbare Spule <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em statischen Magnetfeld. Ihr eigenes Magnetfeld bewirkt e<strong>in</strong>e mechanische<br />
Drehung, die durch synchrone Umpolung des Erregerstroms aufrechterhalten<br />
werden kann.<br />
2.8 Halbleitertechnik<br />
Halbleiter gehören zu den wichtigsten elektrischen Bauteilen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d aus unserer<br />
heutigen Welt nicht mehr wegzudenken. Auch <strong>in</strong> den von uns im Kurs verwendeten<br />
Mikrocontrollern f<strong>in</strong>den sie zahlreiche Anwendung.<br />
Die elektrischen Eigenschaften von Halbleitern resultieren aus ihrem atomaren Aufbau.<br />
E<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Halbleiterkristall besteht aus vierwertigen Elementen, wie Germanium <strong>und</strong><br />
Silizium. Dabei ist jedes Atom an vier Nachbaratome geb<strong>und</strong>en, wobei jeweils zwei<br />
Valenzelektronen e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Elektronenpaarb<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>gehen. Bei Temperaturen<br />
über 0K brechen Elektronen aufgr<strong>und</strong> thermischer Bewegung aus ihren B<strong>in</strong>dungen<br />
heraus <strong>und</strong> werden zu frei beweglichen Elektronen (Leitungselektronen). Durch die<br />
ausgebrochenen Elektronen entstehen Löcher <strong>und</strong> damit bewegliche positive Ladungen.<br />
Bei e<strong>in</strong>er Temperatur von 0K enthält der Halbleiter ke<strong>in</strong>e dieser frei beweglichen<br />
Ladungsträger <strong>und</strong> ist somit e<strong>in</strong> Isolator. Bei Erwärmung gilt: Je höher die Temperatur<br />
34
2.9 Transistoren<br />
ist, desto mehr bewegliche Ladungen enthält der Halbleiter <strong>und</strong> desto höher ist se<strong>in</strong>e<br />
Leitfähigkeit.<br />
Legt man e<strong>in</strong>e Spannung an den Halbleiter an, so beg<strong>in</strong>nen die Elektronen zum positiven<br />
Pol (Elektronenleitung) <strong>und</strong> die Elektronenlöcher zum negativen Pol (Löcherleitung)<br />
zu wandern. Diesen Ladungstransport bezeichnet man als Eigenleitung. Um die Leitfähigkeit<br />
von Halbleitern gezielt zu erhöhen, fügt man <strong>in</strong> den re<strong>in</strong>en Kristall Fremdatome<br />
e<strong>in</strong>. Diesen Vorgang, bei dem es zwei Möglichkeiten gibt, nennt man Dotieren.<br />
1. n-Dotierung: In das Halbleiterkristall werden fünfwertige Elemente, wie z. B. Phosphor,<br />
<strong>in</strong>tegriert. Da zur Elektronenpaarb<strong>in</strong>dung nur vier der fünf Valenzelektronen<br />
benötigt werden, stehen die fünften Elektronen als zusätzliche frei bewegliche<br />
Elektronen zur Verfügung, was die Leitfähigkeit enorm erhöht.<br />
2. p-Dotierung: In das Halbleiterkristall werden dreiwertige Elemente, wie z. B. Bor,<br />
<strong>in</strong>tegriert. Da zur Elektronenpaarb<strong>in</strong>dung vier Valenzelektronen nötig s<strong>in</strong>d, werden<br />
die fehlenden Elektronen von anderen B<strong>in</strong>dungen des Kristalls entrissen. Dort entstehen<br />
Elektronenlöcher <strong>und</strong> damit zusätzliche bewegliche positive Ladungsträger,<br />
was die Leitfähigkeit ebenfalls enorm erhöht. E<strong>in</strong>e Diode ist e<strong>in</strong>e Komb<strong>in</strong>ation aus<br />
p- <strong>und</strong> n-Schicht. Am pn-Übergang entsteht e<strong>in</strong>e Sperrschicht mit wenigen frei<br />
beweglichen Ladungsträgern <strong>und</strong> damit ger<strong>in</strong>ger Leitfähigkeit.<br />
Je nachdem, wie man e<strong>in</strong>e Spannung an die Diode anlegt, leitet der Halbleiter den<br />
Strom oder sperrt ihn. Schließt man den positiven Pol an den n-Leiter <strong>und</strong> den negativen<br />
Pol an den p-Leiter an, vergrößert sich die Sperrschicht <strong>und</strong> die Diode verliert ihre<br />
Leitfähigkeit. Schließt man den positiven Pol an den p-Leiter <strong>und</strong> den negativen Pol<br />
an den n-Leiter an, werden viele frei bewegliche Ladungsträger an den pn-Übergang<br />
getrieben <strong>und</strong> er wird leitfähig. Somit kann die Diode als Gleichrichter verwendet<br />
werden.<br />
2.9 Transistoren<br />
Transistoren s<strong>in</strong>d Halbleiter-Bauelemente, die als Verstärker oder Schalter dienen können.<br />
Im Kurs s<strong>in</strong>d sie nur <strong>in</strong> ihrer Funktion als Schalter zum E<strong>in</strong>satz gekommen. Es gibt zwei<br />
Bauarten von Transistoren: den Bipolartransistor <strong>und</strong> den unipolaren Feldeffekttransistor.<br />
2.9.1 Der Bipolartransistor<br />
Bipolartransistoren (engl.: Bipolar Junction Transistor, BJT) s<strong>in</strong>d Halbleiter, die aus drei<br />
Schichten, der Emitterschicht (E), der extrem dünnen Basisschicht (B) <strong>in</strong> der Mitte <strong>und</strong><br />
der Kollektorschicht (C), bestehen. Jede Schicht beschreibt e<strong>in</strong>en Aus- bzw. E<strong>in</strong>gang<br />
dieses Bauelements. Es gibt npn- <strong>und</strong> pnp-Transistoren, wobei das n e<strong>in</strong>e negativ dotierte<br />
Schicht beschreibt <strong>und</strong> das p e<strong>in</strong>e positiv dotierte. Aufgr<strong>und</strong> der Grenzschichten kann<br />
ke<strong>in</strong> Strom von Emitter zu Kollektor fließen. Dies ist nur möglich, wenn e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger<br />
Basisstrom fließt. In der Basisschicht können nur sehr wenige Elektronen mit den<br />
35
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
B S G D<br />
Sperrschicht<br />
n<br />
p<br />
Abbildung 2.3: Aufbau e<strong>in</strong>es n-JFET.<br />
vorhandenen Löchern rekomb<strong>in</strong>ieren. Durch die Spannung zwischen Kollektor <strong>und</strong><br />
Emitter gelangen 99 % der Elektronen <strong>in</strong> die Kollektorschicht. Diesen Effekt, dass durch<br />
e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Basisstrom e<strong>in</strong> großer Strom von Emitter zu Kollektor entsteht, nennt man<br />
Transistoreffekt. Er wird <strong>in</strong> verschiedenen Schaltungen, wie z. B. Verstärkerschaltungen<br />
genutzt.<br />
Die konstante Versorgungsspannung V DD teilt sich auf den Transistor <strong>und</strong> den Lastwiderstand<br />
R C auf. Sobald der Transistor schaltet, also e<strong>in</strong> Basis-Emitter-Strom fließt,<br />
ändert sich die Spannungsverteilung. Der Spannungsabfall über dem Widerstand erhöht<br />
sich <strong>und</strong> der über dem Transistor wird kle<strong>in</strong>er. Durch den Transistoreffekt entsteht also<br />
e<strong>in</strong>e Spannungsverstärkung.<br />
2.9.2 Der Feldeffekttransistor<br />
Feldeffekttransistoren haben <strong>in</strong> der Regel drei Anschlüsse: Source (S), Dra<strong>in</strong> (D) <strong>und</strong><br />
Gate (G). Es kann e<strong>in</strong> vierter Anschluss (Bulk) dazukommen, der jedoch meist <strong>in</strong>tern<br />
mit Source verb<strong>und</strong>en ist. Source-Dra<strong>in</strong> bildet den Ausgangskreis <strong>und</strong> Gate-Source den<br />
Steuerkreis.<br />
FET-Pr<strong>in</strong>zip<br />
Über die Gatespannung wird der Source-Dra<strong>in</strong>-Strom gesteuert.<br />
Aufbau e<strong>in</strong>es n-JFET (Junction Field Effect Transistor): S <strong>und</strong> D s<strong>in</strong>d über e<strong>in</strong>en n-Kanal<br />
verb<strong>und</strong>en, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er p-dotierten Gatezone e<strong>in</strong>gebettet ist. Zwischen G <strong>und</strong> S ist also<br />
e<strong>in</strong> pn-Übergang, den man sich wie e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Sperrrichtung e<strong>in</strong>gebaute Diode vorstellen<br />
kann (siehe Abbildung 2.3).<br />
Funktionsweise e<strong>in</strong>es n-JFETs: Vergrößert man den Betrag der negativen G S -Spannung,<br />
weitet sich die Sperrschicht am pn-Übergang aus <strong>und</strong> der n-Kanal wird verengt. Dadurch<br />
steigt dessen Widerstand <strong>und</strong> die Stromstärke im Ausgangskreis (D S ) s<strong>in</strong>kt. Man<br />
bezeichnet den JFET als selbstleitend, da er bei e<strong>in</strong>er Gatespannung von 0 Volt leitend ist.<br />
36
2.9 Transistoren<br />
MOSFET (Metall Oxide Semiconductor Field Effect Transistor): Der selbstleitende MOS-<br />
FET funktioniert analog zum JFET. Source <strong>und</strong> Dra<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em p-dotierten Substrat<br />
e<strong>in</strong>gebettet <strong>und</strong> durch e<strong>in</strong>en n-Kanal verb<strong>und</strong>en. Jedoch wird der ger<strong>in</strong>ge Reststrom<br />
zwischen Gate <strong>und</strong> Kanal durch e<strong>in</strong>e dünne Isolationsschicht unterdrückt. Der selbstsperrende<br />
MOSFET h<strong>in</strong>gegen sperrt bei e<strong>in</strong>er Spannung von 0 Volt. Diese Funktionsweise<br />
wird realisiert, <strong>in</strong>dem die beiden Anschlüsse Source <strong>und</strong> Dra<strong>in</strong> isoliert vone<strong>in</strong>ander im<br />
p-dotierten Substrat e<strong>in</strong>gebettet s<strong>in</strong>d. Elektronen reichern sich erst durch Anlegen e<strong>in</strong>er<br />
genügend großen positiven Gatespannung zwischen Source <strong>und</strong> Dra<strong>in</strong> an <strong>und</strong> bilden<br />
e<strong>in</strong>en n-Kanal. Alle drei Arten von Feldeffekttransistoren existieren auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Version<br />
mit p-Kanal.<br />
Der FET ist unipolar, d. h. die Stromleitung f<strong>in</strong>det nur über e<strong>in</strong>e Trägerart (Elektronen<br />
oder Löcher) statt. Dies erlaubt bei FETs mit separatem Bulkanschluss e<strong>in</strong>e besondere<br />
Anwendung: Aufgr<strong>und</strong> ihres spiegelsymmetrischen Aufbaus können sie <strong>in</strong> beide<br />
Richtungen betrieben werden.<br />
2.9.3 BJT <strong>und</strong> FET im Vergleich:<br />
Im Gegensatz zum stromgesteuerten BJT wird der FET über die Spannung gesteuert. Der<br />
FET ist außerdem verlustärmer <strong>und</strong> ermöglicht e<strong>in</strong> sehr schnelles Schalten. Des Weiteren<br />
hat er e<strong>in</strong> weitaus kle<strong>in</strong>eres Layout als e<strong>in</strong> BJT. Deshalb ist der FET auch die am häufigsten<br />
vorkommende Bauart. BJTs werden heute beispielsweise <strong>in</strong> Schaltungen mit sehr<br />
hoher Taktfrequenz von über 40 GBit/s, wie z. B. <strong>in</strong> Glasfaserkommunikationssystemen<br />
verwendet.<br />
2.9.4 Schalterfunktion e<strong>in</strong>es Transistors:<br />
Man kann sich e<strong>in</strong>en Transistor als Schalter vorstellen, der nur dann schaltet, wenn<br />
im E<strong>in</strong>gangskreis (BJT: Basis-Emitter, FET: Gate-Bulk) e<strong>in</strong>e Spannung anliegt. Im Kurs<br />
wurden mehrere Schaltungen betrachtet, <strong>in</strong> denen Transistoren zum E<strong>in</strong>satz kommen<br />
<strong>und</strong> deren Verhalten durch Wahrheitstabellen verifiziert.<br />
1. Die Open Collector Schaltung stellt e<strong>in</strong> NOR Gatter dar <strong>und</strong> wird mittels zwei<br />
npn-Bipolartransistoren verwirklicht.<br />
2. Die Push-Pull Schaltung (siehe Abbildung 2.4) stellt e<strong>in</strong>e Verstärkerschaltung dar,<br />
wird aber mittels e<strong>in</strong>es n- <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es p-Transistors realisiert, deren E<strong>in</strong>gänge parallel<br />
geschaltet s<strong>in</strong>d.<br />
3. E<strong>in</strong> NAND-Logikgatter (siehe Abbildung 2.5) kann mithilfe von vier MOSFETs (zwei<br />
n- <strong>und</strong> zwei p-MOSFETs) realisiert werden.<br />
4. E<strong>in</strong> AND-Gatter erhält man durch Verknüpfen e<strong>in</strong>es NAND-Logikgatters mit e<strong>in</strong>er<br />
NOR-Schaltung <strong>und</strong> benötigt somit sechs Transistoren.<br />
37
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
Abbildung 2.4: Push-Pull-Verstärkerstufe. Quelle: Wikipedia [47].<br />
T1<br />
T2<br />
A<br />
T3<br />
Y<br />
B<br />
T4<br />
Abbildung 2.5: NAND-Gatter. Quelle: Wikipedia [48].<br />
38
2.10 Astabiler Multivibrator <strong>und</strong> NE555<br />
2.10 Astabiler Multivibrator <strong>und</strong> NE555<br />
2.10.1 Verwendungszweck<br />
E<strong>in</strong> Astabiler Multivibrator, auch Astabile Kippstufe genannt, ist e<strong>in</strong>e Schaltung, welche<br />
selbstständig zwischen zwei <strong>in</strong>stabilen Zuständen h<strong>in</strong> <strong>und</strong> her schw<strong>in</strong>gt. Sie kann dabei<br />
e<strong>in</strong>e so genannte Rechteckspannung (Pulsierende Spannung) erzeugen, wodurch sie<br />
für verschiedene Bereiche unter anderem als Bl<strong>in</strong>kschaltung oder Frequenzgenerator<br />
e<strong>in</strong>gesetzt werden kann.<br />
Der Aufbau e<strong>in</strong>es astabilen Multivibrators aus diskreten Bauteilen bzw. mithilfe des<br />
Timer-ICs NE555 wird im Folgenden beschrieben.<br />
2.10.2 Diskrete Bauweise<br />
Die Schaltung besteht aus e<strong>in</strong>er symmetrischen Anordnung von zwei Transistoren T1<br />
<strong>und</strong> T2, zwei Kondensatoren C1 <strong>und</strong> C2, den Leuchtdioden D1 <strong>und</strong> D2, sowie aus den 4<br />
Widerständen R1, R2, R3 <strong>und</strong> R4.<br />
Wir nehmen an, dass bei Anlegen der Betriebsspannung T1 schaltet <strong>und</strong> T2 sperrt,<br />
weshalb D1 leuchtet <strong>und</strong> D2 nicht. Der Pluspol von C1 ist über T1 mit Masse verb<strong>und</strong>en;<br />
C1 lädt sich dadurch über R2 verpolt auf. Gleichzeitig wird C2 über die Basis von T1 bzw.<br />
R4 sowie D2 aufgeladen. Dies geschieht aufgr<strong>und</strong> des großen Wertes von R2 schneller<br />
als das Laden von C1. Wird die Schaltspannung von ca. 0,7 V an der Basis von T2 erreicht,<br />
schaltet dieser durch <strong>und</strong> D2 leuchtet auf. Dadurch wird der Pluspol von C2 mit Masse<br />
verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der Spannung am Kondensator entsteht e<strong>in</strong> negatives Potenzial<br />
an der Basis von T1, sodass dieser sperrt, weshalb D1 erlischt. Nun wird C2 über T2 <strong>und</strong><br />
R3 entladen <strong>und</strong> anschließend verpolt geladen, bis die Schaltspannung an der Basis von<br />
T1 erreicht wird. Da sich C1 <strong>in</strong> der Zwischenzeit ebenfalls geladen hat, entsteht nun an<br />
der Basis von T2 e<strong>in</strong> negatives Potenzial, sobald T1 schaltet: Der Kreislauf beg<strong>in</strong>nt von<br />
neuem.<br />
2.10.3 NE555<br />
E<strong>in</strong> astabiler Multivibrator lässt sich alternativ auch mithilfe des Timer-ICs NE555<br />
umsetzen.<br />
Der Timer NE555 verfügt über e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternes Flip-Flop, welches über E<strong>in</strong>gangsp<strong>in</strong>s<br />
umgeschaltet werden kann <strong>und</strong> dessen Zustand an e<strong>in</strong>em Ausgangsp<strong>in</strong> als Positives<br />
oder Negatives Potenzial ausgegeben werden kann. Außerdem wird je nach Zustand<br />
des Flip-Flops e<strong>in</strong> externes RC-Glied ge- bzw. entladen. Ist der Umladevorgang zu 2 / 3<br />
abgeschlossen, wird das Flip-Flop umgeschaltet. Dadurch wird e<strong>in</strong>e Rechtecksspannung<br />
am Ausgang erzeugt.<br />
39
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
Abbildung 2.6: Astabiler Multivibrator. Nach Wikipedia [49].<br />
2.11 Speichertypen im Mikrocontroller<br />
Der Speicher ist das »Gedächtnis« e<strong>in</strong>es jeden Computersystems, um Daten <strong>und</strong> Programme<br />
zu sichern. Da der Speicher im Mikrocontroller große Speicherkapazität sowie<br />
ger<strong>in</strong>ge Zugriffszeiten erreichen, jedoch billig se<strong>in</strong> soll, verwendet man unterschiedliche<br />
Speichertypen für verschiedene Anwendungsbereiche. Im Folgenden sollen die drei im<br />
Mikrocontroller verwendeten Speichertypen Flash-ROM, EEPROM <strong>und</strong> SRAM beschrieben<br />
werden.<br />
2.11.1 Flash-ROM<br />
Die Speicherzelle des nicht-flüchtigen Flash-ROMs ist e<strong>in</strong>em Feldeffekttransistor sehr<br />
ähnlich. Im Gate des Transistors bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e durch e<strong>in</strong>e Oxidschicht isolierte<br />
Ladungsfalle (Float<strong>in</strong>g Gate), auf der die Ladung wie bei e<strong>in</strong>em Kondensator gespeichert<br />
wird. Beim Löschvorgang spr<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong> »Blitz« (Flash) auf das Float<strong>in</strong>g Gate <strong>und</strong> lädt<br />
dieses auf, sodass ke<strong>in</strong> Strom zwischen Source <strong>und</strong> Dra<strong>in</strong> fließen kann <strong>und</strong> sich der<br />
Transistor im 0-Zustand bef<strong>in</strong>det. Zum Auslesen der Flash-Speicherzelle wird nach<br />
Anlegen e<strong>in</strong>er Spannung an den Transistor der Stromfluss zwischen Source <strong>und</strong> Dra<strong>in</strong><br />
gemessen. Ist das Float<strong>in</strong>g Gate entladen, fließt Strom zwischen Source <strong>und</strong> Dra<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />
der Transistor ist im 1-Zustand. Die Zahl der blockweise erfolgenden Schreibvorgänge<br />
ist begrenzt.<br />
2.11.2 EEPROM (Electrically Erasable Programmable Read Only Memory)<br />
Der Aufbau der nicht-flüchtigen EEPROM-Speicherzelle stimmt im Wesentlichen mit dem<br />
der Flash-ROM-Speicherzelle übere<strong>in</strong>. Die EEPROM-Speicherzellen benötigen mehr Fläche<br />
pro Bit, e<strong>in</strong>e höhere Programmierspannung <strong>und</strong> können e<strong>in</strong>zeln beschrieben werden.<br />
40
2.12 Die CPU<br />
2.11.3 SRAM (Static Random-Access Memory)<br />
Im flüchtigen SRAM-Speicher werden Informationen <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er bistabilen Kippstufe<br />
(sogenannte Flipflop) pro Bit gespeichert. Dabei wird die gewünschte Logikoperation <strong>in</strong><br />
p-Kanal- <strong>und</strong> n-Kanal-Technik ausgeführt <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>em Schaltkreis zusammengeführt.<br />
Bei gleicher Steuerspannung an zwei komplementären Transistoren leitet stets genau<br />
e<strong>in</strong> Transistor; der andere sperrt. Liegt e<strong>in</strong>e niedrige Spannung am E<strong>in</strong>gang (0 V) an,<br />
leitet die p-Kanal-Komponente Strom. Die Versorgungsspannung ist mit dem Ausgang<br />
verb<strong>und</strong>en. Liegt e<strong>in</strong>e positive Spannung an, leitet die n-Kanal-Komponente Strom <strong>und</strong><br />
die Masse ist mit dem Ausgang verb<strong>und</strong>en. Der beliebig oft beschreibbare SRAM-Speicher<br />
arbeitet sehr schnell, verbraucht jedoch viel Fläche <strong>und</strong> Strom.<br />
2.11.4 Anwendung der Speichertypen<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus wurde im Kurs mithilfe folgender Beispiele geklärt, welche Speichertypen<br />
Anwendung im Mikrocontroller f<strong>in</strong>den: Zur Speicherung des Bildschirm<strong>in</strong>halts<br />
e<strong>in</strong>es Handys verwendet man SRAM-Speicher, da sich der Bildschirm<strong>in</strong>halt schnell <strong>und</strong><br />
oft ändert. Die im späteren Kursteil geschriebenen Programme speichert man im Flash-<br />
Speicher, da der Programmcode konstant ist. EEPROM-Speicher dient zur Speicherung<br />
von Konfigurationen, E<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> Messwerten, da diese Daten wenig veränderlich<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
2.12 Die CPU<br />
Die CPU (Central Process<strong>in</strong>g Unit, Hauptprozessor) ist e<strong>in</strong> wesentlicher Bestandteil e<strong>in</strong>es<br />
jeden Rechnersystems <strong>und</strong> somit, thematisch gesehen, unverzichtbar im Bereich der<br />
Rechnertechnik. Im Folgenden sollen Architektur <strong>und</strong> Funktionsweise der CPU erläutert<br />
werden.<br />
Pr<strong>in</strong>zipiell unterscheidet man zwischen den Funktionse<strong>in</strong>heiten Steuerwerk, das auch<br />
als Leitwerk bezeichnet wird, <strong>und</strong> Rechenwerk, die über das Bussystem mit Speicher-,<br />
E<strong>in</strong>- beziehungsweise Ausgabee<strong>in</strong>heiten verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d.<br />
2.12.1 Rechenwerk<br />
Das Rechenwerk wird durch das Leitwerk angesteuert, wobei es aus e<strong>in</strong>er ALU (Arithmetic<br />
Logic Unit) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Registersatz besteht. Letzterer ist aus mehreren Speichere<strong>in</strong>heiten<br />
mit äußerst schnellen Zugriffszeiten für die Aufnahme <strong>und</strong> Bereitstellung von<br />
Daten zusammengesetzt. Maximal zwei dieser Register<strong>in</strong>halte können <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schaltnetz,<br />
der ALU, durch e<strong>in</strong>fache arithmetische <strong>und</strong> logische Operationen verknüpft werden.<br />
Die ALU übernimmt somit die Rechenfunktion der CPU. Des Weiteren können <strong>in</strong> den<br />
Registern Adress<strong>in</strong>formationen für das Auslesen <strong>und</strong> Beschreiben von Speicherstellen<br />
sowie für die Kommunikation mit externen E<strong>in</strong>heiten bereitgestellt werden. Außerdem<br />
speichern spezielle Register Informationen über Sonderfälle, welche bei den letzten<br />
ALU-Operationen aufgetreten s<strong>in</strong>d, mithilfe von Flags, die dem Leitwerk <strong>und</strong> der ALU<br />
für die weitere Befehlsverarbeitung zur Verfügung stehen. Diese Funktionalität besitzt<br />
<strong>in</strong>sbesondere bezüglich des Programmablaufs hohe Relevanz.<br />
41
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
Abbildung 2.7: Aufbau der CPU (nach Beierle<strong>in</strong>/Hagenbruch 2004).<br />
2.12.2 Steuerwerk<br />
Das Steuerwerk veranlasst die Ausführung der Befehle aus dem Leitwerk-<strong>in</strong>ternen<br />
Befehlsregister <strong>und</strong> regelt den Ablauf des Befehlszyklus <strong>in</strong> der CPU. Hierbei verweist der<br />
Program Counter (PC) auf den nächsten Masch<strong>in</strong>enbefehl, der aus dem CPU-externen<br />
Speicher <strong>in</strong> das Befehlsregister geladen wird. Im Folgenden wird der Opcode des Befehls,<br />
welcher die eigentliche Operation def<strong>in</strong>iert, analysiert. Daraus werden dann Steuersignale<br />
erzeugt, die an die ALU übermittelt werden. Man spricht von e<strong>in</strong>er zyklischer<br />
Arbeitsweise des Steuerwerks, da sich das Holen (»fetch«), Decodieren (»decode«) <strong>und</strong><br />
Ausführen (»execute«) e<strong>in</strong>es Befehls immer wiederholen. Die Abwicklung dieser Adress<strong>und</strong><br />
Datentransporte erfolgt über das Bussystem.<br />
Im Kurs wurde dieser Befehlszyklus anhand der Masch<strong>in</strong>enbefehle der AVR Assemblersprache<br />
nochmals erarbeitet. Hierbei wurden mithilfe e<strong>in</strong>er Opcode-Referenz die<br />
B<strong>in</strong>ärbefehle zugeordnet <strong>und</strong> deren Funktion <strong>in</strong>terpretiert.<br />
2.13 Assembler<br />
In Rahmen unseres Kurses wurde nach der Erarbeitung der notwendigen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
damit begonnen Mikrocontroller zu programmieren. Dazu wurde der Assembler <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung mit dem Programm AVRStudio4 benutzt. E<strong>in</strong> Assembler dient als Übersetzer<br />
<strong>in</strong> den B<strong>in</strong>ärcode. Der von uns verwendete Mikrocontroller war e<strong>in</strong> ATmega48. Um<br />
diesen Chip zu programmieren gibt man prozessorspezifische Masch<strong>in</strong>enbefehle mit den<br />
dazugehörigen Parametern <strong>in</strong> das AVR Studio e<strong>in</strong>. Diese Befehle werden dann assembliert<br />
<strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren Schritt auf den Speicher überspielt. Im Kurs wurde gelernt wie<br />
man E<strong>in</strong>gänge des Controllers abfragt <strong>und</strong> damit arbeitet. Des Weiteren wurde vermittelt,<br />
wie man logische <strong>und</strong> arithmetische Operationen benutzt. Zum besseren Verständnis<br />
folgt e<strong>in</strong> vollständiges Programm.<br />
42
2.14 Unterprogramme<br />
.<strong>in</strong>clude "m48def.<strong>in</strong>c"<br />
; program start<br />
ldi r16, 255<br />
out DDRB, r16<br />
end: rjmp end<br />
Begonnen wird mit dem <strong>in</strong>clude-Befehl, damit der Assembler auf die prozessorspezifischen<br />
Register zugreifen kann. Danach kommentiert man den Programmstart.<br />
Den Kommentar beg<strong>in</strong>nt man mit e<strong>in</strong>em Semikolon. In die nächste Zeile schreibt man<br />
den ersten echten Programmbefehl, im Beispiel »ldi r16, 255«. Wie man an der Syntax<br />
erkennen kann, beg<strong>in</strong>nt man mit dem Opcode »ldi«, welcher für »Load Immediate«<br />
steht. Dieser Befehl lädt folglich die Zahl 255 <strong>in</strong> das Register 16. Die spezifischen Informationen<br />
zu e<strong>in</strong>em Befehl f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> dem AVR Instruction Set. Der folgende<br />
Befehl »out DDRB, r16« schreibt dann den Inhalt von Register 16, <strong>in</strong> unserem Fall 255,<br />
<strong>in</strong> das DDRB-Register. Dadurch wird Port B zum Ausgang. Der Code endet schließlich<br />
mit der E<strong>in</strong>gabe »end: rjmp end«, wobei der Opcode »Relative Jump« bedeutet. Da<br />
das »end« <strong>in</strong> derselben Zeile steht wie der Befehl, entsteht e<strong>in</strong>e Endlosschleife <strong>und</strong> der<br />
Programmablauf wird beendet. Assembler-Programmierung ist im Vergleich zu anderen<br />
Programmiersprachen aufwändiger, da man detailgenau die Opcodes <strong>und</strong> die dazugehörigen<br />
Parameter setzen muss. Andere Hochsprachen haben hierfür e<strong>in</strong>en Compiler,<br />
der dies erledigt. Das bedeutet zwar, dass Hochsprachen weniger zeit<strong>in</strong>tensiv bei der<br />
Programmierung s<strong>in</strong>d, allerd<strong>in</strong>gs kann das Wissen über die jeweilige CPU-Architektur<br />
<strong>und</strong> Funktionsweise berücksichtigt werden. Bei der Verwendung von Assembler kann<br />
somit genauer bee<strong>in</strong>flusst werden, was der Mikrocontroller ausführt.<br />
2.14 Unterprogramme<br />
Verwendung von Unterprogrammen Wird e<strong>in</strong>e bestimmte Befehlsabfolge <strong>in</strong>nerhalb<br />
e<strong>in</strong>es Programms mehrfach verwendet, so fasst man diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Unterprogramm<br />
zusammen. Solch e<strong>in</strong>e Rout<strong>in</strong>e kann an verschiedenen Stellen des Programms aufgerufen<br />
werden. Dadurch ist es möglich Speicherplatz zu sparen <strong>und</strong> das gesamte Programm<br />
übersichtlicher zu gestalten.<br />
Register zwischenspeichern Wird e<strong>in</strong> Register <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Unterprogramms überschrieben,<br />
so wird es auch im Hauptprogramm geändert. Da die gleichen Register im<br />
Hauptprogramm <strong>und</strong> im Unterprogramm verwendet werden, ist es notwendig den<br />
Inhalt dieser Register <strong>in</strong> Speicherzellen auszulagern <strong>und</strong> am Ende des Unterprogramms<br />
zurück zu holen, um e<strong>in</strong> Überschreiben zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Für das Sichern der Register wird e<strong>in</strong> Stapelspeicher, der sogenannte Stack, verwendet.<br />
Er arbeitet nach dem LIFO-Pr<strong>in</strong>zip (Last-In-First-Out). Hierbei können Elemente nur<br />
oben auf den Stapel gelegt <strong>und</strong> auch nur von dort wieder gelesen werden. Für das<br />
LIFO-Pr<strong>in</strong>zip nutzt man die Push-Operation, welche den Inhalt e<strong>in</strong>es Registers auf den<br />
43
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
Stack legt, sowie die Pop-Operation, welche den Inhalt des Registers nach Abarbeitung<br />
des Unterprogramms wiederherstellt. Das bedeutet, dass vor der Abarbeitung des<br />
Programms alle benötigten Register gepusht, <strong>und</strong> nach Abschluss des Unterprogramms<br />
gepopt werden müssen.<br />
Ablauf Um e<strong>in</strong> Unterprogramm aufzurufen, wird der Call-Befehl verwendet. Dieser<br />
bezweckt e<strong>in</strong>e Verzweigung <strong>in</strong> das Unterprogramm, <strong>in</strong>dem die Zieladresse <strong>in</strong> den Programmzähler<br />
geladen wird. Außerdem hat er die Aufgabe, die Rücksprungadresse auf<br />
dem Stack zu speichern. Im Unterprogramm angelangt, werden zunächst alle Register,<br />
die benötigt werden, durch e<strong>in</strong>e oder mehrere Push-Operationen auf den Stack gelegt.<br />
Anschließend beg<strong>in</strong>nt die Abarbeitung des Unterprogramms. Am Ende werden die<br />
Register<strong>in</strong>halte durch e<strong>in</strong>e oder mehrere Pop-Operationen <strong>in</strong> umgekehrter Reihenfolge<br />
wiederhergestellt. Um das Unterprogramm zu beenden, wird der Return-Befehl verwendet,<br />
welcher die Rücksprungadresse ausliest <strong>und</strong> somit <strong>in</strong> das Hauptprogramm<br />
zurückführt.<br />
Übergabe von Parametern Register<strong>in</strong>halte, die im Hauptprogramm genutzt werden,<br />
können auch im Unterprogramm verwendet werden. Somit können über das Aufrufen<br />
von Registern (<strong>in</strong>nerhalb des Unterprogramms), Parameter genutzt werden. Ebenso<br />
anders herum: Parameter die <strong>in</strong>nerhalb des Unterprogramms <strong>in</strong> Registern abgelegt<br />
werden, können anschließend im Hauptprogramm verwendet werden.<br />
2.15 Interrupts<br />
Was s<strong>in</strong>d Interrupts Interrupts s<strong>in</strong>d Signale, die e<strong>in</strong>en Prozessor <strong>in</strong>formieren, dass<br />
e<strong>in</strong> Ereignis aufgetreten ist. Wenn e<strong>in</strong> Prozessor e<strong>in</strong> Interrupt-Signal bekommt, führt er<br />
e<strong>in</strong>e angegebene Aktion aus. Interrupt-Signale halten den normalen Programmablauf<br />
vorübergehend an, um auf das Ereignis zu reagieren.<br />
Hardware- <strong>und</strong> Software-Interrupts Interrupts können durch Software oder durch<br />
Hardware ausgelöst werden.<br />
Hardware-Interrupts wurden e<strong>in</strong>geführt, um die Schleifen, die e<strong>in</strong> Prozessor machen<br />
muss, bis er e<strong>in</strong> Signal von e<strong>in</strong>er Peripheriee<strong>in</strong>heit erhält, zu vermeiden: Die Peripherie<br />
warnt den Prozessor, sobald sich e<strong>in</strong> Interrupt aktiviert; bis zu diesem Zeitpunkt ist<br />
er frei um se<strong>in</strong>em normalen Programm zu folgen um es nur dann zu unterbrechen,<br />
wenn es nötig ist. Beim Mikrocontroller ATmega8 können die externen Quellen INT0,<br />
INT1 <strong>und</strong> INT2 Hardware-Interrupts auslösen. Andere Peripheriee<strong>in</strong>heiten, die Interrupts<br />
generieren können, s<strong>in</strong>d beispielsweise die Timer, das Serial Interface (USART), der<br />
Analog/Digital-Konverter (ADC) <strong>und</strong> der Speicher Controller (EEPROM).<br />
E<strong>in</strong> Software-Interrupt wird <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Prozessors mit der Ausführung e<strong>in</strong>es<br />
Befehls generiert. Software-Interrupts werden oft benutzt um Systemaufrufe zu implementieren.<br />
Beim ATmega8 gibt es ke<strong>in</strong>e Peripherien, die e<strong>in</strong>en Software-Interrupt<br />
44
2.16 Literaturverzeichnis<br />
aktivieren können, aber man kann vom Programm aus e<strong>in</strong> Signal an e<strong>in</strong>en externe Quelle<br />
senden, die dann e<strong>in</strong>en Hardware-Interrupt auslöst.<br />
Vektorielle Identitäten Jeder Interrupt hat e<strong>in</strong>e eigene Interrupt Service Rout<strong>in</strong>e (ISR),<br />
<strong>in</strong> der auf das entsprechende Ereignis reagiert wird. Die E<strong>in</strong>sprungadressen der ISR<br />
bef<strong>in</strong>den sich zusammenhängend im Speicher des Controllers <strong>und</strong> bilden zusammen<br />
die Tabelle der Interruptvektoren. Diese Tabelle ist <strong>in</strong> jedem Controller verschieden<br />
aufgebaut <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det sich im Datenblatt.<br />
Interrupt Stack Bevor er e<strong>in</strong>e ISR starten kann, muss der Prozessor e<strong>in</strong>en Mechanismus<br />
haben, der ihm erlaubt, se<strong>in</strong>en Status <strong>in</strong> dem Moment, <strong>in</strong> dem der Interrupt auftritt,<br />
abzuspeichern. Dieser Speicher wird meistens <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Stapels angelegt, <strong>in</strong> dem alle<br />
Register <strong>und</strong> Programmvariablen, die von der ISR bee<strong>in</strong>flusst werden, sowie der Program<br />
Counter, gespeichert werden. Dies erfolgt zu e<strong>in</strong>en gewöhnlichen Unterprogramm.<br />
Interruptprioritäten Wenn zwei oder mehrere Interrupts im selben Moment aktiv<br />
werden, wird über die Interruptpriorität entschieden, welcher Interrupt zuerst ausgeführt<br />
wird. Je kle<strong>in</strong>er die Adresse e<strong>in</strong>es Interrupts ist, desto größer ist se<strong>in</strong>e Priorität.<br />
2.16 Literaturverzeichnis<br />
Bücher<br />
[1] Beierle<strong>in</strong>, Thomas and Hagenbruch, Olaf: Taschenbuch Mikroprozessortechnik. München<br />
2004.<br />
[2] Böhmer, Erw<strong>in</strong> and Ehrhardt, Dietmar and Oberschelp, Wolfgang: Elemente der<br />
angewandten Elektronik. Kompendium für Ausbildung <strong>und</strong> Beruf. Wiesbaden 2009.<br />
[3] Busch, Rudolf: Elektrotechnik <strong>und</strong> Elektronik für Masch<strong>in</strong>enbauer <strong>und</strong> Verfahrenstechniker.<br />
Wiesbaden 2006.<br />
[4] Diehl, Bardo et al.: Physik Gesamtband Oberstufe. Berl<strong>in</strong> 2008.<br />
[5] Felsch, Matthias et al.: Das große Tafelwerk <strong>in</strong>teraktiv. Berl<strong>in</strong> 2003.<br />
[6] Goßner, Stefan: Gr<strong>und</strong>lagen der Elektronik. Halbleiter, Bauelemente <strong>und</strong> Schaltungen.<br />
Aachen 2008.<br />
[7] Her<strong>in</strong>g, Ekbert and Bressler, Klaus and Gutekunst, Jürgen: Elektronik für Ingenieure<br />
<strong>und</strong> Naturwissenschaftler. Berl<strong>in</strong> 2005.<br />
[8] Hoffmann, H.-P.: Widerstände <strong>und</strong> Kondensatoren. Berl<strong>in</strong> 1990.<br />
[9] Kunz, Wolfgang: Gr<strong>und</strong>lagen der Informationsverarbeitung. Kaiserslautern 2011.<br />
[10] Mar<strong>in</strong>escu, Marlene and W<strong>in</strong>ter, Jürgen: Basiswissen Gleich- <strong>und</strong> Wechselstromtechnik.<br />
Wiesbaden 2007.<br />
45
2 Von kle<strong>in</strong>en Chips mit großen Möglichkeiten<br />
[11] Mar<strong>in</strong>escu, Marlene and W<strong>in</strong>ter, Jürgen: Gr<strong>und</strong>lagenwissen Elektrotechnik. Gleich-,<br />
Wechsel- <strong>und</strong> Drehstrom. Wiesbaden 2011.<br />
[12] Patterson, David A. and Hennessy, John I.: Computer Organization and Design: The<br />
Hardware/Software Interface. Oxford 2008.<br />
[13] Schiffmann, Wolfram: Technische Informatik 2. Gr<strong>und</strong>lagen der Computertechnik. Berl<strong>in</strong><br />
2005.<br />
[14] Spitz, Christian: Selbstverständlich Physik. Lehrbuch für die Gymnasiale Oberstufe<br />
Baden-Württemberg. Mannheim 2010.<br />
[15] Tietze, Ulrich and Schenk, Christoph: Halbleiterschaltungstechnik. Berl<strong>in</strong> 2009.<br />
[16] Woitowitz, Roland and Urbanski, Klaus: Digitaltechnik: E<strong>in</strong> Lehr- <strong>und</strong> Übungsbuch.<br />
Berl<strong>in</strong> 2007.<br />
Datenblätter<br />
[17] ATMEL: 8-bit AVR Instruction Set. Rev. 0856I-AVR-07/10.<br />
[18] ATMEL: 8-bit AVR Microcontroller with 4/8/16/32K Bytes In-System Programmable<br />
Flash. Rev. 8271B-AVR-04/10.<br />
Webl<strong>in</strong>ks<br />
[19] http://www.cogbyte.de/project/fileadm<strong>in</strong>/Dateien/Download/Erf<strong>in</strong>der/E.pdf<br />
[20] http://dbpedia.org/page/JohnAmbroseFlem<strong>in</strong>g<br />
[21] http://www.leifiphysik.de/webph10/geschichte/15transistor/transistor.htm<br />
[22] http://www.highlights-microtech.org/p=98<br />
[23] http://www.computerhope.com/jargon/m/mediscal.htm<br />
[24] http://www.computerhope.com/jargon/l/largscal.htm<br />
[25] http://www.nvidia.de/object/fermiarchitecturede.html<br />
[26] http://www.elektronik-kompendium.de/sites/grd/0201113.htm<br />
[27] http://tu-freiberg.de/fakult5/schueler/pdf/Protokoll%20Leitfaehigkeit%20Sek1.pdf<br />
[28] http://www.elektronik<strong>in</strong>fo.de/strom/widerstand.htm<br />
[29] http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Dyadisch.html<br />
[30] http://de.wikipedia.org/wiki/Logikgatter<br />
[31] http://www.suicidal.de/doc/lexikon/b<strong>in</strong>aere_logikf.htm<br />
[32] http://www.elektronik-kompendium.de/sites/bau/0207221.htm<br />
46
2.16 Literaturverzeichnis<br />
[33] http://wwwagz.<strong>in</strong>formatik.uni-kl.de/courses/ws01-02/DigiTech1/Docs/<br />
Kapitel5_2.pdf<br />
[34] http://www.mikrocontroller.net/articles/FET<br />
[35] http://www.leifiphysik.de/web_ph10/gr<strong>und</strong>wissen/15trans_eff/trans_eff.htm<br />
[36] http://www.elektronik-kompendium.de/sites/com/0312261.htm<br />
[37] https://www.fbi.h-da.de/fileadm<strong>in</strong>/personal/e.komar/public_html/<br />
DGT-Skript-Teil3.PDF<br />
[38] http://www.itwissen.<strong>in</strong>fo/def<strong>in</strong>ition/lexikon/Speicher-memory.html<br />
[39] http://www.itwissen.<strong>in</strong>fo/def<strong>in</strong>ition/lexikon/Register-register.html<br />
[40] http://www.itwissen.<strong>in</strong>fo/def<strong>in</strong>ition/lexikon/Rechenwerk-ALU-arithmeticlogic-unit.html<br />
[41] http://www.itwissen.<strong>in</strong>fo/def<strong>in</strong>ition/lexikon/Steuerwerk-CU-control-unit.html<br />
[42] http://www.rn-wissen.de/<strong>in</strong>dex.php/AVR_Assembler_E<strong>in</strong>führung<br />
[43] http://de.wikipedia.org/wiki/Assemblersprache<br />
[44] http://www.mikrocontroller-programmierung.de/unterprogramme.php<br />
[45] http://www.weigu.lu/a/pdfMICEL_A6_Unterprogramme.pdf<br />
[46] http://elf.cs.pub.ro/pm/wiki/lab/lab2<br />
[47] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Electronic_Amplifier_Push-pull.pdf<br />
[48] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cmos_nand.svg<br />
[49] http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Transistor_Multivibrator.svg<br />
47
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
3.1 Kursübersicht<br />
Nora He<strong>in</strong>zelmann <strong>und</strong> Anna Stöckl<br />
»Was soll ich tun« Diese Frage diente Immanuel Kant als Ausgangspunkt se<strong>in</strong>er Überlegungen<br />
zur Ethik. Zu se<strong>in</strong>er Zeit galt die Ethik noch als e<strong>in</strong>e klassische Diszipl<strong>in</strong> der<br />
Philosophie. Jüngst haben empirische Herangehensweisen <strong>in</strong> der normative Ethik <strong>und</strong><br />
Metaethik an entscheidender Bedeutung gewonnen. Teile der aktuellen philosophischen<br />
Forschung arbeiten an Schnittstellen zu Naturwissenschaften wie etwa Moralpsychologie,<br />
Verhaltensbiologie oder den Neurowissenschaften <strong>und</strong> bedienen sich dabei empirischer<br />
Methoden, zum Beispiel statistischer Erhebungen, experimenteller Untersuchungen <strong>und</strong><br />
bildgebender Verfahren. Moral ist <strong>in</strong> der Folge nicht mehr re<strong>in</strong> als Produkt von Rationalität<br />
<strong>und</strong> Vernunft im S<strong>in</strong>ne kantischer Tradition, sondern als Teil der menschlichen Natur<br />
zu verstehen, die sich <strong>in</strong> emotionalen <strong>und</strong> <strong>in</strong>tuitiven Reaktionen auf Umwelte<strong>in</strong>flüsse<br />
äußert <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Evolutionstheorie ihre ontogenetische Erklärung hat.<br />
Die ersten zwei Beiträge dieser Kursdokumentation geben e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> Moralphilosophie<br />
<strong>und</strong> moralische Dilemmata. E<strong>in</strong> zweiter Block widmet sich Emotionen<br />
<strong>und</strong> ihrer Rolle bei moralischen Entscheidungen. Es schließt sich e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit über<br />
Gr<strong>und</strong>lagen der Neurowissenschaften an sowie e<strong>in</strong>e Studie über Moralverhalten. Der<br />
Beitrag über Neuroökonomie stellt dar, wie diese junge Wissenschaft Moralverhalten mit<br />
Theorien aus der Verhaltensökonomie <strong>und</strong> Methoden der Neurowissenschaften erforscht.<br />
Wie im fünften Block dargestellt, lässt sich mithilfe der Evolutionstheorie altruistisches<br />
Verhalten als Produkt von Veränderung <strong>und</strong> natürlicher Auslese darstellen; diesen Gedanken<br />
hat der Philosoph Nichols auf die Entwicklung moralischer Normen übertragen.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Block befasst sich kritisch mit der Frage, ob empirische Herangehensweisen<br />
für die Philosophie s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d oder nicht. Am Ende dieser Kursdokumentation f<strong>in</strong>det<br />
sich im letzten Abschnitt e<strong>in</strong>e Modellstudie, die unser Kurs auf der Schüler<strong>Akademie</strong><br />
durchgeführt hat, sowie e<strong>in</strong>e kritische Synthese der Kursarbeit.<br />
3.2 E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Moralphilosophie<br />
Moralphilosophie als philosophische Diszipl<strong>in</strong> lässt sich <strong>in</strong> angewandte Ethik, normative<br />
Ethik <strong>und</strong> Metaethik untergliedern. Die angewandte Ethik, auf die nicht weiter e<strong>in</strong>gegangen<br />
wird, überträgt die normative Ethik auf e<strong>in</strong>zelne Fachbereiche wie Mediz<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />
Technik.<br />
Die Metaethik befasst sich mit semantischen, erkenntnistheoretischen <strong>und</strong> ontologischen<br />
Fragen (Birnbacher 2007: 354). Die Semantik behandelt dabei die Sprache<br />
der Moral (Birnbacher 2007: 335). Der Deskriptivismus hält moralische Aussagen für<br />
49
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
Beschreibungen von gleicher Art wie nicht-moralische Aussagen. Im Gegensatz dazu<br />
steht der Präskriptivismus, der moralische Urteile als Appelle ansieht. Emotivisten beschreiben<br />
Moral als Ausdruck von Gefühlen, die damit subjektiv <strong>und</strong> situationsabhängig<br />
ist.<br />
Der zweite Teilbereich der Metaethik ist die Ontologie. Realisten bejahen die Existenz<br />
von moralischen Tatsachen <strong>und</strong> Antirealisten negieren diese. Relativisten glauben, dass<br />
moralische Wertmaßstäbe immer kulturell <strong>und</strong> gesellschaftlich bee<strong>in</strong>flusst s<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />
somit nur für bestimmte <strong>Gesellschaft</strong>en gelten (Quante 2003: 151).<br />
Die Erkenntnistheorie befasst sich mit der Frage nach der Erkennbarkeit von moralischen<br />
Wahrheiten. Kognitivisten vertreten den Standpunkt, dass moralische Aussagen<br />
Wahrheitsanspruch besitzen. Nonkognitivisten s<strong>in</strong>d vom Gegenteil überzeugt (Quante<br />
2003: 40).<br />
Normative Ethik versucht die Frage »Was soll ich tun« zu beantworten. Die konsequenzialistische<br />
Ethik bewertet e<strong>in</strong>e Handlung dann als gut, wenn ihre Folgen gut<br />
s<strong>in</strong>d (Quante 2003: 173). Beispielsweise bewertet der Utilitarismus die Folgen e<strong>in</strong>er Tat<br />
nach dem entstandenen Glück <strong>und</strong> Leiden. Ziel e<strong>in</strong>er Handlung soll se<strong>in</strong>, das Glück zu<br />
maximieren. Für Immanuel Kant ist dagegen alle<strong>in</strong>e die Handlung gut, die aus gutem<br />
Willen geschieht <strong>und</strong> ausschließlich durch die Pflicht motiviert ist (Ott 2001: 79–80).<br />
Gefühle s<strong>in</strong>d für Kant subjektiv <strong>und</strong> können nicht Teil se<strong>in</strong>er vernunftbasierten Ethik<br />
se<strong>in</strong>. Für Kant s<strong>in</strong>d alle diejenigen Handlungen Pflicht, die objektiv gültig s<strong>in</strong>d <strong>und</strong><br />
die Form e<strong>in</strong>es Imperativs haben (Ott 2001: 89). Dies gilt nur für den Kategorischen<br />
Imperativ, den Kant auf drei verschiedene Weisen formuliert. Die bekannteste unter<br />
ihnen besagt: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß<br />
sie e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gesetz werde.« (Kant 1968: 421)<br />
Aristoteles versucht mit se<strong>in</strong>er Tugendethik e<strong>in</strong>e moralisch richtige Lebensart zu<br />
f<strong>in</strong>den (Quante 2003: 138), die am besten zur Glückseligkeit (Eudaimonia) führt, da er<br />
Glück als oberstes Ziel sieht (Birnbacher 2007: 263). Dafür differenziert er zwischen der<br />
beobachtenden, der politischen <strong>und</strong> der vegetativen Lebensweise. Bei der vegetativen<br />
oder hedonistischen Lebensweise versucht der Mensch durch Befriedigung se<strong>in</strong>er Lust<br />
Glück zu erlangen. Aristoteles lehnt diese Lebensweise ab. Als besser empf<strong>in</strong>det er die<br />
politische Lebensform. Dabei versucht man Glück durch Erfolg <strong>und</strong> Ehre zu erreichen,<br />
<strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>e Karriere anstrebt. Die beste Lebensform ist se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die<br />
beobachtende Lebensform, die sich auf das Denken <strong>und</strong> Philosophieren beschränkt.<br />
Aristoteles erklärt, dass das Denken den Menschen vom Tier unterscheidet <strong>und</strong> dem<br />
Göttlichen am nächsten kommt. Daraus folgert er, dass durch Denken entstandenes<br />
Glück am hochwertigsten ist. Ethische Tugenden lassen sich mithilfe der Mesotes-Lehre<br />
identifizieren. Sie besagt, dass man am glücklichsten ist, wenn man bei Entscheidungen<br />
stets die gemäßigte Mitte (»Mesotes«) wählt (Birnbacher 2007: 67).<br />
