Inno 26 - Nordelbisches Frauenwerk - Nordkirche
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innovative<br />
Anstoß 4<br />
Completo<br />
Einen Ort haben<br />
„Completo“, ein Schild mit dieser Aufschrift zeigt an: Jedes Bett<br />
belegt. Schon der erste Herbergsvater sagt unmissverständlich:<br />
„Hier ist kein Platz. Kannst du das Schild nicht lesen“ Nach der<br />
dritten Herberge mit „Completo“ ist mir klar: Diese Nacht kann<br />
ich nicht in einer Pilgerherberge schlafen. Ich bin zu spät dran.<br />
Was nun Panik oder Gelassenheit. Ich entscheide mich für<br />
letzteres, schließlich bin ich auf einer Pilgerwanderung. Hektisch<br />
oder ärgerlich zu werden, mir zu sagen, wie blöd ich bin, noch ein<br />
Museum zu besuchen statt zügig an mein Tagesziel zu kommen, mir<br />
auszumalen, irgendwo draußen unter freiem Himmel in der Nacht<br />
zu frieren, – all das wäre meine normale Reaktion. Eine Chance, die<br />
das Pilgern bietet, ist aber, die Routine und die Muster des Alltags<br />
zu durchbrechen. Das heißt für mich in dieser Situation: „Es ist, wie<br />
es ist. Es wird sich etwas anderes finden.“<br />
Ich gehe die Straße entlang und komme an einem Hotel vorbei. Die<br />
Tür ist abgeschlossen. Ich will schon weitergehen, aber da ist eine<br />
Klingel. Ich drücke sie und kurz darauf geht ein Fenster auf. „¿Qué<br />
desea“, fragt eine Frau und ich frage, ob sie ein Zimmer hat. „Ja.<br />
Moment, ich komme gleich.“ Kurz darauf habe ich ein eigenes Zimmer<br />
und bin begeistert. Nach Nächten in Sammelunterkünften nun<br />
dies: Eine eigene saubere Dusche, frische Frotteehandtücher,<br />
keine Person im Zimmer, die nett ist, aber laut schnarcht. Ein<br />
frisch bezogenes Bett und Licht, das ich ausmachen kann, wann<br />
ich es möchte. Was für ein Luxus! Es ist schon erstaunlich, was mich<br />
glücklich machen kann. Ich danke vor dem Schlafen Gott für all die<br />
schönen Erlebnisse: dass ich eine beeindruckende Kunstaustellung<br />
besuchen konnte, dass ich mich nicht geärgert habe, als es nicht<br />
so wurde, wie gedacht, dass ich dieses Zimmer bekommen habe,<br />
abends mit anderen PilgerInnen in einem Restaurant essen konnte<br />
und mich rundum beschenkt fühle. Ich bin zufrieden und glücklich.<br />
Completo. Ich denke an den Beginn meiner Pilgerreise: In der<br />
Kleinstadt Haro warte ich abends auf den Anschluss, um zum<br />
Anfangsort zu kommen. Am Busbahnhof campiert eine Gruppe von<br />
etwa 30 Schwarzafrikanern. Wanderarbeiter. Drei Männer kommen,<br />
fragen, wohin ich möchte. Mir wird mulmig, aber ich frage zurück,<br />
was sie machen und sie erzählen, dass sie auf Arbeit warten. Sie<br />
übernachten draußen, morgen werden sie auch hier sein, morgen<br />
ist Sonntag, da gibt es keine Arbeit. Aber am Montag hoffen sie,<br />
wieder Arbeit zu finden. Ich denke: Completo - keine Chance auf<br />
ein sicheres, geregeltes Einkommen. Sie kommen mit wenig aus.<br />
Wie die Pilgerinnen haben sie nur das Notwendigste bei sich. Mehr<br />
als in meinem Rucksack sind in ihren Plastiktüten auch nicht. Doch<br />
sie können nicht einfach, so wie ich, eine Kreditkarte ziehen und<br />
sich ein Hotelzimmer leisten. Sie sind die heutigen Arbeiter im<br />
Weinberg, Tagelöhner. „Sklaven auf eigenes Risiko“ nennt Luise<br />
Schottroff die Lebensbedingungen von Tagelöhnern im Neuen<br />
Testament, auch für heute eine passende Beschreibung.<br />
Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg verheißt Jesus, dass im<br />
Reich Gottes die Letzten die Ersten sein werden. Ich, die an diesem<br />
Tag als Letzte ankam, habe mich zum Schluss glücklich gefühlt.<br />
Leben kann so schön sein. Die Letzte wurde zur Ersten, denn<br />
Besseres konnte mir gar nicht passieren. Eine bleibende, prägende<br />
Erinnerung. Für Luise Schottroff meint Jesus mit den Letzten die,<br />
die unten sind, die an Armut, Krankheit oder an der Zerstörung ihrer<br />
Gottesbeziehung leiden. Ihnen wird verheißen, dass es anders wird.<br />
An der materiellen Not der Wanderarbeiter habe ich nichts geändert.<br />
Aber diese Begegnung ist auch eine bleibende Erinnerung, die<br />
mir deutlich gemacht hat, dass eine Ökonomie der Gerechtigkeit<br />
nicht abstrakt ist, sondern ganz Elementares beinhaltet, wie<br />
z. B. am Abend ein sicheres Dach über den Kopf. Leben heißt<br />
nicht, bloß zu überleben, nur das Notwendigste zu haben. Für den<br />
Propheten Micha ist es die Verheißung, dass die Menschen einmal<br />
sicher wohnen werden. Leben heißt also einen Ort zu haben, an<br />
dem frau sich niederlassen kann. Zufrieden. Glücklich. Dann ist das<br />
Leben completo = vollkommen.<br />
Susanne Sengstock<br />
„Eine Chance, die das Pilgern bietet,<br />
ist aber, die Routine und die Muster des Alltags<br />
zu durchbrechen.“ Susanne Sengstock