50
3.3 Moralische Dilemmata<br />
3.3 Moralische Dilemmata<br />
Der Utilitarist John Stuart Mill behauptet, Dilemmata seien »die eigentlichen Schwierigkeiten<br />
<strong>und</strong> Probleme sowohl für die ethische Theorie als auch für das gewissenhafte<br />
praktische Handeln« (Mill 2009).<br />
E<strong>in</strong> moralisches Dilemma ist wie folgt def<strong>in</strong>iert:<br />
– Handlung a ist moralisch vorgeschrieben.<br />
– Handlung b ist moralisch vorgeschrieben.<br />
– Es ist nicht möglich a <strong>und</strong> b auszuführen.<br />
Moralische Dilemmata s<strong>in</strong>d sowohl für naturwissenschaftliche als auch für philosophische<br />
Herangehensweisen an Moraltheorien von Interesse. In neurowissenschaftlichen<br />
Studien werden moralische Dilemmata dazu benutzt, z. B. die Hirnaktivitäten e<strong>in</strong>es<br />
Probanden während e<strong>in</strong>er Entscheidungssituation zu beobachten. Durch solche Beobachtungen<br />
s<strong>in</strong>d Erkenntnisse über <strong>in</strong>tuitive Reaktionen erst möglich, weil sich der Proband<br />
ihrer gar nicht bewusst ist. E<strong>in</strong> Beispiel dafür ist die Studie von Joshua Greene <strong>und</strong><br />
se<strong>in</strong>en Kollegen (Greene et al. 2001). Philosophisch gesehen bieten moralische Dilemmata<br />
e<strong>in</strong>e Möglichkeit, den Widerstreit zweier moralischer Pr<strong>in</strong>zipien zu konkretisieren <strong>und</strong><br />
zu erforschen, ob e<strong>in</strong>e Theorie <strong>in</strong>tuitiv überzeugender ist als e<strong>in</strong>e andere.<br />
E<strong>in</strong> klassisches Dilemma ist das sogenannte Trolley-Dilemma nach Philippa Foot (Foot<br />
1978). Es zeigt, dass moralische Dilemmata zwar häufig konstruiert, deshalb aber bestens<br />
<strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong> ethisches Problem auf den Punkt zu br<strong>in</strong>gen. Beim Trolley-Dilemma<br />
nähert sich e<strong>in</strong> Zug mit großer Geschw<strong>in</strong>digkeit e<strong>in</strong>er Weiche. Auf beiden Seiten führen<br />
die Schienen danach durch e<strong>in</strong>e Schlucht, <strong>in</strong> der Bauarbeiter tätig s<strong>in</strong>d: l<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>er, rechts<br />
fünf. Der Zug wird den rechten Weg wählen <strong>und</strong> den fünf Bauarbeitern das Leben<br />
nehmen. Zu entscheiden gilt, ob man den Hebel umlegen will, sodass der Zug auf das<br />
andere Gleis fährt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en Bauarbeiter tötet. Die meisten Menschen wählen gemäß<br />
utilitaristischer Ges<strong>in</strong>nung diese Möglichkeit.<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Situation bildet das Dicker-Mann-Problem nach Judith Jarvis Thomson<br />
ab (Thomson 1976). Wieder fährt e<strong>in</strong> Zug auf fünf arbeitende Bauarbeiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Schlucht zu. Er muss jedoch zuvor e<strong>in</strong>e Brücke unterqueren, auf der sich der Proband<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong> dicker Mann bef<strong>in</strong>den. Der Proband steht nun vor der Wahl, den dicken Mann<br />
von der Brücke zu stoßen <strong>und</strong> damit den Zug aufzuhalten oder den Zug ungeh<strong>in</strong>dert<br />
auf die fünf Arbeiter fahren zu lassen. Interessanterweise s<strong>in</strong>d die meisten Menschen<br />
hier nicht bereit, den dicken Mann <strong>in</strong> den Tod zu schubsen, obwohl sie auch hier wieder<br />
e<strong>in</strong>es gegen fünf Leben abwägen müssen.<br />
Sowohl Philosophen als auch Verhaltensforscher versuchen zu ergründen, warum<br />
Menschen beim Trolley-Dilemma e<strong>in</strong>e andere Entscheidung treffen als beim Dicker-<br />
Mann-Problem. Beispielsweise erklären Greene <strong>und</strong> Kollegen das Phänomen damit,<br />
dass die zwei Situationen unterschiedliche emotionale Reaktionen hervorrufen. E<strong>in</strong>e<br />
endgültige Begründung steht jedoch bis heute aus <strong>und</strong> so s<strong>in</strong>d moralische Dilemmata<br />
nach wie vor Gegenstand der Forschung.<br />
51
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
3.4 Emotionen & Gefühle<br />
Es gibt unzählige Begriffe von Emotionen. Jeder weiß, was geme<strong>in</strong>t ist, aber e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong><br />
akzeptierte Def<strong>in</strong>ition gibt es nicht. Dies hängt ursächlich mit ihrer Natur<br />
zusammen, die sehr komplex ist. Das Wort »Emotion« kommt aus dem Late<strong>in</strong>ischen:<br />
ex »heraus« <strong>und</strong> motio »Bewegung, Erregung«. Emotionen haben zwei Komponenten –<br />
e<strong>in</strong>e physische <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e psychische. Angst äußert sich z. B. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er erhöhten Pulsrate,<br />
starkem Schwitzen <strong>und</strong> Zittern auf der physischen Ebene <strong>und</strong> auf der psychischen<br />
Ebene mit dem Gefühl der Angst. Entsprechend unterscheiden sich Emotionen von<br />
S<strong>in</strong>neswahrnehmungen, die nur die physische Komponente umfassen, <strong>und</strong> Gefühlen,<br />
die re<strong>in</strong> psychisch s<strong>in</strong>d.<br />
Doch wie s<strong>in</strong>d die physische <strong>und</strong> psychische Komponente der Emotionen mite<strong>in</strong>ander<br />
verb<strong>und</strong>en Dazu gibt es zwei komplementäre Theorien, die sich bis heute gegenüberstehen.<br />
William James <strong>und</strong> Carl Lange behaupten, dass die physische Komponente von<br />
Emotionen der psychischen vorausgeht. Wenn man e<strong>in</strong>en Bär (Wahrnehmung) sieht,<br />
beg<strong>in</strong>nt man zu keuchen <strong>und</strong> zu schwitzen (physiologische Reaktion). Anschließend hat<br />
man Angst (Gefühl).<br />
»We feel sorry because we cry, angry because we strike, afraid because we<br />
tremble, and [it is] not that we cry, strike, or tremble, because we are sorry,<br />
angry, or fearful, as the case may be« — James 1884: 190<br />
Die Cannon-Bard Theorie ist das genaue Gegenteil der James-Lange Theorie: Wenn<br />
man e<strong>in</strong>en Bär (Wahrnehmung) sieht, hat man Angst (Gefühl) <strong>und</strong> fängt dann an zu<br />
keuchen <strong>und</strong> zu schwitzen (physiologische Reaktion).<br />
Auch wenn Emotionen sehr komplex s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> ihre Entstehung nicht endgültig<br />
geklärt ist, gibt es überkulturell e<strong>in</strong>heitliche Emotionen, die schon Descartes benannt<br />
hat: Überraschung, Freude, Trauer, Wut, Angst <strong>und</strong> Verlangen.<br />
Warum jedoch gibt es Emotionen, die bei allen Menschen ähnlich s<strong>in</strong>d Zurückgehend<br />
auf Charles Darw<strong>in</strong> werden Emotionen mit e<strong>in</strong>er evolutionären Entstehung erklärt.<br />
Schon Evolutionsbiologen nehmen an, dass Emotionen komplexe Verhaltensmuster<br />
s<strong>in</strong>d, die sich <strong>in</strong> Anpassung an bestimmte, sich wiederholende Situationen im Leben<br />
von Tieren entwickelt haben. Dazu gehört zum Beispiel die Konfrontation mit e<strong>in</strong>em<br />
Raubtier, während der es schnell zu handeln gilt. Emotionen, so stellt man sich vor,<br />
geben schnelle Handlungsmotivationen <strong>und</strong> Anweisungen <strong>und</strong> helfen so, Angriffe von<br />
Tieren zu überleben.<br />
Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Fähigkeit stärkere, <strong>in</strong>tellektuelle<br />
Emotionen, die von ke<strong>in</strong>erlei Nutzen für ihn s<strong>in</strong>d, zu fühlen: zum Beispiel Ehrfurcht<br />
oder Andacht, die man so bei Tieren sicherlich nicht f<strong>in</strong>det.<br />
Die Menschen s<strong>in</strong>d den Tieren sehr ähnlich <strong>und</strong> zeigen ähnliche emotionale Ausdrücke<br />
(z. B. ängstliche Gesichtsausdrücke). Es ist trotzdem unklar, ob Tiere ebenfalls Gefühle<br />
haben, da diese sich nicht sprachlich mitteilen können. Aber auch beim Menschen kann<br />
man nicht endgültig sicher se<strong>in</strong>, ob alle Menschen das Gleiche fühlen.<br />
52
3.5 Emotionismus nach Jesse Pr<strong>in</strong>z<br />
3.5 Emotionismus nach Jesse Pr<strong>in</strong>z<br />
Nach dem Moraltheoretiker Jesse Pr<strong>in</strong>z besagt Emotionismus, dass alle moralischen<br />
Entscheidungen im Zusammenhang mit Gefühlen <strong>und</strong> Emotionen stehen. Damit widerspricht<br />
er Kants kategorischem Imperativ, der Moral als e<strong>in</strong>e von Gefühlen unabhängige<br />
Größe beschreibt.<br />
Pr<strong>in</strong>z beschreibt »Emotionismus« als Überbegriff für alle Moraltheorien, die Moral<br />
<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise mit Emotionen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung br<strong>in</strong>gen (Pr<strong>in</strong>z 2007: Kapitel 1.1.1).<br />
Dabei ist nicht gesagt, auf welche Art dies geschieht, sondern lediglich, dass es geschieht.<br />
Pr<strong>in</strong>z unterscheidet zwei Spielarten des Emotionismus: den metaphysischen <strong>und</strong> den<br />
epistemischen Emotionismus. Beide beschreiben unterschiedliche Zusammenhänge<br />
zwischen Emotion <strong>und</strong> Moral.<br />
Der metaphysische Emotionismus sagt aus, dass ke<strong>in</strong>e moralische Eigenschaft ohne<br />
Emotionen existieren kann. E<strong>in</strong>e solche Eigenschaft ist zum Beispiel moralisch gut zu<br />
se<strong>in</strong>. Metaphysischer Emotionismus setzt moralischen Realismus voraus, der besagt,<br />
dass moralische Tatsachen existieren. E<strong>in</strong>e Theorie, die sich <strong>in</strong> diese Kategorie e<strong>in</strong>ordnen<br />
lässt, ist der Utilitarismus. Dieser besagt, dass e<strong>in</strong>e Handlung moralisch gut ist, wenn<br />
sie als Konsequenz Glück steigert, <strong>und</strong> schlecht, wenn sie als Konsequenz Leid steigert.<br />
Das Glück ist also nach utilitaristischer Ansicht die Emotion, die mit der moralischen<br />
Eigenschaft, gut zu se<strong>in</strong>, notwendig verknüpft se<strong>in</strong> muss.<br />
Der epistemische Emotionismus sagt aus, dass moralische Begriffe notwendigerweise<br />
mit Emotionen zusammenhängen: Haben wir e<strong>in</strong>en Begriff von Richtig oder Falsch, so ist<br />
dieser mit positiven oder negativen Emotionen verknüpft. E<strong>in</strong> Beispiel für epistemischen<br />
Emotionismus ist der Emotivismus. Dieser besagt, dass mit e<strong>in</strong>er moralischen Aussage<br />
über e<strong>in</strong>e Tätigkeit (zum Beispiel das Stehlen) lediglich die Emotionen ausgedrückt<br />
werden, die wir zu dem Vorgang hegen. E<strong>in</strong>e Aussage wie »Stehlen ist falsch« ist<br />
äquivalent dazu, <strong>in</strong> entsetztem Ton »Stehlen!« zu rufen (Pr<strong>in</strong>z 2007: 17).<br />
Pr<strong>in</strong>z vertritt beide Spielarten des Emotionismus. Um se<strong>in</strong>en Standpunkt zu untermauern,<br />
zieht er empirische Bef<strong>und</strong>e heran. So zitiert er Studien, bei denen Probanden<br />
moralische <strong>und</strong> nicht-moralische Aussagen bewerten sollten (Heekeren et al. 2003, Moll<br />
et al. 2003). Wenn sie sich mit moralischen Aussagen befassten, wiesen sie e<strong>in</strong>e deutlich<br />
erhöhte Hirnaktivität <strong>in</strong> Bereichen des Gehirns auf, die Emotionen verarbeiten.<br />
3.6 Jonathan Haidts sozial<strong>in</strong>tuitionistisches Modell der moralischen<br />
Urteilsbildung<br />
Dem Moralpsychologen Jonathan Haidt zufolge bilden Menschen aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Intuition<br />
e<strong>in</strong> moralisches Urteil. Erst nachträglich liefern sie Argumente zur Rechtfertigung<br />
des Urteils. Haidt veranschaulicht dieses Modell der Urteilsbildung mit der Metapher<br />
e<strong>in</strong>es H<strong>und</strong>es (der Intuition) <strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Schwanzes (der nachträglichen Rechtfertigung<br />
durch e<strong>in</strong> Argument).<br />
53
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
auslösende<br />
Situation<br />
6<br />
As Intuition<br />
1<br />
As Urteil<br />
5<br />
2<br />
As Überlegung<br />
4<br />
3<br />
Bs Überlegung<br />
Bs Urteil<br />
Bs Intuition<br />
Abbildung 3.1: Sozial<strong>in</strong>tuitionistisches Modell moralischer Urteilsbildung (nach Haidt 2001:<br />
815).<br />
In früheren Jahrh<strong>und</strong>erten betrachtete man alle<strong>in</strong> das rationalistische Modell. Demzufolge<br />
löst e<strong>in</strong>e Situation entweder direkt oder <strong>in</strong>direkt über e<strong>in</strong>e emotionale Reaktion<br />
e<strong>in</strong>e moralische Überlegung aus. Aus dieser folgt dann das Urteil.<br />
Der <strong>in</strong>tuitive Prozess <strong>in</strong> Haidts sozial<strong>in</strong>tuitionistischem Modell besteht dar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e<br />
Situation mit bereits vorhandenen Entscheidungsmustern zu vergleichen, sodass die<br />
Urteilsbildung schnell erfolgen kann. Aus der Intuition folgt unmittelbar das moralische<br />
Urteil (1). Der Urteilende sucht nachträglich nach Argumenten für se<strong>in</strong>e Entscheidung<br />
(2) <strong>und</strong> vernachlässigt dabei Argumente, die gegen se<strong>in</strong>e ursprüngliche Entscheidung<br />
sprechen.<br />
Die Intuition e<strong>in</strong>er Person B orientiert sich an der Entscheidung e<strong>in</strong>er anderen Person A<br />
(4). B übernimmt die Me<strong>in</strong>ung des Gegenübers <strong>in</strong>sbesondere dann, wenn e<strong>in</strong>e emotionale<br />
Beziehung besteht <strong>und</strong> beugt damit Konflikten vor. A unterstützt die Urteilsbildung von<br />
B mit ihrer Argumentation (3).<br />
In seltenen Fällen ist der Mensch auch fähig, über sich selbst zu reflektieren. Er kann<br />
dabei entweder auf das Urteil direkt e<strong>in</strong>wirken (5) oder se<strong>in</strong>e Intuitionen revidieren (6).<br />
Haidt belegt se<strong>in</strong> Modell der moralischen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung mit empirischen<br />
Daten. Dass Menschen ihre unbewusst getroffenen Entscheidungen rationalisieren, lässt<br />
sich dadurch begründen, dass Patienten unter Hypnose oder mit psychischer Störung<br />
rationale Gründe für ihr Handeln suchen, obwohl sie diese nicht kennen.<br />
54
3.7 Nervensystem <strong>und</strong> Gehirn<br />
3.7 Nervensystem <strong>und</strong> Gehirn<br />
Das Verhalten <strong>und</strong> die kognitiven Leistungen des Menschen basieren auf der Funktion<br />
se<strong>in</strong>er Nerven. Die Untersuchung des Nervensystems <strong>und</strong> des Gehirns ist daher entscheidend,<br />
wenn es um die Erforschung menschlichen Verhaltens geht. In den letzten<br />
zwei Jahrh<strong>und</strong>erten wurden die Erkenntnisse auf diesem Gebiet revolutioniert. Das neue<br />
Verständnis <strong>in</strong> diesem Bereich nimmt zudem E<strong>in</strong>fluss auf die Moralphilosophie, welche<br />
nun weitere Aspekte <strong>in</strong> ihren Theorien berücksichtigen muss.<br />
Das Nervensystem setzt sich zusammen aus dem Zentralnervensystem (ZNS) <strong>und</strong> dem<br />
peripheren Nervensystem (PNS). Gehirn <strong>und</strong> Rückenmark bilden das ZNS, das hauptsächlich<br />
Informationen verarbeitet. Über die Nerven des PNS gelangen Informationen<br />
von den S<strong>in</strong>nesorganen zum ZNS <strong>und</strong> werden nach der Verarbeitung an die Drüsen- <strong>und</strong><br />
Muskelzellen über periphere Nerven geleitet.<br />
Nervengewebe setzt sich aus Stützzellen (Gliazellen) <strong>und</strong> Nervenzellen (Neuronen) zusammen.<br />
Die vergleichsweise kle<strong>in</strong>eren <strong>und</strong> häufiger vorkommenden Gliazellen stützen<br />
<strong>und</strong> schützen die Nervenzellen. Über die Nervenzellen werden Impulse im Körper transportiert.<br />
Diese Nervensignale s<strong>in</strong>d Spannungsänderungen über der Plasmamembran<br />
e<strong>in</strong>er Zelle. Die chemische <strong>und</strong> elektrische Signalübertragung zwischen Nervenzellen<br />
f<strong>in</strong>det an Synapsen statt.<br />
Das menschliche Gehirn lässt sich trotz se<strong>in</strong>er großen Komplexität <strong>in</strong> sieben Hauptabschnitte<br />
aufteilen: das Großhirn (Cortex), das Kle<strong>in</strong>hirn (Cerebellum), das Zwischen-<br />
(Diencephalon) <strong>und</strong> Mittelhirn (Mesencephalon), die Brücke (Pons), Medulla oblongata<br />
<strong>und</strong> das Rückenmark. Das Großhirn ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>ke <strong>und</strong> rechte Hemisphäre unterteilt<br />
<strong>und</strong> gliedert sich außerdem <strong>in</strong> vier Lappen: Frontallappen, Parietallappen, Okzipitallappen,<br />
Temporallappen. Es ist unter anderem der Sitz aller bewussten Handlungen,<br />
Sammelstation der bewussten <strong>und</strong> unbewussten S<strong>in</strong>neswahrnehmungen, Sitz des Gedächtnisses,<br />
der Sprachbildung <strong>und</strong> des Sprachverständnisses, der Motivation <strong>und</strong> der<br />
Emotionen. E<strong>in</strong>e äußere Schicht, die graue Substanz, welche aus den Zellkörper der<br />
Nervenzellen besteht, umschließt diesen Teil. Im Inneren des Großhirns bef<strong>in</strong>det sich<br />
die sogenannte weiße Substanz, die aus den Axonen der Neuronen besteht. Das Zwischenhirn<br />
wird völlig umschlossen von den anderen Hirnabschnitten <strong>und</strong> ist unterteilt<br />
<strong>in</strong> den Thalamus <strong>und</strong> den Hypothalamus. Der Thalamus verarbeitet vor allem sensorische<br />
Informationen, bevor sie das Großhirn erreichen. Der Hypothalamus reguliert die<br />
meisten autonomisch ablaufenden, endokr<strong>in</strong>en <strong>und</strong> viszeralen Prozesse. Im Mittelhirn<br />
werden e<strong>in</strong>fache sensorisch-motorische Prozesse koord<strong>in</strong>iert (z. B. Augenbewegungen).<br />
Das Kle<strong>in</strong>hirn ist u. a. wichtig für das Lernen <strong>und</strong> die Koord<strong>in</strong>ation von Bewegung.<br />
Im Nachhirn (medulla oblongata <strong>und</strong> Brücke) werden vegetative Funktionen wie die<br />
Atmung, der Herzschlag <strong>und</strong> die Verdauung gesteuert.<br />
Gehirnregionen können mit Funktionen zum Beispiel durch die Untersuchung der<br />
Auswirkung von Läsionen (Verletzungen von Teilen des Gehirns), mittels Positronen-<br />
Emissions-Tomographie oder auch funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT)<br />
korreliert werden.<br />
55
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
3.8 Magnetresonanztomographie<br />
Die Magnetresonanztomographie ermöglicht es, die Anatomie des Körpers e<strong>in</strong>schließlich<br />
des Gehirns abzubilden. Die funktionelle Magnetresonanztomographie bietet über<br />
anatomische Darstellungen h<strong>in</strong>aus die Möglichkeit, Blutströmungen <strong>in</strong>nerhalb des Gehirns<br />
zu messen <strong>und</strong> so die Aktivität der e<strong>in</strong>zelnen Hirnareale zu ermitteln. Das MRT<br />
basiert auf den Eigenschaften der Wasserstoffprotonen im Gewebe. Sie besitzen als<br />
Elementarteilchen die Gr<strong>und</strong>eigenschaft des Sp<strong>in</strong>s. Sie drehen sich um ihre eigene Achse,<br />
ähnlich e<strong>in</strong>em Kreisel. Da dies e<strong>in</strong>er sich bewegenden elektrischen Ladung entspricht,<br />
entsteht e<strong>in</strong> Magnetfeld, das mess- <strong>und</strong> bee<strong>in</strong>flussbar ist. Beim MRT wird e<strong>in</strong> äußeres<br />
Magnetfeld angelegt (60 000-mal so stark wie das Magnetfeld der Erde), das die Achse<br />
des Sp<strong>in</strong>s an se<strong>in</strong>en Feldl<strong>in</strong>ien ausrichtet. Ähnlich e<strong>in</strong>em Kreisel reagieren die Protonen<br />
darauf zunächst mit e<strong>in</strong>er Ausweichbewegung (Präzessionsbewegung), da sie die<br />
Lage ihrer Achse beibehalten »wollen«. Die Ausweichbewegungen erfolgen mit e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten Frequenz, der sogenannten Larmorfrequenz, die proportional zur Stärke<br />
des Magnetfelds ist. Durch e<strong>in</strong>en Radioimpuls (e<strong>in</strong>en elektromagnetischen Impuls mit<br />
hoher Frequenz), der genau der Larmorfrequenz entspricht, lassen sich die Sp<strong>in</strong>s wieder<br />
aus ihrer Position entlang der Magnetfeldl<strong>in</strong>ien auslenken. Das bezeichnet man als<br />
Anregung. Die Auslenkung der Protonen entspricht e<strong>in</strong>er Bewegung ihres Magnetfeldes.<br />
Da e<strong>in</strong> bewegtes Magnetfeld <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Spule e<strong>in</strong>e Spannung <strong>in</strong>duziert, können die präzessierenden<br />
ausgelenkten Protonen durch die erzeugte Wechselspannung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Spule<br />
gemessen werden. Dies ist das MR-Signal.<br />
Innerhalb weniger Sek<strong>und</strong>en nimmt das MR-Signal nach der Anregung aufgr<strong>und</strong> von<br />
zwei Prozessen immer mehr ab (Relaxation). Durch Inhomogenitäten im Magnetfeld<br />
geraten die kreiselnden Protonen aus dem Takt <strong>und</strong> drehen sich mit unterschiedlichen<br />
Phasen. Dadurch verr<strong>in</strong>gert sich die messbare magnetische Wirkung der Sp<strong>in</strong>s <strong>und</strong> somit<br />
das MR-Signal. Dieser Prozess der transversalen Relaxation läuft <strong>in</strong>nerhalb von wenigen<br />
h<strong>und</strong>ert Millisek<strong>und</strong>en ab. Außerdem klappen die angeregten Magnetfeldachsen der<br />
Protonen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum von e<strong>in</strong>igen wenigen Sek<strong>und</strong>en wieder <strong>in</strong> die ursprüngliche<br />
Position entlang der Feldl<strong>in</strong>ien des angelegten Magnetfeldes zurück. Dieser Prozess<br />
nennt sich longitud<strong>in</strong>ale Relaxation.<br />
Da die Wasserstoffprotonen <strong>in</strong> verschiedenen Geweben unterschiedliche Relaxationszeiten<br />
aufweisen, entstehen verschieden starke MR-Signale von den verschiedenen<br />
Geweben, <strong>und</strong> e<strong>in</strong> anatomisches Abbild des Schädels <strong>und</strong> des Gehirns entsteht.<br />
Bei der funktionellen Magnetresonanztomographie wird die Gehirnaktivität gemessen,<br />
während die Probanden e<strong>in</strong>e Aufgabe lösen, <strong>und</strong> mit der Aktivität im Ruhezustand<br />
verglichen. Dazu nutzt man die magnetischen Eigenschaften der Eisengruppe im Hämoglob<strong>in</strong>.<br />
Diese unterscheiden sich im oxygenierten Zustand (wenn Sauerstoff geb<strong>und</strong>en<br />
ist) <strong>und</strong> desoxygenierten Zustand (wenn ke<strong>in</strong> Sauerstoff geb<strong>und</strong>en ist). Daher unterscheidet<br />
sich auch das gemessene fMRT-Signal zwischen desoxyhämoglob<strong>in</strong>reichen <strong>und</strong><br />
oxyhämoglob<strong>in</strong>reichen Hirnregionen. S<strong>in</strong>d Areale im Gehirn aktiv, so verbrauchen ihre<br />
Neurone verstärkt Sauerstoff <strong>und</strong> Nährstoffe, was zu e<strong>in</strong>er Erhöhung des Blutflusses<br />
56
3.9 An fMRI Investigation of Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral Judgement<br />
<strong>und</strong> der Oxyhämoglob<strong>in</strong>-Konzentration <strong>in</strong> diesem Areal führt. Diese wiederum kann<br />
man mithilfe des fMRT-Scanners messen. Die Aktivität während der Ruhephase des<br />
Gehirns wird von der Aktivität während der Aufgabe subtrahiert, <strong>und</strong> die resultierenden<br />
Aktivitäten den verschiedenen Hirnregionen durch Abgleich mit e<strong>in</strong>er anatomischen<br />
MRT-Aufnahme zugewiesen. So kann die aufgabenspezifische Hirnaktivität mittels e<strong>in</strong>er<br />
nicht-<strong>in</strong>vasiven Technik bestimmt werden.<br />
3.9 An fMRI Investigation of Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral Judgement<br />
J.D. Greene hat die erste Studie durchgeführt, die die neuronalen Gr<strong>und</strong>lagen von<br />
moralischem Verhalten mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT)<br />
untersucht: An fMRI Investigation of Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral Judgement. Ausgehend<br />
davon, dass die meisten Befragten im Trolley Dilemma e<strong>in</strong>e Person opfern würden,<br />
um fünf andere zu retten, während sie im Dicker-Mann-Problem die fünf Personen<br />
sterben lassen <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>zelne Person nicht von der Brücke stoßen würden, stellt Greene<br />
folgende Hypothese auf: Bei e<strong>in</strong>igen Dilemmata spielen Emotionen, bei anderen die<br />
rationale Bewertung e<strong>in</strong>e größere Rolle im H<strong>in</strong>blick auf die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung beim<br />
Lösen des Problems. Die emotionale Komponente wird laut Greene von zwei Faktoren<br />
bee<strong>in</strong>flusst: Erstens, der Intention (Wird das Opfer aktiv als Mittel zum Zweck, zum<br />
Retten der anderen Personen missbraucht) <strong>und</strong> zweitens, der sogenannten »Personal<br />
force« (bef<strong>in</strong>det sich das Opfer <strong>in</strong> physischer Nähe zum Handelnden <strong>und</strong> führt die<br />
Handlung direkt zum Tod des Opfers (Greene 2009)). Das Dicker-Mann-Problem könnte<br />
aufgr<strong>und</strong> der beiden genannten Faktoren stärkere negative Emotionen auslösen als das<br />
Trolley Dilemma, die zu der unterschiedlichen Bewertung führen.<br />
In se<strong>in</strong>er Studie untersuchte Greene daher mithilfe von fMRT die Rolle von emotionalen<br />
<strong>und</strong> rationalen Prozessen im Gehirn bei der Entscheidungsf<strong>in</strong>dung. Während ihre<br />
Hirnaktivität mittels fMRT <strong>und</strong> ihre Reaktionszeit gemessen wurde, bewerteten neun<br />
Probanden 60 Dilemmata <strong>in</strong> drei Kategorien: Moralisch neutrale Dilemmata (Reise mit<br />
dem Zug oder mit dem Bus), Unpersönlich-moralische Dilemmata (Trolley Dilemma),<br />
Persönlich-moralische Dilemmata (Dicker-Mann-Problem).<br />
Bei persönlich-moralischen Dilemmata waren die Bereiche im Gehirn, die mit Emotionen<br />
assoziiert werden, verstärkt aktiv, im Gegensatz zu den Bereichen der rationalen<br />
Problemverarbeitung. Moralisch neutrale <strong>und</strong> unpersönlich-moralische Dilemmata riefen<br />
e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Aktivität <strong>in</strong> Emotionsarealen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e stärkere <strong>in</strong> den Arealen der rationalen<br />
Problemverarbeitung hervor. Zwischen diesen beiden waren ke<strong>in</strong>e signifikanten<br />
Unterschiede zu erkennen. Die Reaktionszeiten der Probanden waren deutlich höher bei<br />
persönlich-moralischen Dilemmata, wenn sie sich entschieden, die e<strong>in</strong>e Person zu opfern,<br />
als wenn sie dies nicht wählten, oder wenn sie Entscheidungen <strong>in</strong> persönlich-moralischen<br />
oder moralisch-neutralen Dilemmata trafen. Greene begründet die höhere Reaktionszeit<br />
durch die Entscheidung gegen die emotionale Neigung, die erst von der rationalen<br />
Problemlösungse<strong>in</strong>heit des Gehirns »überstimmt« werden muss. Es wurde <strong>in</strong> der Studie<br />
gezeigt, dass bei moralischen Problemen, die physische Nähe be<strong>in</strong>halten, Emotionsareale<br />
57
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
im Gehirn stärker aktiv s<strong>in</strong>d, während bei moralischen Problemen mit distanzierten<br />
Beteiligten die rationalen Prozesse überwiegen. Die neuronalen Aktivitätsmuster <strong>und</strong><br />
die Reaktionszeiten der Probanden unterstützen die von Greene aufgestellte Hypothese<br />
zur moralischen Entscheidungsf<strong>in</strong>dung.<br />
3.10 Neuroökonomie <strong>und</strong> Moralverhalten<br />
Neuroökonomie befasst sich mit menschlichem Entscheidungsverhalten. Sie versucht die<br />
Motive <strong>und</strong> andere Faktoren, welche Entscheidungen bestimmen, sowie die neuronalen<br />
Prozesse, die der Entscheidungsf<strong>in</strong>dung zugr<strong>und</strong>e liegen, zu ergründen. Dabei vere<strong>in</strong>t<br />
sie Methoden <strong>und</strong> Modelle aus der Ökonomie, der Psychologie <strong>und</strong> der Neurologie.<br />
Die Neuroökonomie g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den 1990er Jahren aus e<strong>in</strong>er Symbiose der Verhaltensökonomie<br />
<strong>und</strong> den Neurowissenschaften hervor. Die Verhaltensökonomie war ihrerseits als<br />
Abgrenzung von neoklassischen Wirtschaftsmodellen entstanden. Diese Modelle s<strong>in</strong>d<br />
normativ <strong>und</strong> basieren auf wenigen Axiomen. Sie gehen <strong>in</strong>sbesondere von vollkommen<br />
rationalen Akteuren aus.<br />
Diese Theorien wurden jedoch empirisch widerlegt (z. B. durch die Paradoxien von<br />
Allais <strong>und</strong> Ellsberg, Glimcher et al. 2009: 3). Verhaltensökonomen bemühen sich daher<br />
um e<strong>in</strong>e stärkere Konsistenz von theoretischen Vorhersagen <strong>und</strong> empirischen Daten.<br />
Neurowissenschaften bieten die Möglichkeit, auf die neoklassischen, normativen Modelle<br />
zu verzichten <strong>und</strong> deskriptive Modelle auf der Gr<strong>und</strong>lage neurowissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse zu entwickeln.<br />
Die Neurowissenschaftler hatten <strong>in</strong> der Vergangenheit ihrerseits zwar Zugang zu<br />
empirischen Daten über Entscheidungsverhalten, wussten diese aber nicht theoretisch<br />
e<strong>in</strong>zuordnen. Sie sehen <strong>in</strong> den Entscheidungstheorien der Ökonomie e<strong>in</strong>e Möglichkeit,<br />
dieses Problem zu lösen.<br />
E<strong>in</strong>e wichtige Erkenntnis der Neuroökonomie ist, dass Entscheidungen <strong>und</strong> neuronale<br />
Aktivität korrelieren. Außerdem quantifiziert die Aktivität gewisser Neuronen den<br />
ökonomischen Erwartungswert (Glimcher <strong>und</strong> Rustich<strong>in</strong>i 2009: 449).<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus bietet die Hirnforschung e<strong>in</strong>en Erklärungsansatz dafür, dass Menschen<br />
sich nicht immer gemäß ökonomisch-rationaler Nutzentheorien entscheiden: Je nach Art<br />
der zu treffenden Entscheidungen s<strong>in</strong>d verschiedene Hirnareale aktiv, die jeweils eher<br />
emotionale oder rationale Komponenten mite<strong>in</strong>beziehen. Die Entscheidungen, <strong>in</strong> die<br />
emotionale Areale <strong>in</strong>volviert s<strong>in</strong>d, entsprechen den Vorhersagen ökonomischer Modelle<br />
tendenziell seltener.<br />
So bietet die Neuroökonomie Erklärungsansätze für altruistisches Verhalten. Aus der<br />
Sicht e<strong>in</strong>es klassischen Ökonomen ist Altruismus e<strong>in</strong> irrationales Phänomen, da er den<br />
Nutzen des Handelnden nicht steigert. Mehrere Modelle versuchen jedoch altruistisches<br />
Verhalten zu erklären, etwa der sogenannte pure Altruismus <strong>und</strong> der »Warm-glow«-<br />
Altruismus. Bei ersterem ist das Individuum wohltätig, um der Allgeme<strong>in</strong>heit zu dienen,<br />
bei letzterem, um eigenen Interessen (z. B. dem guten Ruf oder dem guten Gewissen) zu<br />
dienen.<br />
58
3.11 Altruismus im Tierreich<br />
Neuroökonomische Studien belegen, dass diese Ansätze ihre Berechtigung haben.<br />
Sie zeigen beispielsweise, dass neuronale Belohnungszentren aktiviert werden, wenn<br />
Probanden sehen, dass e<strong>in</strong>e Hilfsorganisation Geld empfängt (Harbaugh et al. 2007).<br />
Dies unterstützt die These, dass das Allgeme<strong>in</strong>wohl e<strong>in</strong> Entscheidungskriterium für<br />
Menschen ist. Darüber h<strong>in</strong>aus ist erwiesen, dass auch »Warm-glow«-Motive von Belang<br />
s<strong>in</strong>d, dass das menschliche Spendenverhalten sich <strong>in</strong> öffentlichen Situationen ändert<br />
<strong>und</strong> dass Emotionen, Empathie, Werte <strong>und</strong> Normen sowie <strong>in</strong>dividuelle höhere Ziele das<br />
Spendenverhalten bee<strong>in</strong>flussen (Mayr et al. 2009).<br />
3.11 Altruismus im Tierreich<br />
E<strong>in</strong>e Handlung wird als altruistisch bezeichnet, wenn sie ohne Rücksicht auf die eigene<br />
Person mit der Absicht, Anderen etwas Gutes zu tun, durchgeführt wird. Diese Def<strong>in</strong>ition<br />
lässt sich auf Tiere nicht anwenden, da die meisten nicht <strong>in</strong> der Lage s<strong>in</strong>d bewusst zu<br />
denken. Im Tierreich gilt e<strong>in</strong>e Handlung, die die reproduktive Fitness – die zu erwartende<br />
Zahl an Nachkommen e<strong>in</strong>es Organismus – verr<strong>in</strong>gert, <strong>und</strong> gleichzeitig die reproduktive<br />
Fitness e<strong>in</strong>es anderen Lebewesens stärkt, als biologisch altruistisch.<br />
Um zu verstehen, wie bemerkenswert solche Verhaltensweisen s<strong>in</strong>d, sollte zuerst e<strong>in</strong><br />
Blick auf die Evolutionstheorie geworfen werden. Darw<strong>in</strong>s Theorie besagt, dass die<br />
Lebewesen, die ihrem Umfeld am besten angepasst s<strong>in</strong>d, gegenüber anderen Lebewesen<br />
e<strong>in</strong>en Überlebens- <strong>und</strong> damit auch e<strong>in</strong>en Reproduktionsvorteil haben (»survival of<br />
the fittest« (Darw<strong>in</strong> 1859)), sodass sie ihr Erbgut mit den vorteilhaften genetischen<br />
Merkmalen häufiger weitergeben können als schlechter angepasste Lebewesen. Dieser<br />
Vorgang, die natürliche Selektion, führt im Laufe vieler Generationen zu e<strong>in</strong>er immer<br />
besseren Anpassung der Arten an ihre Lebensumstände (Darw<strong>in</strong> 1859).<br />
Und doch treten <strong>in</strong> der Natur Fälle auf, die diesem Pr<strong>in</strong>zip sche<strong>in</strong>bar widersprechen:<br />
Die südliche Grünmeerkatze z. B. gibt bei Bedrohung durch e<strong>in</strong> Raubtier e<strong>in</strong>en Warnschrei<br />
an die restlichen Mitglieder ihrer Gruppe von sich, obwohl sie dabei riskiert, die<br />
eigenen Fluchtchancen zu verkle<strong>in</strong>ern. Solch e<strong>in</strong> Verhalten verr<strong>in</strong>gert die Überlebenschancen<br />
des warnenden Affen im Gegensatz zu se<strong>in</strong>en Artgenossen. Wie konnte sich<br />
dieses altruistische Verhalten durchsetzen, obwohl es die reproduktive Fitness reduziert<br />
<strong>und</strong> somit verh<strong>in</strong>dert, dass die Gene des Organismus an die folgende Generation<br />
weitergegeben werden können<br />
Die Theorie der »Verwandtenselektion« geht davon aus, dass Lebewesen altruistisches<br />
Verhalten vor allem Verwandten gegenüber zeigen. Da die Gene von verwandten Lebewesen<br />
zu e<strong>in</strong>em hohen Grad übere<strong>in</strong>stimmen, ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit hoch, dass<br />
auch der Nutznießer selbst das altruistische Gen trägt <strong>und</strong> es an die nächste Generation<br />
weitergibt, sodass letztendlich die Anzahl der Träger des altruistischen Gens konstant<br />
bleibt oder steigt.<br />
E<strong>in</strong>en Ansatz zum Verständnis dieser Theorie bietet die Betrachtung aus Sicht der<br />
Gene: Richard Dawk<strong>in</strong>s sieht die Evolution als Kampf der Gene um Repräsentation<br />
im Genpool (Dawk<strong>in</strong>s 1976, 1982) <strong>und</strong> von diesem Standpunkt aus ergibt auch die<br />
59
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
Verwandtenselektion S<strong>in</strong>n: E<strong>in</strong> Gen »will« nur die Anzahl se<strong>in</strong>er Kopien vergrößern,<br />
egal, <strong>in</strong> welchem Organismus diese Kopien existieren, ob <strong>in</strong> dem ursprünglichen Träger<br />
selbst oder durch se<strong>in</strong>e Hilfe <strong>in</strong> anderen (verwandten) Organismen.<br />
E<strong>in</strong>e weitere Art von Altruismus ist der Reziproke Altruismus. Bei diesem handeln<br />
Lebewesen nach dem Pr<strong>in</strong>zip »tit for tat«. Sie verhalten sich altruistisch, aber nur <strong>in</strong> der<br />
Erwartung, dass ihr Gefallen <strong>in</strong> naher Zukunft zurückgezahlt wird, sodass sie dadurch<br />
<strong>in</strong> absehbarer Zeit selbst e<strong>in</strong>en direkten Vorteil erlangen.<br />
So lässt sich die Existenz von biologischem Altruismus <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit der Evolutionstheorie<br />
br<strong>in</strong>gen. Es gibt allerd<strong>in</strong>gs die Ansicht, dass altruistisches Verhalten im<br />
Tierreich diesen Namen nicht verdient, denn es sei lediglich der Versuch egoistischer<br />
Gene, sich weiter zu verbreiten. Der Begriff »egoistisches Gen« ist jedoch als Metapher<br />
zu verstehen, weil Gene natürlich ke<strong>in</strong>e Ziele verfolgen können. E<strong>in</strong> Gen alle<strong>in</strong> kann<br />
auch ke<strong>in</strong> altruistisches Verhalten »bewirken«, sondern lediglich die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
erhöhen, dass e<strong>in</strong> Organismus altruistisch handelt. Dass sich altruistische Gene<br />
durchsetzen, ist schlicht Folge der Evolution, denn e<strong>in</strong> Gen, das bewirkt, dass se<strong>in</strong><br />
Träger sich so verhält, dass mehr Kopien dieses Gens produziert werden, ob durch den<br />
Träger selbst oder durch andere Organismen, wird von der Evolution begünstigt. Man<br />
muss außerdem beachten, dass der größte Teil der Lebewesen ke<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> besitzt<br />
<strong>und</strong> deshalb weder Altruismus im S<strong>in</strong>ne des üblichen Sprachgebrauchs noch Egoismus<br />
bewusst ausüben kann. Biologischer, d. h. re<strong>in</strong> auf die reproduktive Fitness bezogener,<br />
<strong>und</strong> psychologischer, d. h. mit selbstlosen Absichten durchgeführter Altruismus sollten<br />
also klar vone<strong>in</strong>ander getrennt werden.<br />
3.12 Menschlicher Altruismus <strong>und</strong> Moral<br />
Wer auf die eigenen Kosten e<strong>in</strong>em Anderem hilft, wird als Altruist bezeichnet. Im<br />
Unterschied zu biologischem Altruismus kann der Altruismus beim Menschen mit e<strong>in</strong>er<br />
bewussten Komponente verb<strong>und</strong>en se<strong>in</strong>, mit e<strong>in</strong>er Absicht zu helfen. »Absichtlich egoistisch«<br />
ist Altruismus, wenn man e<strong>in</strong>em Anderen hilft <strong>und</strong> hofft, der eigene Gefalle könne<br />
e<strong>in</strong>es Tages erwidert werden (reziproker Altruismus). Re<strong>in</strong> »altruistischer Altruismus«<br />
60
3.13 Shaun Nichols über die Evolution von moralischen Normen<br />
bezeichnet den Fall, <strong>in</strong> dem man hilft, um anderen dadurch etwas Gutes zu tun. In<br />
diesem Fall handeln Menschen altruistisch, weil sie im Stande s<strong>in</strong>d, den Schmerz oder<br />
die Angst des Anderen nachzuempf<strong>in</strong>den.<br />
Dem Menschen alle<strong>in</strong> eigen ist nicht nur absichtlicher Altruismus, sondern auch die<br />
Moral. Abgesehen von unserer Fähigkeit, Emotionen <strong>und</strong> Empathie zu fühlen, gibt es<br />
weitere Voraussetzungen für moralisches Handeln: das Erkennen der Konsequenzen des<br />
eigenen Handelns, Urteilsvermögen <strong>und</strong> die Fähigkeit, zwischen alternativen Handlungen<br />
wählen zu können (freier Wille). Ohne unsere Intelligenz <strong>und</strong> unser Bewusstse<strong>in</strong><br />
könnten wir diese Voraussetzungen nicht erfüllen <strong>und</strong> somit nicht bewusst moralisch<br />
handeln. Charles Darw<strong>in</strong> ist der Me<strong>in</strong>ung, dass die menschliche Moral unweigerlich aus<br />
unseren sozialen Inst<strong>in</strong>kten <strong>und</strong> unserer Intelligenz folgt:<br />
»The follow<strong>in</strong>g proposition seems to me <strong>in</strong> a high degree probable namely,<br />
that any animal whatever, endowed with well marked social <strong>in</strong>st<strong>in</strong>cts, would<br />
<strong>in</strong>evitably acquire a moral sense or conscience, as soon as its <strong>in</strong>tellectual powers<br />
had become as well developed, or nearly as well developed, as <strong>in</strong> man«<br />
— Darw<strong>in</strong> 1871: 68–69<br />
3.13 Shaun Nichols über die Evolution von moralischen Normen<br />
Shaun Nichols (University of Arizona) ist Vertreter der experimentellen Philosophie,<br />
die philosophischen Fragen mit empirischen Forschungsmethoden nachgeht. Nichols<br />
untersucht die Rolle der Gefühle für moralisches Handeln <strong>und</strong> die Genealogie der Normen<br />
mit Hilfe der kognitiven Psychopathologie, Entwicklungspsychologie, kognitiven<br />
Anthropologie, Sozialgeschichte <strong>und</strong> eigener Versuche.<br />
Nichols argumentiert, dass Menschen moralische Regeln als autoritätsunabhängig,<br />
generalisierbar <strong>und</strong> deren Überschreitung als besonders gravierend ansehen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
wenn sie Leid auslösen. Solche Übertretungen von anderen unterscheiden zu<br />
können, bezeichnet Nichols als die Fähigkeit, moralische Kernurteile (»core moral judgements«)<br />
zu treffen (Nichols 2004: 3–29). Diese Kernurteile umfassen e<strong>in</strong>en affektiven<br />
Mechanismus <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e normative Theorie. Die normative Theorie verbietet, andere<br />
Menschen zu verletzen; der affektive Mechanismus sorgt für emotionale Reaktionen auf<br />
die Handlungen, die beurteilt werden.<br />
Moralische Kernurteile implizieren Gefühlsregeln (»sentimental rules«), die Handlungen,<br />
welche starke negative Gefühle auslösen, verbieten. Solche negativen Gefühle<br />
s<strong>in</strong>d etwa Leid oder Ekel (Nichols 2004: 30–64). Beispielsweise jemanden zu schlagen<br />
untersagt sowohl die normative Theorie als auch das affektive System (Nichols 2004:<br />
97–117).<br />
Normen unterliegen wie Gene e<strong>in</strong>em evolutionären Prozess: Diejenigen, die Handlungen<br />
verbieten, welche e<strong>in</strong> besonders starkes negatives Gefühl auslösen, haben e<strong>in</strong>e<br />
höhere Überlebenschance. Um diese These empirisch zu untermauern, vergleicht Nichols<br />
heutige Normen mit Normen des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts aus dem damals populären Buch »On<br />
61
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
Good Manners For Boys« von Erasmus von Rotterdam. Se<strong>in</strong>e Analyse bestätigt Nichols’<br />
Hypothese, da sich ältere Normen, die Handlungen verbieten, welche etwa Ekel oder<br />
Leid verursachen, im Vergleich zur heutigen Zeit nur wenig verändert haben. So halten<br />
Menschen es heute wie damals für moralisch falsch, jemanden zu bestehlen. Normen,<br />
die Handlungsanweisungen geben, welche ke<strong>in</strong>e Emotionen ansprechen, haben dagegen<br />
nur selten überlebt. Heute wird zum Beispiel ke<strong>in</strong> Wert mehr darauf gelegt, die Serviette<br />
auf die l<strong>in</strong>ke oder rechte Schulter zu legen (Nichols 2004: 118–140).<br />
3.14 Wissenschaftstheorie<br />
Die Wissenschaftstheorie ist e<strong>in</strong> Teilgebiet der Philosophie <strong>und</strong> beschäftigt sich mit<br />
dem Begriff der Wissenschaft, ihren Erkenntnispr<strong>in</strong>zipien, ihren Methoden <strong>und</strong> ihrer<br />
Sprache. Wissenschaft besteht aus Empirie <strong>und</strong>/oder Theorie sowie Kommunikation.<br />
E<strong>in</strong>e Fragestellung ist der Ausgangspunkt wissenschaftlichen Forschens. Wissenschaftliche<br />
Aussagen müssen immer an der Wirklichkeit überprüfbar se<strong>in</strong> <strong>und</strong> dürfen sich <strong>in</strong><br />
ke<strong>in</strong>em Fall widersprechen.<br />
Jede Wissenschaft hat e<strong>in</strong> Erkenntnisziel. Dieses besteht dar<strong>in</strong>, Theorien zu f<strong>in</strong>den,<br />
die die Wirklichkeit möglichst genau beschreiben. E<strong>in</strong> Gr<strong>und</strong>problem der Erkenntnistheorie<br />
ist das Induktionsproblem. Erkenntnisgew<strong>in</strong>n durch Induktion bedeutet, dass<br />
von e<strong>in</strong>er beobachteten Regelmäßigkeit auf e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>es Gesetz geschlossen wird.<br />
Problematisch an diesem Prozess ist, dass unsere Wahrnehmung fehlerbehaftet ist, wie<br />
optische Täuschungen deutlich machen. Außerdem können die Schlüsse, die wir aus<br />
den Beobachtungen ziehen, falsch se<strong>in</strong> (wenn wir etwa aus der Beobachtung, dass es<br />
die letzten fünf Jahre am 1. Oktober geregnet hat, schließen, dass es am 1. Oktober jeden<br />
Jahres regnet). Der Gegenpart zur Induktion ist die Deduktion – der logische Schluss<br />
aus Prämissen (z. B. mathematische Beweise).<br />
Nach Karl Popper (1902–94) ist Wissenschaft e<strong>in</strong> Prozess, <strong>in</strong> dem Theorien aufgestellt<br />
werden, die durch Experimente falsifizierbar se<strong>in</strong> müssen (Okasha 2009: 13–17). Theorien,<br />
die diesem Kriterium nicht entsprechen, gelten als nicht wissenschaftlich. Jede aufgestellte<br />
Theorie gilt nur vorläufig <strong>und</strong> so lange, wie sie nicht durch neue Beobachtungen<br />
falsifiziert wird. Wird sie falsifiziert, muss sie durch e<strong>in</strong>e Theorie ersetzt werden, die sowohl<br />
die ursprünglichen Beobachtungen, als auch den neuen, zuvor widersprüchlichen<br />
Sachverhalt erklärt.<br />
3.15 Humes Se<strong>in</strong>-Sollen-Unterscheidung <strong>und</strong> der naturalistische<br />
Fehlschluss nach Moore<br />
Der schottische Philosoph der englischen Aufklärung David Hume (1711–76) untersucht<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk »A Treatise of Human Nature« den menschlichen Verstand dah<strong>in</strong>gehend,<br />
wie Erkenntnis entsteht <strong>und</strong> wie davon ausgehend moralisches Handeln zustande<br />
kommt.<br />
62
3.16 Kritik am naturalistischen Fehlschluss<br />
Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ist der Mensch e<strong>in</strong> gefühlsgeleitetes Wesen, das nach dem<br />
Lustpr<strong>in</strong>zip handelt. Lust empf<strong>in</strong>det der Mensch nicht nur, wenn se<strong>in</strong> Handeln ihm<br />
unter dem Aspekt der Selbstliebe selbst nutzt, er handelt auch aus Sympathie.<br />
Hume ist der Me<strong>in</strong>ung, dass der Impuls zur ethischen Handlung von den Affekten<br />
kommt <strong>und</strong> damit nicht von der Vernunft, wie es viele Zeitgenossen behaupteten.<br />
Hume zufolge übernimmt der Verstand lediglich die Aufgabe der Mittelbestimmung für<br />
die bevorstehende Handlung, er erkennt also die kausalen Zusammenhänge zwischen<br />
Ursache <strong>und</strong> Wirkung e<strong>in</strong>er Handlung.<br />
Aus dieser Überlegung heraus stellt Hume die »Se<strong>in</strong>-Sollen-Unterscheidung« auf, die<br />
besagt, dass von e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> deskriptiven Aussage nicht auf e<strong>in</strong>e präskriptive geschlossen<br />
werden darf, denn der Ist-Zustand darf nicht ohne weiteres e<strong>in</strong>em Soll-Zustand<br />
gleichgesetzt werden (Hume 2000).<br />
E<strong>in</strong>e ähnliche Problematik behandelt der britische Philosoph George Edward Moore<br />
(1873–1958). Der von ihm beschriebene naturalistische Fehlschluss besagt, dass präskriptive<br />
Eigenschaften nicht durch deskriptive Begriffe def<strong>in</strong>iert werden dürfen. Moore<br />
kritisiert vor allem die philosophische Strömung des Naturalismus, denn diese def<strong>in</strong>iert<br />
das moralisch Gute mithilfe natürlicher Eigenschaften. E<strong>in</strong>e naturalistische Def<strong>in</strong>ition<br />
von »gut« könnte also wie folgt lauten: Gut ist dasjenige, was unser Glück steigert.<br />
Moore behauptet, dass sich »gut« gar nicht def<strong>in</strong>ieren lässt, da es ähnlich wie »rot«<br />
zu den nicht-natürlichen Begriffen zählt <strong>und</strong> somit nicht mit natürlichen Prädikaten<br />
beschrieben oder gar durch diese als Synonym ersetzt werden kann (Moore 1977: 40).<br />
Diese These unterstützt Moore mit dem Argument der offenen Frage (Moore 1977: 47),<br />
das folgende naturalistische Hypothese angreift: »Wenn wir A für gut halten, so glauben<br />
wir, daß A e<strong>in</strong>es der D<strong>in</strong>ge ist, die wir zu begehren begehren«. Diese These lässt sich<br />
wie folgt anzweifeln: »Ist es gut zu begehren, dass wir A begehren« E<strong>in</strong>e Antwort lässt<br />
jedoch stets die Frage offen: »Ist A gut«<br />
Diese Frage lässt sich nicht beantworten. So ist für Moore erwiesen, dass präskriptive<br />
Prädikate nicht durch natürliche def<strong>in</strong>iert oder gar ersetzt werden dürfen.<br />
3.16 Kritik am naturalistischen Fehlschluss<br />
Viele Philosophen kritisieren den naturalistischen Fehlschluss. Gottlob Frege (1848–1925)<br />
war der Ansicht, dass es e<strong>in</strong>en klaren Unterschied zwischen dem S<strong>in</strong>n <strong>und</strong> der Bedeutung<br />
zweier Begriffe gibt. Demnach haben »Morgenstern« <strong>und</strong> »Abendstern« dieselbe<br />
Bedeutung (nämlich die Venus) aber unterschiedlichen S<strong>in</strong>n. Auf den naturalistischen<br />
Fehlschluss bezogen bedeutet dies, dass »gut« <strong>und</strong> »N« dieselbe Bedeutung haben können,<br />
aber trotzdem verschiedene S<strong>in</strong>ne haben. Somit kann »gut« durch »N« ausgedrückt<br />
werden, denn beide beziehen sich auf dieselbe Eigenschaft (Miller 2003: 18). Nach Miller<br />
ist dieser Kritikpunkt allerd<strong>in</strong>gs problematisch, da er voraussetzt, dass »gut« <strong>und</strong> »N«<br />
verschiedene S<strong>in</strong>ne besitzen. Der Naturalismus h<strong>in</strong>gegen def<strong>in</strong>iere die beiden Begriffe<br />
als »analytisch äquivalent«, d. h. sie besäßen denselben S<strong>in</strong>n. Somit sei Freges Kritik nur<br />
sehr bed<strong>in</strong>gt annehmbar (Miller 2003: 18).<br />
63
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
Der Philosoph William K. Frankena (1908–1994) kritisiert erstens die Bezeichnung<br />
»naturalistischer Fehlschluss«, weil Moores Kritik nicht nur Naturalisten treffe. Vielmehr<br />
müsse man bei Positionen, die »gut« mit nicht-natürlichen Eigenschaften identifizieren,<br />
von e<strong>in</strong>em »def<strong>in</strong>istischen Fehlschluss« sprechen (Frankena 1939: 170). Zweitens falle auf,<br />
dass Moore se<strong>in</strong>en Gegnern ke<strong>in</strong>en logischen Fehlschluss vorwerfe. Vielmehr kritisiere<br />
er den Ansatz, »gut« zu def<strong>in</strong>ieren. Man könne e<strong>in</strong> Objekt A niemals durch e<strong>in</strong> Objekt<br />
B ausdrücken (Frankena 1939: 171). Zuletzt behauptet Frankena, Moore begehe e<strong>in</strong>e<br />
»Petitio pr<strong>in</strong>cipii«, <strong>in</strong>dem er die Prämisse »gut« von vornhere<strong>in</strong> ablehnt. Nur so könne<br />
er das Argument der offenen Frage überhaupt e<strong>in</strong>setzen.<br />
Joshua Greene behauptet, dass moralische Entscheidungen von Intuition <strong>und</strong> Gefühl<br />
gesteuert werden. Intuition sei empirisch erforschbar. Insofern sei e<strong>in</strong> <strong>in</strong>direkter<br />
Übergang von Tatsachenbehauptungen zu moralischen Thesen möglich. Die These des<br />
moralischen Realismus werde beispielsweise vielfach <strong>in</strong>tuitiv für wahr gehalten. Doch<br />
es ist empirisch erwiesen, dass sich im Zuge der Evolution Mechanismen zur schnellen<br />
gefühlsbasierten sozialen Entscheidung entwickelt haben, die unsere Intuition bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Die Neigung zum moralischen Realismus gehe darauf zurück, dass wir moralische<br />
Eigenschaften <strong>in</strong> die Welt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>projizieren, weil uns das evolutionäre Vorteile brachte.<br />
Dies schwäche den moralischen Realismus.<br />
3.17 Die wichtigsten Schritte e<strong>in</strong>es Experimentes<br />
Wissenschaftliche Experimente folgen e<strong>in</strong>em strukturierten Aufbau, der alle geme<strong>in</strong>samen<br />
Kernschritte umfasst. Am Anfang steht e<strong>in</strong>e Frage, welche zunächst noch sehr<br />
allgeme<strong>in</strong> gefasst se<strong>in</strong> kann. Auf diese folgt e<strong>in</strong>e (Sach-)Hypothese beziehungsweise e<strong>in</strong>e<br />
Vermutung über den Ausgang des Experiments, die aus Ergebnissen schon durchgeführter<br />
Versuche entstehen oder theoretischen Überlegungen entsprungen se<strong>in</strong> kann. Im<br />
dritten Schritt, der »Operationalisierung«, wird die Methode der Untersuchung gewählt<br />
(z. B. fMRT-Untersuchung oder Umfrage per Fragebogen) <strong>und</strong> mittels e<strong>in</strong>es Versuchsplans<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e praktische Umsetzung übersetzt. Im Versuchsplan wird der logische Aufbau des<br />
Experimentes festgelegt. Die Kontrolle der Störvariablen ist wichtig, dass der Versuch<br />
möglichst neutral abläuft <strong>und</strong> das Ergebnis des Versuches nicht verfälscht wird. Zum Beispiel<br />
sollte der Versuchsleiter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Verhaltensstudie sich allen Probanden gegenüber<br />
gleich verhalten. Die Anzahl <strong>und</strong> Eigenschaften der Versuchspersonen (Alter, gesellschaftliche<br />
Stellung, Geschlecht) spielen ebenfalls e<strong>in</strong>e Rolle für die Aussagekraft des<br />
Experiments. Je nach Fragestellung kann so e<strong>in</strong> möglichst repräsentativer Querschnitt<br />
der <strong>Gesellschaft</strong> oder e<strong>in</strong>e sehr spezifische Gruppe als Stichprobe gewählt werden.<br />
Die Sachhypothese wird <strong>in</strong> Bezug auf die konkrete Durchführung des Experiments als<br />
mathematische, <strong>in</strong> vielen Fällen statistische Hypothese formuliert. Nach der praktischen<br />
Durchführung wird bei der Auswertung der Daten geprüft, ob das erhaltene Ergebnis<br />
mit der statistischen Hypothese übere<strong>in</strong>stimmt. Daraufh<strong>in</strong> wird e<strong>in</strong> Schluss über die zu<br />
Anfang formulierte Sachhypothese getroffen. Wichtig ist außerdem die Diskussion der<br />
Ergebnisse, im H<strong>in</strong>blick auf vorhandene Literatur zu dem Thema, auf vorangegangene<br />
Experimente, aber auch auf die Qualität des Experiments <strong>und</strong> mögliche Fehler.<br />
64
3.18 <strong>Akademie</strong><strong>in</strong>terne Studie zu moralischen Entscheidungen<br />
Abbildung 3.2: Antwort der Befragten auf das Inzest-Dilemma (männlich, weiblich, alle: Probanden<br />
aus <strong>Akademie</strong>-<strong>in</strong>terner Studie, philosophyexperiments.org: Onl<strong>in</strong>e-Studie).<br />
3.18 <strong>Akademie</strong><strong>in</strong>terne Studie zu moralischen Entscheidungen<br />
Im Rahmen der Rotation führten wir e<strong>in</strong>e Studie zu moralischem Entscheidungsverhalten<br />
durch. Als Probanden dienten die Kursleiter <strong>und</strong> -teilnehmer der übrigen Kurse. Sie<br />
füllten dazu e<strong>in</strong>en von uns erstellten Fragebogen <strong>in</strong>nerhalb von vier M<strong>in</strong>uten aus.<br />
3.18.1 Inzestproblem<br />
Robert <strong>und</strong> Mary s<strong>in</strong>d Geschwister. E<strong>in</strong>mal machten sie geme<strong>in</strong>sam Urlaub <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er menschenleeren<br />
Gegend. E<strong>in</strong>es Abends fanden sie, dass es Spaß machen könnte, mite<strong>in</strong>ander zu schlafen.<br />
Mary kann aufgr<strong>und</strong> ihrer körperlichen Verfassung nicht schwanger werden. Die Geschwister<br />
genossen den geme<strong>in</strong>samen Sex <strong>und</strong> haben ihn seither nicht bereut – er hat im Gegenteil ihr<br />
Verhältnis stark verbessert. Trotzdem beschlossen sie, das Ganze nicht zu wiederholen <strong>und</strong> halten<br />
sich auch daran. Niemand hat je etwas von ihrem Geheimnis erfahren.<br />
War es okay, dass Robert <strong>und</strong> Mary mite<strong>in</strong>ander geschlafen haben<br />
Ergebnis: 35 % der <strong>in</strong>sgesamt 68 Probanden beantworteten die Frage mit »Ja«. Bei<br />
den männlichen Teilnehmern war die Zustimmung mit 44 % deutlich höher als bei den<br />
weiblichen (28 %). Die Ergebnisse s<strong>in</strong>d auch <strong>in</strong> Abbildung 3.2 dargestellt.<br />
Diskussion: Dieses Ergebnis ist gut vere<strong>in</strong>bar mit der Theorie des Philosophen Jonathan<br />
Haidt. Er geht davon aus, dass Entscheidungen zunächst <strong>in</strong>tuitiv getroffen werden<br />
(hier Ablehnung des Inzests), bevor rational nach Begründungen gesucht wird. Am Ende<br />
des Fragebogens wurden die Probanden aufgefordert, die Gründe für ihre Entscheidung<br />
anzugeben. Unter den Begründungen der Teilnehmer, die mit »Ne<strong>in</strong>« antworteten,<br />
65
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
fanden sich kaum stichhaltigen Argumente (z. B. »Es bestand das Risiko e<strong>in</strong>er Schwangerschaft«,<br />
obwohl dies explizit <strong>in</strong> der Fragestellung ausgeschlossen wurde). Es handelte<br />
sich um offensichtlich nachträgliche Rationalisierungen der zunächst <strong>in</strong>tuitiv gebildeten<br />
Me<strong>in</strong>ung. Nach Haidt könnten die unterschiedlichen Ergebnisse von Männern <strong>und</strong><br />
Frauen darauf h<strong>in</strong>deuten, dass Frauen sich bei ihrer Entscheidung eher von Intuition<br />
leiten lassen als Männer. E<strong>in</strong>e andere Interpretation der Ergebnisse ist, dass Frauen<br />
mehr Wert auf gesellschaftliche Konventionen legen. Vergleicht man den Mittelwert<br />
aller Probanden mit e<strong>in</strong>er ähnlichen Onl<strong>in</strong>e-Umfrage (philosophyexperiments.org), so<br />
fällt auf, dass fast doppelt so viele Internet-Benutzer der Frage zustimmten als unsere<br />
Versuchsgruppe. Dies könnte mit der vorgegebenen Zeit zusammenhängen: Während<br />
die Probanden hier <strong>in</strong>tuitiv urteilen mussten, hatten die Befragten im Internet Zeit,<br />
sich Gründe für ihre Entscheidung zu überlegen <strong>und</strong> sie gegebenenfalls zu revidieren.<br />
Zudem stellen Teilnehmer <strong>und</strong> Kursleiter der Schüler<strong>Akademie</strong> e<strong>in</strong>e sehr homogene<br />
<strong>und</strong> für die Bevölkerung nicht repräsentative Stichprobe dar.<br />
3.18.2 Persönliche <strong>und</strong> unpersönliche moralische Dilemmata<br />
Den Teilnehmern wurde e<strong>in</strong> persönliches <strong>und</strong> e<strong>in</strong> unpersönliches moralisches Dilemma<br />
(s. Beiträge »Moralische Dilemmata« <strong>in</strong> Abschnitt 3.3 <strong>und</strong> »An fMRI Investigation of<br />
Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral Judgement« <strong>in</strong> Abschnitt 3.9) präsentiert, <strong>und</strong> sie<br />
mussten sich entscheiden, ob sie e<strong>in</strong>e Person opfern, um vier Personen zu retten (siehe<br />
Abbildung 3.3).<br />
Ergebnis: In beiden Dilemmata musste man sich entscheiden, ob man e<strong>in</strong>e Person<br />
zugunsten vierer anderer opfern will. Dennoch haben sich beim unpersönlichen Dilemma<br />
deutlich mehr Probanden entschieden die e<strong>in</strong>e Person zu opfern (72 %) als beim<br />
persönlichen (13 %). Zwischen den Geschlechtern gab es nur ger<strong>in</strong>ge Abweichungen, die<br />
bei e<strong>in</strong>er Anzahl von 68 Probanden nicht aussagekräftig waren.<br />
Diskussion: Die Ergebnisse stimmten mit e<strong>in</strong>er ähnlichen Studie von Joshua Greene<br />
übere<strong>in</strong> (s. Beitrag »An fMRI Investigation of Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral Judgement«).<br />
Dies legt nahe, dass die meisten <strong>Akademie</strong>teilnehmer <strong>und</strong> -leiter sich bei ihren<br />
moralischen Urteilen von Emotionen bee<strong>in</strong>flussen ließen.<br />
3.18.3 Das Diktatorspiel<br />
Das Diktatorspiel ist e<strong>in</strong>e Untersuchungsmethode zu den sozialen Präferenzen von Menschen:<br />
Wie wichtig ist ihnen das Wohl anderer Menschen, im Vergleich zu ihrem eigenen<br />
Dabei bekommen die Probanden materielle Güter, von denen sie e<strong>in</strong>en beliebigen Teil<br />
an e<strong>in</strong>e andere Person abgeben können (Fehr 2009: 215–218).<br />
Versuchsbeschreibung: Es gab zwei verschiedene Versionen des Fragebogens. Die<br />
Hälfte der Teilnehmer erhielt Version A:<br />
Du bist e<strong>in</strong>er der zufällig Ausgewählten, der nach der Rotation von uns 10 Stück Süßigkeiten<br />
bekommt. Nur die Hälfte der Teilnehmer wurde ausgewählt. Du kannst e<strong>in</strong>em der Teilnehmer,<br />
der ke<strong>in</strong>e Süßigkeiten bekommen wird, von de<strong>in</strong>en abgeben. Wie viele Stück Süßigkeiten möchtest<br />
du abgeben<br />
66
3.19 Synthese: Ethik ohne Biologie<br />
Abbildung 3.3: Antwort der Befragten auf e<strong>in</strong> persönliches <strong>und</strong> e<strong>in</strong> unpersönliches moralisches<br />
Dilemma (männlich, weiblich, alle: Probanden aus <strong>Akademie</strong>-<strong>in</strong>terner Studie, philosophyexperiments.org:<br />
Onl<strong>in</strong>e-Studie).<br />
Die Teilnehmer mit Version B bekamen diese Frage nicht <strong>und</strong> hatten auf die Entscheidung<br />
ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss. Die Entscheidung der Spieler mit Version A blieb anonym.<br />
Ergebnisse: Durchschnittlich wurden von der Gesamtgruppe 5,8 Stück Süßigkeiten<br />
abgegeben, bei den Männern lag der Schnitt mit 7,0 allerd<strong>in</strong>gs deutlich höher als bei<br />
den Frauen mit 5,1 (siehe Abbildung 3.4). Bis auf wenige Ausnahmen (drei weibliche<br />
Proband<strong>in</strong>nen entschieden sich, 0 Stück Süßigkeiten abzugeben) lagen die Ergebnisse<br />
bei den Frauen allerd<strong>in</strong>gs alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ähnlichen Bereich wie bei den Männern.<br />
Fazit: Das Ergebnis dieser Studie weicht stark von Vergleichsergebnissen ab. In diesen<br />
entschieden sich die Probanden, deutlich mehr Geld (<strong>in</strong> der <strong>Akademie</strong>studie durch<br />
Gummibärchen ersetzt) zu behalten; im Schnitt waren dies 72 % (Engel 2007: 7). Dieser<br />
Unterschied könnte dar<strong>in</strong> begründet se<strong>in</strong>, dass wir Süßigkeiten statt Geld nutzten, sodass<br />
die Prägnanz des Geschenks nicht so groß war wie <strong>in</strong> den Vergleichsstudien.<br />
3.19 Synthese: Ethik ohne Biologie<br />
Der Philosoph Thomas Nagel argumentiert <strong>in</strong> »Ethics without Biology« (Nagel 1979) für<br />
die These, dass ethische Theorien nicht biologisch erklärbar seien. Im Folgenden soll<br />
diese Behauptung kontrovers diskutiert werden.<br />
3.19.1 Moral lässt sich re<strong>in</strong> biologisch begründen<br />
Alle<strong>in</strong>e die Tatsache, dass unsere moralischen Entscheidungen genau wie alle anderen<br />
gedanklichen Prozesse <strong>in</strong> unserem Gehirn stattf<strong>in</strong>den, lässt darauf schließen, dass<br />
67
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
Abbildung 3.4: Antwort der Befragten beim Diktatorspiel mit Gummibärchen (männlich, weiblich,<br />
alle: Probanden aus <strong>Akademie</strong>-<strong>in</strong>terner Studie).<br />
sich Moral biologisch erklären lässt. Denn unser Gehirn besteht aus e<strong>in</strong>er Vielzahl an<br />
synaptischen Verknüpfungen, die durch Reizübertragung funktionieren. Dieser Prozess<br />
ist re<strong>in</strong> biologisch, also müssten sich ethische Entscheidungen ebenfalls re<strong>in</strong> biologisch<br />
erklären lassen können.<br />
E<strong>in</strong> weiterer wichtiger Aspekt, der dafür spricht, dass sich Moral biologisch erklären<br />
lässt, ist die Tatsache, dass ethische Entscheidungen emotional bed<strong>in</strong>gt s<strong>in</strong>d.<br />
Wie Greene <strong>und</strong> Kollegen <strong>in</strong> mehreren Versuchen mithilfe von fMRT-Techniken gezeigt<br />
haben (Greene et al. 2001), s<strong>in</strong>d beim Lösen von bestimmten moralischen Dilemmata<br />
jene Gehirnareale stark durchblutet, die für Emotionen verantwortlich s<strong>in</strong>d. Diese hohe<br />
Durchblutung lässt auf hohe Aktivität schließen.<br />
Emotionen s<strong>in</strong>d nach der James-Lange-Theorie biologisch erklärbar. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>dividuell,<br />
werden also von jedem e<strong>in</strong>zelnen Menschen unterschiedlich wahrgenommen. Da<br />
unsere Emotionen unser Moralverhalten bee<strong>in</strong>flussen, lässt sich schlussfolgern, dass es<br />
auch ke<strong>in</strong>e universell gültige Moral gibt. Vielmehr wird Moral von jedem Menschen<br />
anders empf<strong>und</strong>en. Daraus folgt, dass es ke<strong>in</strong>e universelle ethische Theorie gibt, sondern<br />
verschiedene Theorien, wie zum Beispiel den Utilitarismus von Mill oder den kategorischen<br />
Imperativ von Kant. Dasselbe mag auch für die Vernunft gelten: Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />
universelle vernunftbasierte Theorie <strong>und</strong> Vernunft ist ebenfalls nicht universell.<br />
Auch wenn man heutzutage noch nicht genau weiß, wie groß die Rolle der Emotionen<br />
bei ethischen Entscheidungen ist <strong>und</strong> wie weit genau Moral biologisch erklärbar ist, ist<br />
zu hoffen, dass der technische Fortschritt <strong>in</strong> der Zukunft weitere Möglichkeiten f<strong>in</strong>det,<br />
um Verb<strong>in</strong>dungen zwischen der Biologie <strong>und</strong> der Ethik herzustellen.<br />
3.19.2 Ethik braucht ke<strong>in</strong>e Biologie<br />
Geht man der Frage nach, ob sich Moral biologisch erklären lässt, fällt auf, dass Biologie<br />
wie andere Naturwissenschaften nur re<strong>in</strong> deskriptive Aussagen aus ihren Forschungen<br />
schließen kann, woh<strong>in</strong>gegen die Moralphilosophie dafür steht, dass vor allem norma-<br />
68
3.19 Synthese: Ethik ohne Biologie<br />
tive Forderungen getroffen werden. Alle<strong>in</strong> von der Art ihrer Aussagen s<strong>in</strong>d die zwei<br />
Wissenschaften von Gr<strong>und</strong> auf verschieden. Schlösse man nun von den deskriptiven<br />
Forschungsergebnissen der Biologie direkt auf e<strong>in</strong> präskriptives Postulat, so läge der<br />
naturalistische Fehlschluss vor, wie ihn Moore beschrieb (Moore 1903).<br />
Allerhöchstens ist noch der umgekehrte Weg denkbar, nämlich dass Philosophie die<br />
Erkenntnisse der Biologie nutzt <strong>und</strong> sich der Ergebnisse der empirischen Forschungen<br />
bedient, um ihre Thesen bezüglich der Moral, beispielsweise die Wirkungs- <strong>und</strong><br />
Entstehungsweise der Vernunft oder die der Emotionen, zu begründen. Dies lässt sich<br />
mit e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>bahnstraße vergleichen: Zwar dürfen aus der Biologie ke<strong>in</strong>e normativen<br />
Aussagen hervorgehen, aber als Erklärungsgr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>zelner Modelle ist sie mitunter<br />
geeignet.<br />
Jedoch nicht alle ethischen Phänomene können aus biologischer Sichtweise erklärt<br />
werden, etwa altruistische Handlungen beim Menschen, die nicht durch Reziprozität<br />
oder Gruppenselektion bed<strong>in</strong>gt s<strong>in</strong>d.<br />
Sogar Jonathan Haidt, demzufolge die Intuition für menschliches Handeln ausschlaggebendes<br />
Element ist, gesteht e<strong>in</strong>, dass der Mensch die Fähigkeit hat, sich von den<br />
Emotionen <strong>und</strong> Intuitionen, die evolutionär bed<strong>in</strong>gt s<strong>in</strong>d, zu lösen. Im Gegensatz zu<br />
den Tieren besitzt der Mensch die kognitiven Fähigkeiten, nicht nur reflexartig auf se<strong>in</strong>e<br />
Umwelt zu reagieren, sondern nach rationalen Überlegungen (moralisch) zu agieren<br />
(Haidt 2001).<br />
Abschließend ist zu sagen, dass Biologie für die normative Ethik ohne Belang ist.<br />
3.19.3 Zwei Hauptthesen<br />
Man kann die gesammelten Argumente zu zwei Hauptthesen zusammenfassen:<br />
Erstens: Früher oder später wird Moral vollkommen biologisch erklärbar se<strong>in</strong>. Auch<br />
wenn uns jetzt die wissenschaftlichen Mittel dafür noch nicht zur Verfügung stehen, ist<br />
es gut möglich, dass wir <strong>in</strong> der Zukunft <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong> werden, dies wissenschaftlich<br />
nachzuweisen.<br />
Zweitens: Moral kann pr<strong>in</strong>zipiell nie biologisch erklärbar se<strong>in</strong>, weil e<strong>in</strong>e unüberbrückbare<br />
Kluft zwischen Se<strong>in</strong> <strong>und</strong> Sollen besteht. Denn wie Hume behauptet, darf man von<br />
dem Ist-Zustand nicht auf den Soll-Zustand schließen. Nur aufgr<strong>und</strong> unserer Fähigkeit<br />
rational zu denken, wissen wir, was richtig <strong>und</strong> falsch, gut <strong>und</strong> böse ist <strong>und</strong> handeln<br />
nach unseren eigenen Werten.<br />
Zusammenfassend kann man also sagen, dass Biologie Moral nicht ersetzen kann.<br />
Jedoch kann sie dabei helfen, Moralverhalten besser zu verstehen. Damit kann sie<br />
<strong>in</strong>direkt e<strong>in</strong>en Beitrag für unsere moralischen Normen <strong>und</strong> Regeln leisten.<br />
69
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
3.20 Literaturverzeichnis<br />
E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Moralphilosophie<br />
[1] Birnbacher, Dieter: Analytische E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Ethik. 2. Auflage, Berl<strong>in</strong> 2007.<br />
[2] Kant, Immanuel: Gr<strong>und</strong>legung zur Metaphysik der Sitten. Band 4 der <strong>Akademie</strong>-<br />
Ausgabe, Berl<strong>in</strong> 1968.<br />
[3] Ott, Konrad: Moralbegründungen zur E<strong>in</strong>führung. Dresden 2001.<br />
[4] Pieper, Annemarie: E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Ethik. 6. Auflage, Tüb<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> Basel 2007.<br />
[5] Quante, Michael: E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Allgeme<strong>in</strong>e Ethik. Darmstadt 2003.<br />
Moralische Dilemmata<br />
[6] Cohen, Mart<strong>in</strong>: 99 moralische Zwickmühlen. München 2003.<br />
[7] Foot, Philippa: Virtues and Vices. Oxford 1978.<br />
[8] Greene, Joshua, et al.: An fMRI Investigation of Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral<br />
Judgment. In: Science Vol. 293 2001, 2105–2108.<br />
[9] Mill, John Stuart: Utilitarismus. Hamburg 2009.<br />
[10] Thomson, Judith: Kill<strong>in</strong>g, Lett<strong>in</strong>g Die, and the Trolley Problem. In: The Monist Vol. 59<br />
1976, 204–17.<br />
[11] http://plato.stanford.edu/entries/moral-dilemmas/<br />
Emotionen & Gefühle<br />
[12] Darw<strong>in</strong>, Charles: The Expression of the Emotions <strong>in</strong> Man and Animals. London 1872.<br />
[13] Descartes, René: Les Passions de l’Âme. Paris 1649.<br />
[14] James, William: What is an Emotion. In: M<strong>in</strong>d Vol. 9 1884, 188–205.<br />
Emotionismus nach Jesse Pr<strong>in</strong>z<br />
[15] Heekeren, H.R.; Wartenburger, I. et al.: An fMRI Study of Simple Ethical Decision-<br />
Mak<strong>in</strong>g. In: Neuroreport Vol. 14 2003, 1215–19.<br />
[16] Moll, J.; De Oliveira-Souza, R. et al.: Morals and the Human Bra<strong>in</strong>: A Work<strong>in</strong>g Model.<br />
In: Neuroreport Vol. 14 2003, 299–305.<br />
[17] Pr<strong>in</strong>z, Jesse: The Emotional Construction Of Morals. New York 2007.<br />
Jonathan Haidts sozial<strong>in</strong>tuitionistisches Modell der moralischen Urteilsbildung<br />
[18] Haidt, Jonathan: The Emotional Dog and Its Rational Tail: A Social Intuitionist Approach<br />
to Moral Judgment. In: Psychological Review Vol. 108(4) 2001, 814–834.<br />
70
3.20 Literaturverzeichnis<br />
Nervensystem <strong>und</strong> Gehirn<br />
[19] Campbell, Neil A.: Biologie. München 2008.<br />
[20] Erdmann, Andrea: Grüne Reihe – Neurobiologie. Braunschweig 2010, 16–30, 70–84.<br />
[21] Kandel, Eric R.: Pr<strong>in</strong>ciples of Neural Science. New York 2000, 5–35.<br />
Magnetresonanztomographie<br />
[22] Weishaupt, Dom<strong>in</strong>ik; Köchli, Victor D. et al.: Wie funktioniert MRI. Heidelberg<br />
2003, 1–13, 16–21, 38–48, 80–83, 138–142.<br />
An fMRI Investigation of Emotional Engagement <strong>in</strong> Moral Judgement<br />
[23] Greene, Joshua D.: siehe [8].<br />
[24] Greene, Joshua D.: Push<strong>in</strong>g Moral Buttons: The Interaction between Personal Force and<br />
Intention <strong>in</strong> Moral Judgment. In: Cognition Vol. 111 2009, 364–371.<br />
Neuroökonomie <strong>und</strong> Moralverhalten<br />
[25] Glimcher, Paul W.; Camerer, Col<strong>in</strong> F. et al.: Introduction: A Brief History of Neuroeconomics.<br />
In: Glimcher, P. et al.: Neuroeconomics, Decision-Mak<strong>in</strong>g and the Bra<strong>in</strong>. London<br />
2009, 1–12.<br />
[26] Glimcher, Paul W.; Rustich<strong>in</strong>i, Aldo: Neuroeconomics: The Consilience of Bra<strong>in</strong> and<br />
Decision. In: Science Vol. 306 2004, 447–452.<br />
[27] Harbaugh, W.T.; Mayr, U. et al.: Neural Responses to Taxation and Voluntary Giv<strong>in</strong>g<br />
Reveal Motives for Charitable Donations. In: Science Vol. 316 2007, 1622–1625.<br />
[28] Mayr, Ulrich; Harbaugh, William T. et al.: Neuroeconomics and Charitable Giv<strong>in</strong>g and<br />
Philantrophy. In: Glimcher, P. et al.: Neuroeconomics, Decision-Mak<strong>in</strong>g and the Bra<strong>in</strong>.<br />
London 2009, 303–320.<br />
[29] Phelps, Elizabeth A.: The Study of Emotion <strong>in</strong> Neuroeconomics. In: Glimcher, P. et al.:<br />
Neuroeconomics, Decision-Mak<strong>in</strong>g and the Bra<strong>in</strong>. London 2009, 233–250.<br />
[30] www.nymphenburg.de/neuromarket<strong>in</strong>g/artikelreimann.pdf<br />
Altruismus im Tierreich<br />
[31] Darw<strong>in</strong>, Charles: On the Orig<strong>in</strong> of Species by Means of Natural Selection. London<br />
1859.<br />
[32] Dawk<strong>in</strong>s, Richard: The Selfish Gene. Oxford 1976.<br />
[33] Dawk<strong>in</strong>s, Richard: The Extended Phenotype. Oxford 1982.<br />
[34] Roman, Claus et al.: Natura 2. Stuttgart 1991.<br />
71
3 The Emotional Dog and Its Rational Tail<br />
Menschlicher Altruismus <strong>und</strong> Moral<br />
[35] Ayala, Francisco: The Difference of Be<strong>in</strong>g Human: Morality. In: PNAS Vol. 107 2010,<br />
9015–9022.<br />
[36] Darw<strong>in</strong>, Charles: The Descent of Man, and Selection <strong>in</strong> Relation to Sex. New York<br />
1871, 68–69.<br />
Shaun Nichols über die Evolution von moralischen Normen<br />
[37] Nichols, Shaun: Sentimental Rules: On the Natural Fo<strong>und</strong>ation of Moral Judgement.<br />
New York 2004.<br />
Wissenschaftstheorie<br />
[38] Okasha, Samir: Philosophy of Science. Oxford 2005.<br />
Humes Se<strong>in</strong>-Sollen-Unterscheidung <strong>und</strong> der naturalistische Fehlschluss nach Moore<br />
[39] Hume, David: A Treatise of Human Nature. Oxford/New York 2000.<br />
[40] Moore, George: Pr<strong>in</strong>cipia Ethica. Stuttgart 1977.<br />
Kritik am naturalistischen Fehlschluss<br />
[41] Frankena, William K.: The Naturalistic Fallacy. In: M<strong>in</strong>d, New Series Vol. 192 (Vol. 48)<br />
October 1939, 464–477.<br />
[42] Greene, Joshua: From Neural »is« to Moral »ought«: What are the Moral Implications of<br />
Neuroscientific Moral Psychology In: Nature Review Vol. 10 2003, 846–850.<br />
[43] Miller, Alexander: An Introduction to Comtemporary Metaethics. Oxford 2003.<br />
Die wichtigsten Schritte e<strong>in</strong>es Experimentes<br />
[44] Huber, Oswald: Das Psychologische Experiment: E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung. Bern 2009, 81–154.<br />
<strong>Akademie</strong><strong>in</strong>terne Studie zu moralischen Entscheidungen<br />
[45] Greene, Joshua D.: siehe [8].<br />
[46] http://www.philosophyexperiments.org/cat<br />
[47] Fehr, Ernst: Social Preferences and the Bra<strong>in</strong>. In: Glimcher, Paul et al.: Neuroeconomics:<br />
Decision Mak<strong>in</strong>g and the Bra<strong>in</strong>. London 2009, 215–218.<br />
[48] Engel, Christoph: Dictator Games: A Meta Study. Prepr<strong>in</strong>ts of the Max Planck<br />
Institute for Research on Collective Goods Bonn.2010<br />
Synthese: Ethik ohne Biologie<br />
[49] Greene, Joshua D.: siehe [8].<br />
[50] Haidt, Jonathan: siehe [18].<br />
[51] Moore, George: Pr<strong>in</strong>cipia Ethica. Cambridge 1903.<br />
[52] Nagel, Thomas: Ethics without Biology. In: ders.: Mortal Questions. Cambridge 1979,<br />
142–146.<br />
72
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
4.1 »Psychologische Aspekte von Familie im Spiegel der Medien«<br />
Agnes Engel <strong>und</strong> Fana Schiefen<br />
In unserem Kurs stand die Familie im Mittelpunkt. Nach e<strong>in</strong>em soziologisch-geschichtlichen<br />
E<strong>in</strong>stieg, der sowohl die Vielfalt von Familienbildern als auch die unterschiedlichen<br />
Funktionen von Familie veranschaulichte, g<strong>in</strong>g es zunächst um die Anfänge von<br />
Familie. Hierbei standen diverse theoretische Ansätze von Attraktion <strong>und</strong> Partnerwahl<br />
im Fokus der Betrachtung. In e<strong>in</strong>em nächsten Schritt rückte die Entwicklungspsychologie<br />
<strong>in</strong>s Blickfeld, da gerade bei Paaren <strong>und</strong> Familien die Bewältigung besonderer<br />
Entwicklungsaufgaben e<strong>in</strong>e große Rolle spielt.<br />
In e<strong>in</strong>em weiteren Teil des Kurses beschäftigten wir uns mit Faktoren, die zur Zufriedenheit<br />
<strong>in</strong> Paarbeziehungen beitragen. Praktische Übungen im Bereich der Kommunikationsfähigkeit<br />
haben dabei nicht nur e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das psychologische Arbeiten<br />
gegeben, sondern auch den Wert dieser Schlüsselkompetenz herausgestellt.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Themenschwerpunkt waren die Beziehungen <strong>in</strong>nerhalb der Familie <strong>und</strong><br />
die Untersuchung möglicher Konsequenzen aus verschiedenen Geschwisterkonstellationen.<br />
So wie die Planung <strong>und</strong> das Gel<strong>in</strong>gen von Familie gehörten auch die Analyse von<br />
Erfahrungen des Scheiterns, der Trennung oder Scheidung zu unseren Themenfeldern.<br />
Zum Abschluss hat sich der Kurs der Aufgabe gestellt, sich <strong>in</strong> die Zukunftsforschung<br />
zum Thema Familie e<strong>in</strong>zuarbeiten <strong>und</strong> daran anschließend e<strong>in</strong>e Agenda mit Lösungsansätzen<br />
für familienpolitische Fragen der Zukunft zu erarbeiten.<br />
Alle Themen <strong>und</strong> Fragestellungen wurden sowohl aus der Perspektive der wissenschaftlichen<br />
Psychologie als auch der medialen Aufbereitung betrachtet. Die folgenden<br />
Beiträge der KursteilnehmerInnen geben e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das spannungsreiche<br />
Themenfeld zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit.<br />
4.2 Über die Vielfalt von Familienbildern<br />
Im Laufe der Geschichte haben sich viele verschiedene Arten von Familien entwickelt, so<br />
auch e<strong>in</strong>ige, welche vor längerer Zeit nicht vorstellbar, geschweige denn gesellschaftlich<br />
akzeptiert waren. E<strong>in</strong>e klare Def<strong>in</strong>ition von Familie kann heute nur noch schwer bestimmt<br />
werden, da es mehrere Lebensformen gibt, die als e<strong>in</strong>e solche bezeichnet werden können.<br />
Für e<strong>in</strong>en Großteil unserer <strong>Gesellschaft</strong> besteht die »typische« Familie immer noch<br />
aus e<strong>in</strong>em verheirateten Elternpaar <strong>und</strong> K<strong>in</strong>d(ern), was auch e<strong>in</strong>e Studie aus dem Allensbacher<br />
Institut für Demoskopie zeigt (vgl. B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für Familie, Senioren,<br />
Frauen <strong>und</strong> Jugend 2010: 35). Besonders beachtenswert s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der besagten Studie<br />
jedoch auch die Werte für unehelich zusammenlebende Paare mit K<strong>in</strong>dern. Während<br />
75
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
um das Jahr 2000 etwa die Hälfte der deutschen <strong>Gesellschaft</strong> letztere Lebensform nicht<br />
als Familie ansah, gehört es heute zur Normalität, auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unehelichen B<strong>in</strong>dung<br />
K<strong>in</strong>der zu bekommen. Alle Arten von Familien <strong>in</strong> der Studie, seien es alle<strong>in</strong>erziehende<br />
Elternteile oder Ehepaare ohne K<strong>in</strong>der, haben an Toleranz gewonnen. Hier ist noch<br />
besonders zu betonen, dass auch gleichgeschlechtliche Beziehungen mittlerweile ähnlich<br />
beurteilt werden wie heterosexuelle Paare. Es stellt sich nun die Frage, ob die traditionelle<br />
Ehe möglicherweise e<strong>in</strong> Auslaufmodell darstellt.<br />
E<strong>in</strong>e andere Studie 1 belegt das Gegenteil, dass nämlich tatsächlich über 80 % aller<br />
Elternteile <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ehe leben. Das Leben als verheiratetes Paar hat also offenbar nicht<br />
an Bedeutung e<strong>in</strong>gebüßt. Jedoch zeigt diese Studie auch, dass es mehr Ehepaare ohne<br />
K<strong>in</strong>der als mit K<strong>in</strong>dern gibt, was wiederum heißt, dass die oben beschriebene »typische«<br />
Familie an Relevanz verloren hat.<br />
E<strong>in</strong> Familientyp, der oft <strong>in</strong> Studien vernachlässigt wird, sich jedoch immer mehr<br />
herauskristallisiert, ist die Patchworkfamilie. Diese setzt sich aus meist geschiedenen<br />
Elternteilen <strong>und</strong> ihren K<strong>in</strong>dern aus e<strong>in</strong>er vorigen Ehe zusammen. So entsteht e<strong>in</strong> neues<br />
soziales Gebilde aus mehreren Stiefgeschwistern <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em eigenen Elternteil sowie e<strong>in</strong>em/r<br />
Stiefvater oder -mutter. Durch die enorme Scheidungsrate (vgl. Schneew<strong>in</strong>d 2010:<br />
64f.), welche sich <strong>in</strong> den letzten Jahren entwickelt hat, ist die Form der Patchworkfamilie<br />
weit verbreitet <strong>und</strong> möglicherweise auch e<strong>in</strong> zukünftiges Modell für die »typische«<br />
Familie.<br />
4.3 Funktionen von Familie<br />
Innerhalb der Familie werden verschiedene Funktionen erfüllt. Den E<strong>in</strong>flüssen der<br />
ökonomischen <strong>und</strong> technischen Neuerungen <strong>und</strong> den sich wandelnden Leitideen der<br />
<strong>Gesellschaft</strong> ausgesetzt, haben sich fünf Funktionen herauskristallisiert, die im Folgenden<br />
beschrieben werden (vgl. Nave-Herz 2004: 101).<br />
Die augensche<strong>in</strong>lichste Funktion ist die Reproduktionsfunktion, welche sowohl die<br />
biologische als auch die soziale Reproduktion von Individuen umfasst. Die soziale Reproduktion<br />
be<strong>in</strong>haltet die physische <strong>und</strong> psychische Reproduktion der Eltern, welche bis <strong>in</strong> die<br />
70er Jahre von der <strong>Gesellschaft</strong> nur im Rahmen e<strong>in</strong>er Ehe akzeptiert wurde. Heutzutage<br />
werden außereheliche K<strong>in</strong>der zumeist kaum mehr diskrim<strong>in</strong>iert (vgl. Nave-Herz 2004:<br />
79). Mit der Geburt e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des wird e<strong>in</strong> biologisches Lebewesen geschaffen, das noch<br />
ke<strong>in</strong>e bewusste soziale Persönlichkeit besitzt. Der Sozialisationsprozess ist e<strong>in</strong> aktiver,<br />
lebenslanger Ause<strong>in</strong>andersetzungsprozess, den jeder Mensch bestreiten muss, um se<strong>in</strong>e<br />
Persönlichkeit zu f<strong>in</strong>den. In Industriestaaten wird diese Aufgabe heutzutage beiden<br />
Eltern zugeschrieben. Mit dem Älterwerden des K<strong>in</strong>des wird e<strong>in</strong> Anteil dieser Aufgabe<br />
auf Betreuungse<strong>in</strong>richtungen übertragen (vgl. Nave-Herz 2004: 88).<br />
Unter sozialer Platzierung, der dritten Funktion von Familie, versteht man den Zuweisungsprozess<br />
e<strong>in</strong>er Person <strong>in</strong> die <strong>Gesellschaft</strong>. Im Mittelalter <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> den Jahrh<strong>und</strong>erten<br />
danach entschied die Geburt über den sozialen Stand e<strong>in</strong>er Person. Diese<br />
1 vgl. http://www.bpb.de/files/5FT3I0.pdf<br />
76
4.4 Phasen der Annäherung <strong>und</strong> Attraktion<br />
E<strong>in</strong>teilung war klar festgelegt <strong>und</strong> die Menschen stellten ihren Stand z. B. durch Kleidung<br />
zur Schau. Inzwischen bestimmt überwiegend die Leistung, aber auch die f<strong>in</strong>anzielle<br />
Lage den Status e<strong>in</strong>er Person (vgl. Nave-Herz 2004: 91ff.).<br />
Auch die Freizeitfunktion spielt <strong>in</strong> der Familie e<strong>in</strong>e wichtige Rolle. Man unterscheidet<br />
zwischen <strong>in</strong>dividueller <strong>und</strong> geme<strong>in</strong>samer Freizeit. Letztere kann man sowohl mit<br />
der Familie als auch mit anderen Gruppen verbr<strong>in</strong>gen. Freizeit wird philosophischanthropologisch<br />
als Handeln ohne Zwänge <strong>und</strong> Normen def<strong>in</strong>iert, als e<strong>in</strong>e Zeit, <strong>in</strong><br />
der man der Fremdbestimmung entgehen <strong>und</strong> sich regenerieren kann. Empirisch gesehen<br />
ist es die Gesamtzeit m<strong>in</strong>us Arbeitszeit <strong>und</strong> Schlaf unter Berücksichtigung der<br />
Vorbereitungs- <strong>und</strong> Anreisezeit (vgl. Nave-Herz 2004: 95 f.). In der Freizeit kann gleichzeitig<br />
e<strong>in</strong>e Spannungsausgleichsfunktion stattf<strong>in</strong>den. Sie dient dazu, Spannungen <strong>und</strong><br />
etwaige Konflikte, z. B. am Arbeitsplatz, wahrzunehmen <strong>und</strong> im besten Fall zu lösen.<br />
Die Familie stellt e<strong>in</strong>e Umgebung dar, <strong>in</strong> der die Person im Ganzen mit all ihren persönlichen<br />
Eigenarten angenommen <strong>und</strong> akzeptiert wird. Spannungen werden <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Rollenverteilungen <strong>in</strong> der Familie gelöst.<br />
Dennoch kann nicht von der Familie als Paradies ausgegangen werden. Krim<strong>in</strong>alstatistisch<br />
gesehen ist die Familie der gefährlichste Ort <strong>in</strong> der <strong>Gesellschaft</strong>. Mord,<br />
sexueller Missbrauch <strong>und</strong> Totschlag werden überwiegend <strong>in</strong> der Familie begangen<br />
(vgl. Nave-Herz 2004: 99 ff.).<br />
Als Fazit kann festgehalten werden, dass im Idealfall all diese Voraussetzungen erfüllt<br />
werden müssen, um e<strong>in</strong>e stabile <strong>Gesellschaft</strong> zu gewährleisten. Doch <strong>in</strong> der Realität wird<br />
schnell deutlich, dass ke<strong>in</strong>e Familie alle Funktionen gleichermaßen erfüllen kann.<br />
4.4 Phasen der Annäherung <strong>und</strong> Attraktion<br />
Attraktivität wird als »das, was die Aufmerksamkeit e<strong>in</strong>es Menschen zu e<strong>in</strong>em Anderen<br />
lenkt« (Tramitz 2000: 34) def<strong>in</strong>iert. Die Annäherung zwischen zwei Personen kann zu<br />
e<strong>in</strong>er festen Partnerschaft führen.<br />
Den Prozess der Annäherung (Attraktion) unterteilt Christiane Tramitz <strong>in</strong> fünf Phasen,<br />
die als »Filter« (Tramitz 2000: 34) auf dem Weg zur passenden Partnerwahl dienen.<br />
Die erste ist die Aufmerksamkeitsphase. In dieser spielt, besonders für Männer, die<br />
äußerliche Attraktivität e<strong>in</strong>e große Rolle. Durch den sogenannten »Hallo-Effekt« werden<br />
attraktiven Personen vermehrt positive Eigenschaften zugeschrieben. Gleichzeitig erhöht<br />
sich die Toleranz gegenüber negativem Verhalten (»Glamour-Effekt«). Als Merkmal<br />
weiblicher Attraktivität gilt das sogenannte K<strong>in</strong>dchenschema, während etwa markante<br />
männliche Wangenknochen Frauen anziehen. Attraktion bewirkt zudem die Aktivierung<br />
bestimmter Kategorien <strong>und</strong> Stereotypen, die sich nach e<strong>in</strong>em Vergleich mit dem vorigen<br />
Partner oder e<strong>in</strong>em durch E<strong>in</strong>flüsse der Sozialisation entstandenen Idealbild richten.<br />
In der Realität entsteht jedoch e<strong>in</strong> Gleichgewicht mit der wahrgenommenen eigenen<br />
Attraktivität. Die Attraktivität anderer Menschen lässt sich bei der ersten Begegnung<br />
bereits <strong>in</strong>nerhalb von ca. 50 Sek<strong>und</strong>en e<strong>in</strong>schätzen.<br />
77
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
In der Erkennungsphase zeigen Frauen mithilfe unterschiedlicher Körpersignale, dass<br />
sie an e<strong>in</strong>em Mann <strong>in</strong>teressiert s<strong>in</strong>d. Solche Signale s<strong>in</strong>d z. B. Blicke, die sich im Laufe<br />
der Zeit von ungerichteten <strong>in</strong> gerichtete verwandeln, schnelles Heben der Augenbrauen<br />
oder Selbstberührungen. Mit Abnahme der Distanz zwischen den potenziellen Partnern<br />
nimmt die Anzahl der gesendeten Signale zu, wobei die Ambivalenz zwischen Anziehen<br />
<strong>und</strong> Abkehr die Anziehungskraft bewirkt.<br />
Nachdem man das Äußere der gezielten Person e<strong>in</strong>geschätzt hat, kann man zur Gesprächsphase<br />
weitergehen, die mehr Informationen zur Verfügung stellt. In Abhängigkeit<br />
vom Selbstbewusstse<strong>in</strong> macht zumeist der Mann den ersten Schritt. E<strong>in</strong>e normale Ansprache<br />
wie »Hallo, ich heiße Y, <strong>und</strong> Du« ersche<strong>in</strong>t hierbei am erfolgreichsten. Beim<br />
Gespräch selbst überzeugen Frauen durch ihre Körpersprache, während Männer Intelligenz<br />
<strong>und</strong> Kompetenz demonstrieren, möglichst ohne zu übertreiben. Mangelndes<br />
Interesse lässt sich am s<strong>in</strong>kenden Blickkontakt erkennen.<br />
An die darauf folgende sexuelle Erregungsphase schließt sich als fünfte <strong>und</strong> letzte Etappe<br />
die B<strong>in</strong>dungsphase an, bei der die bis hierh<strong>in</strong> wichtigen Aspekte an Wert verlieren. So<br />
fehlt bislang e<strong>in</strong>e Erklärung des Zusammenhangs zwischen den ersten vier Phasen<br />
<strong>und</strong> der letzten. Auf dem Weg zu e<strong>in</strong>er festen Beziehung spielen diese fünf Phasen der<br />
Attraktion e<strong>in</strong>e bedeutende Rolle.<br />
4.5 Theorien <strong>in</strong>terpersonaler Attraktion: Evolutionspsychologischer<br />
Ansatz<br />
Auch wenn die modernen Def<strong>in</strong>itionen von Familie weit ause<strong>in</strong>andergehen, so haben sie<br />
<strong>in</strong> der Regel geme<strong>in</strong>sam, dass vor der tatsächlichen Familiengründung erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong><br />
partnerschaftliches Verhältnis zwischen zwei Menschen stehen sollte. Den Anfang f<strong>in</strong>det<br />
dieses beim komplexen Vorgang der sogenannten <strong>in</strong>terpersonalen Attraktion. Momentan<br />
wird angenommen, dass es verschiedene Phasen der Attraktion gibt; dennoch konnte<br />
die Attraktion als Ganzes bisher nur <strong>in</strong> Ansätzen geklärt werden. E<strong>in</strong>er dieser Ansätze<br />
wiederum ist der evolutionspsychologische Ansatz, der im Folgenden überblickshaft<br />
dargestellt werden soll.<br />
Die Evolutionstheorie, von Charles Darw<strong>in</strong> aufgestellt, bietet hier die Gr<strong>und</strong>lage.<br />
Demzufolge sei für unser momentanes Verhalten bei der Partnerwahl immer noch<br />
maßgeblich, unsere Art zu erhalten (biologischer Imperativ) <strong>und</strong> sie stetig zu verbessern<br />
(Selektion <strong>und</strong> Adaption).<br />
Folglich ist e<strong>in</strong>e Person als potenzieller Geschlechtspartner attraktiv, wenn sie als guter<br />
Fortpflanzungspartner ersche<strong>in</strong>t. Die Kriterien hierfür unterscheiden sich laut dieser<br />
Theorie jedoch geschlechterspezifisch (vgl. Hassebrauck, Küpper 2002: 171). So f<strong>in</strong>den<br />
Männer vor allem die Frauen schön, die durch ihr junges, ges<strong>und</strong>es <strong>und</strong> zugleich sexuell<br />
reifes Aussehen maximalen Fortpflanzungserfolg versprechen (vgl. Hassebrauck, Küpper<br />
2002: 171). Frauen dagegen werden von fortpflanzungsfähigen Partnern angezogen, die<br />
durch verschiedene Merkmale Dom<strong>in</strong>anz, aber auch Verlässlichkeit <strong>und</strong> die Bereitschaft,<br />
sich längerfristig zu b<strong>in</strong>den, ausstrahlen (vgl. Hassebrauck, Küpper 2002: 172).<br />
78
4.6 Lerntheoretische Ansätze von Attraktion <strong>und</strong> Partnerwahl<br />
Der Gr<strong>und</strong> für diese unterschiedlichen Kriterien ist – so die Anhänger dieses Attraktionsansatzes<br />
– die Differenz zwischen elterlichem Investment der Frau <strong>und</strong> elterlichem<br />
Investment des Mannes. Der Mann kann theoretisch Vater von tausenden K<strong>in</strong>dern werden,<br />
was die Kosten für ihn ger<strong>in</strong>g ersche<strong>in</strong>en lassen. E<strong>in</strong>e Frau jedoch muss sorgfältiger<br />
abwägen, ob sie e<strong>in</strong>e ihrer beschränkten Anzahl von Eizellen plus e<strong>in</strong>e neunmonatige<br />
Schwangerschaft <strong>und</strong> die darauffolgende Stillzeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d von e<strong>in</strong>em Partner <strong>in</strong>vestieren<br />
möchte. Aus diesem Gr<strong>und</strong> seien Frauen oft wählerischer <strong>und</strong> bräuchten bei der<br />
Partnerwahl oft länger, um den potenziellen Partner auf Zuverlässigkeit <strong>und</strong> sozialen<br />
Status zu überprüfen.<br />
Dieser Ansatz wird mit e<strong>in</strong>er kulturübergreifenden <strong>und</strong> -vergleichenden Studie mit<br />
<strong>in</strong>sgesamt mehr als 10 000 Teilnehmern untermauert, <strong>in</strong> der belegt wurde, dass die oben<br />
genannten Kriterien der Partnerwahl <strong>in</strong> allen Kulturen vorherrschen.<br />
Dennoch steht dieser Ansatz <strong>in</strong> Kritik, da verschiedene alternative sexuelle Präferenzen<br />
wie z. B. Homosexualität damit nicht erklärt werden können. E<strong>in</strong>e Studie von Kümmerl<strong>in</strong>g<br />
<strong>und</strong> Hassebrauck (vgl. Kümmerl<strong>in</strong>g, Hassebrauck 2001) berichtet zudem von e<strong>in</strong>er<br />
schrittweisen Angleichung der Partnerpräferenzen von Mann <strong>und</strong> Frau. Auch e<strong>in</strong>ige<br />
andere Effekte, die sich <strong>in</strong> Studien zeigen, etwa, dass die Präferenzen älterer Frauen eher<br />
den oben genannten Kriterien entsprechen als die jüngerer, ist ohne Zusatzannahmen <strong>in</strong><br />
dieser Theorie nicht zu erklären (vgl. Hassebrauck, Küpper 2002: 173).<br />
4.6 Lerntheoretische Ansätze von Attraktion <strong>und</strong> Partnerwahl<br />
In vielen Lebensbereichen spielen kognitive Prozess e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, so auch <strong>in</strong> der<br />
<strong>in</strong>terpersonalen Attraktion. Das »Re<strong>in</strong>forcement-Affect-Modell« (Byrne 1970) stellt hier<br />
die Basis des bekanntesten lerntheoretischen Ansatzes dar.<br />
Kern des Modells ist die Beobachtung, dass bestimmte Stimuli für sie nicht natürliche<br />
Reaktionen auslösen können. Hierzu wird e<strong>in</strong> belohnender Reiz (»positive re<strong>in</strong>forcement«),<br />
der e<strong>in</strong>e ihm natürliche Reaktion (»unconditional response«) wie beispielsweise<br />
79
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
Freude auslöst, mit e<strong>in</strong>em anderen Reiz (»conditional stimulus«) gekoppelt, der nun die<br />
gleiche Reaktion, die jetzt nicht mehr natürlich, sondern konditioniert ist (»conditional<br />
response«), hervorruft.<br />
Der Vorteil dieses Modells ist, dass sowohl positive als auch negative E<strong>in</strong>flüsse mite<strong>in</strong>ander<br />
verrechnet werden können <strong>und</strong> somit der Begriff »positive re<strong>in</strong>forcement«<br />
e<strong>in</strong>e Subsumierung unterschiedlicher Aspekte darstellt. Hier konzentriert sich die Erforschung<br />
<strong>in</strong>terpersonaler »re<strong>in</strong>forcements« hauptsächlich auf die Ähnlichkeit von<br />
E<strong>in</strong>stellungen, welche von Byrne <strong>in</strong> folgendem Versuch untersucht wurden:<br />
Zu Beg<strong>in</strong>n des Versuches füllen die Versuchspersonen e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>stellungsfragebogen<br />
aus, der verschiedene elementare Bereiche ihres Lebens abdeckt. Anschließend wird<br />
ihnen e<strong>in</strong> ebensolcher E<strong>in</strong>stellungsfragebogen, welcher angeblich von e<strong>in</strong>er anderen<br />
Person stammt, gegeben. Tatsächlich jedoch ist er von den Versuchsleitern auf Basis<br />
der Ergebnisse des Fragebogens der jeweiligen Versuchsperson konstruiert <strong>und</strong> zugeteilt<br />
worden. Dieser Fragebogen wird der Versuchsperson nun ausgehändigt, um<br />
aus der empf<strong>und</strong>enen Attraktion gegenüber der konstruierten Versuchsperson auf das<br />
»Re<strong>in</strong>forcement-Affect-Modell« schließen zu können.<br />
Festzustellen war, dass die jeweils von den Versuchsteilnehmern empf<strong>und</strong>ene Attraktion<br />
gegenüber der konstruierten Versuchsperson l<strong>in</strong>ear zum Ausmaß der ihr angeblich<br />
<strong>in</strong>newohnenden geme<strong>in</strong>samen Eigenschaften anstieg. Dieses Ergebnis belegte das Zutreffen<br />
des »Re<strong>in</strong>forcement-Affect-Modells« <strong>und</strong> bestätigte Byrne <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Erwartungen.<br />
Jedoch ist hier anzumerken, dass <strong>in</strong> engen Beziehungen E<strong>in</strong>stellungsähnlichkeit nur<br />
anfängliche Attraktion <strong>in</strong>nerhalb der Paare bedeutet (vgl. Mitchell; Neimeyer 1988).<br />
Ebenso wird bei der Studie nicht klar zwischen klassischer <strong>und</strong> operanter Konditionierung<br />
unterschieden. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob dem Ergebnis lediglich<br />
Steigerungen der operanten Konditionierung, also Steigerung aufgr<strong>und</strong> vergangener<br />
positiver Rückmeldungen wie Belohnungen, Anerkennung, etc. (»positive re<strong>in</strong>forcement«)<br />
von ähnlichen Personen zugr<strong>und</strong>e liegen oder ob zufällige Verzerrungen durch<br />
die klassische Konditionierung vorliegen, also von der Person unabhängige Emotionen<br />
aufgr<strong>und</strong> wiederholten Auftretens <strong>in</strong> Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er anderen Person<br />
mite<strong>in</strong>ander verknüpft <strong>und</strong> somit unabhängig der jeweiligen E<strong>in</strong>stellung konditioniert<br />
wurden.<br />
Ob Byrnes Beobachtungen nun tatsächlich auf operante Konditionierung zurückgehen<br />
oder die zufällige Zuordnung positiver Gefühle mit Personen ähnlicher Eigenschaften<br />
das Ergebnis verzerren, ist jedoch unerheblich für die Schlussfolgerung, dass Lernprozesse<br />
<strong>in</strong> der <strong>in</strong>terpersonalen Attraktion e<strong>in</strong>e nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.<br />
4.7 Entwicklungstheorien <strong>in</strong>terpersonaler Attraktion<br />
Der Anfang e<strong>in</strong>er B<strong>in</strong>dung als Paar ist durch den Prozess der <strong>in</strong>terpersonalen Attraktion<br />
gekennzeichnet. E<strong>in</strong>en Versuch, diesen zu beschreiben, unternehmen Entwicklungstheorien,<br />
zu denen bisher nur wenige durch Langzeitstudien überprüfte Theorien <strong>und</strong><br />
Modelle aufgestellt worden s<strong>in</strong>d.<br />
80
4.8 Eriksons Stufenmodell der Persönlichkeitsentwicklung<br />
Dazu gehört z. B. die aus dem Jahr 1970 stammende Stimulus-Werthaltungs-Rollen-<br />
Theorie von Murste<strong>in</strong>, <strong>in</strong> der er die Beziehung e<strong>in</strong>es Paares <strong>in</strong> drei Phasen unterteilt.<br />
In der Stimulusphase bestimmt sich demnach »vor allem [durch] die physische Attraktivität«<br />
(Hassebrauck, Küpper 2002: 167) die Bewertung e<strong>in</strong>er Person unter Berücksichtigung<br />
ihres Rufes <strong>und</strong> bee<strong>in</strong>flusst somit die weitere Partnerwahl. Bei dem<br />
Zusammentreffen zwei fremder Personen ist nur diese Information offen sichtbar.<br />
Die nächste Stufe, die das Paar nach dem erfolgreichen Überw<strong>in</strong>den der ersten<br />
Stufe erreicht, wenn also die Stimuluswerte auf beiden Seiten übere<strong>in</strong>stimmen, ist die<br />
Wertphase. In dieser versuchen beide Partner, Geme<strong>in</strong>samkeiten <strong>in</strong> Überzeugungen <strong>und</strong><br />
E<strong>in</strong>stellungen zu f<strong>in</strong>den, was sich – bei Erfolg – schließlich positiv auf »Entwicklung <strong>und</strong><br />
Bestand der Beziehung« (Hassebrauck, Küpper 2002: 167) auswirkt. Schließt das Paar die<br />
Phase des Informationsaustausches über das Privatleben beider Partner erfolgreich ab,<br />
erreicht es die Rollenphase, <strong>in</strong> der sie »ihre Rollenvorstellungen dah<strong>in</strong>gehend überprüfen,<br />
ob sie zusammenpassen <strong>und</strong> wie gut sie mite<strong>in</strong>ander auskommen«. Dieser Prozess ist<br />
zumeist konfliktbehaftet, da sich Rollen stetig ändern können <strong>und</strong> auch Erwartungen<br />
e<strong>in</strong>em ständigen Wandel unterworfen s<strong>in</strong>d.<br />
Murste<strong>in</strong> fand e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Hypothesen durch Untersuchungen mit Paaren, die bereits<br />
<strong>in</strong> der Wert- oder Rollenphase waren, bestätigt. Kritiker se<strong>in</strong>es Modells werfen ihm<br />
jedoch vor, e<strong>in</strong>e mangelnde Datenbasis <strong>und</strong> ungenügend Langzeitstudien aufzuweisen.<br />
Es bleibe somit nur bei unbestätigten Hypothesen. Des Weiteren wird kritisiert, dass<br />
andere wichtige Faktoren des Aufbaus e<strong>in</strong>er Beziehung wie z. B. die Rolle der Kommunikation,<br />
der Sexualität, romantischer Liebe oder auch etwaiger sozialer <strong>und</strong> ökonomischer<br />
Probleme fehlten.<br />
Das Entwicklungsmodell von Murste<strong>in</strong> repräsentiert e<strong>in</strong>e der vielen Theorien, die<br />
den Verlauf der Beziehungsentstehung beschreiben sollen. E<strong>in</strong>ige Aspekte des Modells<br />
werden auch <strong>in</strong> anderen Untersuchungen <strong>in</strong> Betracht gezogen. Besonders die »Bedeutung<br />
der Attraktivität für den Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er romantischen Beziehung« (Hassebrauck, Küpper<br />
2002: 167) wird von unterschiedlichen Theoretikern erwähnt <strong>und</strong> als wichtig empf<strong>und</strong>en.<br />
Dennoch existieren gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte, besonders h<strong>in</strong>sichtlich der empirischen<br />
F<strong>und</strong>ierung.<br />
4.8 Eriksons Stufenmodell der Persönlichkeitsentwicklung<br />
E<strong>in</strong>e Person wird <strong>in</strong> ihrem Leben unzählige Male mit Problemen konfrontiert, die es zu<br />
lösen gilt. Diese lassen sich grob <strong>in</strong> zwei Kategorien aufteilen: e<strong>in</strong>erseits Probleme, die<br />
plötzlich <strong>und</strong> unvorhersehbar e<strong>in</strong>treten, andererseits solche, die kalkulierbar <strong>und</strong> langfristig<br />
vorhersehbar s<strong>in</strong>d. Erstere werden <strong>in</strong> der Psychologie als kritische Lebensereignisse<br />
bezeichnet, letztere lassen sich als sogenannte Entwicklungsaufgaben def<strong>in</strong>ieren (vgl.<br />
Montada 2008: 3–48).<br />
In Bezug auf die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben lässt sich Eriksons »Stufenmodell<br />
der Persönlichkeitsentwicklung« anführen. Erikson geht davon aus, dass e<strong>in</strong>e<br />
Person <strong>in</strong> bestimmten Lebensabschnitten »spezifischen Konflikten oder Krisen« (Monta-<br />
81
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
da 2008: 37) ausgesetzt ist. Diese resultieren, so Erikson, aus »universellen Reifungs- <strong>und</strong><br />
Entwicklungsveränderungen« (Montada 2008: 36). Gel<strong>in</strong>gt es der Person, die betreffende<br />
Krise zu bewältigen, br<strong>in</strong>ge dies »positive Entwicklungsfolgen« (Montada 2008: 37) mit<br />
sich, während e<strong>in</strong> Scheitern zu »bleibenden Persönlichkeitsstörungen« führen könne.<br />
Se<strong>in</strong> Modell teilt das Leben <strong>in</strong> acht Stufen, denen jeweils zwei konträre Persönlichkeitsmerkmale<br />
zugeordnet s<strong>in</strong>d. Je nachdem, ob e<strong>in</strong>e Bewältigung der Entwicklungsphase<br />
erfolgt oder nicht, erwirbt die Person das entsprechende Persönlichkeitsmerkmal. Im<br />
Folgenden werden die Stufen dieses Modells kurz vorgestellt, wobei die erste Stufe als<br />
Beispiel für das ganze Modell detailliert erläutert werden soll.<br />
Im ersten Lebensjahr entwickelt das K<strong>in</strong>d im optimalen Fall »Vertrauen <strong>in</strong> die Verlässlichkeit<br />
<strong>und</strong> Zuneigung der Pflegepersonen« (Montada 2008: 37) <strong>und</strong> erwirbt somit e<strong>in</strong>e<br />
Kompetenz, die im gesamten Leben Gr<strong>und</strong>lage von Beziehungen ist. Das Fehlen dieser<br />
Kompetenz wirkt sich negativ auf die Bewältigung der folgenden Entwicklungsaufgaben<br />
aus, da hierzu e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>destmaß an Vertrauen erforderlich ist.<br />
In der zweiten Stufe, die das dritte Lebensjahr umfasst, bilden Autonomie <strong>und</strong> Scham<br />
bzw. Zweifel die beiden Pole, zwischen denen Entwicklung stattf<strong>in</strong>det. In den darauffolgenden<br />
zwei Lebensjahren entwickelt e<strong>in</strong> Mensch Initiative <strong>und</strong> damit zusammenhängend<br />
auch Schuldgefühle, während auf der Stufe der mittleren K<strong>in</strong>dheit e<strong>in</strong>e<br />
Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Werts<strong>in</strong>n <strong>und</strong> M<strong>in</strong>derwertigkeit stattf<strong>in</strong>det.<br />
In der Adoleszenz treten Identität <strong>und</strong> Rollendiffusion <strong>in</strong> Konkurrenz, während Krisen<br />
zu Beg<strong>in</strong>n des Erwachsenenalters Intimität <strong>und</strong> Isolation zum Thema haben.<br />
Im mittleren Erwachsenenalter muss sich e<strong>in</strong>e Person aufgr<strong>und</strong> von Entwicklungsaufgaben<br />
mit Generativität <strong>und</strong> Stagnation beschäftigen.<br />
Im späten Erwachsenalter kann sie durch daraus entstandene Krisen entweder Ich-<br />
Integrität erlangen oder an se<strong>in</strong>er Situation verzweifeln (vgl. Montada 2008: 37 f.).<br />
Insgesamt lässt sich Eriksons Stufenmodell als <strong>in</strong>tuitiv überzeugend bewerten, weshalb<br />
es trotz ger<strong>in</strong>ger empirischer Erforschung als e<strong>in</strong>es der wichtigsten Modelle <strong>in</strong> Bezug<br />
auf Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden kann (vgl. Montada 2008: 38).<br />
4.9 Die Entwicklungsaufgaben nach Havighurst<br />
Jeder Mensch hat im Laufe se<strong>in</strong>es Lebens die Aufgabe, sich <strong>in</strong> die <strong>Gesellschaft</strong> e<strong>in</strong>zugliedern.<br />
Auf diesem Weg gibt es bestimmte Etappen, die man als Entwicklungsaufgaben<br />
bezeichnet, also Aufgaben, die mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad zu unterschiedlichen<br />
Zeitpunkten unseres Lebens auf den Menschen zukommen. Zwangsläufig f<strong>in</strong>den<br />
die ersten <strong>und</strong> vielleicht wichtigsten dieser Etappen <strong>in</strong>nerhalb der Familie statt, jeweils<br />
82
4.9 Die Entwicklungsaufgaben nach Havighurst<br />
bed<strong>in</strong>gt durch das kulturelle, soziale, ökonomische <strong>und</strong> gesellschaftliche Umfeld. Unvorhersehbare<br />
Ereignisse oder Veränderungen können die Phasen des Lebens abweichend<br />
bee<strong>in</strong>flussen; dennoch lässt sich häufig e<strong>in</strong> Schema – wie es Havighurst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Theorie<br />
der Entwicklungsaufgaben aufzeichnet – feststellen.<br />
Zunächst ist das Ziel des Individuums, die Anforderungen des gesellschaftlichen Umfeldes<br />
zu meistern. Der vom E<strong>in</strong>zelnen empf<strong>und</strong>ene Ist-Zustand entspricht vor e<strong>in</strong>em<br />
Entwicklungsprozess zumeist nicht dem von der <strong>Gesellschaft</strong> geforderten Zustand. Um<br />
die sogenannte subjektive Struktur an die objektive, geforderte anzugleichen, werden<br />
zunächst greifbare <strong>und</strong> realistische Ziele für die Zukunft erstellt. In der frühen K<strong>in</strong>dheit<br />
beispielsweise, die bei Havighurst von der Geburt bis zum zweiten Lebensjahr reicht,<br />
erlernt e<strong>in</strong> Mensch, mit den motorischen Funktionen se<strong>in</strong>es Körpers umzugehen (vgl.<br />
Oerter 1995: 124). Diese Entwicklungsaufgabe zeigt deutlich, dass es sich bei der geforderten<br />
Fähigkeit um e<strong>in</strong>e normative Aufgabe handelt. Die Eltern erwarten beispielsweise<br />
vom K<strong>in</strong>d, dass es D<strong>in</strong>ge greifen lernt. Die Zeitspanne <strong>und</strong> auch der Zeitpunkt s<strong>in</strong>d<br />
aufgr<strong>und</strong> der Individualität jedes K<strong>in</strong>des allerd<strong>in</strong>gs variabel.<br />
Weitere Aspekte der Theorie nach Havighurst zeigen, dass manche Aufgaben zwar<br />
nicht zu e<strong>in</strong>em gewissen Zeitpunkt bewältigt werden müssen, es aber dennoch Phasen<br />
gibt, <strong>in</strong> denen der Entwicklungsprozess leichter fällt. Im mittleren Schulalter wird<br />
der Mensch nach Havighurst zum ersten Mal mit Arbeiten <strong>und</strong> Spielen im Team konfrontiert,<br />
während der Heranwachsende <strong>in</strong> der Adoleszenz lernt, mit se<strong>in</strong>em Körper <strong>und</strong><br />
(sexuellen) Beziehungen umzugehen (vgl. Oerter 1995: 124). Beide Entwicklungsaufgaben<br />
veranschaulichen, dass es zwar nicht zw<strong>in</strong>gend notwendig ist, diese <strong>in</strong> der idealen<br />
Zeitspanne zu absolvieren, die oben genannten Phasen dafür jedoch besonders geeignet<br />
s<strong>in</strong>d, weshalb sie auch als sogenannte sensitive Perioden bezeichnet werden.<br />
Havighurst beleuchtet als letzte Phase die des späten Erwachsenenalters, gleichzusetzen<br />
<strong>in</strong> etwa mit dem Ruhestandsalter. E<strong>in</strong>e besondere Aufgabe besteht dar<strong>in</strong>, Akzeptanz beziehungsweise<br />
Zufriedenheit mit dem eigenen Leben zu erreichen (vgl. Oerter 1995: 124).<br />
83
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
Sicherlich ist diese Zufriedenheit e<strong>in</strong> Kernpunkt von Havighursts Theorie, da er sagt:<br />
»Die erfolgreiche Vollendung e<strong>in</strong>er Entwicklungsaufgabe führt zu Zufriedenheit <strong>und</strong><br />
Erfolg bei bevorstehenden Aufgaben« (Oerter 1995: 124).<br />
4.10 Die Entwicklungsaufgaben von Paaren<br />
Viele Entwicklungen werden <strong>in</strong> der Psychologie <strong>in</strong> Phasen aufgeteilt. E<strong>in</strong> Beispiel s<strong>in</strong>d<br />
die Phasen der Paarentwicklung, <strong>in</strong> denen es verschiedene Entwicklungsaufgaben zu<br />
bestehen gilt. Die Bewältigung dieser Aufgaben ist e<strong>in</strong> wichtiger Aspekt zum Fortbestand<br />
des »Paarsystems« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151).<br />
Die erste Phase der Paarentwicklung beschreibt Paare <strong>in</strong> der Frühphase ihrer Beziehung.<br />
Der Aspekt der Klärung von Aufgabenverteilungen <strong>und</strong> das Erlernen von<br />
Zusammenleben steht nach Schneew<strong>in</strong>d im Vordergr<strong>und</strong>. Dem Partner, trotz e<strong>in</strong>er festen<br />
B<strong>in</strong>dung, Freiräume zu lassen sei besonders wichtig. Sowohl die »Sicherstellung des<br />
Lebensunterhaltes als Paar« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151) als auch die Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>und</strong><br />
E<strong>in</strong>igung zur Frage des K<strong>in</strong>derwunsches solle geklärt werden.<br />
In der zweiten Phase der Paarentwicklung stehen die Beziehungen zu den noch<br />
kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern, aber auch die Beziehung zum Partner im Mittelpunkt. Laut dem<br />
Verfasser sollte sich das Paar an die »Pflege <strong>und</strong> Betreuung« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151) der<br />
K<strong>in</strong>der anpassen, dennoch nicht die Beziehung zue<strong>in</strong>ander verlieren <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Rollen<br />
als Eltern <strong>und</strong> Partner klar differenzieren können.<br />
In der nächsten Phase geht es vor allem um den Umgang mit den nun jugendlichen<br />
<strong>und</strong> älteren K<strong>in</strong>dern. Die Beziehung zu diesen muss an die neuen Umstände – wie<br />
die Pubertät <strong>und</strong> das Älterwerden – angepasst werden. Außerdem sollen die Eltern<br />
laut Schneew<strong>in</strong>d lernen, ihre K<strong>in</strong>der loszulassen <strong>und</strong> zu akzeptieren, dass diese nun<br />
eigenständige Entscheidungen treffen. Auch <strong>in</strong> dieser Phase ist es von Bedeutung, dass<br />
die Beziehung zwischen den Partnern zufriedenstellend geführt wird <strong>und</strong> stabil bleibt.<br />
Im nächsten Abschnitt steht nicht mehr der Umgang mit den K<strong>in</strong>dern im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Aufgabe dieser Lebensspanne ist u. a. das »Aushandeln e<strong>in</strong>es neuen Verständnisses <strong>in</strong> der<br />
Paarbeziehung« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151). Demnach muss das Paar se<strong>in</strong>e Beziehung neu<br />
def<strong>in</strong>ieren, nachdem die K<strong>in</strong>der ihren eigenen Haushalt gegründet haben. Dem Autor<br />
zufolge müsse die »Neuorientierung des Lebensstils« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151) stattf<strong>in</strong>den,<br />
um diese Phase erfolgreich zu absolvieren. Außerdem solle auch das Rollenverständnis<br />
im Bezug auf die erwachsenen K<strong>in</strong>der neu def<strong>in</strong>iert werden.<br />
Die letzte Entwicklungsphase ist die späte Lebensphase des Paares. Dort ändern sich<br />
die »zeitlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151) nach dem »Ausscheiden<br />
aus dem Arbeitsleben« (Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151). Die Partner müssen nach Schneew<strong>in</strong>d<br />
84
4.11 »Zeiten des Aufruhrs«<br />
diese Rahmenbed<strong>in</strong>gungen nun anpassen. Zudem müssen die Partner sich mit ihrer<br />
eigenen <strong>und</strong> gegenseitigen Gebrechlichkeit ause<strong>in</strong>andersetzen <strong>und</strong> die testamentarische<br />
Verfügung klären.<br />
Mit dem Durchlaufen dieser Phasen geht jedes Paar <strong>in</strong>dividuell um, denn auch die<br />
Umstände s<strong>in</strong>d verschieden. Faktoren, bei denen sich die Entwicklungsaufgaben ändern,<br />
wären z. B. K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>er vorherigen Ehe oder Beziehung.<br />
4.11 »Zeiten des Aufruhrs« – Entwicklungsaufgaben e<strong>in</strong>es Paares an e<strong>in</strong>em<br />
Filmbeispiel<br />
Jedem Paar stellen sich <strong>in</strong> den verschiedenen Phasen ihrer Beziehung Aufgaben, die<br />
es bewältigen muss, um e<strong>in</strong>e funktionierende Beziehung <strong>und</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Leben<br />
führen zu können. In der Psychologie nennt man diese Aufgaben Entwicklungsaufgaben<br />
(vgl. Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151). Im Rahmen unseres Kurses haben wir Ausschnitte des<br />
Filmes »Zeiten des Aufruhrs« im H<strong>in</strong>blick auf die Entwicklungsaufgaben, die das junge<br />
Protagonistenpaar zu bewältigen versucht, analysiert.<br />
Das Filmdrama »Zeiten des Aufruhrs« (englischer Orig<strong>in</strong>altitel »Revolutionary Road«)<br />
spielt <strong>in</strong> den 1950er Jahren <strong>und</strong> handelt von dem jungen Paar April <strong>und</strong> Frank, welches,<br />
als April schwanger wird, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vorstadt Conneticuts zieht. Ihre Pläne von e<strong>in</strong>em<br />
Traumleben <strong>in</strong> Paris verwerfen sie zu Gunsten der K<strong>in</strong>der. Jedoch fühlt sich weder<br />
April <strong>in</strong> ihrer Rolle als Hausfrau <strong>und</strong> Mutter noch Frank als Angestellter bei Knox<br />
Bus<strong>in</strong>ess Mach<strong>in</strong>es wohl. Im Wunsch, ihre alten Träume wiederaufleben zu lassen <strong>und</strong><br />
zu realisieren, schlägt April den Umzug nach Paris vor.<br />
Die Entwicklungsaufgaben, mit denen das Paar zu kämpfen hat, s<strong>in</strong>d vor allem das<br />
Aufrechterhalten e<strong>in</strong>er stabilen <strong>und</strong> befriedigenden Paarbeziehung sowie die Klärung<br />
der Aufgabenteilung zwischen den Partnern (vgl. Schneew<strong>in</strong>d 2010: 151). Diese ist zu<br />
diesem Zeitpunkt klassisch so geregelt, dass Frank arbeitet <strong>und</strong> April zu Hause bleibt,<br />
um sich um die K<strong>in</strong>der zu kümmern. April wünscht sich jedoch, <strong>in</strong> Paris zukünftig<br />
arbeiten zu können, damit Frank Zeit für sich hat. Letzterer fühlt sich durch diesen<br />
Wunsch Aprils eher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rolle als Versorger der Familie kritisiert <strong>und</strong> reagiert<br />
zunächst mit Ablehnung.<br />
April ist mit der derzeitigen Situation so unglücklich, dass sie, um den Umzug<br />
nach Paris zu retten, gewillt ist, e<strong>in</strong>e ungeplante weitere Schwangerschaft abzubrechen.<br />
Frank jedoch ist gegen e<strong>in</strong>e Abtreibung <strong>und</strong> will angesichts der gegebenen Umstände<br />
lieber <strong>in</strong> Amerika bleiben. Auch die gestörte Kommunikation der beiden gefährdet die<br />
Beziehung. So erzählt April Frank erst <strong>in</strong> der zehnten Woche von ihrer Schwangerschaft<br />
<strong>und</strong> entscheidet sich für e<strong>in</strong>e Abtreibung, ohne ihn mite<strong>in</strong>zubeziehen.<br />
Immer wieder werden Szenen aus der Vergangenheit des Paares e<strong>in</strong>geblendet, an die<br />
April sich er<strong>in</strong>nert. In ihnen wird das Paar noch glücklich gezeigt. Die Realität h<strong>in</strong>gegen<br />
wirkt dann trostlos <strong>und</strong> die Situation sehr festgefahren. Dieses Gefühl entsteht vor allem<br />
durch die gestörte Kommunikation <strong>und</strong> dadurch, dass Frank die Motivation <strong>und</strong> der<br />
Mut fehlt, etwas zu ändern. Er hat die Unzufriedenheit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben akzeptiert.<br />
85
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
So zeigt der Film die Schwierigkeiten e<strong>in</strong>es Paares, sich von e<strong>in</strong>em jungen, glücklichen<br />
Paar mit Plänen <strong>und</strong> Abenteuerlust <strong>in</strong> e<strong>in</strong> glückliches Paar mit K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
bürgerlichen Leben, <strong>in</strong> dem sich nicht alle Träume erfüllt haben, zu wandeln, ohne dabei<br />
sämtliche Träume <strong>und</strong> Hoffnung zu verlieren.<br />
4.12 Die Funktion von Humor aus medienwissenschaftlicher Perspektive<br />
Es gibt viele Formen zwischenmenschlicher Kommunikation. Der Mensch als soziales<br />
Wesen wird <strong>in</strong> nahezu jeder Alltagssituation mit ihnen konfrontiert <strong>und</strong> ist deshalb<br />
darauf angewiesen, die verschiedenen Formen im direkten Umgang mit Menschen<br />
richtig <strong>in</strong>terpretieren zu können. Das erweist sich jedoch als oftmals schwierig, wie am<br />
Beispiel des Humors als »vornehmlich zwischenmenschliche[m] Phänomen« (Wieser<br />
2008: 2) deutlich wird. Im Folgenden wird dieser sozialpsychologische Prozess aus<br />
medienwissenschaftlicher Sicht anhand e<strong>in</strong>es Beispiels aus dem Film »Pappa ante<br />
portas« von Loriot dargelegt.<br />
Zunächst e<strong>in</strong>mal ist Humor »immer an e<strong>in</strong> Mite<strong>in</strong>ander oder Gegene<strong>in</strong>ander gekoppelt«<br />
(Wieser 2008). Das bedeutet, dass er auf e<strong>in</strong>er Interaktion basiert, <strong>in</strong> der den<br />
beteiligten Personen e<strong>in</strong>e kognitive Leistung abverlangt wird, um den Humor auch als<br />
solchen zu erkennen. Der Inhalt der humoristischen Wendung sei nach Babara Parfuss<br />
»meist überraschend« (Parfuss 2008: 29), jedoch direkt zu verstehen. Zu unterscheiden ist<br />
er somit von der Ironie, die »<strong>in</strong>direkt« (Parfuss 2008: 29) ist. Humor kann »Zustimmung<br />
<strong>und</strong> Geselligkeit« (Wieser 2008: 2) zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen, <strong>und</strong> Kritik milde nahe legen,<br />
weswegen man ihn als »Deeskalationstechnik« (Wieser 2008: 2) bezeichnen kann. In<br />
negativen Gruppendynamiken kann er jedoch auch zum Ausschluss von Individuen<br />
genutzt werden, da die <strong>in</strong> ihm enthaltene »Widers<strong>in</strong>nigkeit« (Parfuss 2008: 27) – wie<br />
oben angesprochen – nicht immer lösbar ist. So kann es zu Missverständnissen <strong>und</strong><br />
schließlich zu Problemen kommen.<br />
Der unter dem Namen Loriot bekannte Karikaturist <strong>und</strong> Humorist Vicco von Bülow<br />
greift <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Werken eben diese zwischenmenschlichen Kommunikationsstörungen<br />
auf, <strong>in</strong>dem er Alltagssituationen besonders überspitzt darstellt. »Kommunikationsgestörte<br />
<strong>in</strong>teressieren mich am allermeisten. Alles, was ich als komisch empf<strong>in</strong>de, entsteht<br />
aus der zerbröselten Kommunikation, aus dem Ane<strong>in</strong>ander-vorbei-Reden« (Loriot). In<br />
der ausgewählten Filmszene bedienen sich Herr <strong>und</strong> Frau Lohse <strong>in</strong> unterschiedlicher<br />
Art <strong>und</strong> Weise des Humors, sodass beide Partner nicht auf den jeweils anderen e<strong>in</strong>gehen<br />
können. Die Situation verstärkt sich zunehmend, bis sie schließlich zu eskalieren droht.<br />
Zusammenfassend bleibt herauszustellen, dass dem Humor e<strong>in</strong>e wichtige Rolle <strong>in</strong><br />
unserem alltäglichen <strong>und</strong> zwischenmenschlichen Kommunikationsverhalten zukommt,<br />
<strong>in</strong>dem er Personen durch gezieltes E<strong>in</strong>setzen <strong>in</strong>volvieren, aber auch ausschließen kann.<br />
Bezogen auf die zunehmende Digitalisierung der Kommunikation könnte er jedoch an<br />
Bedeutung verlieren, da die schlichte Wortübertragung über z. B. Handy oder Computer<br />
wichtige Aspekte wie Gestik, Mimik <strong>und</strong> Tonlage, die zur Wirkung von Humor <strong>und</strong><br />
besonders Ironie beitragen, vernachlässigt.<br />
86
4.13 Prädiktoren von Beziehungszufriedenheit <strong>und</strong> Beziehungsdauer<br />
4.13 Prädiktoren von Beziehungszufriedenheit <strong>und</strong> Beziehungsdauer<br />
Familiäre Beziehungen haben sich aufgr<strong>und</strong> des gesellschaftlichen Wandels <strong>in</strong> den<br />
vergangenen Jahren entscheidend verändert. Gesamtscheidungsraten von über 38 %<br />
seit 1995 s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong> Beispiel, das den Trend h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em Rückgang der Zahl der<br />
Eheschließungen, zu steigenden Scheidungsziffern <strong>und</strong> folglich wachsenden Zahlen<br />
von geschiedenen bzw. alle<strong>in</strong>erziehenden Personen belegt (vgl. B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für<br />
Umwelt, Jugend <strong>und</strong> Familie 1999: 158). Jeder Mensch ist Teil e<strong>in</strong>er Familie. Daher ist es<br />
für den E<strong>in</strong>zelnen sowie die <strong>Gesellschaft</strong> wichtig, familiäre Beziehungen zu verstehen.<br />
Im Folgenden soll e<strong>in</strong> Aspekt, nämlich Theorien zur Beziehungszufriedenheit <strong>und</strong> -dauer<br />
sowie deren Prädiktoren, erläutert werden.<br />
Lern- <strong>und</strong> verhaltenstheoretische Modelle legen den Fokus auf die positiven Verhaltensweisen<br />
des Partners, damit e<strong>in</strong>e Paarbeziehung gel<strong>in</strong>gen kann (vgl. Engenhart-Kle<strong>in</strong><br />
2001: 42). Darüber h<strong>in</strong>aus spielen sowohl <strong>in</strong>dividuelle Merkmale der Partner wie z. B.<br />
die soziale Stellung als auch geme<strong>in</strong>same Ziele <strong>und</strong> Werte <strong>in</strong> Bezug auf Fre<strong>und</strong>schaften<br />
<strong>und</strong> Partnerschaft e<strong>in</strong>e wichtige Rolle (vgl. Gottman 1994). Es ist dabei auffällig, dass<br />
<strong>in</strong> der Phase der Partnerwahl übere<strong>in</strong>stimmende Interessen <strong>und</strong> Ziele wichtiger s<strong>in</strong>d<br />
als <strong>in</strong> den darauffolgenden Phasen der Partnerschaft, <strong>in</strong> welchen vermehrt die Bedürfnisbefriedigung<br />
im Vordergr<strong>und</strong> steht (vgl. Engenhart-Kle<strong>in</strong> 2001: 41). Kennzeichnend<br />
für e<strong>in</strong>e zufriedenstellende Paarbeziehung s<strong>in</strong>d auch positive Interaktions- <strong>und</strong> Partnerschaftsmerkmale,<br />
besonders Problemlösefähigkeit <strong>und</strong> Kommunikationskompetenz bei<br />
Emotionen. Andere Studien wie die Metaanalyse von Karney <strong>und</strong> Bradbury (vgl. Karney<br />
1995) greifen e<strong>in</strong>ige der oben genannten Prädiktoren für Ehestabilität <strong>und</strong> Ehezufriedenheit<br />
wieder auf <strong>und</strong> belegen sie. In dieser Untersuchung wurden die wichtigsten<br />
Ergebnisse zu Partnerschaftszufriedenheit <strong>und</strong> -stabilität aus zahlreichen Studien zusammengefasst:<br />
Auf der e<strong>in</strong>en Seite gibt es e<strong>in</strong>ige Prädiktoren mit nur ger<strong>in</strong>gem E<strong>in</strong>fluss auf<br />
Ehestabilität <strong>und</strong> Ehezufriedenheit, wie z. B. Alter oder Bildung der Partner. So wirkt<br />
sich e<strong>in</strong>e hohe Bildung positiv auf Ehestabilität <strong>und</strong> Ehezufriedenheit aus. Auf der anderen<br />
Seite existieren Faktoren mit e<strong>in</strong>em sehr großen Effekt. In diesen Ergebnissen f<strong>in</strong>det<br />
sich der Gr<strong>und</strong>gedanke der zuvor erwähnten lern- <strong>und</strong> verhaltenstheoretischen Modelle<br />
wieder: Sowohl das positive als auch das negative Interaktions- <strong>und</strong> Kommunikationsverhalten<br />
des Mannes/der Frau haben e<strong>in</strong>en wesentlichen E<strong>in</strong>fluss auf Ehestabilität <strong>und</strong><br />
Ehezufriedenheit.<br />
Zusammenfassend kann man festhalten, dass es e<strong>in</strong>e große Anzahl an Prädiktoren<br />
gibt, die jeweils e<strong>in</strong>en unterschiedlich starken Effekt auf Beziehungszufriedenheit <strong>und</strong><br />
-dauer besitzen. Zudem forscht die Resilienzforschung nach personalen <strong>und</strong> sozialen<br />
Ressourcen, die als protektive Faktoren den E<strong>in</strong>fluss von Vulnerabilitäten <strong>und</strong> Risiken<br />
moderieren (vgl. Engenhart-Kle<strong>in</strong> 2001: 41). Der dynamische Entwicklungsprozess Ehe<br />
bleibt <strong>in</strong> der Forschung also nach wie vor e<strong>in</strong> vielgestaltiges Thema (vgl. Engenhart-Kle<strong>in</strong><br />
2001: 45).<br />
87
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
4.14 Ziel <strong>und</strong> Anwendung e<strong>in</strong>es Kommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs <strong>in</strong> der<br />
Paartherapie<br />
Kommunikation ist e<strong>in</strong> existenzieller Bestandteil unseres Lebens. Darum ist es wichtig,<br />
diese zu beherrschen <strong>und</strong> gegebenenfalls zu verbessern. »E<strong>in</strong> Kommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g<br />
ist e<strong>in</strong>e verhaltenstherapeutische Intervention mit dem Ziel, Sozialpartner durch die<br />
E<strong>in</strong>übung bestimmter Sprecher- <strong>und</strong> Zuhörerfertigkeiten <strong>in</strong> die Lage zu versetzen,<br />
sich offen, aufnehmend, konstruktiv <strong>und</strong> <strong>in</strong> Kongruenz mit ihren Gefühlen <strong>und</strong> ihrem<br />
nonverbalen Verhalten auszutauschen« (Kaiser 1996: 598).<br />
Kommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g ist <strong>in</strong> verschiedenen Formen möglich: Es gibt E<strong>in</strong>zeltherapien,<br />
Gruppentherapien <strong>und</strong> auch spezielle Ehe- <strong>und</strong> Familientherapien. Die Rolle des Therapeuten<br />
variiert je nach Art der angewendeten Therapie. Im Kommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g,<br />
was Bestandteil der Ehe- oder Familientherapie se<strong>in</strong> kann, tritt der Therapeut als neutrale<br />
Schlichtungs<strong>in</strong>stanz auf, der alle Beteiligten beim Suchen nach Lösungen unterstützt.<br />
Durch dieses Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g werden verschiedene Sprecher- <strong>und</strong> Zuhörerfertigkeiten geübt<br />
Im Folgenden werden zunächst die Sprecherfertigkeiten erläutert: Der »Ich-Gebrauch«<br />
(Kaiser 1996: 599) zentriert die Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche des Sprechers<br />
<strong>und</strong> vermeidet Anschuldigungen mit konflikteröffnendem Charakter. Überdies<br />
ermöglicht er dem Zuhörer e<strong>in</strong> besseres Verständnis se<strong>in</strong>es Partners. Die Beschreibung<br />
der »konkreten Situation oder des konkreten Verhaltens« (Kaiser 1996: 600) s<strong>in</strong>d wichtig, um<br />
verallgeme<strong>in</strong>ernde Beschreibungen zu unterb<strong>in</strong>den <strong>und</strong> die Situation besser e<strong>in</strong>ordnen<br />
zu können. Ebenso wichtig ist es, im Gespräch beim Thema zu bleiben <strong>und</strong> nicht abzuschweifen<br />
(vgl. Kaiser 1996: 600). Nicht m<strong>in</strong>der wichtige Fertigkeiten sollte der Zuhörer<br />
beherrschen. Durch das »aufnehmende Zuhören« (Kaiser 1996: 600), den Blickkontakt<br />
sowie kle<strong>in</strong>ere Gesten der Aufmerksamkeit signalisiert der Zuhörer Interesse an dem<br />
vorgebrachten Anliegen. Das »Zusammenfassen/Paraphrasieren« (Kaiser 1996: 600) zeigt,<br />
ob der Zuhörer den Sprecher richtig verstanden hat. Sollte der Zuhörer zu diesem<br />
Zeitpunkt merken, dass er falsch liegt, helfen »offene Fragen« (Kaiser 1996: 600). Am<br />
Ende des Gespräches kann der Zuhörer durch »positive Rückmeldung« (Kaiser 1996: 600)<br />
das Gespräch bewerten <strong>und</strong> sich für die Offenheit des Sprechers bedanken.<br />
Die Effizienz dieses Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs ist beispielsweise durch e<strong>in</strong>e Studie von Thurmaier, Engl<br />
<strong>und</strong> Hahlweg belegt (vgl. Thurmaier 1998).<br />
4.15 Der Erstgeborene, e<strong>in</strong> Glückspilz<br />
In den letzten Jahren wurde immer wieder kontrovers diskutiert, <strong>in</strong>wiefern sich die<br />
Reihenfolge der Geschwister auf die Entwicklung des K<strong>in</strong>des auswirkt. Vor allem dem<br />
Erstgeborenen werden viele Charakteristika zugeschrieben, wie z. B. Machtstreben, Dom<strong>in</strong>anz,<br />
e<strong>in</strong> höheres Intelligenzniveau, aber auch Introvertiertheit <strong>und</strong> soziale Inkompetenz.<br />
E<strong>in</strong>e nähere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Erstgeborenen <strong>und</strong> den übrigen<br />
K<strong>in</strong>dern soll Aufschluss geben.<br />
88
4.16 Zukunftsforschung. Wirkungsabsichten <strong>und</strong> Charakteristika von Szenariostudien<br />
E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schneidendes Ereignis ist die Geburt des zweiten K<strong>in</strong>des, auch »Entthronungstrauma«<br />
genannt. Dazu sagte Alfred Albert: »Erstgeborene r<strong>in</strong>gen ihr Leben lang mit<br />
der Verarbeitung dieser frühk<strong>in</strong>dlichen traumatischen Erfahrung« (Jungbauer 2009: 55).<br />
Zunächst (1. Phase, bis zum 8. Monat) besteht die Aufgabe für den Erstgeborenen<br />
dar<strong>in</strong>, sich die Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Zuwendung der Eltern zu teilen, welches als e<strong>in</strong>e<br />
immense Umstellung gilt. Häufig führt dies auch zu Rivalität <strong>und</strong> Eifersucht seitens<br />
des/r Älteren (Phase 2, 8.–16. Monat). In der letzten Phase (17.–24. Monat) s<strong>in</strong>ken die<br />
Rivalitätsgefühle, Konflikte werden alle<strong>in</strong>e ausgetragen; es bildet sich e<strong>in</strong> eigenständiges<br />
K<strong>in</strong>der-Subsystem (vgl. Werneck, Werneck-Rohrer 2000: 97 f).<br />
Auch <strong>in</strong> den nächsten Jahren festigt sich die Geschwisterbeziehung, wobei der/die<br />
Ältere e<strong>in</strong>e Lehrer- <strong>und</strong> Vorbildfunktion e<strong>in</strong>nimmt. Vor allem die Spätergeborenen zeigen<br />
e<strong>in</strong>e große Anhänglichkeit <strong>und</strong> neigen zum Imitieren ihres Vorbilds (vgl. Jungbauer 2009:<br />
62). Somit hat der Erstgeborene von Anfang an e<strong>in</strong>e Machtstellung, die er zu verteidigen<br />
anstrebt. Deshalb wird dem Erstgeborenen e<strong>in</strong> dom<strong>in</strong>anteres Führungsverhalten<br />
zugesprochen.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs wurde bisher <strong>in</strong> der Geschwisterpositionsforschung noch ke<strong>in</strong>e Langzeituntersuchung<br />
durchgeführt. Vielmehr wird vom Verhalten im Erwachsenenalter auf die<br />
K<strong>in</strong>dheit geschlossen. So hat Sulloway (vgl. Sulloway 1999) die Akzeptanz der Studenten<br />
im Alter von 25 Jahren h<strong>in</strong>sichtlich wissenschaftlicher Neuerungen getestet, welche bei<br />
Spätergeborenen dreimal so hoch ausgeprägt war wie bei den Erstgeborenen. Er hat<br />
darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass Erstgeborene von den Eltern abhängiger s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> von Ihnen<br />
privilegiert wurden. Daraus hat sich e<strong>in</strong>e eher konservative E<strong>in</strong>stellung beim ältesten<br />
K<strong>in</strong>d etabliert (vgl. Schneew<strong>in</strong>d 2010: 196). Solche Rückführungen mögen plausibel<br />
<strong>und</strong> verständlich ersche<strong>in</strong>en, jedoch vernachlässigen sie viele Faktoren wie z. B. den<br />
elterlichen Erziehungsstil, die Größe der Familie etc. Dies stellt <strong>in</strong> der Diskussion der<br />
Geschwisterpositionsforschung e<strong>in</strong>en starken Kritikpunkt dar.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das älteste K<strong>in</strong>d im Durchschnitt e<strong>in</strong> höheres<br />
Intelligenzniveau (vgl. Jungbauer 2009: 55), e<strong>in</strong>en dom<strong>in</strong>anten Führungsstil, e<strong>in</strong> Machtstreben<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e eher konservative E<strong>in</strong>stellung vorweist (vgl. Schneew<strong>in</strong>d 2010: 196).<br />
Dies lässt sich auf die ungeteilte Aufmerksamkeit bis zur Geburt des zweiten K<strong>in</strong>des<br />
<strong>und</strong> die verantwortungsvolle Rolle, die er im Verlaufe se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit übernimmt, zurückführen.<br />
Jedoch muss ausdrücklich betont werden, dass dieser S<strong>in</strong>nzusammenhang<br />
zwar <strong>in</strong> den meisten Fällen besteht, nicht aber zw<strong>in</strong>gend notwendig ist.<br />
4.16 Zukunftsforschung. Wirkungsabsichten <strong>und</strong> Charakteristika von<br />
Szenariostudien<br />
Das Nachdenken über Zukunft beschäftigt Menschen schon seit jeher, da Hoffnungen,<br />
Ängste <strong>und</strong> Befürchtungen Elemente der natürlichen <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuellen Lebensplanung<br />
s<strong>in</strong>d. Die wissenschaftliche Zukunftsforschung muss jedoch immer noch um Anerkennung<br />
als etablierte Diszipl<strong>in</strong> kämpfen. Speziell die Familienforschung ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong> weiten<br />
Teilen noch unerforschtes Feld <strong>und</strong> bedient sich alter Ansätze <strong>und</strong> Modelle, die von der<br />
89
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
sozialen Bewegung <strong>in</strong> den 1970er Jahren angestoßen wurden. Dieses eklatante Fehlen<br />
wirklich neuer Visionen kritisieren vor allem Experten, da Fortschritte <strong>in</strong> Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Technik sowie die Globalisierung <strong>in</strong> der Vergangenheit tendenziell e<strong>in</strong>e Unmenge<br />
neuer Lebensformen ermöglichten. In der Folge werfen sie die Frage auf, ob es <strong>in</strong><br />
Zukunft e<strong>in</strong> Modell von Familie geben wird, wie wir es bisher kennen (vgl. Burkart 2009:<br />
9 ff.).<br />
Um diese Lücke <strong>in</strong> der Sozialwissenschaft zu füllen, wurden sogenannte Szenariostudien<br />
<strong>in</strong>itiiert. Im Gegensatz zu Prognosen, die versuchen, den Anspruch auf<br />
Vorhersage der tatsächlich e<strong>in</strong>tretenden Zukunft zu erfüllen, ist die oben genannte<br />
Methodik erheblich vielfältiger. Charakteristisch ist e<strong>in</strong>e detaillierte Beschreibungen<br />
mehrerer Zukunftsmöglichkeiten, durch die e<strong>in</strong>e mehrdimensionale Betrachtungsweise<br />
erreicht wird. Solche Konzeptionen mehrerer hypothesenartiger Alternativen werden als<br />
»Portraits« bezeichnet, die das Ziel verfolgen, das Augenmerk der Rezipienten auf bestimmte<br />
Entscheidungsmomente <strong>und</strong> -prozesse zu lenken <strong>und</strong> dadurch <strong>in</strong> gewünschter<br />
Weise E<strong>in</strong>fluss auf die Entwicklungen <strong>in</strong> der Gegenwart zu nehmen.<br />
Dies geschieht beispielsweise <strong>in</strong> Form von »Wild Cards«. Dabei handelt es sich um<br />
Skizzen von pr<strong>in</strong>zipiell eher unrealistischen Entwicklungen <strong>in</strong> der Zukunft, welche aber<br />
im Falle des E<strong>in</strong>tretens fatale Folgen nach sich zögen. Die Methode verfolgt damit die Intention,<br />
Ausblicke auf Zukunftsmöglichkeiten zu geben. Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er »Schocktherapie«<br />
will sie E<strong>in</strong>fluss auf Handlungen <strong>in</strong> der Gegenwart ausüben (vgl. Burkart 2009: 12 f.).<br />
In der Schlussfolgerung bedeutet dies also, dass die Zukunftsforschung nicht von<br />
e<strong>in</strong>er unveränderbaren, vorbestimmten Zukunft, sondern von Gestaltungsmöglichkeiten<br />
ausgeht, welche sie zu nutzen beabsichtigt. Sie profiliert sich als e<strong>in</strong>e ernstzunehmende<br />
wissenschaftliche Diszipl<strong>in</strong>, die beispielsweise mithilfe von Szenariostudien das Ziel<br />
verfolgt, das Verständnis der Entwicklungen von Lebensformen <strong>in</strong> Gegenwart <strong>und</strong><br />
Zukunft zu verbessern.<br />
90
4.17 Mögliche Gründe für die K<strong>in</strong>derlosigkeit <strong>in</strong> Deutschland<br />
4.17 Mögliche Gründe für die K<strong>in</strong>derlosigkeit <strong>in</strong> Deutschland<br />
In aktuellen Statistiken des B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isteriums für Familien, Senioren, Frauen <strong>und</strong><br />
Jugend zur Geburtenrate <strong>in</strong> Deutschland zeigt sich, dass pro Paar lediglich 1,3 K<strong>in</strong>der<br />
geboren werden. Laut Prognosen für das Jahr 2060 ist e<strong>in</strong>e problematische Unterpräsenz<br />
der K<strong>in</strong>der zu befürchten. Wie <strong>und</strong> von wem soll dann die Rente für die stets<br />
wachsende ältere Generation f<strong>in</strong>anziert werden Hat das momentan bestehende soziale<br />
Sicherungssystem überhaupt e<strong>in</strong>e Zukunft<br />
Die Gründe für die deutsche K<strong>in</strong>derlosigkeit lassen sich drei Typen zuteilen.<br />
Typ 1 zeichnet sich durch die gewollte K<strong>in</strong>derlosigkeit aus. Diese Entscheidung basiert<br />
auf frühen negativen Erfahrungen, die zur Ablehnung der Elternrolle führt. Oft steht bei<br />
diesem Typus die Karriere im Vordergr<strong>und</strong>. Dieser Gruppe gehört nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil<br />
der K<strong>in</strong>derlosen an, die Tendenz ist allerd<strong>in</strong>gs steigend.<br />
Typ 2 h<strong>in</strong>gegen ist unfreiwillig k<strong>in</strong>derlos, denn hier beruht die K<strong>in</strong>derlosigkeit auf<br />
e<strong>in</strong>er gestörten Fertilität, <strong>in</strong>sbesondere der des Mannes. Diese entwickelt sich vermutlich<br />
aus dem Zusammenwirken von Umwelte<strong>in</strong>flüssen, Ges<strong>und</strong>heitsverhalten, sozialen<br />
Faktoren <strong>und</strong> anderen Aspekten. Beispielsweise wurde beobachtet, dass die Spermienkonzentration<br />
1999 bei den unter 25-Jährigen um 23 % niedriger war als die der über<br />
45-Jährigen. Schließlich s<strong>in</strong>d 40–50 % aufgr<strong>und</strong> dessen k<strong>in</strong>derlos.<br />
Zu Typ 3 zählen hauptsächlich Akademiker<strong>in</strong>nen, da aufgr<strong>und</strong> ihres Bildungsgrades<br />
folgende Eigenschaften auf sie zutreffen: Die Familiengründung wird aufgeschoben, denn<br />
man ist sich über den passenden Zeitpunkt unschlüssig. Ferner haben Ausbildung bzw.<br />
Berufsetablierung zunächst Priorität.<br />
Zeitgleich werden stets Argumente für <strong>und</strong> gegen die Realisierung des K<strong>in</strong>derwunsches<br />
abgewogen. Das aussagekräftigste Pro-Argument ist die wirtschaftliche Funktion:<br />
Das K<strong>in</strong>d garantiert den Eltern im Alter die f<strong>in</strong>anzielle Versorgung. Diesem steht aber<br />
folgendes Argument gegenüber: Viele Akademiker<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Deutschland sehen e<strong>in</strong>en<br />
erheblichen Nachteil <strong>in</strong> den vom K<strong>in</strong>d verursachten f<strong>in</strong>anziellen E<strong>in</strong>bußen. Der Lebensstandart,<br />
den sie nach der Erwerbse<strong>in</strong>gliederung pflegen würden, könne mit e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d<br />
nur schwer gehalten werden.<br />
In Deutschland gew<strong>in</strong>nen diese negativen Aspekte zunehmend an Bedeutung. Daher<br />
besteht die Gefahr, dass sich Familien <strong>in</strong> Zukunft zu Randgesellschaften entwickeln, die<br />
von den K<strong>in</strong>derlosen ausgeschlossen <strong>und</strong> diskrim<strong>in</strong>iert werden. Man spricht von e<strong>in</strong>er<br />
Polarisierung. Auch die Wirtschaft wird sich folglich auf die tendenziell überwiegend<br />
K<strong>in</strong>derlosen e<strong>in</strong>richten. Ob es sich überhaupt noch lohnt, e<strong>in</strong>e Familie im zukünftigen<br />
fortpflanzungsmüden Deutschland zu gründen, ersche<strong>in</strong>t daher eher fraglich.<br />
91
4 Zwischen Wunsch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
4.18 Literaturverzeichnis<br />
[1] B<strong>und</strong>esm<strong>in</strong>isterium für Familie, Senioren, Frauen <strong>und</strong> Jugend: Familienreport 2010.<br />
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Personality: An International Journal Vol. 1 1970, 103–28.<br />
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Großbritannien, 2008.<br />
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Werneck-Rohrer, Sonja: Psychologie der Scheidung <strong>und</strong> Trennung: Theoretische Modelle,<br />
empirische Bef<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Implikationen für die Praxis. Wien 2001, 38–46.<br />
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marital outcomes. New York 1994.<br />
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Dieter; Irle, Mart<strong>in</strong>: Theorien der Sozialpsychologie, Band 2: Gruppen-, Interaktions- <strong>und</strong><br />
Lerntheorien. Bern 2002, 156–177.<br />
[9] Hejj, Andreas: Traumpartner. Evolutionspsychologische Aspekte der Partnerwahl. Berl<strong>in</strong><br />
1996.<br />
[10] Jungbauer, Johannes: Familienpsychologie kompakt. We<strong>in</strong>heim 2009.<br />
[11] Kaiser, Andrea; Hahlweg, Karl: Kommunikations- <strong>und</strong> Problemlösetra<strong>in</strong><strong>in</strong>g. In: Margraf,<br />
Jürgen: Lehrbuch Verhaltenstherapie. Band I: Gr<strong>und</strong>lagen – Diagnostik – Verfahren –<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen. Berl<strong>in</strong> 1996, 598–610.<br />
[12] Karney, Benjam<strong>in</strong> R.; Bradbury, Thomas N.: The longitud<strong>in</strong>al course of marital quality<br />
and stability: a review of theory, method, and research. In: Psychological Bullet<strong>in</strong> Vol. 118<br />
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[13] Kümmerl<strong>in</strong>g, Angelika; Hassebrauck, Manfred: Schöner Mann <strong>und</strong> reiche Frau In:<br />
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[14] Mitchell, Kelly A.; Neimeyer, Robert A.Q.: Similarity and attraction. A longitud<strong>in</strong>al<br />
study. In: Journal of Social and Personal Relationships Vol. 5 No.2 1988, 131–148.<br />
[15] Montada, Leo: Fragen, Konzepte, Perspektiven. In: Oerter, Rolf; Montada, Leo:<br />
Entwicklungspsychologie. We<strong>in</strong>heim 2008, 3–48.<br />
92
4.18 Literaturverzeichnis<br />
[16] Nave-Herz, Rosemarie: Ehe- <strong>und</strong> Familiensoziologie. München 2004.<br />
[17] Oerter, Rolf: Kultur, Ökologie <strong>und</strong> Entwicklung. In: Oerter, Rolf; Montada, Leo:<br />
Entwicklungspsychologie. E<strong>in</strong> Lehrbuch. We<strong>in</strong>heim 1995, 84–127.<br />
[18] Schneew<strong>in</strong>d, Klaus A.: Familienpsychologie. Stuttgart 2010.<br />
[19] Sulloway, Frank J.: Der Rebell der Familie. Geschwisterrevalität, kreatives Denken <strong>und</strong><br />
Geschichte. München 1999.<br />
[20] Thurmaier, Franz; Engl, Joachim et al.: Eheglück auf Dauer Methodik, Inhalte <strong>und</strong><br />
Effektivität e<strong>in</strong>es präventiven Paarkommunikationstra<strong>in</strong><strong>in</strong>gs – Ergebnisse nach fünf Jahren.<br />
In: Zeitschrift für Kl<strong>in</strong>ische Psychologie Nr. 28(1) 1998, 54–62.<br />
[21] Tramitz, Christiane: Die Annäherung - der Erstkontakt zwischen Mann <strong>und</strong> Frau. In:<br />
Kaiser, Peter: Partnerschaft <strong>und</strong> Paartherapie. Gött<strong>in</strong>gen 2000, 33–52.<br />
[22] Werneck, Harald; Werneck-Rohrer, Sonja: Psychologie der Familie. Wien 2000.<br />
[23] www.lexol<strong>in</strong>o.de/c,,loriot<br />
Loriot.<br />
[24] http://othes.univie.ac.at/1014/1/2008-09-04_9412320.pdf<br />
Parfuss; Barbara: Die Funktion des Humors <strong>in</strong> der TV-Serie Gilmore girls aus medienpädagogischer<br />
Perspektive, 2008.<br />
[25] http://www.bpb.de/files/5FT3I0.pdf<br />
Statistisches B<strong>und</strong>esamt: Statistik zu »Lebensformen«, Wiesbaden 2008.<br />
[26] www.social-psychology.de/sp/konzepte/humor<br />
Wieser, Daniela: Humor, 2008.<br />
93
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
5.1 Vorwort<br />
Carol<strong>in</strong> Faustmann <strong>und</strong> Angelika Rüger<br />
Die Ereignisse r<strong>und</strong> um den »Arabischen Frühl<strong>in</strong>g« haben e<strong>in</strong>mal mehr verdeutlicht,<br />
dass sich Menschen r<strong>und</strong> um den Globus letztlich die gleichen D<strong>in</strong>ge Wünschen: Frieden,<br />
Freiheit, Sicherung der eigenen Existenz <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en gewissen Grad an Wohlstand. Ob<br />
<strong>und</strong> wie diese Ziele aber für alle Menschen gleichermaßen erreicht werden können, ist<br />
seit jeher kontrovers diskutiert worden. Vor allem Schriftsteller haben sich <strong>in</strong> diesen<br />
Diskurs vielfältig e<strong>in</strong>gebracht. Deshalb haben wir <strong>in</strong> unserem Kurs die verschiedenen<br />
Ideale großer Autoren anhand von ausgewählten Textauszügen besprochen. Neben<br />
e<strong>in</strong>em Überblick zentraler Werke der Weltliteratur sollte der Kurs dabei vor allem e<strong>in</strong>e<br />
Übersicht wichtiger Positionen der <strong>in</strong>ner- <strong>und</strong> außereuropäischen Geistesgeschichte<br />
liefern.<br />
Hierfür wurde der Kurs <strong>in</strong> sieben größere Themenblocks e<strong>in</strong>geteilt, die jeweils aus<br />
zwei konträren Schriftstellerpositionen bestanden. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Textarbeit bildete dann<br />
die Gr<strong>und</strong>lage für die praktische Erprobung der vorgestellten Positionen. Beim ersten<br />
Themenblock – totaler Pazifismus oder gerechter Krieg – kamen journalistische Arbeitsprozesse<br />
zum E<strong>in</strong>satz, die <strong>in</strong> der Abschlussdiskussion über e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>satz der NATO<br />
im Libyen-Krieg mündeten. Der Themenblock existentialistische <strong>und</strong> anarchistische Liebe<br />
wurde mit dem kreativen Schreibauftrag abgeschlossen, sich e<strong>in</strong>e Welt vorzustellen,<br />
<strong>in</strong> der alle Menschen diese Art der Liebe bed<strong>in</strong>gungslos ausleben. In e<strong>in</strong>er ausführlichen<br />
Debattierr<strong>und</strong>e wurden die Konzepte e<strong>in</strong>er schnellen, gewaltsamen Revolution <strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>er langsamen Reform durch Bildung e<strong>in</strong>ander gegenübergestellt. Um zu entscheiden,<br />
ob e<strong>in</strong> idealer Staat eher e<strong>in</strong>e Leistungsgesellschaft oder e<strong>in</strong>e Absicherung aller Bürger<br />
forcieren sollte, stellten wir parlamentarische Prozesse <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er UNO-Simulation<br />
nach. Ob Diktatur oder Demokratie gerechter s<strong>in</strong>d, wurde <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Konstruktiven<br />
Kontroverse diskutiert. Mit den Vor- <strong>und</strong> Nachteilen von Individualismus bzw. Kollektivismus<br />
setzten wir uns <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Improvisationstheaters ause<strong>in</strong>ander, bei dem<br />
wir e<strong>in</strong>en Gerichtsprozess über Revolutionäre nachspielten, die für ihre Ideen über die<br />
Leichen E<strong>in</strong>zelner zum Wohl des Kollektivs gegangen waren. Den Abschluss bildete e<strong>in</strong>e<br />
Zukunftswerkstatt, die sich mit den Konzepten Kapitalismus, Kommunismus, Selbstverwirklichung<br />
<strong>und</strong> Humanismus ause<strong>in</strong>andersetzte. Diese vielfältigen Möglichkeiten<br />
der Diskussion <strong>und</strong> Textverarbeitung sollten den Teilnehmern die Konsequenzen sowie<br />
die Pro- <strong>und</strong> Kontra-Argumente sämtlicher Positionen verdeutlichen. Ziel war es, ihnen<br />
e<strong>in</strong>en f<strong>und</strong>ierten persönlichen Standpunkt gegenüber dem jeweiligen Ideal <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Umsetzbarkeit zu ermöglichen. Ergebnis dieser Vorarbeiten s<strong>in</strong>d die folgenden Dokumentationstexte,<br />
bei denen die Teilnehmenden sich jeweils auf e<strong>in</strong> im Kurs besprochenes<br />
Ideal konzentriert haben. Sie stellen alle Positionen kurz vor, führen die ihrer Me<strong>in</strong>ung<br />
nach wichtigsten Pro- <strong>und</strong> Kontra-Argumente für ihre Realisierung anhand von aktu-<br />
95
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
ellen oder historischen Beispielen aus <strong>und</strong> präsentieren uns am Ende ihre persönliche<br />
Stellungnahme zur Umsetzbarkeit des jeweiligen Ideals.<br />
5.2 Pazifismus<br />
»Für Pazifisten waren Fe<strong>in</strong>de oft nur Projektionen, Vorwände [. . . ]. Doch heute gilt: Es<br />
gibt nicht nur e<strong>in</strong>gebildete Fe<strong>in</strong>dbilder, es gibt auch wirkliche Fe<strong>in</strong>de, Fe<strong>in</strong>de, die nicht<br />
<strong>in</strong> den Kategorien zwischenstaatlicher Konflikte zu fassen s<strong>in</strong>d« (Vollmer 2002: 22).<br />
Im Jahr 2002 eröffnete Staatsm<strong>in</strong>ister <strong>und</strong> Grünen-Mitglied Ludger Vollmer e<strong>in</strong>e<br />
Debatte zu Deutschlands Rolle im Afghanistan-Konflikt, die letztlich zu e<strong>in</strong>er Diskussion<br />
über vorbildliches Verhalten <strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationalen Angelegenheiten wurde. Zu welcher<br />
Haltung ist man also verpflichtet, wenn sich die weltweite Staatengeme<strong>in</strong>schaft zu e<strong>in</strong>er<br />
Mission gegen den Terror entschließt<br />
Der Begriff des Pazifismus wurde erstmals von Émile Arnaud 1901 genutzt <strong>und</strong><br />
der Bewegung für e<strong>in</strong>e friedliche, gewaltlose Lösung zwischenstaatlicher Konflikte<br />
zugeordnet (vgl. Groschopp 2011). Pazifistische Ansichten gab es allerd<strong>in</strong>gs bereits zu<br />
Zeiten des Humanismus unter dem Theologen Erasmus von Rotterdam, der sich um<br />
e<strong>in</strong>e Vermittlung im Streit zwischen Luther <strong>und</strong> der katholischen Kirche bemühte. Für<br />
ihn bedeutete Pazifismus, auf e<strong>in</strong>e Stellungnahme zugunsten e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Partei unter<br />
allen Umständen zu verzichten <strong>und</strong> physische Gewaltlosigkeit zu praktizieren. Heutige<br />
Pazifisten müssen sich aber mit den veränderten Gegebenheiten e<strong>in</strong>er globalisierten<br />
Welt ause<strong>in</strong>andersetzen. Tatsache ist, dass Umschwünge <strong>und</strong> Ereignisse sich nun nicht<br />
mehr auf e<strong>in</strong>zelne Staaten beziehen, sondern alle betreffen. Globalisierung macht die<br />
Probleme anderer zu unseren eigenen. E<strong>in</strong>ige plädieren deshalb wie Vollmer für den<br />
E<strong>in</strong>satz von Gewalt als Ultima Ratio: »E<strong>in</strong> Pazifismus, der als politische Kraft ernst<br />
genommen werden will, darf nicht die Realitäten verdrängen, um e<strong>in</strong> Weltbild zu retten.<br />
Er darf nicht nur die anderen kritisieren, er muss selbst Antworten geben« (Vollmer 2002:<br />
24). Doch alle<strong>in</strong> der <strong>Gesellschaft</strong>swandel im Zuge der Globalisierung rechtfertigt nicht<br />
den von Vollmer propagierten Militäre<strong>in</strong>satz. Möglicherweise war es früher wirklich<br />
e<strong>in</strong>facher, e<strong>in</strong>e Position außerhalb e<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung zu beziehen, weil diese<br />
Entscheidung nicht gleichzeitig den Kurs aller bestimmt hat. Verbale Me<strong>in</strong>ungsäußerung –<br />
wie von Pazifisten heutzutage vertreten – kann dennoch nicht als Tatenlosigkeit ausgelegt<br />
werden. Die Konsequenzen gewaltsamer E<strong>in</strong>sätze stehen im Vornhere<strong>in</strong> nie e<strong>in</strong>deutig fest.<br />
Deshalb kann auch nicht genau def<strong>in</strong>iert werden, wann es angebracht ist, pazifistische<br />
Werte zugunsten e<strong>in</strong>er »gerechteren Sache« zurückzustellen.<br />
E<strong>in</strong> Kompromiss-Pazifismus existiert demnach nicht. Die Kernidee ist schließlich das<br />
friedliche Mite<strong>in</strong>ander <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e gewaltlose Konfliktlösung. Sicherlich hat dieses Ideal<br />
se<strong>in</strong>e Schwächen wie jedes andere auch <strong>und</strong> ist schwieriger <strong>in</strong> der Praxis umzusetzen, als<br />
<strong>in</strong> der Theorie aufzustellen. Aber e<strong>in</strong>e so extreme Erweiterung der gr<strong>und</strong>legenden Idee,<br />
wie von Vollmer vorgeschlagen, als Antwort auf das radikale Verhalten e<strong>in</strong>er islamischen<br />
M<strong>in</strong>derheit zu propagieren, führt uns nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zeitalter neuer Fe<strong>in</strong>de, sondern <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>es ohne Wertvorstellungen <strong>und</strong> Pr<strong>in</strong>zipien, ohne Recht <strong>und</strong> Gesetz, jenseits von Gut<br />
<strong>und</strong> Böse.<br />
96
5.3 Gerechter Krieg<br />
5.3 Gerechter Krieg<br />
»Viel mehr aber als das Heil e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Menschen ist das Heil des Geme<strong>in</strong>wesens zu<br />
wahren, denn dadurch wird die Tötung sehr vieler Menschen verh<strong>in</strong>dert« (Aqu<strong>in</strong> 2001:<br />
93). Mit diesen Worten zeigt Thomas von Aqu<strong>in</strong>, dass er trotz se<strong>in</strong>er christlichen Ideale<br />
davon überzeugt war, dass es zum Wohle aller manchmal nötig se<strong>in</strong> kann, gewaltsam<br />
gegen e<strong>in</strong>en Angreifer vorzugehen, um unschuldige Zivilisten zu schützen. Ich will<br />
im Folgenden auf die Frage e<strong>in</strong>gehen, ob e<strong>in</strong>e kriegerische Ause<strong>in</strong>andersetzung <strong>in</strong><br />
Ausnahmefällen gerechtfertigt se<strong>in</strong> kann.<br />
Radikaler Pazifismus ist für mich alle<strong>in</strong> schon deswegen e<strong>in</strong> utopisches Ideal, weil er<br />
jeden Staat zum Spielball all jener radikalen <strong>Gesellschaft</strong>smitglieder machen würde, die<br />
die Macht auch gewaltsam <strong>und</strong> gegen den Willen der Mehrheit übernehmen würden. Wie<br />
anfällig e<strong>in</strong>e Regierung ist, die bewaffnete Gegenwehr gegen <strong>in</strong>nere Umsturzversuche per<br />
se ablehnt, zeigte sich etwa 1922 <strong>in</strong> Italien. Dort konnten die Faschisten unter Mussol<strong>in</strong>i<br />
an die Macht gelangen, obwohl sie nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, aber kampfbereite M<strong>in</strong>derheit<br />
darstellten. Die legitim gewählte Staatsgewalt lehnte den E<strong>in</strong>satz von Waffen gegen<br />
ihre eigenen Bürger an sich ab <strong>und</strong> fürchtete den Ausbruch e<strong>in</strong>es Bürgerkrieges. Dieses<br />
Verhalten bedeutete jedoch das Ende der Demokratie <strong>in</strong> Italien <strong>und</strong> brachte e<strong>in</strong>en<br />
faschistischen Despoten an die Macht. Dessen Beteiligung im Zweiten Weltkrieg hat<br />
sicherlich mehr unschuldigen Zivilisten das Leben gekostet, als e<strong>in</strong> entschlossenes<br />
E<strong>in</strong>greifen des italienischen Militärs zur Folge gehabt hätte. Eben aus diesem Gr<strong>und</strong><br />
fordert sogar Artikel 20 des Gr<strong>und</strong>gesetztes zur Not auch gewaltsamen Widerstand gegen<br />
jeden Versuch, unsere Demokratie zu untergraben: »Gegen jeden, der es unternimmt,<br />
diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn<br />
andere Abhilfe nicht möglich ist« (GG Art. 20).<br />
Natürlich darf jede Form der Gewaltanwendung immer nur das letzte Mittel zur<br />
Verteidigung se<strong>in</strong>, aber sie muss eben auch im Bereich des Möglichen liegen. Me<strong>in</strong>er<br />
Me<strong>in</strong>ung nach ist Krieg immer dann unerlässlich, wenn das eigene Volk <strong>und</strong> die eigenen<br />
Ideale gegen e<strong>in</strong>en Angreifer verteidigt werden müssen. Das jus ad bellum, also das<br />
Recht zum Kriegse<strong>in</strong>tritt, steht demnach jedem zu, dessen friedliches <strong>Gesellschaft</strong>ssystem<br />
durch e<strong>in</strong>e zweite Partei bedroht ist (vgl. Lutz 2011). Noch schwieriger zu beantworten<br />
ist aber die Frage, ob Krieg auch dann geführt werden darf, wenn damit nicht die<br />
eigene Bevölkerung verteidigt, sondern e<strong>in</strong>e andere bei ihrem Streben nach Freiheit<br />
unterstützt werden soll. Me<strong>in</strong>es Erachtens nach kann auch hier e<strong>in</strong> Militäre<strong>in</strong>satz die<br />
letzte Möglichkeit zur Verteidigung Unschuldiger darstellen. Bittet e<strong>in</strong>e nach Demokratie<br />
strebende Opposition gegen e<strong>in</strong>e Diktatur e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich um Hilfe – wie im Falle Libyens –<br />
sollte ihr diese me<strong>in</strong>er Ansicht nach nicht verwehrt werden. Den E<strong>in</strong>satz von Gewalt<br />
<strong>in</strong> solchen Ausnahmefällen völlig abzulehnen, würde den Diktatoren dieser Welt für<br />
immer ihre Position sichern, weil Revolutionäre <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er globalisierten Welt ohne fremde<br />
Hilfe ke<strong>in</strong>e Chance gegen hochtechnisierte Söldnerheere hätten.<br />
97
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
5.4 Liebe – existenzialistische Sicht<br />
»L’éxistence précède l’essence.« (Sartre 1999: 54) Dieser berühmte Ausspruch des Philosophen<br />
Jean-Paul Sartre beschreibt das Wesen der philosophischen Strömung des<br />
Existenzialismus. Sie stellt den Menschen als Person mit se<strong>in</strong>en moralischen Vorstellungen<br />
<strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong>. Als vielleicht wichtigster Vertreter<br />
des Existentialismus gilt der französische Philosoph Albert Camus. Er glaubt, dass<br />
das menschliche Dase<strong>in</strong> absurd ist. Der Mensch strebt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben so Vieles an,<br />
aber er kann nichts daran ändern, dass er am Ende stirbt <strong>und</strong> dass se<strong>in</strong>e Existenz nur<br />
wenig E<strong>in</strong>fluss auf die Welt als Ganzes ausübt. Verfängt man sich zu sehr <strong>in</strong> diesen<br />
Theorien, so kann man daran nur zerbrechen. So warnt Albert Camus vor e<strong>in</strong>er zu<br />
großen Kopflastigkeit.<br />
Als weiteren Vertreter dieser Me<strong>in</strong>ung möchte ich Dostojewskij nennen, der im Nachwort<br />
von »Schuld <strong>und</strong> Sühne« schreibt: »Der Mensch kann nicht alle<strong>in</strong> von den Kräften<br />
des Verstandes leben, er braucht auch e<strong>in</strong>e Beziehung zu den tieferen, naturhaften<br />
Schichten des Se<strong>in</strong>s« (Dostojewskij 1977: 765). Beide glauben deshalb, dass jeder Mensch<br />
e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellen S<strong>in</strong>n des Lebens f<strong>in</strong>den muss, der die Realität für ihn wertvoll <strong>und</strong><br />
wirklich macht, um so gegen dessen Absurdität zu revoltieren. Im Folgenden möchte<br />
ich Dostojewskis Vorschlag für e<strong>in</strong>en möglichen S<strong>in</strong>n des Lebens untersuchen.<br />
Dies werde ich anhand se<strong>in</strong>es Romans »Schuld <strong>und</strong> Sühne« überprüfen, dessen Hauptfigur<br />
der verarmte Student Rodion Raskolnikow ist. Dieser ist von der Idee besessen,<br />
dass es dem großen Menschen erlaubt ist, se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach lebensunwertes Leben<br />
zu vernichten, um lebenswertes zu erhalten. Er steigert se<strong>in</strong>e Theorie bis zur grausamen<br />
Tat <strong>und</strong> begeht e<strong>in</strong>en Doppelmord an e<strong>in</strong>er alten Geldleiher<strong>in</strong> <strong>und</strong> deren Schwester.<br />
Doch se<strong>in</strong>e Psyche verkraftet die Tat nicht. Im R<strong>in</strong>gen um se<strong>in</strong>e Überzeugungen zieht er<br />
sich körperlich <strong>und</strong> geistig immer mehr aus der Realität zurück. Er entfremdet sich vom<br />
Leben, bis die Liebe zur Prostituierten Sonja für ihn zu e<strong>in</strong>em neuen Lebenss<strong>in</strong>n wird.<br />
Dostojewskij will zeigen, dass Ideen, die <strong>in</strong> der Vorstellung gut <strong>und</strong> richtig ersche<strong>in</strong>en,<br />
oft mit der realen Welt <strong>und</strong> den realen Menschen nicht vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d. Im Kurs haben<br />
wir diesen Gr<strong>und</strong>satz aber nicht nur anhand von Raskolnikows elitärem Utilitarismus,<br />
sondern auch anhand von Dostojewskis existentialistischer Lösung überprüft. So haben<br />
wir uns im Rahmen e<strong>in</strong>er kreativen Arbeit mit der Frage beschäftigt, wie e<strong>in</strong>e Welt<br />
aussähe, <strong>in</strong> der jeder Mensch die Liebe <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e geliebte Person zu se<strong>in</strong>er obersten<br />
Handlungsmaxime machen würde. Wir s<strong>in</strong>d zu dem Ergebnis gekommen, dass es zum<br />
e<strong>in</strong>en kaum möglich ist, sich mit e<strong>in</strong>em realistischen Menschen- <strong>und</strong> Weltbild e<strong>in</strong>e solche<br />
<strong>Gesellschaft</strong> auszumalen. Zum anderen wäre diese ke<strong>in</strong>esfalls erstrebenswert, denn<br />
es gäbe ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Maxime <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n des Lebens. Ich b<strong>in</strong><br />
deshalb der Me<strong>in</strong>ung, dass e<strong>in</strong> Mensch scheitern muss, der versucht, se<strong>in</strong>e Ideale <strong>in</strong><br />
ihrer Extremform komplett umzusetzen. Nur wer sich se<strong>in</strong>er Ideale voll bewusst ist <strong>und</strong><br />
sie eben deshalb ständig mit der Realität abgleicht <strong>und</strong> ihre Umsetzbarkeit prüft, kann<br />
sie als s<strong>in</strong>nvolle Richtschnur für se<strong>in</strong> Leben e<strong>in</strong>setzen. Dostojewskijs Existentialismus<br />
hat deshalb viele positive Aspekte, darf aber nie verabsolutiert werden. Stattdessen soll<br />
er wie alle Ideale helfen, die imperfekte Realität nicht e<strong>in</strong>fach h<strong>in</strong>zunehmen, sondern<br />
98
5.5 Liebe – anarchistische Sicht<br />
immer weiter dem Ideal anzugleichen. »Das Absurde hat nur <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n, als<br />
man sich nicht mit ihm abf<strong>in</strong>det« (Camus 2000: 87).<br />
5.5 Liebe – anarchistische Sicht<br />
Die katastrophalen Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen während der Industrialisierung bewogen viele<br />
Arbeiter zum Widerstand. Es blieb aber entweder bei e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>neren Widerstand oder<br />
bei e<strong>in</strong>er anderen Widerstandsform, die nicht von ausreichender Dauer war, um die<br />
Situation zu verbessern. Generell kann man <strong>in</strong> der Menschheitsgeschichte beobachten,<br />
dass viele vor der seltenen Möglichkeit, tatsächlich etwas zu verändern, letzten Endes<br />
zurückschrecken. Die Sorge um das eigene Leben oder das e<strong>in</strong>es geliebten Menschen<br />
h<strong>in</strong>dert uns oft daran, sich für e<strong>in</strong> höheres Ziel zu gefährden. Daher stellt sich für mich im<br />
Folgenden die Frage, ob e<strong>in</strong> Leben unter Verzicht auf emotionale B<strong>in</strong>dungen glücklicher<br />
se<strong>in</strong> könnte als e<strong>in</strong> durch <strong>in</strong>dividuelle Liebe <strong>und</strong> zwischenmenschliche Beziehungen<br />
geprägtes Leben.<br />
Der Anarchist Suwar<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e markante Figur <strong>in</strong> Emile Zolas »Germ<strong>in</strong>al«, bezieht<br />
dazu klar Stellung: »Wenn e<strong>in</strong> Mann e<strong>in</strong> Weib im Herzen hatte, dann war dieser Mann<br />
verloren [. . . ]« (Zola 2006: 689). Anarchie bezeichnet die Ideologie e<strong>in</strong>er <strong>Gesellschaft</strong><br />
ohne Staatsgewalt (vgl. Halder 2008: 73). E<strong>in</strong> Anarchist wie Suwar<strong>in</strong> begreift die Liebe<br />
im Extremfall als e<strong>in</strong>e der Staatsgewalt ähnliche Autorität <strong>und</strong> lehnt sie daher ab. Das<br />
Leben des E<strong>in</strong>zelnen besitzt für ihn ke<strong>in</strong>en Wert <strong>und</strong> kann für e<strong>in</strong>en höheren Zweck<br />
geopfert werden.<br />
E<strong>in</strong>e solche Haltung kann sowohl für den E<strong>in</strong>zelnen als auch für alle durchaus vorteilhaft<br />
se<strong>in</strong>. Wenn der Mensch sich von jeglicher emotionaler Geb<strong>und</strong>enheit losgelöst<br />
hat, kann die maximale Freiheit des Individuums erreicht werden. Der emotional ungeb<strong>und</strong>ene<br />
Mensch ist nicht erpressbar <strong>und</strong> da ke<strong>in</strong>e Menschen präferiert werden, besteht<br />
auch ke<strong>in</strong>e Ungerechtigkeit. Wer auf die Liebe verzichtet, erspart sich daher viel Leid.<br />
Deshalb versucht Suwar<strong>in</strong>, nach anarchistischem Ideal zu leben. Die e<strong>in</strong>zigen Emotionen,<br />
die er se<strong>in</strong>en Mitmenschen entgegen br<strong>in</strong>gt, s<strong>in</strong>d Verachtung <strong>und</strong> daraus resultierende<br />
Wut. Er lebt »<strong>in</strong> stoischer Abgeschiedenheit« <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>t absolut »unempf<strong>in</strong>dlich« zu<br />
se<strong>in</strong> (Zola 2006: 453).<br />
Doch trotz se<strong>in</strong>er Überzeugungen tritt selbst bei Suwar<strong>in</strong> das Bedürfnis nach sozialen<br />
Kontakten auf. Der Kontrast zwischen se<strong>in</strong>er aggressiven Wut <strong>und</strong> dem Wunsch nach<br />
emotionaler Nähe sprechen dafür, dass Suwar<strong>in</strong> große <strong>in</strong>nere Widerstände überw<strong>in</strong>den<br />
muss, um enge Beziehungen zu vermeiden. Er sche<strong>in</strong>t zwischen se<strong>in</strong>er ideologischen<br />
Überzeugung <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en natürlichen Bedürfnissen h<strong>in</strong>- <strong>und</strong> hergerissen zu se<strong>in</strong>. Daher<br />
ist es fraglich, ob e<strong>in</strong> Mensch überhaupt dazu <strong>in</strong> der Lage ist, auf positive Empf<strong>in</strong>dungen<br />
gegenüber anderen Menschen zu verzichten.<br />
Würde man das von Suwar<strong>in</strong> propagierte Verhalten des E<strong>in</strong>zelnen auf e<strong>in</strong>e ganze<br />
<strong>Gesellschaft</strong> übertragen, ergäbe sich me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong> sehr lebloses <strong>und</strong> unmenschliches<br />
Bild. Denn wer auf die Liebe verzichtet, erspart sich nicht nur Leid, sondern<br />
auch viel Freude. Daher denke ich, dass Suwar<strong>in</strong>s Ideal nicht befolgt werden kann <strong>und</strong><br />
soll, auch wenn durchaus positive Aspekte <strong>in</strong> den Ansätzen der Position zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d.<br />
99
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
5.6 Schnelle Revolutionen<br />
Der Aufstand <strong>in</strong> Libyen gegen den Machthaber Gaddafi hält seit Monaten an. Ziel ist<br />
der Umbruch politischer Verhältnisse <strong>und</strong> die Schaffung e<strong>in</strong>er Demokratie, aber der<br />
Zustand <strong>und</strong> die Organisation der Opposition s<strong>in</strong>d chaotisch. Die Auswirkungen für<br />
die libysche Bevölkerung s<strong>in</strong>d hart, weil Straßenkämpfe <strong>und</strong> Massenvergewaltigungen<br />
durch Gaddafi-Anhänger den Alltag dom<strong>in</strong>ieren. Wie bereits <strong>in</strong> anderen Revolutionen<br />
entwickelt sich die libysche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vom ursprünglichen Ziel abweichende Richtung. Dies<br />
wirft die Frage auf, ob wir e<strong>in</strong>en idealen Staat überhaupt durch schnelle, gewaltsame<br />
Revolutionen schaffen können.<br />
Als e<strong>in</strong>en solchen idealen Staat möchte ich an dieser Stelle wie Platon e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>wesen<br />
def<strong>in</strong>ieren, das die Idee des Guten realisiert <strong>und</strong> die Bürger zu dieser erzieht (vgl.<br />
Arends 1988: 20). So sollte <strong>in</strong> eben diesem Staat e<strong>in</strong>e harmonische Ganzheit verwirklicht<br />
werden. Konkret würde dies für mich bedeuten, dass alle <strong>in</strong> Frieden, Freiheit <strong>und</strong><br />
sozialer Gerechtigkeit mite<strong>in</strong>ander leben. E<strong>in</strong>en Versuch, e<strong>in</strong>en solchen Staat zu schaffen,<br />
habe ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Kurs konkret am Beispiel der revolutionären Bewegungen des<br />
Vormärz kennengelernt. Diese Epoche war vom Konflikt restaurativer Machthaber<br />
<strong>und</strong> dem Streben von Studenten, Professoren <strong>und</strong> Literaten nach e<strong>in</strong>er Revolution<br />
geprägt. Die Determ<strong>in</strong>iertheit ihres politischen Systems <strong>und</strong> die Verzweiflung vor allem<br />
wegen der materiellen Ungerechtigkeit veranlasste Letztere zu Revolutionen. Diese<br />
Gegner absolutistischer Ordnungsmuster setzten sich vor allem für e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen<br />
deutschen Nationalstaat, soziale Gerechtigkeit, e<strong>in</strong>e demokratische Verfassung <strong>und</strong><br />
mehr Bürgerrechte e<strong>in</strong>. Dies manifestierte sich dann 1848 <strong>in</strong> der Märzrevolution, die<br />
letzten Endes aufgr<strong>und</strong> des gewaltsamen E<strong>in</strong>greifens preußischer Truppen scheiterte.<br />
Das französische Modell »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« (Knust 2009: 47)<br />
konnte sich somit nicht durchsetzen.<br />
Was die Märzrevolution <strong>in</strong> Deutschland <strong>und</strong> die libysche Revolution geme<strong>in</strong>sam<br />
haben, ist das Blutvergießen. Sie zeigen die fatalen Folgen der Unterdrückung von<br />
100
5.7 Langsame Reform durch Bildung<br />
Revolutionsgegnern <strong>und</strong> der Legitimation von Gewalt auf. Im deutschen Gr<strong>und</strong>gesetz<br />
ist festgehalten »Die Würde des Menschen ist unantastbar« (GG Art. 1,1). Doch <strong>in</strong> diesen<br />
beiden Revolutionen war <strong>und</strong> ist nicht e<strong>in</strong>mal der Schutz von unschuldigen Zivilisten<br />
gewährleistet. An positiven Konsequenzen hatte die Märzrevolution nur kurzfristige<br />
Veränderungen wie die Bildung von Märzkab<strong>in</strong>etten, bei der libyschen ist der Ausgang<br />
völlig ungewiss. Im Kurs habe ich zudem e<strong>in</strong>en Kurzüberblick über die wichtigsten<br />
zurückliegenden Revolutionen <strong>und</strong> Kolonialbefreiungskriege von Englands Glorious<br />
Revolution bis h<strong>in</strong> zum Algerienkrieg erhalten. Dabei b<strong>in</strong> ich zu dem Schluss gekommen,<br />
dass schnelle, gewaltsame Revolutionen am Ende e<strong>in</strong>e politische Radikalisierung im<br />
Vergleich zur Ausgangssituation zur Folge hatten, wobei das Pr<strong>in</strong>zip »Gewalt erzeugt<br />
Gegengewalt« (Suter 2004: 11) zum Tragen kommt. Me<strong>in</strong> Erklärungsansatz hierfür ist,<br />
dass das <strong>Gesellschaft</strong>ssystem sich durch den Menschen nur verändern kann, wenn der<br />
Mensch nicht derselbe bleibt. Er muss erst langsam durch Aufklärung <strong>und</strong> Bildung zur<br />
Demokratie befähigt werden, bevor er Diktaturen e<strong>in</strong> funktionsfähiges Alternativsystem<br />
entgegensetzen kann. Deshalb glaube ich nicht, dass ideale Staaten durch gewaltsame<br />
Revolutionen geschaffen werden können.<br />
5.7 Langsame Reform durch Bildung<br />
Zur Zeit der radikalen <strong>und</strong> gewaltsamen Revolutionenen <strong>in</strong> Frankreich im Jahr 1789<br />
vertrat Schiller mit se<strong>in</strong>em Text »Die Schaubühne als e<strong>in</strong>e moralische Anstalt betrachtet«<br />
e<strong>in</strong>e friedliche Gegenposition. Weil er e<strong>in</strong>e langsame Entwicklung der <strong>Gesellschaft</strong><br />
durch Bildung e<strong>in</strong>es jeden Menschen anstrebte, ist Schiller als Autor der Klassik zu<br />
identifizieren. Ich möchte im Folgenden diskutieren, ob der Weg von totalitaristischen<br />
Systemen h<strong>in</strong> zur Demokratie alle<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong>e langjährige Bildung der Bürger möglich<br />
ist.<br />
Hierfür will ich mich vor allem mit Schillers Untersuchungsgegenstand, der Französischen<br />
Revolution, ause<strong>in</strong>andersetzen. Sie war <strong>in</strong> ihren Gr<strong>und</strong>gedanken geprägt von Jean<br />
Jacques Rousseau, der den Menschen als e<strong>in</strong> freies, von Natur aus gutes <strong>und</strong> soziales<br />
Wesen def<strong>in</strong>ierte. Auch Schiller vertrat diese Ansicht, war jedoch über das gewaltsame<br />
Ende der Französischen Revolution entsetzt. Er glaubte, dass man für Menschenrechte<br />
nur dann glaubwürdig kämpfen kann, wenn man sie selbst nicht verletzt. Deshalb wollte<br />
er Gewalt vermeiden, <strong>in</strong>dem er an die Menschlichkeit appellierte <strong>und</strong> den menschlichen<br />
Charakter durch die Wirkung der Schaubühne veredelte. Se<strong>in</strong>er Ansicht nach lehrt das<br />
dort gezeigte klassische Drama gerechtes <strong>und</strong> moralisches Handeln. Gleichzeitig verspottet<br />
es menschliche Schwächen <strong>und</strong> bereitet auf Lebenssituationen <strong>und</strong> Schicksalsschläge<br />
durch ihre Vielfalt vor. Dabei bleibt es stets im Gleichgewicht zwischen Vergnügen <strong>und</strong><br />
Unterricht, sowie Ruhe <strong>und</strong> Anstrengung. Diese Wirkungen erzielt es, <strong>in</strong>dem sich der<br />
Zuschauer <strong>in</strong> die Rolle der Protagonisten h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzt, se<strong>in</strong>e Erfahrungen teilt <strong>und</strong><br />
se<strong>in</strong>e Entwicklungen mitmacht (vgl. Schiller 1998: 174).<br />
Schiller ist klar, dass das Volk nicht vollständig von den Theaterstücken der Schaubühne<br />
erreicht werden kann. Er will vielmehr die Führungsschicht e<strong>in</strong>es Staates durch die<br />
101
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
Menschlichkeit, die <strong>in</strong> der Schaubühne vorgespielt wird, aufklären. Ich halte aber e<strong>in</strong>e<br />
Bildung der Gesamtbevölkerung für e<strong>in</strong>e dauerhafte Veränderung der <strong>Gesellschaft</strong> für<br />
unerlässlich. Für Europas Bürger des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts war dies aber nicht realisierbar.<br />
Existenznöte <strong>und</strong> die Unterdrückung durch die Führungsschichten verschlossen gerade<br />
den unteren <strong>Gesellschaft</strong>sschichten jeglichen Zugang zu allen Bildungse<strong>in</strong>richtungen<br />
<strong>und</strong> machten e<strong>in</strong>e Aufklärung ihres Verstandes deshalb sehr schwer.<br />
Um sich e<strong>in</strong>en Zugang zu Bildungse<strong>in</strong>richtungen zu erkämpfen, wäre e<strong>in</strong>e aktive<br />
Bürgerbewegung notwendig gewesen. Dramen <strong>und</strong> die Schaubühne alle<strong>in</strong>e können<br />
die Welt me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach nicht verändern. Nur e<strong>in</strong>e friedliche Umwälzung der<br />
Verhältnisse kann allerd<strong>in</strong>gs garantieren, dass Revolutionen <strong>und</strong> Reformen mit Vernunft<br />
geleitet <strong>und</strong> durchgeführt werden. Wie Schiller will ich die grausame Eskalation der<br />
Französischen Revolution vermeiden. Schillers Bildungsmodell war <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zeit nicht<br />
realisierbar, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er globalisierten Welt mit den technologischen Kommunikationswegen<br />
des Internets ist e<strong>in</strong>e Aufklärung der unteren sozialen Schichten aber viel leichter<br />
möglich. Sie sche<strong>in</strong>t mir der e<strong>in</strong>zige Weg, die gesellschaftlichen Verhältnisse für die<br />
breite Masse der Weltbevölkerung nachhaltig zum Positiven zu verändern.<br />
5.8 Naturalismus – Sozialstaat<br />
Seit mehr als sechzig Jahren herrscht <strong>in</strong> Westeuropa Frieden. Gr<strong>und</strong>voraussetzung für<br />
e<strong>in</strong>e kooperative, europäische Außenpolitik waren vor allem stabile <strong>in</strong>nenpolitische<br />
Verhältnisse, die mit Hilfe der demokratischen Organisation der europäischen Staaten<br />
realisiert werden konnten. Langfristig gesichert werden kann allerd<strong>in</strong>gs auch die Demokratie<br />
nur, wenn der soziale Zusammenhalt <strong>in</strong>nerhalb der <strong>Gesellschaft</strong> gewährleistet ist.<br />
Wie wichtig deshalb e<strong>in</strong>e soziale Absicherung gerade der unteren Bevölkerungsschichten<br />
ist, erkannten bereits am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die Naturalisten. In ihren Werken<br />
setzten sie sich für das verarmte Proletariat e<strong>in</strong> <strong>und</strong> machten auf dessen menschenunwürdige<br />
Lebensumstände aufmerksam. Im Folgenden soll die Entwicklung von den<br />
naturalistischen Vorstellungen h<strong>in</strong> zu unserem heutigen Sozialstaat untersucht werden.<br />
Im Zuge der Industrialisierung <strong>und</strong> der damit e<strong>in</strong>hergehenden Verstädterung kam es<br />
zur Proletarisierung breiter Schichten der <strong>Gesellschaft</strong>. Die sozialen Verhältnisse waren<br />
so desolat, dass für breite Bevölkerungsschichten ke<strong>in</strong>e menschenwürdige Existenz gesichert<br />
werden konnte. Während auf der e<strong>in</strong>en Seite die Unternehmer <strong>und</strong> das Bürgertum<br />
immer mehr von der kapitalistischen <strong>Gesellschaft</strong>sform profitierten <strong>und</strong> enorme Gew<strong>in</strong>ne<br />
abschöpften, blieb für die Arbeiter nur e<strong>in</strong> Bruchteil des erwirtschafteten Geldes<br />
übrig. Diese Ungerechtigkeit war für viele nicht tragbar <strong>und</strong> somit entstanden schnell<br />
viele kritische Schriften.<br />
Neben führenden Intellektuellen wie Marx <strong>und</strong> Engels, die komplett neue politische<br />
Theorien vom gesellschaftlichen Zusammenleben entwickelten, versuchten auch die<br />
naturalistischen Literaten die soziale Benachteiligung des Proletariats offen zu legen. Ihr<br />
leitendes Pr<strong>in</strong>zip war e<strong>in</strong>e möglichst naturgetreue Darstellung der Wirklichkeit. Der Naturalist<br />
Arno Holz führte dies <strong>in</strong> Form folgender Gleichung aus: »Kunst = Natur - x« (vgl.<br />
Fricke 2009: 35). Konkret hatte dieser Anspruch naturalistischer Literatur ausführliche<br />
102
5.9 Realismus – Leistungsgesellschaft<br />
Regieanweisungen, milieugeb<strong>und</strong>ene Dialekte sowie determ<strong>in</strong>ierte Verhaltensweisen zur<br />
Folge (vgl. Meyer 1973: 17). Inhaltlich fordern naturalistische Werke e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft,<br />
die für die Verlierer des wirtschaftlichen Prozesses sorgt <strong>und</strong> ihre soziale Sicherheit<br />
garantiert. Die so angesprochenen Probleme s<strong>in</strong>d auch heute noch aktuell. Damals wie<br />
heute produziert die wirtschaftliche Konkurrenz unseres kapitalistischen Systems nicht<br />
nur Gew<strong>in</strong>ner, sondern stets auch Verlierer.<br />
Deshalb verfolgt unser heutiger Sozialstaat die Maximen des Naturalismus. Natürlich<br />
wurden Sozialversicherungen während der Kaiserzeit ursprünglich aus machtpolitischen<br />
Erwägungen des totalitären Systems heraus geboren. Diese wichtige Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong>legung<br />
des modernen Sozialsystems <strong>in</strong> Deutschland haben aber auch <strong>und</strong> vor allem die Naturalisten<br />
mit ihren Ideen vom sozialen Ausgleich <strong>in</strong>sgesamt ideengeschichtlich vorbereitet.<br />
Die <strong>Gesellschaft</strong> wurde durch sie für die Probleme der Unterschicht sensibilisiert <strong>und</strong> es<br />
konnte e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> für soziale Verantwortung des Staates geschaffen werden, das<br />
bis <strong>in</strong> unsere heutige Zeit reicht.<br />
5.9 Realismus – Leistungsgesellschaft<br />
»Schneller-höher-weiter.« Oft werden alle von uns im alltäglichen Leben mit dieser Devise<br />
konfrontiert. Ob <strong>in</strong> der Schule, im Studium oder im Beruf – immer wieder treffen wir<br />
auf e<strong>in</strong>e sehr leistungsorientierte <strong>Gesellschaft</strong>. Es ist also nicht überraschend, dass viele<br />
Menschen der Me<strong>in</strong>ung s<strong>in</strong>d, dass diejenigen, die viel leisten, auch viel Kompensation<br />
dafür verdient haben. Doch wie lässt sich e<strong>in</strong> solcher Gedanke mit unseren Vorstellungen<br />
von Gleichberechtigung <strong>und</strong> Menschlichkeit vere<strong>in</strong>baren Ist es möglich, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Staat<br />
die Balance zwischen Leistungsgesellschaft <strong>und</strong> sozialer Gleichstellung zu f<strong>in</strong>den<br />
Der Gr<strong>und</strong>gedanke e<strong>in</strong>er Leistungsgesellschaft basiert darauf, dass jedem Menschen<br />
nach se<strong>in</strong>en Fähigkeiten Geld, Macht <strong>und</strong> E<strong>in</strong>fluss zugeteilt werden (vgl. Smith 2009: 35).<br />
Ethnische <strong>und</strong> soziale Herkunft spielen folglich ke<strong>in</strong>e Rolle. Doch diese Theorie birgt<br />
e<strong>in</strong>ige Probleme. Zunächst drängt sich die Frage auf, was mit Menschen passiert, welche<br />
aufgr<strong>und</strong> physischer oder geistiger E<strong>in</strong>schränkungen nicht die gleichen Voraussetzungen<br />
wie der Rest der <strong>Gesellschaft</strong> haben. In e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong> leistungsorientierten System hätten<br />
sie ke<strong>in</strong>e Chance, sich f<strong>in</strong>anziell abzusichern. Sie würden ohne fremde Hilfe automatisch<br />
unter der Armutsgrenze leben müssen. Des Weiteren würde sich die Macht durch<br />
e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>kommensverteilung re<strong>in</strong> nach materieller Leistung schnell auf wenige e<strong>in</strong>zelne<br />
Personen konzentrieren. Falls die breite Masse nicht die von der <strong>Gesellschaft</strong> erwarteten<br />
Leistungen erbr<strong>in</strong>gen könnte, müsste sie verelenden. Es ist fraglich, ob die Würde des<br />
Menschen unantastbar bleiben könnte (vgl. GG Art. 1,1.) wenn Menschen auf ihre an<br />
Taten ablesbaren Qualitäten reduziert werden würden. Stärken, wie soziale Kompetenz,<br />
würden völlig irrelevant.<br />
Trotzdem sprechen auch mehrere Aspekte für e<strong>in</strong>e <strong>Gesellschaft</strong>sstruktur, die sich an<br />
Leistung orientiert. Wenn ke<strong>in</strong> Wert auf Herkunft, sondern nur auf Taten gelegt wird,<br />
ist e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung aufgr<strong>und</strong> von Abstammung weniger ausgeprägt. Auch für die<br />
Wirtschaft wäre e<strong>in</strong> solches System förderlich, da e<strong>in</strong> Leistungspr<strong>in</strong>zip Konkurrenz <strong>und</strong><br />
diese letztlich Innovation <strong>und</strong> Fortschritt fördern würde.<br />
103
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
Während der Kursarbeit s<strong>in</strong>d wir deshalb zu dem Schluss gekommen, dass das erfolgreiche<br />
Bestehen e<strong>in</strong>es Staates nur garantiert ist, wenn man die Vorteile dieses Pr<strong>in</strong>zips<br />
nutzt <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en negativen Auswirkungen vorbeugt. Soziale Absicherungen wären<br />
zum Beispiel e<strong>in</strong> Mittel, welches e<strong>in</strong>en Schutz für weniger leistungsstarke Menschen<br />
böte. Durch Maßnahmen, wie Arbeitslosenversicherungen <strong>und</strong> Renten, könnte man<br />
soziale Ungerechtigkeit vermeiden. Allerd<strong>in</strong>gs wären rechtliche Auflagen wichtig, um<br />
die Ausnutzung von staatlicher Unterstützung zu verh<strong>in</strong>dern. Des Weiteren wäre e<strong>in</strong>e<br />
E<strong>in</strong>kommensumverteilung durch progressive Steuern denkbar. Menschen mit höherem<br />
E<strong>in</strong>kommen können mehr von diesem Geld abgeben, ohne ihren Lebensstandard zu<br />
gefährden. Von diesem Geld würden dann Menschen mit starken f<strong>in</strong>anziellen Problemen<br />
unterstützt. Trotzdem darf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen <strong>Gesellschaft</strong> die Förderung <strong>und</strong> Anerkennung<br />
von leistungsstarken Menschen nicht vollkommen vernachlässigt werden. Sobald<br />
Leistung <strong>und</strong> Untätigkeit ke<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anziellen Konsequenzen mehr haben, wäre jeglicher<br />
Anreiz für Arbeit genommen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e <strong>Gesellschaft</strong> könnte nicht mehr existieren.<br />
5.10 Diktatur – Gehorsamspflicht der Untertanen<br />
Soll sich der Mensch vollkommen e<strong>in</strong>em Staat unterwerfen <strong>und</strong> so se<strong>in</strong>e Freiheit opfern<br />
In großen Teilen Nordafrikas können wir momentan starke Freiheits- <strong>und</strong> Demokratiebestrebungen<br />
beobachten. Die oppositionellen Gruppen fordern, dass statt e<strong>in</strong>zelner<br />
Diktatoren breite Bevölkerungsschichten die politischen Vorgänge gestalten. Im Laufe<br />
dieser Bewegung gelang es bereits der tunesischen <strong>und</strong> ägyptischen Bevölkerung, ihre<br />
Herrscher abzusetzen, während dieser Prozess <strong>in</strong> Libyen noch im Gange ist. Aber s<strong>in</strong>d<br />
diese Versuche, etablierte Diktaturen abzuschaffen, moralisch richtig Oder handelt es<br />
sich nur um »kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der, die <strong>in</strong> der Klasse revoltieren <strong>und</strong> den Lehrer h<strong>in</strong>austreiben«<br />
(Dostojewskij 2003: 2). Ich möchte im Folgenden erörtern, ob der Mensch sich e<strong>in</strong>em<br />
Staat vollkommen unterwerfen sollte.<br />
104
5.11 Demokratie – Individuelle Freiheitsrechte<br />
Diese Me<strong>in</strong>ung vertritt beispielsweise der englische Philosoph Thomas Hobbes. Er<br />
lehnt die Staatsform der Demokratie ab <strong>und</strong> verlangt, dass sich alle Bewohner e<strong>in</strong>es<br />
Landes e<strong>in</strong>em Herrscher unterordnen. Diese These basiert auf se<strong>in</strong>em negativen Menschenbild.<br />
Er geht davon aus, dass der Mensch sich generell egoistisch verhält <strong>und</strong><br />
auf niemanden Rücksicht nimmt: »Homo hom<strong>in</strong>i lupus« (Hobbes 1983: 69). In dem<br />
so beschriebenen Naturzustand darf jeder tun, was ihm nützt. Doch die Sicherheit des<br />
Menschen ist stark gefährdet <strong>in</strong> dieser Atmosphäre des »Bellum omnium contra omnes«<br />
(Hobbes 2010: 34). Daher me<strong>in</strong>t Hobbes, dass die absolute Freiheit e<strong>in</strong>e Bedrohung für<br />
die Geme<strong>in</strong>schaft darstellt <strong>und</strong> jeder se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuellen Freiheitsrechte freiwillig abtreten<br />
sollte. Danach sollten die Menschen durch Wahl e<strong>in</strong>en Herrscher mit absoluter Macht<br />
bestimmen. Dessen Aufgabe wäre es, den Rückfall <strong>in</strong> den Naturzustand zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Damit der Diktator diesen Plan verwirklichen könnte, müssten sich ihm alle anderen<br />
unterordnen.<br />
Als E<strong>in</strong>wand gegen diese Thesen möchte ich zunächst anführen, dass der Mensch<br />
sicher evolutionär bed<strong>in</strong>gt egoistisch ist, dass diese Eigenschaft aber nicht zwangsläufig<br />
zum Krieg führen muss. Ist e<strong>in</strong> staatliches Gewaltmonopol durchgesetzt <strong>und</strong> der Konkurrenzkampf<br />
auf die wirtschaftliche Ebene fokussiert, kann der menschliche Egoismus<br />
sogar Innovationen fördern (vgl. Jöckel 2009: 78 f.). Außerdem besteht immer die Gefahr,<br />
dass auch der Diktator se<strong>in</strong>en Egoismus zu Ungunsten des Allgeme<strong>in</strong>wohls auslebt.<br />
Dass der Egoismus der Herrschenden viel gefährlicher für die <strong>Gesellschaft</strong> se<strong>in</strong> kann als<br />
der des Volkes, zeigt sich vor allem bei Kriegen. Diktatoren müssen die Kriegskosten<br />
nicht persönlich tragen, das Volk h<strong>in</strong>gegen schon, weshalb es Kriege tendenziell eher<br />
ablehnt. 1918 weigerten sich beispielsweise die Matrosen der deutschen Flotte, <strong>in</strong> die<br />
Schlacht gegen England zu ziehen <strong>und</strong> beendeten so den Krieg. Dies zeigt, dass noch das<br />
selbstsüchtigste Volk oft e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>gere Bedrohung für die Geme<strong>in</strong>schaft darstellt als der<br />
Diktator. Nicht selten weiß es besser, was ihm nützlich ist, <strong>und</strong> muss deshalb die Freiheit<br />
haben, selbst zu herrschen. Deshalb b<strong>in</strong> ich der Me<strong>in</strong>ung, dass die nordafrikanischen<br />
Völker mit ihren Demokratiebewegungen völlig richtig handeln.<br />
5.11 Demokratie – Individuelle Freiheitsrechte<br />
»Democracy is the worst form of government except for all those others that have been<br />
tried«, sagte schon W<strong>in</strong>ston Churchill (vgl. Alter 2006: 56). Warum die Demokratie auch<br />
me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach die beste realistisch umsetzbare Staatsform ist, möchte ich im<br />
Folgenden darlegen. Dabei werde ich Demokratie im Folgenden def<strong>in</strong>ieren als e<strong>in</strong>e<br />
Staatsform, die regelmäßige, wiederkehrende, freie, allgeme<strong>in</strong>e, gleiche <strong>und</strong> vor allem<br />
geheime Wahlen bietet. Darüber h<strong>in</strong>aus werden <strong>in</strong> den von mir erfassten demokratischen<br />
Staaten politische Entscheidungen nach dem Mehrheitspr<strong>in</strong>zip bei Anerkennung <strong>und</strong><br />
Schutz der jeweiligen M<strong>in</strong>derheit getroffen. Außerdem ist demokratischer Staatsgewalt<br />
me<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition nach an e<strong>in</strong>e Verfassung geb<strong>und</strong>en, auch die unveräußerlichen Gr<strong>und</strong>rechte<br />
e<strong>in</strong>es jeden Menschen s<strong>in</strong>d gesichert <strong>und</strong> garantiert. Ferner liegt bei den von<br />
mir e<strong>in</strong>bezogenen Staatsformen e<strong>in</strong>e Gewaltenteilung <strong>in</strong> Legislative, Exekutive <strong>und</strong><br />
Judikative vor.<br />
105
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
Abbildung 5.1: Zufriedenheit der Bürger<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Bürger verschiedener demokratischer Staaten.<br />
Quelle: Mehrheit der Deutschen zweifelt an der Demokratie, <strong>in</strong>: Spiegel Onl<strong>in</strong>e [38].<br />
Diese Staatsform, die heutzutage beispielsweise <strong>in</strong> der Schweiz, Frankreich, Dänemark,<br />
Irland <strong>und</strong> Deutschland realisiert ist, war für e<strong>in</strong>en Großteil der Menschheitsgeschichte<br />
nur e<strong>in</strong> surreal sche<strong>in</strong>ender Traum. Die Menschen verschiedenster Epochen haben sie<br />
erträumt <strong>und</strong> sich nach ihr gesehnt. E<strong>in</strong>er von ihnen war der junge Marquis de Posa, der<br />
<strong>in</strong> Friedrich Schillers Werk »Don Carlos« aufklärerische <strong>und</strong> revolutionäre Ideen vertritt,<br />
um den bestehenden Absolutismus unter König Phillip II von Spanien zu reformieren:<br />
»Lassen Sie großmütig, wie der Starke, Menschenglück aus ihrem Füllhorn strömen –<br />
Geister reifen <strong>in</strong> Ihrem Weltgebäude« (vgl. Schiller 2006: 45). Relativ rasch wird dem<br />
Marquis aber bewusst, dass se<strong>in</strong>e demokratischen Ideale aufgr<strong>und</strong> des absolutistischen<br />
Selbstverständnisses des Königs nicht realisierbar s<strong>in</strong>d: »Das Jahrh<strong>und</strong>ert ist me<strong>in</strong>em<br />
Ideal nicht reif. Ich lebe e<strong>in</strong> Bürger derer, welche kommen werden« (vgl. Schiller 2006:<br />
S.65). Mittlerweile ist dieses Ideal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Ländern verwirklicht worden. Die real<br />
existierenden demokratischen Rechtsstaaten s<strong>in</strong>d gekennzeichnet durch Persönlichkeitsrechte,<br />
wie das Recht auf Leben <strong>und</strong> körperliche Unversehrtheit, Freiheitsrechte, wie<br />
Me<strong>in</strong>ungs-, Gedanken-, Gewissens- <strong>und</strong> Religionsfreiheit, sowie soziale Menschenrechte,<br />
wie das Recht auf Bildung, Arbeit <strong>und</strong> angemessene Entlohnung. Die Zufriedenheit der<br />
Bürger<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Bürger verschiedener demokratischer Staaten wird <strong>in</strong> der Abbildung<br />
5.1 veranschaulicht.<br />
Auch wenn die Zufriedenheit <strong>in</strong> verschiedenen Ländern beträchtlich schwankt, liegt sie<br />
selbst im wirtschaftlich gefährdeten Griechenland über 50 %. Individuelle Freiheitsrechte<br />
für jeden e<strong>in</strong>zelnen Bürger stoßen also auf breite Unterstützung. Ke<strong>in</strong> anderes politisches<br />
System garantiert <strong>und</strong> gewährleistet e<strong>in</strong> vergleichbares Maß an politischer Mitbestimmung<br />
oder die E<strong>in</strong>haltung der Freiheitsrechte. Deshalb halte ich die Demokratie für das<br />
bestmögliche politische System.<br />
106
5.12 Kollektivismus<br />
5.12 Kollektivismus<br />
»Ordnung <strong>und</strong> Harmonie s<strong>in</strong>d nur dort anzutreffen, wo der E<strong>in</strong>zelne bereit ist, se<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>dividuellen Bestrebungen dem Dienst an der Geme<strong>in</strong>schaft unterzuordnen« (Zotz<br />
2000: 87). Mit diesem Ausspruch drückt Konfuzius aus, dass das Wohl der <strong>Gesellschaft</strong><br />
über das Wohl des Individuums gestellt werden soll. In letzter Konsequenz bedeutet das,<br />
dass der E<strong>in</strong>zelmensch alles, auch se<strong>in</strong> eigenes Leben, für die Geme<strong>in</strong>schaft opfern muss.<br />
Dies wirft die Frage auf, ob mehrere Menschen e<strong>in</strong>en anderen töten dürfen, wenn sie<br />
sich sicher s<strong>in</strong>d, dadurch das Kollektiv zu retten. Auf diese Problematik will ich anhand<br />
e<strong>in</strong>er kritischen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Brechts »Die Maßnahme« e<strong>in</strong>gehen.<br />
Das Drama handelt von vier russischen Revolutionären, die <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a erfolgreich<br />
kommunistische Propaganda betrieben haben, dabei aber e<strong>in</strong>en jungen Genossen töten<br />
mussten. Deshalb müssen sie sich nun vor dem Kontrollchor, dem Parteigericht,<br />
verantworten. Sie erklären, dass der junge Genosse angesichts des konkreten Elends<br />
verschiedener ch<strong>in</strong>esischer Arbeiter <strong>in</strong> Mitleid verfiel, anstatt se<strong>in</strong>e Gefühle rational zu<br />
unterdrücken. Schließlich wollte er sogar e<strong>in</strong>e aus ihrer Sicht verfrühte Revolution starten.<br />
Hierfür zerriss er se<strong>in</strong>e Maske <strong>und</strong> wurde als steckbrieflich gesuchter Revolutionär<br />
erkannt. Er <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e vier Genossen wurden deshalb aus der Stadt gejagt. Um leichter<br />
fliehen zu können, haben die vier Revolutionäre dann ihren jungen Genossen getötet.<br />
Er war damit e<strong>in</strong>verstanden. Als Reaktion auf diese Geschichte fällte der Kontrollchor<br />
folgendes Urteil: »Und eure Arbeit war glücklich [. . . ] Wir s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>verstanden mit<br />
euch« (Brecht 1998: 85). Er kommt also zu dem Ergebnis, dass das Töten zugunsten des<br />
Geme<strong>in</strong>wohls gerechtfertigt ist.<br />
Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach fördert e<strong>in</strong> Kollektivismus, wie Brecht ihn <strong>in</strong> dem Drama zeigt,<br />
aber Totalitarismus <strong>und</strong> Diktatoren, weil die eigene, <strong>in</strong>dividuelle Me<strong>in</strong>ungsäußerung<br />
<strong>und</strong> die eigenen, <strong>in</strong>dividuellen Ansichten unerheblich werden. Demokratie kann auf<br />
dieser Gr<strong>und</strong>lage nicht funktionieren. Konkret lassen sich die negativen Konsequenzen<br />
e<strong>in</strong>er solchen Haltung beispielsweise an der Taktik der Menschenwelle ablesen, e<strong>in</strong>er<br />
Strategie, die Mao Zedong im Koreakrieg e<strong>in</strong>setzte. Er ließ Soldaten mit mangelhafter<br />
Bewaffnung <strong>und</strong> quasi ohne Ausbildung so lange gegen die fe<strong>in</strong>dlichen L<strong>in</strong>ien anrennen,<br />
bis dem Gegner die Munition ausg<strong>in</strong>g. Historiker sprechen von knapp 500 000 Toten<br />
auf ch<strong>in</strong>esischer Seite.<br />
Me<strong>in</strong> persönliches Fazit ist deshalb, dass es ke<strong>in</strong>en positiven Kollektivismus geben<br />
kann. Es gibt nur die Verantwortung e<strong>in</strong>es jeden E<strong>in</strong>zelnen gegenüber der Geme<strong>in</strong>schaft,<br />
die sich im vierzehnten Artikel unseres Gr<strong>und</strong>gesetzes ausdrückt: »Eigentum verpflichtet.<br />
Se<strong>in</strong> Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgeme<strong>in</strong>heit dienen.« (GG Art. 14,2.) Das<br />
ist auch e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Auslegung von Konfuzius. Zugunsten der Wohlfahrt dieser<br />
Geme<strong>in</strong>schaft darf aber niemals über die Leichen von Individuen gegangen werden.<br />
Bezogen auf »Die Maßnahme« sollte demnach zwar unter besten Absichten die Welt<br />
verbessert wurden. Hierbei hätte er aber nicht nur den Blick auf den Zweck für die<br />
Zukunft, sondern auch auf die angewandten Mittel <strong>in</strong> der Gegenwart richten sollen.<br />
Verbrechen können nicht durch gute Absichten gerechtfertigt werden.<br />
107
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
5.13 Individualismus<br />
Die junge Effi Briest aus Fontanes gleichnamigem Roman flüchtet sich vor der E<strong>in</strong>samkeit<br />
ihrer Ehe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Affäre mit dem besten Fre<strong>und</strong> ihres Mannes. Indem sie ihrem<br />
<strong>in</strong>dividuellen Wunsch nach menschlicher Nähe folgt, verletzt sie die gesellschaftlichen<br />
Normen ihrer Zeit. Dies ist nur e<strong>in</strong>es von vielen Beispielen für den Rollenkonflikt,<br />
dem der E<strong>in</strong>zelne oft ausgesetzt ist, wenn Kollektiv <strong>und</strong> Individuum unterschiedliche<br />
Zielsetzungen aufstellen. Deshalb möchte ich im Folgenden die Frage beantworten, wie<br />
weit Individualismus <strong>und</strong> die Befriedigung <strong>in</strong>dividueller Bedürfnisse gehen sollten.<br />
Alternative Entwürfe zum <strong>in</strong>dividualistischen Lebensentwurf hat es immer gegeben.<br />
So g<strong>in</strong>g der Philosoph Aristoteles <strong>in</strong> der Antike davon aus, dass der Mensch e<strong>in</strong> »zoon<br />
politikon« (Detel 2005: 20) sei. Der Mensch ist se<strong>in</strong>er Ansicht nach also e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaftswesen<br />
<strong>und</strong> Teil e<strong>in</strong>es Kollektivs. Der Individualismus stellt im heutigen Europa<br />
jedoch die vorherrschende <strong>Gesellschaft</strong>sordnung dar. Belegt wird dies durch die steigende<br />
Zahl der S<strong>in</strong>glehaushalte, durch die kle<strong>in</strong>er werdenden Familien <strong>und</strong> durch die<br />
starke Karriereorientierung besonders junger Erwachsener. Dass diese Entwicklung viele<br />
Probleme schafft, erkennen wir beispielsweise daran, dass viele Wissenschaftler sie für<br />
die drohende Staatspleite von Amerika verantwortlich machen (vgl. Diez 2011). Um<br />
zu entscheiden, wie weit Individualismus s<strong>in</strong>nvollerweise gehen sollte, möchte ich im<br />
Folgenden zwischen Individualismus <strong>und</strong> Egozentrik unterscheiden. Der <strong>Gesellschaft</strong>skritiker<br />
Pawek unterscheidet die Begriffe folgendermaßen: »Egozentriker kann jeder<br />
Trottel se<strong>in</strong>, Individualismus setzt Selbstbewusstse<strong>in</strong> voraus« (Pawek 2006: 56). Unter<br />
e<strong>in</strong>em Individualisten versteht er demnach e<strong>in</strong>en selbstständigen Menschen mit eigener<br />
Me<strong>in</strong>ung, der aber ke<strong>in</strong>eswegs nur auf sich bezogen lebt, sondern sich <strong>in</strong> die <strong>Gesellschaft</strong><br />
e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gt. Egozentriker h<strong>in</strong>gegen grenzen sich völlig ab, vermeiden menschliche B<strong>in</strong>dungen<br />
<strong>und</strong> s<strong>in</strong>d rücksichtslos <strong>in</strong> ihren Bestrebungen. E<strong>in</strong> Individualist kennt demgegenüber<br />
se<strong>in</strong>e eigene Persönlichkeit <strong>und</strong> steht dazu. Er versteht es, se<strong>in</strong>e Fähigkeiten für die<br />
Geme<strong>in</strong>schaft zu nutzen <strong>und</strong> ist sich se<strong>in</strong>er Verantwortung bewusst. Er stellt also e<strong>in</strong>e<br />
reife, selbstbewusste Persönlichkeit dar, die sich zwar von der Masse abhebt, jedoch<br />
trotzdem nicht isoliert lebt wie e<strong>in</strong> Egozentriker.<br />
Me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach ist es daher wichtig, e<strong>in</strong>e eigene Me<strong>in</strong>ung zu vertreten <strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>e starke, reife Persönlichkeit zu werden. Wenn man trotzdem oder gerade deswegen<br />
die <strong>Gesellschaft</strong> <strong>und</strong> das Wohl der anderen nicht aus den Augen verliert, lebt man<br />
se<strong>in</strong>en Idealismus gesellschaftsverträglich aus. »Ke<strong>in</strong> Mensch ist e<strong>in</strong>e Insel« (Carey 2008:<br />
34). Deshalb braucht jeder noch so freie <strong>und</strong> selbstbewusste Mensch Andere, die ihn<br />
unterstützen <strong>und</strong> für ihn da s<strong>in</strong>d. Individualismus macht me<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach e<strong>in</strong>e<br />
Mischung zwischen Verantwortung für Andere <strong>und</strong> eigener Persönlichkeit aus.<br />
108
5.14 Kapitalismus<br />
5.14 Kapitalismus<br />
In Zeiten der F<strong>in</strong>anzkrise fragen wir uns, ob das System des Kapitalismus schuld ist. Hat<br />
er diese Krise ausgelöst Hätte e<strong>in</strong> anderes System uns geholfen Regiert uns das Geld<br />
Um diese Fragen zu beantworten, muss man fragen, was Kapitalismus ist. Se<strong>in</strong> Konzept<br />
basiert auf vielen Ideen. Zwei Gr<strong>und</strong>regeln f<strong>in</strong>den wir <strong>in</strong> Adam Smiths Wohlstand der<br />
Nationen, die alle kapitalistischen Geschäfte regulieren. Die erste ist die von Angebot<br />
<strong>und</strong> Nachfrage, die zweite ist der freie Wettbewerb. Man sollte sie, so Smith, so frei<br />
wie möglich wirken lassen. Das bedeutet konkret, dass es ke<strong>in</strong>e Marktbeschränkungen<br />
geben sollte, die E<strong>in</strong>bußen verursachen. Diese Idee ist e<strong>in</strong> Vorläufer des Kapitalismus, <strong>in</strong><br />
dem auch jeder die Gelegenheit hat, e<strong>in</strong> Geschäft zu eröffnen, ohne beh<strong>in</strong>dert zu werden.<br />
Kapitalismus bedeutet, dass jeder <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie für se<strong>in</strong> eigenes Wohl arbeitet <strong>und</strong><br />
se<strong>in</strong>er Leistung entsprechend Geld erhält. Je mehr jemand verdient, desto mehr kann er<br />
wiederum <strong>in</strong>vestieren. Konkurrenzkämpfe s<strong>in</strong>d dabei natürlich <strong>und</strong> lassen sich nicht<br />
vermeiden. Was sich vermeiden lässt, s<strong>in</strong>d leichtfertige Börsengeschäfte, die unnötig<br />
Preise erhöhen <strong>und</strong> Risiken darstellen. Das Bankensystem erleichtert Geldgeschäfte<br />
erheblich, ist aber im Falle e<strong>in</strong>er F<strong>in</strong>anzkrise oder Inflation gefährlich.<br />
Die kapitalistische Entwicklung kann historisch nachvollzogen werden: Das Bankwesen<br />
im Mittelalter, Monopole im 18ten <strong>und</strong> 19ten Jahrh<strong>und</strong>ert, »Manchestertum« zur<br />
Zeit der Industrialisierung. Der Börsencrash 1929 zeigte die Wirkung globaler Geld-<br />
Zusammenhänge. Auf e<strong>in</strong>en Schlag steckt die Welt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Wirtschaftskrise. Man suchte<br />
Alternativen <strong>und</strong> vielversprechend war die kommunistische Planwirtschaft. Hier plant<br />
der Staat die Produktion, <strong>und</strong> Berufstätige erhalten e<strong>in</strong>en festgelegten Lohn. Doch <strong>in</strong><br />
der Praxis strengen sie sich weniger an, da sie ke<strong>in</strong>e Konsequenzen erwarten müssen.<br />
Im Kalten Krieg waren letzten Endes deshalb auch die Amerikaner im Vorteil, da ihr<br />
System den hohen Kosten des Wettrüstens besser standhielt. Selbst Länder wie Ch<strong>in</strong>a<br />
werden irgendwann kapitalistisch werden: »E<strong>in</strong>st waren die Köpfe des Landes Parteimitglieder,<br />
die nebenbei auch Konzerne besaßen. Doch mit der Zeit wurden aus ihnen<br />
Konzernbesitzer, die nebenbei auch noch Parteimitglieder waren« (Schätz<strong>in</strong>g 2010: 248).<br />
Ich b<strong>in</strong> zu der Ansicht gelangt, dass der Kapitalismus e<strong>in</strong>en Ur<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt des Menschen<br />
verkörpert. Geld <strong>und</strong> Kapital regieren ihn. Sie bestimmen se<strong>in</strong>e Taten, weil er nicht<br />
ohne sie leben kann. Er braucht sie für jeden Handel. Obwohl der Kapitalismus das<br />
hohe Risiko von F<strong>in</strong>anzkrisen birgt, ist er viel sicherer als der Kommunismus. Russland<br />
<strong>und</strong> Ost-Deutschland s<strong>in</strong>d nur zwei Länder, die das kommunistische System ru<strong>in</strong>ierte.<br />
F<strong>in</strong>anzkrisen werden immer wieder auftreten <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d die globale Version von Angebot<br />
<strong>und</strong> Nachfrage. Das e<strong>in</strong>zige System, das uns vor solchen Krisen bewahren könnte,<br />
besteht aus unvernetzten Selbstversorgern. In e<strong>in</strong>er zusammenwachsenden Welt muss<br />
e<strong>in</strong>e Marktkrise alle betreffen. Da die Globalisierung auch viele positive Aspekte wie<br />
die Völkerverständigung mit sich br<strong>in</strong>gt <strong>und</strong> durch die Politik auch kaum aufzuhalten<br />
se<strong>in</strong> wird, denke ich, dass der Kapitalismus schlecht, aber das beste System ist, das wir<br />
haben.<br />
109
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
5.15 Kommunismus<br />
Thomas Mann führt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Roman Der Zauberberg den asketischen Jesuiten Naphta<br />
e<strong>in</strong>. Ich möchte im Folgenden untersuchen, <strong>in</strong> wie weit se<strong>in</strong>e Ideale mit denen von Marx<br />
<strong>und</strong> Engels zu vergleichen s<strong>in</strong>d.<br />
Zunächst möchte ich die Figur Naphta kurz vorstellen. Sie strebt <strong>in</strong> anarchistischkommunistischer<br />
Tradition nach der Wiederherstellung des »anfänglichen paradiesisch<br />
justizlosen <strong>und</strong> gottesunmittelbaren Zustands der Staats-<strong>und</strong> Gewaltlosigkeit [. . . ], wor<strong>in</strong><br />
es weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, ke<strong>in</strong> Unrecht, ke<strong>in</strong>e<br />
fleischliche Verb<strong>in</strong>dung, ke<strong>in</strong>e Klassenunterschiede, ke<strong>in</strong>e Arbeit, ke<strong>in</strong> Eigentum, sondern<br />
Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Volkommenheit.« Naphta will die Abschaffung<br />
»der Gräuel des modernen Händler-<strong>und</strong> Spekulantentums [. . . ] der Satansherrschaft<br />
des Geldes, des Geschäfts« <strong>und</strong> möchte e<strong>in</strong>en totalitären, auf Terrorismus gestützten<br />
Gottesstaat errichten (Mann 2000: 609-616). Naphta verlangt, dass das kapitalistische<br />
Bürgertum durch die Diktatur des religiös-kommunistischen Proletariats zerschlagen<br />
wird. Die christliche Tatkraft vergleicht er mit der Hoffnung <strong>und</strong> dem Eifer des Proletariats.<br />
E<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung aus diesen Elementen soll der Gr<strong>und</strong>bauste<strong>in</strong> zur Rückführung zu<br />
e<strong>in</strong>em anfänglichen Gottesstaat se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> welchem Gleichheit <strong>und</strong> Gehorsam herrschen.<br />
Diese Charakterisierung zeigt deutlich, dass Manns Verständnis vom Kommunismus<br />
vor allen D<strong>in</strong>gen durch se<strong>in</strong>e Nietzsche-Lektüre geprägt war. Nietzsche hatte zuerst Jesuitentum<br />
mit Sozialismus assoziiert: »Der höchste Gesichtspunkt des Jesuitentums, auch<br />
des socialistischen ist die Beherrschung der Menschen zum Zweck ihrer Beglückung!<br />
[. . . ] Der moderne Socialismus will die weltliche Form des Jesuitentums bilden.« (Nietzsche<br />
1998: 56.) Weil Nietzsche »die förmliche Vernichtung des Individuums« anprangert,<br />
mit dem der moderne Sozialismus jeden vergangenen Despotismus überbietet, fordert<br />
folgerichtig auch Naphta bewusst e<strong>in</strong>e »Verleugnung des Ichs <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Vergewaltigung<br />
der Persönlichkeit« (vgl. Nietzsche 1998: 393).<br />
Dah<strong>in</strong>gegen proklamieren Marx <strong>und</strong> Engels <strong>in</strong> ihrem kommunistischen Manifest:<br />
»Bildung des Proletariats zur Klasse, [. . . ] Sturz der Bourgeoisieherrschaft, [. . . ] Eroberung<br />
der politischen Macht durch das Proletariat« (Engels/Marx 1999: 17). Ihre<br />
Zielsetzung ist es nicht, e<strong>in</strong>en ursprünglich sündenfreien Gottesstaat wiederherzustellen,<br />
sondern vielmehr e<strong>in</strong> System zu schaffen, <strong>in</strong> welchem »jeder nach se<strong>in</strong>en Fähigkeiten«<br />
tätig ist <strong>und</strong> »jedem nach se<strong>in</strong>en Bedürfnissen« materielle Güter zur Verfügung stehen<br />
(Dies 1999: 19). Sie lösen sich <strong>in</strong> ihren Idealen gänzlich von Religion <strong>und</strong> der Kirche<br />
als Autoritäten <strong>und</strong> erhoffen sich, dass der Staat als Instrument e<strong>in</strong>er kapitalistischsten<br />
<strong>Gesellschaft</strong> im Zuge der Umbrüche abstirbt (vgl. Dies. 1999: 25).<br />
Abschließend bleibt mir zu sagen, dass Naphta mit den Zentralideen von Marx <strong>und</strong><br />
Engels als e<strong>in</strong>flussreichsten Theoretikern des modernen Sozialismus nicht übere<strong>in</strong>stimmt.<br />
110
5.16 Humanismus<br />
5.16 Humanismus<br />
Idealismus ersche<strong>in</strong>t oft als der Inbegriff e<strong>in</strong>er nicht erreichbaren Utopie. Wenn Ideale<br />
aber von Natur aus unerreichbar s<strong>in</strong>d, kann auch das Ideal e<strong>in</strong>er vom Humanismus<br />
geprägten Welt nicht verwirklicht werden. Im Folgenden möchte ich zunächst aufzeigen,<br />
welche Probleme sich bei der Realisierung von humanistischen Idealen ergeben. In<br />
e<strong>in</strong>em zweiten Schritt möchte ich dann begründen, warum e<strong>in</strong>e Beschäftigung mit<br />
humanistischen Idealen überhaupt s<strong>in</strong>nvoll ist.<br />
Bei der wissenschaftlichen Betrachtung des Themas Humanismus ist zunächst e<strong>in</strong>e<br />
Unterscheidung zwischen der historischen <strong>und</strong> der ideologischen Bedeutung des Begriffs<br />
elementar. Humanismus bezeichnet im geschichtlichen S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>e »geistige Bewegung«,<br />
welche »Mitte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> Italien entstand [. . . ]. Wichtigster Gr<strong>und</strong>zug ist<br />
e<strong>in</strong>e an der Antike orientierte, menschliche [. . . ] Bildung« (Möllers 2007: 129). Ideologisch<br />
betrachtet def<strong>in</strong>iert man Humanismus heute als das Bemühen um Menschlichkeit <strong>und</strong><br />
die Gestaltung der <strong>Gesellschaft</strong> nach den Pr<strong>in</strong>zipien der Menschenwürde <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er freien<br />
Entfaltung der Individualität. Erreicht werden soll dies durch Bildung <strong>und</strong> Erziehung<br />
der Bevölkerung. Darauf aufbauend sollen Gr<strong>und</strong>pr<strong>in</strong>zipien, wie Mitmenschlichkeit,<br />
Toleranz, Freiheit, Pluralismus, Solidarität, Recht auf Selbstbestimmung <strong>und</strong> Frieden,<br />
verwirklicht werden (vgl. Heidegger 2000: 36).<br />
Humanisten streben also e<strong>in</strong>e Welt an, <strong>in</strong> der alle Menschen nach den Pr<strong>in</strong>zipien der<br />
Toleranz sowie der Nächstenliebe leben <strong>und</strong> ihren naturgegebenen Egoismus zum Wohle<br />
der anderen außer Acht lassen. Genau hier liegt aber das Problem. Kann e<strong>in</strong> Mensch<br />
se<strong>in</strong>e Schwächen überw<strong>in</strong>den Scheitert die Verwirklichung des Ideals am Idealisten<br />
Vertrauen <strong>in</strong> die Vernunft des Menschen zu haben, ist natürlich <strong>in</strong>sofern positiv, als<br />
dass e<strong>in</strong> Mensch, dem man zutraut, richtig zu handeln, dies auch leichter tun kann. Die<br />
Natur des Menschen setzt sich aber nicht nur aus positiven Aspekten zusammen. Der<br />
Drang des Menschen, se<strong>in</strong>e eigenen Interessen über die der Mitmenschen zu stellen,<br />
ist evolutionär bed<strong>in</strong>gt <strong>und</strong> erklärt sich durch den angeborenen Überlebens<strong>in</strong>st<strong>in</strong>kt<br />
des Individuums (vgl. Möller 2001: 132). Nur wenn es e<strong>in</strong> Individuum schafft, se<strong>in</strong>en<br />
Egoismus zu überw<strong>in</strong>den, hat der Humanismus e<strong>in</strong>e Chance, tatsächlich verwirklicht<br />
zu werden. Anzunehmen, dass jeder Mensch diese Anforderungen erfüllen kann, ist<br />
jedoch realitätsfern. Abschließend lässt sich sagen, dass es nicht möglich ist, alle Ideale<br />
des Humanismus irgendwann vollständig zu erfüllen. Solche Ideale aufzustellen <strong>und</strong><br />
sich mit ihnen zu beschäftigen, ersche<strong>in</strong>t mir aber trotzdem sehr s<strong>in</strong>nvoll, denn sie<br />
können uns als Wegweiser dienen. Sie sollen uns Ziel <strong>und</strong> Orientierung <strong>in</strong> unserem<br />
Leben geben. Nur wer nach Idealen sucht, kann Wege f<strong>in</strong>den, die zur Verbesserung der<br />
Lebensstandards der Welt beitragen können. Ich möchte mich Mark Twa<strong>in</strong> anschließen,<br />
der sagt: »E<strong>in</strong> Mann mit neuen Ideen ist e<strong>in</strong> Narr, bis sich die Idee durchgesetzt hat«<br />
(Helmbrecht 1985: 99).<br />
111
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
5.17 Selbstverwirklichung<br />
»Erst die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en Traum zu verwirklichen, macht unser Leben lebenswert«<br />
(Coelho 2008: 18), formuliert der Schriftsteller Paulo Coelho. Der gebürtige Brasilianer<br />
schildert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bestseller Der Alchimist die Suche nach dem S<strong>in</strong>n des Lebens<br />
durch den Schafhirten Santiago: Als dieser wiederholt von e<strong>in</strong>em Schatz am Fuße der<br />
ägyptischen Pyramiden träumt, deutet er dies als Zeichen. Er beendet se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches<br />
Dase<strong>in</strong> als spanischer Hirte <strong>und</strong> tritt die Reise <strong>in</strong>s Unbekannte an, um se<strong>in</strong>en Traum<br />
zu verwirklichen. Da Santiago den nötigen Mut besitzt, se<strong>in</strong>em eigenen Lebensweg zu<br />
folgen, stößt er schlussendlich auf se<strong>in</strong>en Schatz. Coelhos Roman wirft die Frage auf,<br />
<strong>in</strong>wieweit der Mensch sich heutzutage selbst verwirklichen kann, den gesellschaftlichen<br />
Normen zum Trotz.<br />
Zur Erklärung des Konzepts der Selbstverwirklichung wird oftmals auf die Maslowsche<br />
Bedürfnispyramide zurückgegriffen, die die menschlichen Gr<strong>und</strong>bedürfnisse anhand<br />
ihrer Wichtigkeit sortiert: Physiologische Gr<strong>und</strong>bedürfnisse bilden die Basis, gefolgt<br />
von Schutz <strong>und</strong> Sicherheit. Der Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit <strong>und</strong> Anerkennung<br />
führen als letzte <strong>und</strong> vorletzte Stufen schlussendlich zur Selbstverwirklichung. Um zur<br />
höchsten Zufriedenheitsstufe zu gelangen, muss der Mensch, laut Maslow, se<strong>in</strong> Leben<br />
nach den eigenen Werten ausrichten, sich selbst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Handeln treu bleiben <strong>und</strong><br />
den S<strong>in</strong>n des Lebens erkennen (vgl. Maslow 1981: 135 ff.).<br />
Für die Selbstverwirklichung braucht der Mensch vor allem e<strong>in</strong>e freie <strong>Gesellschaft</strong>,<br />
<strong>in</strong> der er eigenverantwortlich se<strong>in</strong> Leben gestalten kann. Sie muss ihm e<strong>in</strong>e Vielfalt von<br />
Betätigungsmöglichkeiten <strong>in</strong> Beruf <strong>und</strong> Freizeit zur Verfügung stellen. Um diese Möglichkeiten<br />
erkennen <strong>und</strong> nutzen zu können, braucht der E<strong>in</strong>zelmensch Vernunft, Mut,<br />
Bildung, soziale Kompetenzen <strong>und</strong> Flexibilität. Wie stark diese Fähigkeiten ausgeprägt<br />
s<strong>in</strong>d, bee<strong>in</strong>flusst vor allem se<strong>in</strong> Sozialisationsprozess <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dheit. Die Werte <strong>und</strong><br />
E<strong>in</strong>stellungen, die <strong>in</strong> der Erziehung vermittelt werden, bestimmen das spätere Maß an<br />
Autonomie <strong>und</strong> Eigenständigkeit. E<strong>in</strong>e weitere Voraussetzung für Selbstverwirklichung<br />
ist die Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Me<strong>in</strong>ungen. Wie man selbst leben möchte,<br />
muss Priorität gegenüber gesellschaftlich vorgeprägten Normen haben.<br />
Um schlussendlich auf die anfängliche Problemfrage zurückzukommen: Ja, gerade<br />
heute kann der Mensch se<strong>in</strong>e Träume <strong>und</strong> damit sich selbst verwirklichen. Die Gesetze<br />
<strong>und</strong> Normen der <strong>Gesellschaft</strong> bilden dabei ke<strong>in</strong>en Käfig, sondern die Basis für die<br />
Selbstverwirklichung des Menschen: »Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten unser<br />
Leben <strong>in</strong>dividuell zu gestalten, noch nie stand soviel Wissen <strong>und</strong> Information zur<br />
Verfügung, <strong>und</strong> gleichzeitig suchten noch nie so viele Menschen nach mehr Lebenss<strong>in</strong>n,<br />
Orientierung, Individualität <strong>und</strong> Selbstverwirklichung« (Smith 2005: 40). So lässt sich<br />
mit Paulo Coelhos wegweisenden Worten schließen: »Wenn man etwas will, dann wirkt<br />
das ganze Universum darauf h<strong>in</strong>, dass die Person ihren Traum verwirklichen kann«<br />
(Coelho 2008: 122).<br />
112
5.18 Literaturverzeichnis<br />
5.18 Literaturverzeichnis<br />
[1] Alter, Peter: W<strong>in</strong>ston Churchill. Stuttgart 2006.<br />
[2] Aqu<strong>in</strong>, Thomas: Über sittliches Handeln. Stuttgart 2001.<br />
[3] Arends, Jakob: Die E<strong>in</strong>heit der Polis. Leiden 1988.<br />
[4] Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Frankfurt 1998.<br />
[5] Camus, Albert: Der Mythos des Sysiphos. Frankfurt 2000.<br />
[6] Carey, John: John Donne. Life, M<strong>in</strong>d and Art. Gloucester 2008.<br />
[7] Coelho, Paulo: Der Alchimist. Zürich 2008.<br />
[8] Detel, Wolfgang: Aristoteles. Leipzig 2005.<br />
[9] www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,771648,00.html<br />
Diez, Georg: Amerika steckt <strong>in</strong> der Ich-Ich-Ich-Falle, 1.7.2011.<br />
[10] Dostojewskij, Fjodor: Schuld <strong>und</strong> Sühne. München 1977.<br />
[11] Dostojewskij, Fjodor: Die Brüder Karamasow. Zürich 2003.<br />
[12] Engels, Friedrich/Marx, Karl: Das kommunistische Manifest. E<strong>in</strong>e moderne Edition.<br />
Hamburg/Berl<strong>in</strong> 1999.<br />
[13] Fricke, Torsten: Arno Holz <strong>und</strong> das Theater. Bielefeld 2009.<br />
[14] www.humanismus.de/sites/humanismus.de/files/pazifismus.pdf<br />
Groschopp, Horst: Humanismus <strong>und</strong> Pazifismus. Facetten e<strong>in</strong>er Kont<strong>in</strong>uität.<br />
[15] Halder, Alois: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg 2008.<br />
[16] Heidegger, Mart<strong>in</strong>: Über den Humanismus. Frankfurt 2000.<br />
[17] Helmbrecht, Bre<strong>in</strong>ig: Mark Twa<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung. München 1985.<br />
[18] Hobbes, Thomas: De Cive. Oxford 1983.<br />
[19] Hobbes, Thomas: Leviathan. Stuttgart 2010.<br />
[20] Jöckel, Peter: Gr<strong>und</strong>wissen Politik. Stuttgart 2009.<br />
[21] Knust, Christ<strong>in</strong>e: Die deutsche Romantik. In: Geoepoche Nr. 37 2009, 45-48.<br />
[22] www.jahrbuch2001.studien-von-zeitfragen.net/zeitfragen/kriegsfragen/<br />
gerechter%20krieg/gerechter-krieg.htm<br />
Lutz, David: Kann es gerechte Kriege geben, 18.6.2001.<br />
[23] Mann, Thomas: Der Zauberberg. Frankfurt 2000.<br />
113
5 Revolutionäre, Rebellen <strong>und</strong> Romantiker<br />
[24] Maslow, Abraham Harold: Motivation <strong>und</strong> Persönlichkeit. Berl<strong>in</strong> 1981.<br />
[25] Meyer, Theo: Theorie des Naturalismus. Stuttgart 1973.<br />
[26] Möllers, Peter: Über die negative Seite des Menschen. München 2001.<br />
[27] Möllers, Peter: Humanismus. Frankfut 2007.<br />
[28] Müller, Harald: Stachel im Fleisch der Selbstgerechten. In: Frankfurter R<strong>und</strong>schau<br />
24.1.2001, 25-27.<br />
[29] Nietzsche, Friedrich: Menschliches allzu Menschliches. Stuttgart 1998.<br />
[30] Pabek, Karl: Individualismus. Frankfurt 2006.<br />
[31] Sartre, Jean-Paul: L’existencialisme est un humanisme. München 1999.<br />
[32] Schätz<strong>in</strong>g, Frank: Limit. Köln 2010.<br />
[33] Schiller, Friedrich: Über die Schaubühne. München 1998.<br />
[34] Schiller, Friedrich: Don Carlos. Ditz<strong>in</strong>gen 2006.<br />
[35] Smith, Adam: Der Wohlstand der Nationen. München 2009.<br />
[36] Smith, Barbara: Ich könnte alles tun, wenn ich nur wüsste, was ich will. München 2005.<br />
[37] Suter, Beatrice: Gewalt <strong>in</strong> der menschlichen <strong>Gesellschaft</strong>. Engelberg 2004.<br />
[38] www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,446203,00.html<br />
Umfrage: Die Mehrheit der Deutschen zweifelt an der Demokratie, 2.11.2006.<br />
[39] Vollmer, Ludger: Was bleibt vom Pazifismus. <strong>in</strong>: Frankfurter R<strong>und</strong>schau 7.1.2002, S.<br />
22-24.<br />
[40] www.sicherheitspolitik-dss.de/pawoit56.htm<br />
Woit, Ernst: Pazifismus <strong>in</strong> den geistigen Kämpfen unserer Zeit, 15.6.2001.<br />
[41] Zola, Emile: Germ<strong>in</strong>al. Frankfurt 2006.<br />
[42] Zotz, Volker: Konfuzius. Re<strong>in</strong>bek 2000.<br />
114
116
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie,<br />
Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
6.1 E<strong>in</strong>führung<br />
Nad<strong>in</strong>e Metzger <strong>und</strong> Ricarda Wagner<br />
Jeder wird e<strong>in</strong>mal krank. Wie man jedoch mit dieser persönlichen Krisensituation<br />
umgeht, ist auch kulturell verankert: Während man im heutigen Europa vielleicht se<strong>in</strong>en<br />
Hausarzt aufsucht, homöopathische Kügelchen <strong>in</strong> Selbstmedikation schluckt oder sich<br />
an den traditionell ch<strong>in</strong>esischen Heilpraktiker se<strong>in</strong>es Vertrauens wendet, standen für<br />
den antiken Menschen ganz unterschiedliche Angebote zur Verfügung. Zum e<strong>in</strong>en<br />
versprachen diverse Heilkulte Wiederherstellung von Kraft <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, wobei<br />
mitnichten nur der heute noch gut bekannte Asklepios <strong>in</strong> den großen Zentren se<strong>in</strong>es<br />
Heilkultes verehrt wurde, sondern e<strong>in</strong>e Vielzahl göttlicher Gestalten <strong>in</strong> größeren <strong>und</strong><br />
kle<strong>in</strong>eren lokalen Heiligtümern regen Heilbetrieb hervorriefen.<br />
Außerhalb des organisierten Heilkultes boten fahrende Beschwörer, Bettelpriester,<br />
Astrologen <strong>und</strong> Traumdeuter ihre Dienste an. Man versuchte sich durch Amulette vor<br />
Krankheiten zu schützen <strong>und</strong> magische Rezepte gegen diverse Leiden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Besitz zu<br />
bekommen. Ebenso gibt es aber auch Stimmen der Antike, die diesen Dienstleistungen<br />
kritisch gegenüberstanden <strong>und</strong> damit gleichzeitig ihre eigenen professionellen Interessen<br />
vertraten: Bereits im 5. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. wird <strong>in</strong> gelehrten Schriften argumentiert,<br />
dass die Ursache von Krankheiten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unausgewogenen Mischung der Körpersäfte<br />
liege. Um deren Gleichgewicht wiederherzustellen, brauche der Kranke ke<strong>in</strong>en Magier,<br />
sondern e<strong>in</strong>en gelehrten Experten, der sich mit der Beschaffenheit des menschlichen<br />
Körpers genauestens auskenne: e<strong>in</strong>en Arzt.<br />
Im Zentrum des Kurses standen nicht nur diese verschiedenen antiken Heilungsangebote,<br />
sondern vor allem auch die Frage, wie wir als moderne Historiker<strong>in</strong>nen <strong>und</strong><br />
Historiker über eben diese Aufschluss gew<strong>in</strong>nen können. Zu diesem Zweck setzten<br />
wir uns mit antiken Quellen ause<strong>in</strong>ander, von denen im Folgenden e<strong>in</strong>ige ausgewählte<br />
Beispiele dargestellt seien: Sie bieten E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die Gr<strong>und</strong>lagen antiker Krankheits<strong>und</strong><br />
Therapievorstellungen im Allgeme<strong>in</strong>en (Krankheit als Strafe der Götter, Miasma <strong>und</strong><br />
Ritual), sowie religiöse Heilung (archäologische F<strong>und</strong>stücke aus dem Heilkult von Epidauros,<br />
literarische Darstellung <strong>in</strong> der Komödie, Er<strong>in</strong>nerungen des Asklepios-Patienten<br />
Aristides), magische Heilpraktiken (Fluchtafeln <strong>und</strong> Zauberpapyri) <strong>und</strong> wissenschaftliche<br />
Mediz<strong>in</strong> (Texte aus der Hippokratischen Schriftensammlung) im Speziellen.<br />
Doch wie angemessen beschreiben die modernen Kategorien »Magie«, »Religion«<br />
<strong>und</strong> »Wissenschaft« überhaupt die antiken Vorstellungen So problematisierte der Kurs<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em letzten Schritt die angewandten Begriffe <strong>und</strong> suchte anhand moderner theoretischer<br />
Texte zu ergründen, wie man diese def<strong>in</strong>ieren könnte <strong>und</strong> welche Schwierigkeiten<br />
mit ihrer Anwendung auf die Antike verknüpft s<strong>in</strong>d.<br />
117
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
6.2 Die Bedeutung von Miasma am Beispiel von Sophokles’ Ödipus<br />
Im nachfolgenden Text werde ich die Bedeutung von Krankheit im griechischen Denken<br />
auf literarischer Ebene anhand e<strong>in</strong>iger Auszüge aus Sophokles’ Drama »König Ödipus«<br />
untersuchen.<br />
Hierbei ist der im griechischen Orig<strong>in</strong>al genannte Begriff µίασµα (miasma) von zentraler<br />
Bedeutung. Miasma bezeichnet e<strong>in</strong>en Zustand ritueller Unre<strong>in</strong>heit, der sich <strong>in</strong> Form von<br />
Krankheit äußert. Zurückzuführen ist diese Unre<strong>in</strong>heit auf die Übertretung sittlicher<br />
Normen <strong>und</strong> Gesetze. Miasma erfordert bestimmte kultische Re<strong>in</strong>igungsmaßnahmen,<br />
um überw<strong>und</strong>en zu werden.<br />
Auch <strong>in</strong> der Tragödie »König Ödipus« führt der Autor die <strong>in</strong> Theben herrschende<br />
Krankheit auf das Miasma zurück. So beschreibt beispielsweise e<strong>in</strong> Priester zu Anfang<br />
des Stücks (Z. 14–30) die Unfruchtbarkeit, die Land <strong>und</strong> Bewohner befallen hat, <strong>und</strong><br />
begründet selbige mit e<strong>in</strong>er göttlichen Strafe. Diese Deutung unterstützt ebenfalls die<br />
Aussage Kreons (Z. 95–104), der kurze Zeit dort herrschte. Jener verkündete nämlich<br />
Apollons Forderung nach Sühne zur Beseitigung der Seuche. Des Weiteren nennt er<br />
auch die Quelle der Unre<strong>in</strong>heit, e<strong>in</strong>e »Blutschuld« (Z. 101).<br />
Bedeutsam ist jedoch auch der Zusammenhang zwischen den miasmatischen Auswirkungen<br />
<strong>und</strong> deren Verursacher. Schließlich brachte Ödipus selbst unbewusst die<br />
Unre<strong>in</strong>heit über die Stadt, da er se<strong>in</strong>en Vater tötete <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Mutter heiratete. Dennoch<br />
trifft alle<strong>in</strong> die Bewohner Thebens die göttliche Strafe. Ödipus h<strong>in</strong>gegen bleibt davon<br />
völlig verschont.<br />
Eben diese Konstellation verleiht dem Stück auch se<strong>in</strong>e Brisanz. Auf dieser Basis gibt<br />
es immer wieder verschiedenste Interpretationsansätze. E<strong>in</strong>e solche Interpretation lässt<br />
auf e<strong>in</strong>e starke politische Motivation des Autors schließen. So verdeutliche er etwa anhand<br />
der ungleichen miasmatischen Auswirkungen die damalige <strong>Gesellschaft</strong>ssituation<br />
metaphorisch. Der verschonte, jedoch schuldige Ödipus symbolisiert hierbei die Herrscherklasse,<br />
die unter der Seuche leidenden Bürger stellen das Volk dar. Das bedeutet<br />
folglich, dass sich die e<strong>in</strong>fache Bevölkerung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gesellschaftlich schlechteren Lage<br />
befand, da sie die negativen Auswirkungen zu tragen hatte, obgleich die Herrscher<br />
eigentlich für ihre Fehlentscheidungen verantwortlich waren.<br />
Alles <strong>in</strong> allem lässt sich vermuten, dass der Autor durch die Verwendung <strong>und</strong> Darstellung<br />
von Miasma mehr als e<strong>in</strong>e religiöse Ansicht vermitteln wollte, sodass dem<br />
Stück e<strong>in</strong>e tiefere, gesellschaftskritischere Metaphorik zu Gr<strong>und</strong>e liegt als es zuerst den<br />
Ansche<strong>in</strong> haben mag. Doch es wäre falsch, das Stück alle<strong>in</strong> auf diesen kritischen Aspekt<br />
zu reduzieren. Denn Ödipus’ Umgang mit se<strong>in</strong>er eigenen Schuld am Leid der Bürger<br />
zeigt vor allem auch die persönliche Tragik von Miasma.<br />
118
6.3 Die Verb<strong>in</strong>dung von Ritual <strong>und</strong> Miasma<br />
6.3 Die Verb<strong>in</strong>dung von Ritual <strong>und</strong> Miasma<br />
Ritual <strong>und</strong> Miasma s<strong>in</strong>d zwei theoretische Konzepte, die eng zusammenhängen. Im<br />
Folgenden werden die Begriffe erklärt <strong>und</strong> der Zusammenhang zwischen beiden hergestellt.<br />
Rituale s<strong>in</strong>d Handlungsprozesse, die für Kollektive gemacht s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> je nach historischer<br />
Situation aktualisiert werden. E<strong>in</strong> Ritual ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelne Abschnitte unterteilt.<br />
Es ist e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>fachung, die sich auf das Wesentliche beschränkt. E<strong>in</strong> Ritual wird<br />
feierlich begangen, immer aus demselben Anlass wiederholt <strong>und</strong> öffentlich bzw. vor<br />
e<strong>in</strong>er ausgewählten Öffentlichkeit ausgeführt. Ritual bedeutet auch, etwas <strong>in</strong> Szene zu<br />
setzen. E<strong>in</strong>erseits wird die Geme<strong>in</strong>schaft gefördert, andererseits auch die Abgrenzung.<br />
Man gehört e<strong>in</strong>er Glaubens- <strong>und</strong> Wertegeme<strong>in</strong>schaft an. Die Organisatoren des Rituals<br />
wollen sich <strong>und</strong> den Mittelpunkt des Rituals aufwerten <strong>und</strong> können dadurch andere<br />
abwerten. Es werden Symbole gezeigt, die für etwas Abwesendes stehen <strong>und</strong> es dadurch<br />
anwesend ersche<strong>in</strong>en lassen. E<strong>in</strong> festes Ritual beruhigt <strong>und</strong> gibt Sicherheit. Also haben<br />
Rituale e<strong>in</strong>e suggestive Wirkung, das heißt, sie bee<strong>in</strong>flussen manipulativ. Heilrituale,<br />
e<strong>in</strong>e besondere Art der Rituale, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Art Placebo, denn sie wirken, weil die Leute<br />
daran glauben. Rituale dienen auch zur Re<strong>in</strong>waschung des Gewissens. Dadurch erlaubt<br />
man sich zum Beispiel e<strong>in</strong> Tier zu opfern.<br />
Miasma ist der Zustand moralischer Unre<strong>in</strong>heit, abgeleitet vom griechischen Verb<br />
µιαίνειν (mia<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: »beschmutzen«, »färben«). Diese moralische Unre<strong>in</strong>heit ist die Folge<br />
von Übertretung von Normen <strong>und</strong> Gesetzen <strong>und</strong> zeigt sich <strong>in</strong> Form von Krankheiten oder<br />
Unfruchtbarkeit. Sie ist e<strong>in</strong>e Strafe der Götter. Die weit verbreitete Ansicht <strong>in</strong> der Antike<br />
war, dass die Krankheiten e<strong>in</strong>en göttlichen oder dämonischen Ursprung haben. Es gibt<br />
zwei Personengruppen, die gegen Miasma helfen können: E<strong>in</strong>erseits gibt es den Re<strong>in</strong>iger<br />
<strong>und</strong> andererseits den Heiler. Der Re<strong>in</strong>iger behandelt die Symptome durch magische<br />
Rituale <strong>und</strong> Techniken. Der Heiler diagnostiziert den Ursprung der Krankheit <strong>und</strong> legt<br />
danach die angemessene Heilung <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er Re<strong>in</strong>igung fest. Um die Re<strong>in</strong>igung<br />
durchzuführen wurden Wasser, Feuer, Pflanzen <strong>und</strong> Beschwörungsformeln verwendet.<br />
Außerdem konnte man die Krankheit auf e<strong>in</strong> anderes Lebewesen oder e<strong>in</strong>en Gegenstand<br />
wie Eier übertragen. Sie konnten e<strong>in</strong>zeln oder zusammen angewendet werden. Das<br />
Miasma kann außerdem durch e<strong>in</strong> besonderes Ritual, das Re<strong>in</strong>igungsritual, geheilt<br />
werden. Der Zustand der seelischen Unre<strong>in</strong>heit kann durch die rituelle Re<strong>in</strong>igung<br />
beendet werden. So hängen Miasma <strong>und</strong> Ritual eng zusammen.<br />
6.4 Krankheiten <strong>und</strong> Götter <strong>in</strong> der »Ilias«<br />
Im antiken griechischen Denken trugen oft die Götter die Schuld an Krankheiten, doch<br />
setzte man auch auf dieselben die Hoffnung auf Heilung. E<strong>in</strong>e der ersten Quellen<br />
für dieses Denken ist Homer, welcher <strong>in</strong> den Dark Ages (8./7. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr.)<br />
geschrieben hat, wobei se<strong>in</strong>e Autorschaft sehr umstritten ist. In e<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>er Werke, der<br />
119
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
»Ilias«, geht es um die Schlacht um Troja, <strong>in</strong> der Griechen <strong>und</strong> Trojaner gegene<strong>in</strong>ander<br />
kämpfen. E<strong>in</strong> gutes Beispiel für das Thema »Götter <strong>und</strong> Krankheiten« f<strong>in</strong>det sich am<br />
Anfang dieses Werkes (1. Buch V. 5–24; 33–61; 303–317; 437–457).<br />
Die geraubte Chrysa soll von ihrem Vater Chryses, dem Tempelpriester Apollons, von<br />
den Griechen freigekauft werden. Nachdem die Griechen ihm dies allerd<strong>in</strong>gs verweigert<br />
haben, bittet Chryses Apollon jenes zu vergelten. Daraufh<strong>in</strong> schickt Apollon e<strong>in</strong>e Seuche<br />
<strong>in</strong> das Lager der Griechen, die sie nur durch die Rückgabe der Priestertochter <strong>und</strong> e<strong>in</strong><br />
Sühnenopfer wieder abwenden können.<br />
Der hier genannte Gott Apollon ist die antike Gottheit für Zerstörung, Extase, aber<br />
auch für Musik, Poesie, Wahrsagen <strong>und</strong> Heilung. Er ist sowohl Urheber als auch Heiler<br />
von Krankheiten, weshalb die Menschen ihn fürchteten, aber trotzdem auf ihn hofften.<br />
Deswegen ruft Chryses diesen Gott mit e<strong>in</strong>em Gebet zur Hilfe, um se<strong>in</strong>e Rache an den<br />
Griechen zu üben. Apollon erhört ihn, woraufh<strong>in</strong> die Griechen nun auch zu ihm beten,<br />
<strong>in</strong> der Hoffnung der Seuche zu entkommen.<br />
Im Gegensatz zu Chryses unterziehen sich die Griechen vorab e<strong>in</strong>er rituellen Waschung,<br />
um die Schuld abzustreifen. Diese Waschung f<strong>in</strong>det im Meer statt, wie es zu<br />
e<strong>in</strong>em solchem Anlass üblich war. Man glaubte nämlich, dass die Schuld von den wogenden<br />
Wellen davongespült werde, da das Meer so unendlich weit schien. Anschließend<br />
folgt das eigentliche Gebet, bei dem die Griechen <strong>und</strong> auch Chryses, der ihnen nun beisteht,<br />
bestimmte Richtl<strong>in</strong>ien befolgen müssen, an die sich jeder im antiken Griechenland<br />
halten musste: Zuerst wird die Gottheit angerufen, wobei viele lobende Adjektive dem<br />
Namen angehängt werden. Dabei hat jeder Gott, je nach se<strong>in</strong>em Aufgabengebiet, unterschiedliche<br />
lobende Worte. Überdies werden oft auch die heiligen Gegenstände erwähnt,<br />
die die entsprechende Gottheit symbolisieren, obgleich jede Gottheit mit Adjektiven<br />
wie »mächtig«, »groß«, oder dergleichen angeredet werden kann. So ruft Chryses hier<br />
Apollon, <strong>in</strong>dem er ihn auf se<strong>in</strong>en silbernen Bogen, die heilige Killa <strong>und</strong> Tenedos, das er<br />
»mächtig beherrsch[es]t« (V. 38), anspricht.<br />
Im Anschluss daran werden dem Gott »vollkommene Sühnehekatomben mutiger<br />
Stier <strong>und</strong> Ziegen« (V. 315, 316) dargeboten. E<strong>in</strong>e Hekatombe ist e<strong>in</strong>e Opfergabe aus<br />
h<strong>und</strong>ert Opfertieren. Überdies werden den Göttern meist weiße Tiere geopfert, welche<br />
für Re<strong>in</strong>heit stehen. Somit ist der letzte Schritt des Betens erfüllt: auf sich aufmerksam<br />
machen, denn es gilt das Gesetz »do ut des« (ich gebe, damit du gibst). Das heißt,<br />
dass die Götter nur helfen, wenn ihnen dafür Opfer gegeben werden. Als letztes bittet<br />
Chryses im Namen der Griechen Apollon die Seuche zurückzuziehen <strong>und</strong> dieser erhört<br />
ihn.<br />
Außerdem handelt dieser Text von e<strong>in</strong>em Miasma. Das bedeutet Strafe auf Gr<strong>und</strong> von<br />
religiöser Unre<strong>in</strong>heit. In diesem Text beleidigen die Griechen den Priester des Apollon<br />
<strong>und</strong> damit auch diesen selbst, weshalb der Gott ihnen die Epidemie sendet. Tatsächlich<br />
haben sich die antiken Menschen die Epidemie als Strafe der Götter vorgestellt, da es für<br />
sie anders nicht zu erklären war, dass sich e<strong>in</strong>e Krankheit so schnell ausbreitet. Zudem<br />
wussten die Menschen damals nichts von Ansteckung, weshalb sie sich das schnelle<br />
Ausbreiten der Krankheit mit den Pfeilen Apollons erklärten. Diese Pfeile s<strong>in</strong>d schnell<br />
<strong>und</strong> unsichtbar, aber ihre Wirkung tritt sofort e<strong>in</strong>.<br />
120
6.5 Epidauros – Tempel <strong>und</strong> Kurstätte<br />
Krankheiten, besonders Epidemien, wurden im antiken Griechenland also oft als<br />
Miasma angesehen. Doch war es schwierig, die beleidigten Götter wieder zu versöhnen,<br />
um erneut Ges<strong>und</strong>heit zu erlangen, was nur durch verschiedene Rituale möglich war.<br />
6.5 Epidauros – Tempel <strong>und</strong> Kurstätte<br />
Heilungen <strong>in</strong> der Antike h<strong>in</strong>gen sehr stark mit dem Götterkult zusammen: Im Falle e<strong>in</strong>er<br />
Erkrankung suchte man e<strong>in</strong> Heiligtum des Heilgottes Asklepios auf. Diese Heiligtümer<br />
<strong>und</strong> die dar<strong>in</strong> stattf<strong>in</strong>denden Heilungen lassen sich sehr gut mit e<strong>in</strong>er Kurstätte <strong>in</strong> der<br />
heutigen Zeit vergleichen. Anders als die anderen Göttertempel, die nur zum Beten<br />
oder bei Festen besucht wurden, verbrachte man <strong>in</strong> den Heilkultstätten e<strong>in</strong>e beachtliche<br />
Zeitspanne. Außerdem war e<strong>in</strong> solcher Tempelbesuch nicht nur von religiösen Taten<br />
<strong>und</strong> Akten durchzogen, sondern schloss auch weltliche Spektakel wie Theater <strong>und</strong><br />
Sportveranstaltungen mit e<strong>in</strong>. Das wohl bekannteste dieser Heiligtümer des Heilgottes<br />
Asklepios war Epidauros, das e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> den »Kurbetrieb« <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er solchen<br />
Heilstätte bot.<br />
Epidauros liegt auf der argivischen Halb<strong>in</strong>sel <strong>und</strong> wurde bekannt durch die dort<br />
stattf<strong>in</strong>denden W<strong>und</strong>erheilungen, welche auf den Iamata, den Heilungsberichten, festgehalten<br />
wurden. Da diese auf Ste<strong>in</strong>säulen geschrieben waren, blieben sie auch für die<br />
Nachwelt erhalten <strong>und</strong> wurden zu e<strong>in</strong>er bedeutenden Quelle über den Asklepioskult. Als<br />
bedeutendstes Heiligtum <strong>und</strong> Zentrum des Asklepioskultes erlangte Epidauros schnell<br />
großes Ansehen <strong>und</strong> häufte durch Geschenke <strong>und</strong> Weihgaben e<strong>in</strong> beachtliches Vermögen<br />
an, so dass Epidauros als e<strong>in</strong> eigenständiges Wirtschaftsunternehmen betrachtet werden<br />
konnte, das von den Priestern geleitet <strong>und</strong> verwaltet wurde.<br />
Epidauros selbst erstreckte sich über e<strong>in</strong>e riesige Fläche <strong>und</strong> konnte <strong>in</strong> mehrere<br />
Bereiche unterteilt werden. Zunächst gelangte man <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>gangsbereich mit den<br />
großen Ste<strong>in</strong>toren, den Propyläen. Diesem folgte dann der heilige Tempelbezirk mit dem<br />
Tempel, Altar <strong>und</strong> der Liegehalle, <strong>in</strong> der die Heilung stattfand, dem sogenannten Abaton.<br />
Außerdem umfasste das Gelände auch e<strong>in</strong>ige Verwaltungs-, Lager- <strong>und</strong> Wohngebäude.<br />
Kurstätten wie Bäder <strong>und</strong> Gymnastikhallen, sowie e<strong>in</strong> Theater <strong>und</strong> Stadion gehörten<br />
auch zu den festen Bestandteilen von Epidauros, die dazu beitrugen e<strong>in</strong>en Besuch im<br />
Heiligtum angenehmer für den Kranken zu gestalten.<br />
Doch wie verlief eigentlich der Besuch e<strong>in</strong>es Heilsuchenden <strong>in</strong> Epidauros Da <strong>in</strong> den<br />
Heiligtümern des Asklepios das Gesetz der Re<strong>in</strong>heit galt, musste sich jeder Pilger vor<br />
dem Betreten des Tempelbezirks an e<strong>in</strong>em Brunnen re<strong>in</strong>igen. Im heiligen Bezirk wurde<br />
dann auf dem Altar vor dem Tempel dem Gott Asklepios e<strong>in</strong> Opfer dargebracht. Dies war<br />
meist e<strong>in</strong> Tier- oder Geldopfer, konnte aber auch die Form anderer Speisen annehmen.<br />
Anschließend hatte der Heilsuchende die Möglichkeit sich im Heiligtum umzusehen.<br />
Dabei begegnete man den vielen Iamata <strong>und</strong> Weihreliefs, die sich mit den Leiden <strong>und</strong><br />
der Heilung anderer beschäftigten. Dadurch war es dem Kranken möglich sich auf<br />
die eigene Heilung e<strong>in</strong>zustellen, die während des Tempelschlafs im Abaton stattfand.<br />
Dabei wurden die Patienten im Traum entweder direkt von Asklepios geheilt oder der<br />
121
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
Gott verschrieb ihnen Kuren, Diäten <strong>und</strong> Heilmittel, die sie am kommenden Morgen<br />
ausführen bzw. e<strong>in</strong>nehmen sollten. Hierzu standen ihnen die Bäder, Gymnastikhallen<br />
<strong>und</strong> die Priester zur Verfügung. Bei längeren Aufenthalten im Heiligtum besuchte man<br />
das Theater oder wohnte e<strong>in</strong>em Wettkampf im Stadion bei. Nach der Heilung wurde<br />
dem Gott zum Dank e<strong>in</strong> weiteres Opfer dargebracht, bevor man das Heiligtum verließ.<br />
Heiligtümer wie Epidauros waren also nicht nur Orte, an denen man zu den Göttern<br />
beten konnte, sondern boten auch die Möglichkeit sich selbst etwas Gutes zu tun.<br />
Außerdem boten sie neben der Hoffnung auf w<strong>und</strong>ersame Weise von Asklepios geheilt<br />
zu werden e<strong>in</strong> breites Spektrum an kulturellen Angeboten, die auch mit Begeisterung von<br />
den Griechen angenommen wurden <strong>und</strong> die Popularität des Asklepioskults förderten.<br />
6.6 Iamata<br />
Durch antike Quellen weiß man heutzutage, dass die antike Heilkunst schon im alten<br />
Griechenland auch kommerziell war. Dies sieht man sehr gut an den sogenannten Iamata,<br />
die wie e<strong>in</strong>e Art Werbetafel an dem E<strong>in</strong>gang des Tempels des griechischen Heilgottes<br />
Asklepios <strong>in</strong> Epidauros standen.<br />
Der Begriff »Iamata« stammt von dem altgriechischen Wort αµα (iama), das »Heilung«<br />
bedeutet. Er bezeichnet e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong>block, <strong>in</strong> den Inschriften e<strong>in</strong>graviert wurden. Diese<br />
Stelen s<strong>in</strong>d ca. 2,10 m hoch <strong>und</strong> ca. 1,50 m breit. Sie wurden nur im Asklepios-Tempel<br />
<strong>in</strong> Epidauros gef<strong>und</strong>en. Auf den griechischen Inschriften haben die Menschen ihre<br />
Erfahrungen mit den Heilungen <strong>in</strong> den Tempeln festgehalten. Bei diesen Heilungen<br />
konnten die Menschen ihre Krankheiten im Schlaf besiegen, da ihnen der Heilgott<br />
Asklepios erschien <strong>und</strong> ihnen e<strong>in</strong>e Therapie vorschlug. Da die Iamata am E<strong>in</strong>gang<br />
des Tempels standen, konnten sich die Besucher e<strong>in</strong> Bild darüber machen, was für<br />
Heilungen dort schon vollbracht worden waren. Man muss jedoch beachten, dass nur<br />
die gelungenen Heilungen dort aufgeführt wurden, um die Menschen zu bee<strong>in</strong>drucken.<br />
Asklepios wurde dar<strong>in</strong> immer als barmherzig dargestellt.<br />
122
6.7 E<strong>in</strong> Gott im Asklepieion. Aristophanes’ Komödie »Reichtum«<br />
So heilte er laut e<strong>in</strong>es Iamata-Berichts zum Beispiel Euphanes von Epidauros, der noch<br />
e<strong>in</strong> Junge war, von se<strong>in</strong>em Harnste<strong>in</strong>. Obwohl der Junge nicht viel besaß, wollte er ihm<br />
dennoch alles geben. Asklepios lachte nur <strong>und</strong> behandelte den Jungen sogar für diese<br />
kle<strong>in</strong>e Opfergabe (vgl. Stelen mit Heilberichten aus Epidauros, Herzog 1931: Nr. 8).<br />
Doch man f<strong>in</strong>det auch Geschichten, <strong>in</strong> denen den Menschen verdeutlicht wird, dass<br />
man die Versprechen an Asklepios <strong>und</strong> an das Heiligtum auch halten muss. So wurde<br />
e<strong>in</strong> Mann zunächst von se<strong>in</strong>er Bl<strong>in</strong>dheit geheilt, doch als er dem Gott ke<strong>in</strong> Bild aus<br />
purem Gold, sondern nur e<strong>in</strong> vergoldetes Holzbild weihte, wurde er wieder bl<strong>in</strong>d. Doch<br />
Asklepios heilte ihn wieder, als er se<strong>in</strong> Versprechen schließlich e<strong>in</strong>löste (Herzog 1931:<br />
Nr. 55).<br />
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Iamata nicht nur e<strong>in</strong>e Art Werbetafel<br />
für die Heilstätten waren, sondern auch zeigten, dass man sich für e<strong>in</strong> Heilerlebnis<br />
an gewisse Regeln halten musste. Die Iamata s<strong>in</strong>d jedoch bis heute e<strong>in</strong>e gut erhaltene<br />
Überlieferung aus der Antike, die uns etwas über den W<strong>und</strong>erglauben im Alltag der<br />
Griechen zeigt.<br />
6.7 E<strong>in</strong> Gott im Asklepieion. Aristophanes’ Komödie »Reichtum«<br />
Der griechische Komödiendichter Aristophanes begann 408 v. Chr. die Arbeit an se<strong>in</strong>em<br />
Werk Reichtum, griechisch Πλοτος (Ploutos). Im Jahr 388 v. Chr. überarbeitete er das<br />
Werk nochmals <strong>und</strong> <strong>in</strong> dieser Form ist es für uns erhalten geblieben.<br />
Das Stück beg<strong>in</strong>nt damit, dass Chremylus, e<strong>in</strong> eher e<strong>in</strong>fältiger <strong>und</strong> vor allem armer<br />
Athener, das Orakel von Delphi verlässt <strong>und</strong> – der dort erhaltenen Weisung des Gottes<br />
Apollon folgend – e<strong>in</strong>en bl<strong>in</strong>den Bettler <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Haus e<strong>in</strong>lädt. An dieser Stelle fällt auf,<br />
dass der Autor nicht so weit geht, das Geschehen im Tempel des Orakels oder später<br />
<strong>in</strong> anderen Heiligtümern auf der Bühne darstellen zu lassen. Wir erfahren von den<br />
an diesen Orten geschehenen Handlungen nur durch Erzählungen der Figuren. Dar<strong>in</strong><br />
zeigt sich der Respekt des Aristophanes vor dem Göttlichen, wenngleich er Menschen<br />
darstellt, denen diese Ehrfurcht fehlt.<br />
Zunächst wird allerd<strong>in</strong>gs genau das Gegenteil dargestellt, denn als sich der bl<strong>in</strong>de<br />
Gast dem glücklichen Chremylus als Gott des Reichtums zu erkennen gibt, umsorgt<br />
dieser ihn. Denn er erhofft sich, dass er durch den Segen des Gottes reich wird, wenn der<br />
erst se<strong>in</strong> Augenlicht zurückerlangt hat <strong>und</strong> dadurch auch die Fähigkeit, gute Menschen<br />
von schlechten zu unterscheiden, also den Reichtum der Welt entsprechend zuzuteilen.<br />
Chremylus <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Sklave Kario br<strong>in</strong>gen den Gott daher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Tempel, um<br />
ihn von Asklepios, dem Gott der Mediz<strong>in</strong>, heilen zu lassen. An dieser Stelle zeigt sich<br />
schließlich die fehlende Ehrfurcht der Menschen vor den Göttern: Die von den Gläubigen<br />
mitgebrachten Opfergaben stiehlt e<strong>in</strong> Priester <strong>und</strong> Kario fühlt sich von der »Heiligkeit«<br />
dieser Handlung so <strong>in</strong>spiriert, dass er es ihm nachtut, ohne große Angst vor der Rache<br />
des Gottes zu zeigen.<br />
Der Versuch, e<strong>in</strong>e Genesung durch den Schlaf <strong>in</strong> Asklepios’ Heiligtum herbeizuführen,<br />
illustriert, dass die Figuren des Aristophanes den Göttern durchaus W<strong>und</strong>er zutrauen.<br />
Doch Strafe sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> der Vorstellung der Menschen kaum Teil ihres Repertoires gewesen<br />
123
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
zu se<strong>in</strong>. In solchen Fällen g<strong>in</strong>g man ansche<strong>in</strong>end e<strong>in</strong>fach davon aus, dass die olympischen<br />
Herrscher über den Erdkreis eben auch nicht alles wissen konnten.<br />
In Verb<strong>in</strong>dung damit fällt auf, dass Aristophanes die Götter als real existent – ja, als<br />
handelnde Figuren darstellt. Im weiteren Verlauf des Stückes treten unter anderem noch<br />
Hermes, der Götterbote, <strong>und</strong> Penia, die Gött<strong>in</strong> der Armut, auf, beide <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sprechrolle.<br />
Doch es ist Ploutos, der nach dem Willen des Volkes der neue Zeus werden soll, denn er<br />
verteilt freigiebig Reichtum an alle Gerechten. Angesichts dieser offensichtlichen Gaben<br />
vernachlässigen die Menschen des Stückes die anderen Götter.<br />
Zwar haben wir es bei Reichtum mit e<strong>in</strong>er Komödie zu tun, doch können wir aus<br />
Aristophanes’ Darstellung der Menschen se<strong>in</strong>er Zeit e<strong>in</strong>ige Rückschlüsse auf das religiöse<br />
Leben der antiken Griechen ziehen. Aristophanes’ Werk zeigt, dass sie sich die Menschen<br />
auch damals – wie vielleicht <strong>in</strong> allen Zeitaltern – vor allem dann an die Götter wandten,<br />
wenn sie gerade e<strong>in</strong>e Gunst, wie etwa e<strong>in</strong>e Heilung, benötigten <strong>und</strong> ansonsten eher <strong>in</strong><br />
den sehr weltlichen Bahnen dachten, die zu so vielen H<strong>in</strong>terlassenschaften ihrer Kultur<br />
führten.<br />
6.8 Aelius Aristides: »Heilige Reden«<br />
Aelius Aristides, e<strong>in</strong> griechischer Rhetor <strong>und</strong> Schriftsteller im 2. Jahrh<strong>und</strong>ert n. Chr.,<br />
berichtet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en »Heiligen Reden« über Heilungen durch den Gott Asklepios. Aristides,<br />
selbst an e<strong>in</strong>er chronischen Krankheit leidend, betrachtete Asklepios als se<strong>in</strong>en<br />
persönlichen Schutzgott.<br />
Im zweiten Buch se<strong>in</strong>er »Heiligen Reden« berichtet er über e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Heilungserfahrungen.<br />
Aristides wird von den unterschiedlichsten Leiden befreit, alle<strong>in</strong> der<br />
rettende Heilschlaf durchzieht als Leitmotiv den gesamten Text. In den Abschnitten 1–24<br />
ersche<strong>in</strong>t der Gott Asklepios dem erkrankten Aristides im Traum <strong>und</strong> rät ihm, mitten im<br />
W<strong>in</strong>ter, e<strong>in</strong> Bad im eiskalten Fluss zu nehmen, wodurch dieser tatsächlich geheilt wird.<br />
In e<strong>in</strong>em anderen Textabschnitt wird von e<strong>in</strong>em sogenannten Doppeltraum berichtet.<br />
Aristides, der schon seit Monaten schwer erkrankt ist, träumt, wie er selbst vor vielen<br />
Leuten die göttliche Heilkraft des Asklepios rühmt. Außerdem preist er im Schlaf e<strong>in</strong><br />
Heilmittel, das ihm von dem Gott empfohlen worden war. Am darauffolgenden Tag<br />
– Aristides zweifelt, ob er dieses Mittel e<strong>in</strong>nehmen soll – erfährt er, dass e<strong>in</strong> Tempelwärter<br />
genau denselben Traum hatte. Als Aristides nun dieses Mittel e<strong>in</strong>nimmt, wird er geheilt.<br />
In diesem Abschnitt war der Doppeltraum entscheidend für die Genesung. Der Patient<br />
selbst ist noch im Zweifel, ebenso wie e<strong>in</strong> herbeigerufener Arzt, aber Asklepios schaffte<br />
es, diese Zweifel zu beseitigen.<br />
An anderer Stelle wird e<strong>in</strong>e gesamte Stadtgeme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>schließlich Aristides von e<strong>in</strong>er<br />
tödlichen Seuche befallen. Aristides liegt im Sterben, die Ärzte haben alle Hoffnung<br />
aufgegeben, bis er plötzlich e<strong>in</strong>es Nachts von Asklepios träumt <strong>und</strong> wieder vor dem Tod<br />
gerettet wird.<br />
Insgesamt lässt sich über den Text sagen, dass die Götter, hier meist Asklepios, dem<br />
schwerkranken Aristides im Traum ersche<strong>in</strong>en <strong>und</strong> ihn ohne Ausnahme heilen. Aristides<br />
124
6.9 Papyri, Blei <strong>und</strong> Pergament<br />
wirkt wie e<strong>in</strong> sehr religiöser Mensch, der für se<strong>in</strong>en tiefen Glauben an die Götter immer<br />
belohnt wird. Allerd<strong>in</strong>gs erwarten auch die Götter Gegenleistung, d. h. Opfer <strong>und</strong><br />
Lobpreisungen, zum Dank für ihre Hilfe.<br />
Die Wissenschaft spielt <strong>in</strong> den »Heiligen Schriften« des Aristides e<strong>in</strong>e eher untergeordnete<br />
Rolle. Ärzte werden zwar erwähnt, aber immer nur als hilflose Randgestalten.<br />
Alles <strong>in</strong> allem lehnt Aristides die wissenschaftliche Mediz<strong>in</strong> zwar nicht vollkommen ab,<br />
aber er schenkt den Göttern <strong>und</strong> damit der Religion e<strong>in</strong>deutig mehr Vertrauen.<br />
6.9 Papyri, Blei <strong>und</strong> Pergament – Quellengattungen der antiken Magie<br />
Die Magie der griechischen Antike ist seit dem 6. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. nachzuweisen. Das<br />
Wissen über die antiken mystischen Praktiken basiert auf drei verschiedenen Quellengattungen.<br />
Magie kann als Arbeitsdef<strong>in</strong>ition die Inanspruchnahme e<strong>in</strong>er übernatürlichen<br />
Macht <strong>und</strong> den mit ihr verb<strong>und</strong>enen bösen Attributen darstellen. Hierbei wird das<br />
Ziel verfolgt, E<strong>in</strong>fluss auf das Leben e<strong>in</strong>es anderen zu nehmen oder sich eben davor zu<br />
schützen.<br />
Die literarischen Quellen bilden die erste Gattung. Wie z. B. die Bibel <strong>und</strong> die Zauberbücher,<br />
wurden die Werke dieser Gruppe primär von hochgebildeten Menschen verfasst.<br />
Da die hohe Bildung nur der Oberschicht zugänglich war, stellt sich uns der E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong><br />
den Alltag des »Otto Normal-Römers/Griechen« nur dezimiert dar.<br />
Die Zauberpapyri h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d von e<strong>in</strong>er größeren Bandbreite von Menschen verfasst<br />
worden. Diese professionellen Anweisungen für Magier entstanden ca. ab dem 4. <strong>und</strong><br />
5. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. Sie wurden im Geheimen von Person zu Person weitergegeben,<br />
kopiert <strong>und</strong> abgeändert. Auffällig ist bei dieser Gattung, dass zuweilen e<strong>in</strong>e eigene<br />
Fachsprache der Magie angewandt wurde.<br />
Die dritte Gattung besteht aus den so genannten Defixionen. Unter diesen versteht<br />
man kle<strong>in</strong>e Bleitafeln, auf denen Verfluchungen, Heilzauber <strong>und</strong> Liebeszauber e<strong>in</strong>geritzt<br />
s<strong>in</strong>d. Die aus der Spätantike stammenden Fluchtafeln bieten den größten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das<br />
Leben des durchschnittlichen Römers oder Griechen. Durch die außergewöhnliche Haltbarkeit<br />
von Blei ist an manchen Orten e<strong>in</strong>e über 200 Jahre lückenlose Defixionstradition<br />
nachzuweisen. E<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick bietet e<strong>in</strong>e Tafel aus Athen aus dem 4. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
v. Chr.:<br />
Αριστοκδη κα τς φανοµένας ατ γυνακας µήποτ ατν γµαι λλην γυνακα<br />
µηδ παδα.<br />
»[Ich b<strong>in</strong>de h<strong>in</strong>ab] Aristokydes <strong>und</strong> die Frauen, die man mit ihm sieht. Möge<br />
er ke<strong>in</strong>e andere Frau oder Mädchen heiraten.« (zitiert nach Brodersen 2001:<br />
64)<br />
Zu ergänzen ist der e<strong>in</strong>leitende Ausdruck καταδ (katadō, »ich b<strong>in</strong>de h<strong>in</strong>ab«). Dieser<br />
verdeutlicht durch die Nutzung des Wortes »h<strong>in</strong>ab« die Beschwörung der Unterweltgötter,<br />
die das Böse br<strong>in</strong>gen. Für das Letztgenannte wird sich zumeist der chthonischen<br />
Götter bedient – der Götter, die Leben <strong>und</strong> Tod zugleich <strong>in</strong> sich vere<strong>in</strong>en – <strong>und</strong> somit die<br />
125
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
bestmögliche Verb<strong>in</strong>dung vom Hier zum Jenseits bilden. In oben zitierter Quelle kann die<br />
Beschwörungsformel von e<strong>in</strong>er Frau niedergeschrieben worden se<strong>in</strong>, die vermutlich <strong>in</strong><br />
Aristokydes verliebt ist <strong>und</strong> deshalb mit dem Fluch versucht, andere γυνακες (gynaikes,<br />
»Frauen«) von ihm fernzuhalten <strong>und</strong> mögliches γαµεν (game<strong>in</strong>, »Heiraten«; im Text als<br />
γµαι) dieser zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Die Defixionen s<strong>in</strong>d folglich sehr aussagekräftig für das heutige Verständnis der Antike.<br />
Sie stellen viele kle<strong>in</strong>e Momentaufnahmen des Lebens e<strong>in</strong>es antiken Menschen dar <strong>und</strong><br />
können somit e<strong>in</strong>en besseren E<strong>in</strong>blick als viele andere Quellen <strong>in</strong> deren Gefühlswelt<br />
bieten.<br />
6.10 Das Corpus Hippocraticum<br />
Der Begriff des Hippokratischen Corpus steht bezeichnend für e<strong>in</strong>e der frühesten <strong>und</strong><br />
umfassendsten Sammlungen historischer mediz<strong>in</strong>ischer Schriften, die diverse Themen<br />
der Humanmediz<strong>in</strong> ausführlich behandeln. Die Zeit se<strong>in</strong>er Entstehung erstreckt sich<br />
vom 5. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. bis <strong>in</strong> die frühe Kaiserzeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />
Zu Beg<strong>in</strong>n der meisten Fassungen des Corpus bef<strong>in</strong>det sich der hippokratische Eid, der<br />
die zentralen Gr<strong>und</strong>sätze, die e<strong>in</strong>en prädest<strong>in</strong>ierten Arzt der damaligen Zeit auszeichnen,<br />
aufzählt. Auch teilt er die Schriften klar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielzahl von Kategorien e<strong>in</strong>. So erfolgt<br />
z. B. e<strong>in</strong>e Differenzierung von Männer- <strong>und</strong> Frauenkrankheiten, bei denen die jeweiligen<br />
Behandlungsmethoden stark von e<strong>in</strong>ander variieren können. Zudem ist das Corpus die<br />
erste Quelle, die speziell auf die noch später praktizierte Vier-Säfte-Lehre e<strong>in</strong>geht.<br />
E<strong>in</strong>e zusätzliche Steigerung se<strong>in</strong>es Bekanntheitsgrads sowie se<strong>in</strong>er Bedeutung <strong>in</strong> der<br />
modernen Mediz<strong>in</strong> erhielt das Corpus, da es die Lehrbarkeit des bisher ausschließlich<br />
oral tradierten Wissens verbesserte. Auch lieferte es e<strong>in</strong>e Vielzahl f<strong>und</strong>amentaler Gedanken<br />
<strong>und</strong> Anregungen, wie beispielsweise e<strong>in</strong>e Stellungnahme zur Abtreibung, die bis <strong>in</strong><br />
die heutige Zeit zitiert <strong>und</strong> bei Diskussionen angeführt werden. Viele Mediz<strong>in</strong>historiker<br />
machten es sich zur Aufgabe, die genaue Autorschaft des Corpus zu erforschen, da<br />
aus <strong>in</strong>tensiver Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den e<strong>in</strong>zelnen Schriften, anhand der zeitlichen<br />
E<strong>in</strong>ordnung <strong>und</strong> der markanten Qualitätsunterschiede e<strong>in</strong>deutig hervorgeht, dass die<br />
Mehrzahl derer nicht der Person des Hippokrates zugeschrieben werden können. Dies<br />
ist der Punkt, an dem sich die gelehrten Geister des letzten Jahrtausends, die sich mit<br />
der Schließung dieser Wissenslücke beschäftigten, scheiden. Im Allgeme<strong>in</strong>en werden<br />
hier zwei konträre Theorien angeführt.<br />
Zum e<strong>in</strong>en existiert die traditionelle Theorie, deren Entstehungszeit im 2. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
v. Chr. liegt <strong>und</strong> von Galen <strong>in</strong>s Leben gerufen wurde <strong>und</strong> die dem Arzt Hippokrates<br />
Schriften zuspricht, wie etwa die Epidemien I <strong>und</strong> III, das Prognostikon oder »De<br />
natura hom<strong>in</strong>is« (»Über die Natur des Menschen«), <strong>in</strong> welcher der Ursprung der<br />
Humoralpathologie niedergelegt ist, die bis <strong>in</strong> das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert praktiziert wurde.<br />
Dem gegenüber steht die historisch-kritische Theorie Ludwig Edelste<strong>in</strong>s. Diese versucht<br />
zu beweisen, dass ke<strong>in</strong>e der im Corpus enthaltenen Schriften von dem Arzt<br />
Hippokrates verfasst wurde. Hierzu stützt er sich sowohl auf die mangelnde Ordnung<br />
126
6.11 Antike Mediz<strong>in</strong>: Humoralpathologie<br />
als auch auf die Zusammenhanglosigkeit der e<strong>in</strong>zelnen Schriften. Als weiteren Beleg<br />
führt er die großen Niveauunterschiede <strong>und</strong> die teilweise im Widerspruch stehenden<br />
vertretenen Lehren im Corpus an. Se<strong>in</strong>er Theorie nach kamen die e<strong>in</strong>zelnen Werke des<br />
Corpus anonym nach Alexandria, wo sie dann unter dem Namen des bekanntesten<br />
historischen Repräsentanten der antiken Mediz<strong>in</strong> veröffentlicht wurden. Später wurde<br />
das ursprüngliche Corpus – wie bereits erwähnt – mit weiteren anonymen mediz<strong>in</strong>ischen<br />
Werken aufgestockt.<br />
Abschließend ist nach Betrachtung des bisher Erarbeiteten zu sagen, dass das hippokratische<br />
Corpus e<strong>in</strong>e elementare Funktion bei der Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung der<br />
modernen Mediz<strong>in</strong>, auf die e<strong>in</strong> jeder von uns im Alltag angewiesen ist, besaß. Die Frage<br />
nach der tatsächlichen Autorschaft wird bei Mediz<strong>in</strong>historikern jedoch noch e<strong>in</strong>e Menge<br />
Gesprächsstoff, womöglich ohne e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>ale Erkenntnis zu erlangen, liefern.<br />
6.11 Antike Mediz<strong>in</strong>: Humoralpathologie<br />
Die Vorstellung davon, wie der menschliche Körper aufgebaut ist, <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />
Erklärungen für Krankheitsersche<strong>in</strong>ungen haben sich im Laufe der Zeit sehr<br />
gewandelt. Im antiken Griechenland sah man nicht die festen Bestandteile wie Organe<br />
oder Gewebe als wichtig an, sondern man nahm an, dass der menschliche Körper<br />
elementar aus vier Säften besteht: Blut, Phlegma (Schleim), sowie heller <strong>und</strong> dunkler<br />
Galle.<br />
Diese vier Lebenssäfte waren laut antiker Vorstellung im Körper <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten<br />
Mischungsverhältnis vorhanden, das durch die Aufnahme <strong>und</strong> Ausscheidung von<br />
Nahrung reguliert wurde. Das Auftreten von Krankheiten erklärte sich der antike Arzt<br />
dadurch, dass sich im Körper zu viel bzw. zu wenig von e<strong>in</strong>em bestimmten Saft bef<strong>in</strong>de.<br />
Um also ges<strong>und</strong> zu leben, sei es sehr wichtig, se<strong>in</strong>en Säftehaushalt durch optimale Ernährung<br />
zu regeln. Die Säftekonzentration werde aber nicht nur durch das Essen sondern<br />
zudem durch die vier Jahreszeiten maßgeblich bee<strong>in</strong>flusst. Je nach Quartal produziere<br />
127
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
der Körper e<strong>in</strong>en dieser vier Säfte verstärkt, störe somit das Säftegleichgewicht <strong>und</strong> rufe<br />
hierdurch für diese Jahreszeit typische Krankheitssymptome hervor. Im Frühl<strong>in</strong>g beispielsweise,<br />
<strong>in</strong> dem im Körper mehr Blut vorhanden sei, war der Aderlass e<strong>in</strong>e beliebte<br />
Methode »den Blutspiegel zu senken«. Das vermehrte Vorkommen von heller Galle im<br />
trockenen Sommer behandelte man mit Hafer, der die Gallenproduktion hemmen sollte.<br />
Im Herbst, der Jahreszeit, <strong>in</strong> der sich verstärkt dunkle Galle im Körper bef<strong>in</strong>de, griff man<br />
zu Honig, der der Synthetisierung dieses Saftes entgegenwirkte sollte. Um im W<strong>in</strong>ter<br />
die Produktion von Phlegma zu unterb<strong>in</strong>den, nahmen die Menschen der Antike Brot<br />
<strong>und</strong> Salz zu sich, was die Konzentration an Schleim verr<strong>in</strong>gern sollte.<br />
Diese auf naturphilosophischen Gr<strong>und</strong>sätzen basierende mediz<strong>in</strong>ische Behandlung<br />
wurde noch bis <strong>in</strong>s 19. Jahrh<strong>und</strong>ert praktiziert. Als man auf dem Gebiet der Anatomie<br />
immer neue Erkenntnisse über den Aufbau des menschlichen Körpers gewann <strong>und</strong><br />
somit immer mehr Widersprüche zur Vier-Säfte-Lehre auftraten, wurde die Humoralvon<br />
der Zellularpathologie verdrängt, die den Körper als Gebilde von Zellen versteht<br />
<strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage für unsere heutige Mediz<strong>in</strong> darstellt.<br />
6.12 Corpus Hippocraticum: »Über die Heilige Krankheit«<br />
»Ke<strong>in</strong> bißchen sche<strong>in</strong>t sie mir göttlicher zu se<strong>in</strong> als die anderen Krankheiten« (De<br />
morbo sacro, 1.2) – der hippokratische Autor (womöglich sogar Hippokrates selbst)<br />
hat nur Spott für se<strong>in</strong>e Zeitgenossen übrig, die die Epilepsie als »heilige Krankheit«<br />
bezeichneten. Er nennt ihre Symptome wie Schaum vor dem M<strong>und</strong> <strong>und</strong> Erstickungsoder<br />
Krampfanfälle. Viele Priester <strong>und</strong> Magier bezeichneten sie aus eigener Unfähigkeit<br />
als Strafe der Götter. Der Autor kritisiert deutlich die Haltung se<strong>in</strong>er Mitmenschen<br />
gegenüber den Epilepsiekranken, bei denen man weder nach der Ursache ihrer Krankheit<br />
forschte <strong>und</strong> nicht e<strong>in</strong>mal für deren Seelenheil sorgte, beispielsweise durch e<strong>in</strong> Opfer im<br />
Tempel. So polemisiert er heftig gegen die Haltung der damaligen Magier <strong>und</strong> Priester<br />
gegenüber den Kranken.<br />
Jedoch präsentiert der hippokratische Autor se<strong>in</strong>en Lesern darauf e<strong>in</strong>e Erklärung, die<br />
vollkommen im E<strong>in</strong>klang mit der damals noch sehr jungen Vier-Säfte-Lehre steht: Schon<br />
im Mutterleib müsse aus dem Gehirn des Embryos Schleim abfließen, damit es sich<br />
richtig entwickeln könne. Dieser Ausstoß von Schleim könne alternativ noch im K<strong>in</strong>desoder<br />
Jugendalter erfolgen, was auch erkläre, warum e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d Krankheiten wie Masern,<br />
Mumps oder im Jugendalter Pickel bekomme. Das sei nichts Anderes als überschüssiger<br />
Schleim. Habe e<strong>in</strong> Mensch dagegen nur klare Haut <strong>und</strong> bekomme nie Pickel, sei dies<br />
e<strong>in</strong> Zeichen für Schleimüberschuss im Körper. Der Schleim verstopfe die Adern, <strong>und</strong><br />
da nach damaliger Vorstellung <strong>in</strong> den Adern auch Luft floss, auch die Luftzufuhr. So<br />
komme es zu Krampf- oder Erstickungsanfällen, man habe Schaum vor dem M<strong>und</strong>,<br />
kurz: Epilepsie.<br />
Mit dieser Erklärung »entzaubert« der hippokratische Autor die Epilepsie; sie ist<br />
nämlich mit der Vier-Säfte-Lehre perfekt zu vere<strong>in</strong>baren. Mithilfe e<strong>in</strong>er geeigneten<br />
Ernährung beispielsweise könne die Schleimkonzentration im Körper gesenkt werden,<br />
128
6.13 »Über die Träume« aus dem Hippokratischen Corpus<br />
die Symptome werden weniger oder hörten sogar vollständig auf. Der Autor von »De<br />
morbo sacro« war also e<strong>in</strong>er der Allerersten, die behaupteten, jede Krankheit habe e<strong>in</strong>en<br />
natürlichen Ursprung <strong>und</strong> könne auch mit natürlichen Mitteln behandelt werden. Durch<br />
die Unkenntnis <strong>und</strong> Ignoranz vieler Priester <strong>und</strong> Magier jedoch sei die Pflege für die<br />
Kranken <strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen gelangt.<br />
6.13 »Über die Träume« aus dem Hippokratischen Corpus<br />
Jede Epoche bildet ihre Generationen, die auf e<strong>in</strong>e eigene Art <strong>und</strong> Weise denken <strong>und</strong><br />
die Welt spezifisch e<strong>in</strong>schätzen. So war es auch im Altertum natürlich, das für uns<br />
– die im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert Lebenden – noch immer e<strong>in</strong>e Inspiration ist. E<strong>in</strong> gutes Beispiel<br />
dafür s<strong>in</strong>d die Schriften des Hippokratischen Corpus. Besonders <strong>in</strong>teressant sche<strong>in</strong>t das<br />
Fragment »Über die Träume« zu se<strong>in</strong>, denn es zeigt trefflich das antike Denken.<br />
Der hippokratische Autor stellt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk e<strong>in</strong>e typische Ansicht auf damalige<br />
Mediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> ärztliche Praxis dar. Se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach hängt nämlich die Heilung stark<br />
mit den Träumen zusammen, was im Vergleich zur Gegenwart komplett <strong>und</strong>enkbar ist.<br />
Heutzutage herrscht zweifellos die These vor, die die Wissenschaft als e<strong>in</strong>e unabhängige<br />
<strong>und</strong> vor allem e<strong>in</strong>e durchgängig rationale Lehre beschreibt. Jedoch war das nicht so<br />
offensichtlich für die antiken Griechen <strong>und</strong> für den Autor der Schrift »Über die Träume«,<br />
der etwa 400 v. Chr. gelebt hat. Dies kann man zeigen, <strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>en von vielen<br />
Träumen analysiert. Auf die Ges<strong>und</strong>heit wiesen nach der Me<strong>in</strong>ung des Autors viele<br />
unterschiedliche Zeichen h<strong>in</strong>. Wenn man von den Gegenständen auf der Erde wie z. B.<br />
Bäumen, Flüssen oder Brunnen träumte, konnte man sicher se<strong>in</strong>, dass se<strong>in</strong> Organismus<br />
korrekt funktioniert. Mehr noch war auch die Aussagekraft des Traums sehr wichtig,<br />
weil gerade sie – neben se<strong>in</strong>em Inhalt – <strong>in</strong> hohem Maße über se<strong>in</strong>e Bedeutung entschied.<br />
Im Gegensatz dazu standen die Träume, die <strong>und</strong>eutlich waren. Sie suggerierten die<br />
ges<strong>und</strong>heitlichen Beschwerden des Kopfes. Jedoch fand der hippokratische Autor e<strong>in</strong>e<br />
Lösung dieser Situation. Um die Symptome wirksam e<strong>in</strong>zuschränken oder ganz zu<br />
elim<strong>in</strong>ieren, sollte man Erbrechen hervorrufen <strong>und</strong> die sportliche Aktivität erhöhen. Man<br />
kann also die Feststellung riskieren, dass die magische <strong>und</strong> dadurch irrationale Sphäre<br />
als die Basis für die damalige Wissenschaft diente. Der Autor der Schriften schreibt, dass<br />
die Träume viele wertvolle Zeichen <strong>und</strong> H<strong>in</strong>weise enthielten, die die Symptome <strong>und</strong><br />
hauptsächlich ihre Ursachen analysieren lassen. Außerdem vergleicht er die Bilder aus<br />
den Träumen mit den Tageszeiten. Laut dem Autor hängt der Ges<strong>und</strong>heitszustand auch<br />
von der Natur ab, was direkt die antike Theorie der Körpersäfte betrifft.<br />
Überdies kann man beobachten, dass der Autor der Schriften dem Begriff »Seele«<br />
große Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die Seele spielt auch e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle, wenn<br />
es um die Entwicklung des menschlichen Körpers geht. Sie ist nämlich e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tegraler<br />
Bestandteil von Menschen, die zwar normalerweise gerade durch den Körper begrenzt<br />
ist, aber trotzdem ihre eigene Wahrnehmung besitzt. Außerdem ist der Fakt <strong>in</strong>teressant,<br />
dass diese Konzeption von Seele der antiken Weltanschauung mit Sicherheit entspricht.<br />
Die besondere Bedeutung der Seele könnte dann die Freiheit des Menschen – nicht nur<br />
die physische sondern auch geistige <strong>und</strong> <strong>in</strong>tellektuelle – symbolisieren.<br />
129
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
Zusammenfassend kann man noch dazu sagen, dass es <strong>in</strong> der Regel unmöglich ist, im<br />
Altertum e<strong>in</strong>e deutliche Abgrenzung zwischen der Religion <strong>und</strong> der Mediz<strong>in</strong> zu treffen,<br />
die für die heutigen Menschen e<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n hätte. Zumal die Schriften von Hippokrates<br />
immer unerf<strong>in</strong>dlich bleiben, denn je mehr man sie logisch verstehen will, desto häufiger<br />
stößt man auf verschiedene Widers<strong>in</strong>ne.<br />
6.14 Zusammenhänge zwischen Magie, Wissenschaft <strong>und</strong> Religion<br />
Was s<strong>in</strong>d die Zusammenhänge zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft <strong>in</strong> der Antike<br />
Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zuerst auf die Geme<strong>in</strong>samkeiten von jeweils<br />
zwei Kategorien <strong>und</strong> dann auf die Zusammenhänge aller drei Kategorien e<strong>in</strong>gehen.<br />
Wenn man die Magie mit der Religion vergleicht, erkennt man sofort e<strong>in</strong>ige Geme<strong>in</strong>samkeiten.<br />
So glauben Vertreter beider Fraktionen an das Übernatürliche. Dies ist z. B.<br />
e<strong>in</strong> Gott oder e<strong>in</strong> Heros. Die Praktiken wurde von e<strong>in</strong>em Priester bzw. Magier ausgeführt,<br />
die die weltlichen Vertreter darstellten. E<strong>in</strong>e weitere Geme<strong>in</strong>samkeit besteht <strong>in</strong><br />
den Ritualen, da <strong>in</strong> diesen die Götter um Unterstützung angerufen wurden.<br />
Die D<strong>in</strong>ge, die Magie <strong>und</strong> Wissenschaft verb<strong>in</strong>den, s<strong>in</strong>d noch zahlreicher als die<br />
Geme<strong>in</strong>samkeiten von Magie <strong>und</strong> Religion, weshalb ich nur wenige nennen werde.<br />
E<strong>in</strong>e sehr wichtige Tatsache ist wohl, dass sowohl Magier als auch Ärzte <strong>in</strong> großer<br />
Konkurrenz zue<strong>in</strong>ander standen. Des Weiteren verband die beiden Kategorien, dass<br />
sie ihre Kunst selten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er großen öffentlichen Show präsentierten. Es gab allerd<strong>in</strong>gs<br />
auch Ausnahmen wie z. B. Galen, der öffentlich Tiere sezierte um Aufmerksamkeit zu<br />
erregen. Ebenfalls wichtig ist, dass das Wissen um die Magie bzw. Mediz<strong>in</strong> meist nur<br />
familien<strong>in</strong>tern weitergegeben wurde.<br />
Zuletzt komme ich nun zu den Geme<strong>in</strong>samkeiten von Religion <strong>und</strong> Wissenschaft. Die<br />
wohl wichtigste Verb<strong>in</strong>dung zwischen beiden ist, dass sich ihre Vertreter dem Heilgott<br />
Asklepios verschrieben haben. Dies ist offensichtlich bei den praktizierenden Priestern<br />
des Asklepios, aber auch die größte Ärztefamilie, die sogenannte Asklepiaden, leiten<br />
ihren Namen <strong>und</strong> ihr Wissen von dem Heilgott ab. Und zuletzt verb<strong>in</strong>det Religion <strong>und</strong><br />
Wissenschaft die Tatsache, dass sie immer noch <strong>in</strong> der heutigen <strong>Gesellschaft</strong> vertreten<br />
s<strong>in</strong>d. Ganz anders sieht es hier mit der Magie aus, die als <strong>in</strong>tellektuelle Diszipl<strong>in</strong> nicht<br />
mehr ernst genommen wird.<br />
In diesem Abschnitt beschäftige ich mich mit den D<strong>in</strong>gen, die alle drei Kategorien<br />
verb<strong>in</strong>den. In der Antike gab es e<strong>in</strong>e große Menge an Heilern aus allen Bereichen, die<br />
alle <strong>in</strong> Konkurrenz zue<strong>in</strong>ander standen. Im Allgeme<strong>in</strong>en ergänzten sie sich <strong>in</strong> ihrem<br />
Heilangebot, da sie dasselbe auf verschiedene Weisen zu heilen versuchten. Das sorgte<br />
dafür, dass e<strong>in</strong> Kranker erst zu e<strong>in</strong>em Arzt, dann möglicherweise <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Tempel <strong>und</strong><br />
als letzte Möglichkeit zu e<strong>in</strong>em Magier gehen konnte. Hierbei musste man beachten,<br />
dass sich die Heilmethoden je nach der Region, <strong>in</strong> der man sich befand, unterschieden.<br />
So heilte e<strong>in</strong> Arzt, der <strong>in</strong> Athen arbeitete, wohl komplett anders als e<strong>in</strong> Arzt, der <strong>in</strong><br />
entlegenen Gebieten arbeitete. Die Wahl des Heilers war <strong>in</strong> der Antike oft ke<strong>in</strong> großes<br />
Problem, da den Menschen am wichtigsten war, dass ihr Leiden gel<strong>in</strong>dert wurde. Man<br />
130
6.15 Abschließende Betrachtungen zur Def<strong>in</strong>ition von Religion, Magie, Wissenschaft<br />
musste allerd<strong>in</strong>gs auch aufpassen, an wen man sich richtete, da der Grad der Ausbildung<br />
der Experten oft gravierend verschieden war. Man konnte leicht an e<strong>in</strong>en Scharlatan<br />
geraten, wodurch es e<strong>in</strong>em nach der »Behandlung« noch schlechter gehen konnte als<br />
vorher.<br />
Alles <strong>in</strong> allem lässt sich wohl erkennen, dass die Menschen <strong>in</strong> der Antike vor e<strong>in</strong>em<br />
kle<strong>in</strong>en Dilemma standen, da sie von Heilangeboten praktisch erschlagen wurden. Es<br />
lässt sich also nicht sagen, welche der Kategorien nun wichtiger oder besser geeignet<br />
war, um jemanden zu heilen.<br />
6.15 Abschließende Betrachtungen zur Def<strong>in</strong>ition von Religion, Magie,<br />
Wissenschaft<br />
Der Toaster – für uns gehört dieser Gegenstand zur alltäglichen Nahrungsmittelaufnahme.<br />
Doch was werden die Menschen <strong>in</strong> zweitausend Jahren noch darüber wissen<br />
oder <strong>in</strong> diesen Gegenstand h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><strong>in</strong>terpretieren Werden die Historiker <strong>in</strong> zweitausend<br />
Jahren den Toaster als den zentralen heiligen Gegenstand des mysteriösen <strong>und</strong> geheimen<br />
Frühstückskultes ansehen Begriffe entwickeln sich im Verlauf der Geschichte. Gleichzeitig<br />
muss man e<strong>in</strong>en Begriff def<strong>in</strong>ieren, wenn man darüber diskutieren möchte. Für<br />
Historiker ergibt sich daher das Problem: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von<br />
antiker Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft sprechen<br />
Betrachten wir die Schriften der Kulturwissenschaftler Frazer, Mauss, Durkheim,<br />
Mal<strong>in</strong>owski <strong>und</strong> des Mediz<strong>in</strong>historikers French. Alle fünf haben versucht Magie, Religion<br />
<strong>und</strong> Wissenschaft auf verschiedene Weisen vone<strong>in</strong>ander abzugrenzen <strong>und</strong> zu def<strong>in</strong>ieren.<br />
Frazer, Mauss, Durkheim <strong>und</strong> Mal<strong>in</strong>owski stützen sich hierbei auf ethnologische Studien<br />
bei Naturvölkern mit besonderem Augenmerk auf die Magie. So ist nach Frazer die<br />
Magie e<strong>in</strong>e Vorstufe der Religion. Allerd<strong>in</strong>gs orientiere sich die Magie ebenso wie die<br />
Wissenschaft an Naturgesetzen <strong>und</strong> beide seien vom menschlichen Freiheitsgedanken<br />
geprägt: Der Mensch kontrolliere die Natur. Demgegenüber ordnen sich die Anhänger<br />
der Religion mit der Zeit e<strong>in</strong>em höheren Wesen unter.<br />
Mauss stellt ebenfalls e<strong>in</strong>e enge Verb<strong>und</strong>enheit von Wissenschaft <strong>und</strong> Magie fest. Er<br />
unterscheidet sie teilweise gar nicht <strong>und</strong> zeigt, dass »wissenschaftliche« Theorien von der<br />
<strong>Gesellschaft</strong> zum großen Teil zunächst als magisch <strong>und</strong> erst später als wissenschaftlich<br />
angesehen werden. Über die <strong>Gesellschaft</strong> unterscheidet er auch Religion <strong>und</strong> Magie. Die<br />
Religion beschreibt er als <strong>in</strong> die <strong>Gesellschaft</strong> e<strong>in</strong>gebetteten, die Magie h<strong>in</strong>gegen als von<br />
der <strong>Gesellschaft</strong> ausgeschlossenen Ritus.<br />
Durkheim def<strong>in</strong>iert die Religion als ethische Solidaritätsgeme<strong>in</strong>schaft, die ke<strong>in</strong>em<br />
Zweck außer sich selbst dient. Man betet um zu beten. Ähnlich wie Mauss sieht er die<br />
Magie jedoch als zweckbezogen. E<strong>in</strong> Zauber wird nur durchgeführt um e<strong>in</strong>en bestimmten<br />
Effekt zu erreichen. Man zaubert um beispielsweise e<strong>in</strong>em anderen Menschen Schaden<br />
zuzufügen.<br />
Mal<strong>in</strong>owski h<strong>in</strong>gegen beschreibt bei den von ihm untersuchten Naturvölkern e<strong>in</strong>e fest<br />
verankerte Kooperation von Praktiken aus allen Teilgebieten, die zum Bewältigen des<br />
Alltags betrieben wird.<br />
131
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
Abbildung 6.1: Biographien der Wissenschaftler J. G. Frazer <strong>und</strong> M. Mauss, erstellt von Sandra.<br />
French versucht nicht wie die anderen Autoren, Grenzgebiete <strong>und</strong> Zusammenhänge<br />
darzustellen. Er stellt die These auf, e<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition der Bereiche sei gar nicht möglich.<br />
In der Antike habe es nur e<strong>in</strong>e Art Thesenpool gegeben, der allgeme<strong>in</strong> die Rolle der<br />
heutigen Wissenschaft e<strong>in</strong>genommen habe. Zutreffende Thesen aus diesem Thesenpool<br />
haben dann die Zeit überdauert <strong>und</strong> seien als »Wissenschaft« <strong>in</strong>terpretiert worden.<br />
Falsche Thesen seien mit der Zeit herausgefallen.<br />
An den Schriften dieser Autoren zeigt sich die Komplexität, vielseitige Betrachtungsweise<br />
<strong>und</strong> oftmalige Verschmelzung der Begrifflichkeiten Religion, Magie <strong>und</strong> Wissenschaft.<br />
Hier hat sich tatsächlich das Verständnis für Begrifflichkeiten verändert. E<strong>in</strong><br />
Mensch <strong>in</strong> der Antike kannte die Unterscheidungen zwischen Magie, Religion <strong>und</strong><br />
Wissenschaft nicht wie wir sie heute kennen. Zudem zeigen die verschiedenen Betrachtungen<br />
der Wissenschaftler, dass das Verständnis von Begrifflichkeiten mit dem<br />
Kulturraum zusammenhängt. E<strong>in</strong> Ure<strong>in</strong>wohner der Philipp<strong>in</strong>en versteht unter Magie<br />
etwas anderes als e<strong>in</strong> Europäer. E<strong>in</strong>e Def<strong>in</strong>ition ist, wie French schon sagt, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne<br />
also gar nicht möglich. Um dennoch die Voraussetzungen zu schaffen, sich mit den<br />
Themen wissenschaftlich ause<strong>in</strong>ander zu setzen, muss man auf gewisse E<strong>in</strong>grenzungen<br />
der Begriffe als »Arbeitsdef<strong>in</strong>itionen« zurückgreifen: Man def<strong>in</strong>iert die Begriffe <strong>in</strong> Bezug<br />
auf e<strong>in</strong>en bestimmten Aspekt, den man untersuchen möchte. Genau das tun <strong>in</strong> diesem<br />
Fall Frazer, Mauss, Durkheim, Mal<strong>in</strong>owski <strong>und</strong> French.<br />
132
6.16 Literatur<br />
Abbildung 6.2: Biographien der Wissenschaftler E. Durkheim <strong>und</strong> B. Mal<strong>in</strong>owski, erstellt von<br />
Sandra.<br />
6.16 Literatur<br />
Die Bedeutung von Miasma am Beispiel von Sophokles’ Ödipus<br />
[1] Sophokles: Oedipus Rex. Übersetzung von J. J. C. Donner. München 1948.<br />
Die Verb<strong>in</strong>dung von Ritual <strong>und</strong> Miasma<br />
[2] Dücker, Burckhard: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Stuttgart 2007.<br />
[3] Parker, Robert: Miasma. Pollution and Purification <strong>in</strong> Early Greek Religion. Oxford 1996.<br />
Krankheiten <strong>und</strong> Götter <strong>in</strong> der »Ilias«<br />
[4] Homer: Ilias. Übersetzt von Johann He<strong>in</strong>rich Voß. München 1961.<br />
Epidauros – Tempel <strong>und</strong> Kurstätte<br />
[5] Dignas, Beate: A Day <strong>in</strong> the Life of a Greek Sanctuary. In: Ogden, Daniel: A Companion<br />
to Greek Religion. Oxford 2007, 163–175.<br />
[6] Krug, Antje: Heilkunst <strong>und</strong> Heilkult. Mediz<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Antike. München 1985.<br />
Iamata<br />
[7] Herzog, Rudolf: Die W<strong>und</strong>erheilungen von Epidauros. E<strong>in</strong> Beitrag zur Geschichte der<br />
Mediz<strong>in</strong> <strong>und</strong> der Religion. Leipzig 1931.<br />
133
6 Priester, Zauberer, Gelehrte: Antike Heilung zwischen Magie, Religion <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
E<strong>in</strong> Gott im Asklepieion. Aristophanes’ Komödie »Reichtum«<br />
[8] Sophocles: Sophocles. In: Jeffrey Henderson: Frogs, Assemblywomen, Wealth. Übersetzt<br />
von Jeffrey Henderson. Cambridge, MA 2002, 413-598.<br />
Aelius Aristides: »Heilige Reden«<br />
[9] Aelius Aristides: Heilige Berichte. Übersetzt von He<strong>in</strong>rich Otto Schröder. Heidelberg<br />
1986.<br />
Papyri, Blei <strong>und</strong> Pergament – Quellengattungen der antiken Magie<br />
[10] Brodersen, Kai: Briefe <strong>in</strong> die Unterwelt. Religiöse Kommunikation auf griechischen<br />
Fluchtafeln. In: Brodersen, Kai: Gebet <strong>und</strong> Fluch, Zeichen <strong>und</strong> Traum. Aspekte religiöser<br />
Kommunikation <strong>in</strong> der Antike. Münster 2001, 57–68.<br />
[11] Dickie, Matthew W.: Magic and Magicians <strong>in</strong> the Greco-Roman World. London, New<br />
York 2003.<br />
[12] Graf, Fritz: Gottesnähe <strong>und</strong> Schadenszauber. Die Magie <strong>in</strong> der griechisch-römischen Antike.<br />
München 1996.<br />
Das Corpus Hippocraticum<br />
[13] Edelste<strong>in</strong>, Ludwig: Peri aeron <strong>und</strong> die Sammlung der hippokratischen Schriften. Berl<strong>in</strong><br />
1931.<br />
[14] Krug, Antje: siehe [6].<br />
[15] Leven, Karl-He<strong>in</strong>z: Die Erf<strong>in</strong>dung des Hippokrates. Eid, Roman <strong>und</strong> Corpus Hippokraticum.<br />
In: Tröhler, Ulrich; Reiter-Theil, Stella: Ethik <strong>und</strong> Mediz<strong>in</strong> 1947–1997. Was leistet<br />
die Kodifizierung von Ethik Gött<strong>in</strong>gen 1997, 19–40.<br />
Antike Mediz<strong>in</strong>: Humoralpathologie<br />
[16] Krug, Antje: siehe [6].<br />
[17] Leven, Karl-He<strong>in</strong>z: Antike Mediz<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Lexikon. München 2005.<br />
Corpus Hippocraticum: »Über die Heilige Krankheit«<br />
[18] Corpus Hippocraticum: De morbo sacro. Über die Heilige Krankheit. In: Schubert,<br />
Charlotte; Leschhorn, Wolfgang: Hippokrates. Ausgewählte Schriften. Düsseldorf 2006,<br />
68–105.<br />
»Über die Träume« aus dem Hippokratischen Corpus<br />
[19] Corpus Hippocraticum: De victu IV. Über die Träume. In: Diller, Hans: Hippokrates.<br />
Ausgewählte Schriften. Stuttgart 1994, 307–318.<br />
Abschließende Betrachtungen zur Def<strong>in</strong>ition von Religion, Magie, Wissenschaft<br />
[20] Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens [1912]. Frankfurt/Ma<strong>in</strong><br />
1981.<br />
134
6.16 Literatur<br />
[21] Frazer, James George: Der Goldene Zweig. E<strong>in</strong>e Studie über Magie <strong>und</strong> Religion [The<br />
Golden Bough, 1890–1915]. Köln 1968.<br />
[22] French, Roger: General Series Introduction. In: French, Roger: Ancient Natural History.<br />
Histories of Nature. London 1996, ix–xxii.<br />
[23] Mal<strong>in</strong>owski, Bronislaw: Magie, Wissenschaft <strong>und</strong> Religion. Und andere Schriften. Frankfurt/Ma<strong>in</strong><br />
1983 [1948].<br />
[24] Mauss, Marcel: Soziologie <strong>und</strong> Anthropologie. Band 1. Theorie der Magie. Soziale Morphologie.<br />
München 1974 [1903].<br />
135
7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />
7.1 Der Große Chor<br />
Was tun »Genies« nach dem Mittagessen Sie quälen sich jeden Tag überfüllt <strong>und</strong> satt<br />
zurück <strong>in</strong> ihre Zimmer, um dort rasch ihre Noten für den Chor zu holen. Dabei ist stets<br />
Eile geboten, denn all denen, die zu spät kommen, droht die schreckliche Strafe: Der<br />
Stuhl! Ausgesetzt den Blicken aller anderen Chorteilnehmer muss der jeweils zuletzt<br />
zu spät Gekommene dort Platz nehmen <strong>und</strong> sitzen bleiben, bis e<strong>in</strong> weiterer verspäteter<br />
Sänger den Weg <strong>in</strong> die heiligen Hallen f<strong>in</strong>det.<br />
Dann geht es auch schon los, mit Auflockerungs- <strong>und</strong> Gesangsübungen, die von Tag zu<br />
Tag variieren. Dabei herrscht oft großes Amüsement, doch auch des Öfteren Verzweiflung<br />
bei e<strong>in</strong>er der Stimmlagen oder e<strong>in</strong>em der Geschlechter, wenn die Tonvorgaben zu hoch<br />
oder niedrig s<strong>in</strong>d. Wenn dann alle Möchtegern-Pavarottis sich e<strong>in</strong>gesungen haben,<br />
kämpft man sich e<strong>in</strong>e St<strong>und</strong>e lang nur allzu gern durch Lieder wie »Caravan of Love«,<br />
»The Drunken Sailor« oder »An Irish Bless<strong>in</strong>g« – <strong>und</strong> nicht selten kämpft man mit dem<br />
Lachen.<br />
Insgesamt war die Erfahrung des »großen Chors« e<strong>in</strong>e sehr schöne <strong>und</strong> er<strong>in</strong>nernswerte,<br />
die mir <strong>und</strong> – soweit ich das beurteilen kann – auch allen anderen sehr viel Spaß gemacht<br />
hat. Ob nun die amüsanten Tonübungen, die e<strong>in</strong>en oder anderen lustigen Ausrutscher<br />
beim S<strong>in</strong>gen oder e<strong>in</strong>fach nur die gute Stimmung, all diese Aspekte werden jedem von<br />
uns sicherlich noch lange im Gedächtnis bleiben.<br />
7.2 Kle<strong>in</strong>er Chor: Etwas Elite, e<strong>in</strong>iges E<strong>in</strong>bildung, extravagante Elaborate<br />
Und was tun die wahren Genies nach dem Großen Chor Na klar, sie erklären sich selbst<br />
zum elitären »Kle<strong>in</strong>en Chor« <strong>und</strong> s<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>fach <strong>in</strong> edelmütiger Ges<strong>in</strong>nung noch e<strong>in</strong>e<br />
weitere St<strong>und</strong>e – Mitten <strong>in</strong> der Mittagspause! Dass auch <strong>in</strong> dieser zweiten Chorst<strong>und</strong>e<br />
nur mit Wasser gekocht wird, will aber natürlich ke<strong>in</strong>er hören. Zwei Kursleiter, die<br />
nicht namentlich genannt werden wollen, mutmaßen gar, der Große Chor sei nur zur<br />
Kontrasterhöhung für den Kle<strong>in</strong>en Chor da, damit beim f<strong>in</strong>alen Konzert dessen Leistung<br />
noch pompöser ersche<strong>in</strong>e. Die Liedauswahl der kompetenten Chorleitung stärkt diese<br />
These. Mit »Locus iste«, »Notre Père« <strong>und</strong> »Elijah Rock« kann man e<strong>in</strong>fach ungeme<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>druck sch<strong>in</strong>den. Nicht umsonst handelt es sich dabei nur um geistliche Lieder, die<br />
beim Konzert ihren Platz <strong>in</strong> der Kirche f<strong>in</strong>den.<br />
Doch diese These, Kirsten habe h<strong>in</strong>terrücks se<strong>in</strong>e Elitetruppe rekrutiert, lässt sich<br />
nicht halten. Und selbst wenn das ehemals se<strong>in</strong>e Absicht gewesen ist, so musste er<br />
doch ziemlich schnell e<strong>in</strong>sehen, dass daraus nichts wird. Mit höchstmotivierenden<br />
136
7.2 Kle<strong>in</strong>er Chor: Etwas Elite, e<strong>in</strong>iges E<strong>in</strong>bildung, extravagante Elaborate<br />
Abbildung 7.1: Kirsten Galm, Leiter des Musikprogramms.<br />
Parolen wie »Beim ersten <strong>und</strong> beim letzten Ton seid ihr schlecht!« machte er selbst dem<br />
erfahrensten Chorsänger klar, dass er alles hört. Vor allem die Fehler. Zur vollständigen<br />
Information des geneigten Lesers muss allerd<strong>in</strong>gs an dieser Stelle erwähnt werden, zu<br />
welch <strong>in</strong>famer Uhrzeit Herr Galm se<strong>in</strong>e willigen Lehrl<strong>in</strong>ge zur Generalprobe bestellt<br />
hat: Zehn Uhr nachts! Da kann man den e<strong>in</strong> oder anderen vermurksten Ton auch mal<br />
gnädig entschuldigen. Das klare Pr<strong>in</strong>zip »Konzert über Quatsch« ließ übrigens jedes<br />
Interesse der Chorleitung an der Untergrabung anderer KüAs verschw<strong>in</strong>den. Nur knapp<br />
ist e<strong>in</strong>e Prügelei verh<strong>in</strong>dert worden, weil die Sonderprobe mitten <strong>in</strong> Christians <strong>und</strong><br />
Noras Tanzst<strong>und</strong>e gesetzt war.<br />
Und obwohl der Kle<strong>in</strong>e Chor genau zu der Tageszeit stattf<strong>in</strong>det, wo der Otto-Normal-<br />
Schülerakademie-TN müde wird, s<strong>in</strong>d dennoch ke<strong>in</strong>e viel zu kle<strong>in</strong>en Sängerzahlen<br />
zu beklagen. Der Bass besteht (Gerade bei »Elijah Rock« e<strong>in</strong>fach nur cool wie ich<br />
uncharmant selbste<strong>in</strong>genommen behaupten muss) aus fünf Sängern, der Tenor aus<br />
zweien, der Alt aus acht Sänger<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> der schwer beanspruchte Sopran aus sieben.<br />
Als letztes »Schmankerl« zum Ende der Nachtprobe brachte e<strong>in</strong>e Teilnehmer<strong>in</strong> die<br />
Noten zum Lied »Cerf-Volant« aus dem Film »Die K<strong>in</strong>der des Monsieur Mathieu« e<strong>in</strong>.<br />
Diese sehr emotionale Komposition ist sicher e<strong>in</strong>e gelungene Abschlusshymne. Denn<br />
dass 20 sich völlig fremde Menschen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Woche e<strong>in</strong>en so ergreifenden <strong>und</strong><br />
pompösen Klang zu Stande br<strong>in</strong>gen, ist bezeichnend für die effektive <strong>und</strong> doch sehr<br />
spaßige Chorarbeit.<br />
Danke Kirsten! Danke Mitsänger!<br />
137
7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />
7.3 Die S<strong>in</strong>gStars<br />
Was sich zuerst anhört wie e<strong>in</strong> lustiges Party-Karaoke-Spiel, entpuppte sich auf der<br />
<strong>Akademie</strong> als Gruppe von Sänger<strong>in</strong>nen, die trotz täglicher Chorproben vom S<strong>in</strong>gen nicht<br />
genug bekommen konnten.<br />
Direkt nach dem Abendessen g<strong>in</strong>g es für die sieben S<strong>in</strong>gStars <strong>in</strong> den Musiksaal, wo<br />
sie sich mit viel Spaß, gefangen <strong>in</strong> Kreativchaos <strong>und</strong> Strophenkrieg an verschiedenen<br />
zeitgenössischen Pop-Stücken versuchten. Je näher der Tag des <strong>Akademie</strong>konzerts rückte,<br />
desto nervöser wurden die Teilnehmer<strong>in</strong>nen, wodurch sich Chaos <strong>und</strong> Krieg verschärften.<br />
Die Musiker, teils belustigt über den gackernden Hühnerhaufen, ließen sich jedoch nicht<br />
aus der Ruhe br<strong>in</strong>gen.<br />
Unzählige Proben <strong>und</strong> zahlreiche Halsschmerztabletten später fanden sich die S<strong>in</strong>g-<br />
Stars auf der Bühne wieder, wo sie das <strong>Akademie</strong>publikum mit ihren drei Stücken<br />
begeisterten. Wir bedanken uns bei Kirsten Galm für die Liederauswahl <strong>und</strong> die verständnisvolle<br />
Betreuung, was bei sieben Mädels ja nicht immer e<strong>in</strong>fach ist.<br />
7.4 Viel Lärm um »Gähsdonk«<br />
Wer sich gegen acht Uhr abends im Computerraum der <strong>Gaesdonck</strong> befand, um entweder<br />
se<strong>in</strong>e Facebook-Sucht zu stillen, Dokutexte zu verfassen oder E-Mails abzurufen, hat<br />
wahrsche<strong>in</strong>lich die e<strong>in</strong> oder andere Probe der Band mitanhören »müssen«. Und ne<strong>in</strong>, entschuldigen<br />
werden wir uns dafür nicht! Nach e<strong>in</strong>igen typischen Musikerproblemen, hat<br />
sich dann nicht wie erwartet e<strong>in</strong>e Band bestehend aus vier Gitarristen gebildet, sondern<br />
e<strong>in</strong>e typisch besetzte Band: Die Vocals bildeten Jana <strong>und</strong> Elena, Mart<strong>in</strong> saß als Taktgeber<br />
am Schlagzeug <strong>und</strong> die w<strong>und</strong>erbaren Gitarrenklänge stammten aus den Instrumenten<br />
138
7.4 Viel Lärm um »Gähsdonk«<br />
von Kev<strong>in</strong>, Elena <strong>und</strong> Adrian. Allerd<strong>in</strong>gs musste Adrian gezwungenermaßen auf den<br />
Bass umsteigen, als ihm zwei Saiten gerissen waren . . .<br />
Da die Band bereits <strong>in</strong>strumententechnisch voll ausgestattet war, musste Yan-Y<strong>in</strong> auf<br />
den Managerjob ausweichen <strong>und</strong> übernahm auch gleichzeitig den PR-Part, um das Image<br />
der Band aufzupolieren.<br />
Die Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong>e waren gelegt, doch e<strong>in</strong>e Hürde musste noch überw<strong>und</strong>en werden:<br />
Anstelle von brauchbaren Schlagzeugsticks waren nur 3,5 cm dicke Holzwürstchen<br />
verfügbar. An dieser Stelle möchten wir uns nun doch für den zusätzlichen Lärm<br />
entschuldigen <strong>und</strong> bedanken uns herzlich bei Mart<strong>in</strong>s Eltern, die dankenswerterweise<br />
Sticks aus der Nähe von Hamburg haben e<strong>in</strong>fliegen lassen. Nun stand der Probe nichts<br />
mehr im Weg.<br />
Bereits nach kurzer Zeit stand fest, dass »Welcome to My Life« von Simple Plan nicht<br />
fehlen durfte. Dieses Repertoire wurde noch durch »Teenage Dirtbag« von Wheatus,<br />
»Noth<strong>in</strong>g Else Matters« von Metallica <strong>und</strong> »Zombie« von den Cranberries erweitert.<br />
Auch hier zwang der enorme Zeitdruck die Band dazu »Zombie« nur e<strong>in</strong>- oder zweimal<br />
vor dem Auftritt zu proben.<br />
Apropros Proben. . . Trotz <strong>in</strong>tensiven Probens am Nachmittag <strong>und</strong> Abend vor dem<br />
Auftritt fiel das Solo von »Noth<strong>in</strong>g Else Matters« <strong>in</strong>s Wasser. Auch der nichte<strong>in</strong>gestöpselte<br />
Monitor für die typische »Solo-Pose« hat Kev<strong>in</strong> leider nicht vor der Nervosität retten<br />
können. – Ach Kev<strong>in</strong>, wir lieben dich trotzdem!<br />
Last but not least möchten wir e<strong>in</strong> großes Dankeschön an Kirsten aussprechen, der uns<br />
mit allem versorgt hat, was e<strong>in</strong>e Band so braucht. E<strong>in</strong> wandelndes Metronom, seelische<br />
Unterstützung <strong>und</strong> immer e<strong>in</strong> paar Ratschläge auf Lager. Danke Kirsten!<br />
P. S.: Fast hätten wir vergessen, unseren durchaus liebenswerten Techniker zu erwähnen.<br />
Danke, dass Sie so viel Verständnis für unsere Probleme hatten <strong>und</strong> uns immer<br />
nette, technische <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>liche Tipps gegeben haben!<br />
139
7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />
7.5 »M<strong>und</strong>art« – »Ne<strong>in</strong> Theater KüA!«<br />
Es war e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Zettel, den Claudia am zweiten Tag der <strong>Akademie</strong> an das schwarze<br />
Brett geheftet hatte. »Theater KüA, erstes Treffen heute 19:00 Uhr«. Doch dieser kle<strong>in</strong>e<br />
Zettel sollte der Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er fasz<strong>in</strong>ierenden KüA se<strong>in</strong>, die die <strong>Akademie</strong> <strong>Gaesdonck</strong><br />
entscheidend prägen sollte: Die Theater KüA.<br />
Der weitere Verlauf dieser KüA gestaltete sich jedoch zunächst e<strong>in</strong>mal mehr oder<br />
weniger als Katastrophe. Die Theater KüA, deren Mitglieder sich sehr zahlreich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Geme<strong>in</strong>schaftsraum versammelt hatten, war sich zwar e<strong>in</strong>ig, dass es irgendwie um e<strong>in</strong><br />
asoziales Sterntalerk<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>en besoffenen Märchenpr<strong>in</strong>zen, Harry Potter, e<strong>in</strong>e Manager<strong>in</strong><br />
<strong>und</strong> die unverwechselbare Putzfee gehen sollte. Als dann aber alles sogleich eilfertig auf<br />
die Bühne stürmte <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em riesigen zusammenhangslosen Chaos improvisierte,<br />
war klar: Ohne Konzept geht gar nix!<br />
Dieses kam wenig später von Francois, der sich h<strong>in</strong>gesetzt hatte <strong>und</strong> e<strong>in</strong> paar Ideen<br />
zu Papier gebracht hatte. Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses Papiers erstellte schließlich e<strong>in</strong><br />
harter Kern e<strong>in</strong> Rahmenkonzept für die ersten drei Szenen e<strong>in</strong>es Theaterstückes ohne<br />
Namen, <strong>in</strong> dem die Jobs von Märchenfiguren durch Harry Potter ersetzt werden, dann<br />
aber zurückgeholt werden sollen. Der erste Schritt war getan <strong>und</strong> auf e<strong>in</strong>mal schien die<br />
Anfangsbarriere gebrochen zu se<strong>in</strong>.<br />
Tatsächlich hatte nun jede Szene e<strong>in</strong> Rahmenkonzept, wurde dann aber vom Text her<br />
frei improvisiert. Natürlich g<strong>in</strong>g das nicht ohne Versprecher, Irrtümer, Störungen, Kurs<strong>und</strong><br />
<strong>Akademie</strong><strong>in</strong>sider, sehr skurrile Ideen <strong>und</strong> unglaubliches Gelächter von statten. So<br />
erhielt das Stück auch se<strong>in</strong>en Namen »Parry Hotter – <strong>und</strong> der halbe doppelte Lohn«.<br />
Man bedenke außerdem Franzis Lachkrampf als Francois das erste Mal se<strong>in</strong>e echte<br />
Brille nach oben schob, was sie zunächst immer als e<strong>in</strong> »sieh mir <strong>in</strong> die Augen Kle<strong>in</strong>es«<br />
gedeutet hatte, Al<strong>in</strong>as Nasenprobleme, Franzis blauen Fleck, nachdem sie von Al<strong>in</strong>a<br />
im Eifer des Gefechtes mit e<strong>in</strong>em Stuhl beworfen worden war, Sönkes Möchtegern-<br />
Step-Aerobic-Choreo, die er allerd<strong>in</strong>gs immer wieder vergaß <strong>und</strong> dann änderte, sodass<br />
er Sabr<strong>in</strong>a beim Nachtanzen ständig durche<strong>in</strong>ander brachte, Ranyas Schrei (Schrei ist<br />
leicht untertrieben), Carsten, der auf Claudias Frage: »Na, möchtest du e<strong>in</strong>en schönen<br />
Abend mit mir verbr<strong>in</strong>gen« nicht wie geplant »Ne<strong>in</strong>« sagte sondern stattdessen mit »Ja,<br />
kloar« antwortete, nicht zu vergessen die zahlreichen Menschen, die <strong>in</strong> regelmäßigen<br />
Abständen here<strong>in</strong>kamen, allesamt mit der Frage: »M<strong>und</strong>art«, Florians Gastauftritt bei<br />
den Proben <strong>und</strong> Leos hervorragende Regiearbeit (Lachflash, Fechtchoreo, Lachflash,<br />
»the Mysterious tick<strong>in</strong>g noise«, Lachflash, Vertretung für Francois, Lachflash, Schlafen<br />
bei Al<strong>in</strong>as Apfelvortrag, Lachflash).<br />
Als abschließende Betrachtung kann ich zusammenfassen: Man hat die KüA zwei<br />
Stockwerke unter dem Proberaum im Flur noch gehört. Die KüA ist ständig vom Thema<br />
abgekommen (es entwickelten sich u. a. die M<strong>und</strong>pfeifen KüA <strong>und</strong> die Entisch KüA).<br />
Die KüA hat e<strong>in</strong> geniales Theaterstück am Bunten Abend auf die Bühne gebracht, das<br />
hoffentlich noch vielen <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung bleibt: »Parry Hotter – <strong>und</strong> der halbe doppelte<br />
Lohn«. Tja, da sag ich nur: »Okay Mädels, Abschlussaufstellung« oder »Ne<strong>in</strong>, alle<br />
amerikanischen Aktien verkaufen.«<br />
140
7.6 Als Bartek uns nach Polen führte<br />
7.6 Als Bartek uns nach Polen führte<br />
Kaum <strong>in</strong> <strong>Gaesdonck</strong> angekommen, g<strong>in</strong>g unsere Reise weiter gen Osten, genauer gesagt<br />
nach Polen. Wir wollen das Land, se<strong>in</strong>e Kultur <strong>und</strong> vor allem auch se<strong>in</strong>e Sprache näher<br />
kennenlernen.<br />
Auf diesem Weg führte uns unser KüA-Leiter Bartek besonders <strong>in</strong> die wichtigsten<br />
Gr<strong>und</strong>lagen des Polnischen, damit wir bei unserem nächsten Aufenthalt <strong>in</strong> Polen nicht<br />
mehr ganz so hilflos s<strong>in</strong>d. Dazu haben wir uns sehr mit alltäglichen Begriffen beschäftigt,<br />
sodass »Dzień dobry« (»Guten Tag«), »Jak się masz« (»Wie geht’s«) <strong>und</strong> »Skąd<br />
pochockisz« (»Woher kommst du«) zu unseren ersten Bekannten dieser Sprache wurden.<br />
Auch wenn unsere Zunge anfangs häufig über die vielen Zischlaute des Polnischen<br />
stolperte, die sie bisher nicht gewohnt war, gelang es uns im Großen <strong>und</strong> Ganzen alle<br />
Wörter über die Lippen zu br<strong>in</strong>gen. Neben diesem Gr<strong>und</strong>vokabular gewährte uns<br />
Bartek auch e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Grammatik, die mit ihren sieben Kasus <strong>und</strong> ihren zig<br />
Dekl<strong>in</strong>ationen e<strong>in</strong>en etwas erschreckenden E<strong>in</strong>druck für uns bot, dennoch schafften wir<br />
es die Konjugationen der wichtigsten Verben wie »se<strong>in</strong>« oder »haben« zu lernen.<br />
Doch nicht nur die Sprache lernten wir kennen, sondern erfuhren auch etwas über die<br />
Menschen, die durch sie kommunizieren, <strong>und</strong> deren Leben.<br />
Besonders <strong>in</strong>teressant war für uns natürlich das Bildungssystem. In Polen drücken<br />
alle K<strong>in</strong>der zehn Jahre lang geme<strong>in</strong>sam die Schulbank, zuerst sieben <strong>in</strong> der Gr<strong>und</strong>schule,<br />
dann drei auf dem Gymnasium. Anschließend haben sie mehrere Möglichkeiten, welche<br />
Schule sie dann besuchen möchten: e<strong>in</strong>e Berufsschule mit abschließendem Berufsdiplom<br />
für zwei Jahre, e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>bildende Schule mit Abitur für drei Jahre oder e<strong>in</strong>e<br />
technische Oberschule mit Abitur für vier Jahre.<br />
Des Weiteren unterhielten wir uns über Vorurteile. So sagen viele Polen über die<br />
Deutschen, dass sie gut organisiert, geizig <strong>und</strong> pünktlich seien. Deutschland sei bekannt<br />
141
7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />
Deutsch<br />
Polnisch<br />
Guten Tag<br />
Dzień Dobry<br />
Guten Abend<br />
Dobry Wieczór<br />
Hallo, Tschüss<br />
cześć (<strong>in</strong>offiziell)<br />
Gute Nacht<br />
Dobranoc<br />
Auf Wiedersehen Do Widzenia<br />
Guten Appetit<br />
Smacznego<br />
Danke<br />
dziękuję<br />
Ich b<strong>in</strong>. . . Jestem. . .<br />
Ich heiße. . . Nazywam się. . .<br />
Ich b<strong>in</strong> 12 Jahre.<br />
Mam 12 lat.<br />
Wie heißt du<br />
Jak się nazywasz<br />
Bitte<br />
Prosze<br />
Ich b<strong>in</strong> Vegetarier<strong>in</strong>. Jestem wegetarianką.<br />
Ich b<strong>in</strong> Vegetarier. Jestem wegetarian<strong>in</strong>em.<br />
Tabelle 7.1: Die wichtigsten Vokabeln<br />
für se<strong>in</strong>e guten Straßen. Der größte Teil der älteren Generation halte die Deutschen<br />
immer noch für Nazis. Viele Deutschen h<strong>in</strong>gegen hielten die polnischen Nachbarn für<br />
Proletarier <strong>und</strong> Diebe.<br />
Dann haben wir über die Religiosität <strong>in</strong> Polen gesprochen. Weihnachten <strong>und</strong> Ostern<br />
s<strong>in</strong>d sehr religiöse Feste. Man besucht die Kirche. Das Abendessen an Heiligabend<br />
mit der Familie ist besonders wichtig. Der Süden <strong>und</strong> Osten ist sehr religiös <strong>und</strong> auch<br />
konservativ. Hier praktizieren 80-90 % der E<strong>in</strong>wohner ihren Glauben. Der Norden <strong>und</strong><br />
Westen h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d besonders liberal <strong>und</strong> es praktizieren nur 10-20 % ihren Glauben.<br />
Außerdem sprachen wir noch über das politische System Polens. Es ähnelt teilweiße<br />
dem deutschen System. Wie <strong>in</strong> Deutschland gibt es nämlich e<strong>in</strong>e Art Kanzler, den<br />
Premierm<strong>in</strong>ister, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Art B<strong>und</strong>espräsident, den Präsidenten. Letzterer hat wie<br />
<strong>in</strong> Deutschland eher repräsentative Aufgaben. Allerd<strong>in</strong>gs wird er vom Volk gewählt.<br />
Der Premierm<strong>in</strong>ister wird nach den Parlamentswahlen <strong>und</strong> der Regierungsbildung<br />
vom Parlament gewählt. Polen ist <strong>in</strong> Regionen, sogenannte Woiwodschaften, unterteilt.<br />
Diese s<strong>in</strong>d aber weniger autonom als unsere B<strong>und</strong>esländer. Es gibt ke<strong>in</strong>e regionalen<br />
Regierungen. Polen ist e<strong>in</strong> zentralistischer Staat. Man könnte sagen: »Die Hauptstadt<br />
regiert.«<br />
Es bleibt zu sagen, dass die Atmosphäre sehr angenehm <strong>und</strong> entspannt <strong>und</strong> der Kurs<br />
lehrreich war.<br />
7.7 Yoga <strong>und</strong> Pilates<br />
Das kle<strong>in</strong>e Örtchen <strong>Gaesdonck</strong> liegt recht ruhig kurz vor der holländischen Grenze.<br />
Doch dieses Jahr gab es vom 29. Juli bis zum 7. August doch beträchtlich viel Trubel im<br />
ehemaligen Kloster.<br />
142
7.8 Sportliche Abwechslung<br />
Deutsch<br />
Bleistift<br />
Kirche<br />
Bett<br />
Biene<br />
Polnisch<br />
Ołówek (ouwek)<br />
Kościół (koschtju)<br />
Łóżko (uschkov)<br />
Pszczoła (pschowa)<br />
Tabelle 7.2: Schwierig auszusprechende Worte.<br />
Als Ausgleich fanden sich (fast) jeden Tag e<strong>in</strong> paar Schülerakademiker zusammen<br />
(Rekord waren 15 Personen!), die ihre <strong>in</strong>nere Ruhe <strong>und</strong> Kraft nach durchfeierten Nächten<br />
<strong>und</strong> anstrengenden Kurse<strong>in</strong>heiten wiederf<strong>in</strong>den wollten. Geme<strong>in</strong>sam begaben wir uns<br />
<strong>in</strong> meist ausschließlich weiblicher R<strong>und</strong>e – der Herrenbesuch war e<strong>in</strong> Höhepunkt<br />
der KüA – <strong>in</strong> die fernöstliche Welt des Yoga, durchmischt von e<strong>in</strong>igen »kräftigenden<br />
Leibesübungen« aus der Lehre des Pilates.<br />
H<strong>und</strong>, K<strong>in</strong>d, Löwe, Krieger – Roll Down, Curl Up, Hug, Swan. Schon nach wenigen<br />
Tagen waren die meisten Übungen bekannt <strong>und</strong> auch der am Anfang noch sehr weit<br />
entfernte Boden, den man mit gestreckten Be<strong>in</strong>en wohl nie erreichen würde, rückte jeden<br />
Tag e<strong>in</strong> Stück näher.<br />
Nach ungefähr 45 M<strong>in</strong>uten fühlte sich jeder gekräftigt <strong>und</strong> bereit nicht nur den Kaffee<br />
<strong>und</strong> Kuchen, sondern auch den Stoff der nächsten Kurse<strong>in</strong>heit aufzunehmen.<br />
Wir senken den Kopf <strong>in</strong> Achtsamkeit! ommmmmmmmm!<br />
7.8 Sportliche Abwechslung<br />
Als die gemütlich kle<strong>in</strong>e R<strong>und</strong>e von etwa 15 mehr oder weniger jogg<strong>in</strong>gbegeisterten<br />
<strong>Gaesdonck</strong>ern <strong>in</strong> Richtung (ja woh<strong>in</strong> denn eigentlich) aufbrach, mag so mancher<br />
sich mit dem euphemistischen Gedanken angefre<strong>und</strong>et haben, jetzt e<strong>in</strong>en gemütlichen<br />
Abendspaziergang <strong>in</strong> Richtung Sonnenuntergang zu machen.<br />
Dass dem so ganz <strong>und</strong> gar nicht so war, dass man neben urplötzlich auftretenden<br />
Unlustanfällen aufgr<strong>und</strong> von Erschöpfung sehr wohl auch mit unberechenbaren Navigationsproblemen<br />
(was Navigationsproblemen – Richtig. E<strong>in</strong> Herzliches Vergelts-Gott<br />
an die Erf<strong>in</strong>der des Navigationsgeräts!) zu kämpfen hatte, wurde manchen im Laufe<br />
unseres – nennen wir es Erlebnistrips – ungeme<strong>in</strong> bewusst.<br />
Nachdem wir die vertraute Umgebung von <strong>Gaesdonck</strong> h<strong>in</strong>ter uns gelassen hatten,<br />
sich vor uns nichts als flache, norddeutsche Prärie erstreckte, <strong>in</strong> der endlose Weiten,<br />
Maisfelder <strong>und</strong> vorallem Kühe das Landschaftsbild prägten, brach schließlich unerwartet<br />
<strong>und</strong> schneller als gedacht die Dunkelheit über die mutige Truppe here<strong>in</strong>.<br />
(Man bedenke, dass auch die Kondition, die schon längst e<strong>in</strong>gesetzte aerobe Energieversorgung<br />
<strong>und</strong> der Zerfall von Adenos<strong>in</strong>triphosphat mit der Zeit abnahmen; Milchsäure<br />
übersäuerte die Muskeln.)<br />
So mancher völlig erschöpfte Läufer atmete erleichtert auf, als schließlich <strong>in</strong> der<br />
Dämmerung die Häuserreihen von Goch, von Zivilisation, <strong>in</strong> Sichtweite kamen. (Dieser<br />
143
7 Kursübergreifende Aktivitäten<br />
Zwischenstopp war eigentlich nicht e<strong>in</strong>geplant. Ich zitiere: Goch Was, wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />
Goch Da wollten wir doch eigentlich gar nicht h<strong>in</strong>, oder) Noch vier Kilometer, die<br />
es irgendwie zu überstehen galt, trennten uns vom trauten Heim. E<strong>in</strong> Zurück kam nun<br />
nicht mehr <strong>in</strong> Frage. Mit geballter mentaler Kraft, Durchhaltewillen <strong>und</strong> gegenseitiger<br />
Motivation g<strong>in</strong>gen wir sie an: Die letzte Steigung der Brücke, die uns nach <strong>Gaesdonck</strong><br />
führen sollte. Kurz danach der rettende Glockenturm der Kirche. Wir hatten es geschafft!<br />
(11 km <strong>in</strong> 1:45 h) Wer war der Sieger Wir alle, die wir doch unsere Grenzen überw<strong>und</strong>en<br />
hatten, <strong>und</strong> das ganz charmant ohne Navigationsgerät.<br />
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