Zur Sonne, zur Freiheit! - museum schiefes haus
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DUMMY / JU GEND<br />
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Wir bewegen uns zwischen zwei Dunkelheiten.<br />
E.M. Forster<br />
ZUR<br />
SONNE,<br />
ZUR<br />
FREIHEIT<br />
Irgendwie total daneben, irgendwie aber auch<br />
ganz okay: unsere Jugend im Urlaub.<br />
Protokoll einer Busreise nach Lloret de Mar<br />
TEXT: FABIAN DI E T R I CH FOT OS: TOBIAS KRU SE<br />
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wir nicht hier, sondern schon da, würden sie jetzt wohl<br />
schlafen. Sie hätten vorher vielleicht noch eine Tür eingetreten<br />
oder jemandem die Fresse poliert, vielleicht auch am<br />
Strand geknutscht oder süßes Zeug aus einem Zahnputzbecher<br />
getrunken. Aber sie würden jetzt schlafen.<br />
Es ist sieben Uhr morgens, also praktisch noch Nacht. Der<br />
Himmel über dem Zentralen Omnibusbahnhof von Berlin,<br />
der eigentlich dezentraler Bahnhof heißen müsste, weil er<br />
am Stadtrand liegt und für fast alle schlecht zu erreichen<br />
ist, hat die Farbe eines schmutzigen Lappens, der Boden ist<br />
pfützig und kalt. Drei Jungen teilen sich in der Deckung eines<br />
Fahrkartenautomaten ein Dosenbier. Mehr passiert erst<br />
mal noch nicht.<br />
Die anderen aus unserer Reisegruppe stehen betont unauffällig<br />
zwischen ihren Koffern, Decken und Kuscheltieren<br />
herum, ignorieren sich natürlich gegenseitig, stieren<br />
auf den roten Doppeldeckerbus von „Rainbow Tours“. Wir<br />
steigen in das obere Abteil, weil oben ja auch früher schon<br />
die interessanten Menschen, das interessantere Leben<br />
stattgefunden hat. Vor uns öffnet sich ein Panoptikum aus<br />
Zahnspangen, gegeelten Haaren, Make-up und Bermudashorts.<br />
Schnell ist klar, dass wir vom Fahrer, „dem Roman“,<br />
mal abgesehen mit Abstand die Senioren an Bord sind –<br />
29 und 31 Jahre alt. <strong>Zur</strong> Tarnung haben wir bunte Mützen<br />
eingepackt und uns extra noch einmal nassrasiert (was uns,<br />
wie wir schnell feststellen müssen, aber auch nicht jünger<br />
macht: Die finden uns einfach nur seltsam, vielleicht sogar<br />
ein bisschen pädophil, wir fallen jedenfalls auf). Durch<br />
38 DUMMY / JU GENDWären<br />
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FOT OCREDIT
die getönten Scheiben sehen wir winkbereite Mamas und<br />
Papas, ihre Gesichter von Müdigkeit und Besorgnis zerknautscht.<br />
25 Stunden Fahrt liegen vor uns. 25 Stunden <strong>zur</strong><br />
<strong>Sonne</strong>, <strong>zur</strong> <strong>Freiheit</strong>, zum Strand. Wir tuckern durch Brandenburg,<br />
Sachsen, Thüringen und Hessen, sammeln überall<br />
in Deutschland kleine und kleinste Häufchen von Jugendlichen<br />
ein.<br />
Um kurz nach zehn schiebt uns der Hintermann den ersten<br />
Alkopop zu. Es scheint professioneller Stoff zu sein. „Reiss<br />
mich auf“, „Ready to drink“, „16% Vol“ steht darauf. Das<br />
Getränk heißt „Bum“ und ist in eine Art blaue Senftüte verpackt,<br />
damit das auf Flaschen und Dosen geeichte Radar<br />
von Busfahrern, Lehrern und sonstigen Autoritäten es nicht<br />
identifizieren kann. Ein die Zunge betäubender Geschmack,<br />
irgendwo zwischen Fensterreiniger und Rübensirup, breitet<br />
sich im Mundraum aus. „Fressalien sind Tabu und bitte keinen<br />
Alkohol konsumieren“, ermahnt uns Jan, einer der beiden<br />
Reiseleiter, der im wirklichen Leben irgendwas studiert<br />
und aussieht wie ein Tocotronic-Bandmitglied. In der Mitte<br />
des Busses erzählt Paul, ein Berliner, der gerade seinen Zivildienst<br />
fertig gemacht hat, einen ziemlich lustigen Witz:<br />
„Woran hält sich ein Belgier beim Sex fest?“<br />
„Watt?“<br />
„Na, woran hält sich‘n Belgier beim Sex fest?“<br />
„Wees ick nich.“<br />
„Am Schulranzen.“<br />
„Oh Mann.“<br />
In Erfurt steigen fünf Jungs zu, deren Erkennungszeichen<br />
offenbar in die Ohrläppchen gesteckte Miniradkappen und<br />
Christiano-Ronaldo-Frisuren sind. Sie tragen <strong>Sonne</strong>nbrillen,<br />
haben alle Hosentaschen, Rucksäcke, Hände voller<br />
Bier. „Sss gehd‘n? Fuck! Auf geht’s! Yeeah!“, ruft der, den<br />
sie Rico nennen und der offenbar der Anführer der Bande<br />
ist, von vorn. Zwei andere schließen eine kleine Box<br />
an, grotesk verzerrt, aber in Schallwaffenlautstärke knallt<br />
die Musik durch das Abteil: „Piep, Piep, kleiner Satellit“.<br />
„Lulululu-Lummerland“. „Wir wollen Schnaps, wir wollen<br />
Bier, auf Arbeitsplätze scheißen wir!“ Die Erfurter trinken<br />
Met, Martini, Dosenbier und Cola-Goldkrone, ohne erkennbares<br />
System. Reiseleiter Jan macht von unten eine<br />
Durchsage: „Äh, ich bitte jetzt auch noch mal um Sensibilität<br />
bezüglich des Alkohols.“<br />
Keine Angst, der will doch nur fisten<br />
„Wir fahren eine Minude und ich bin scho‘ voll“, lallt Marc,<br />
der vor uns sitzt. „Hey Mädels, der will euch nur fisten.<br />
Ich sag‘s euch, wie‘s is“, brüllt Rico neben ihm durch den<br />
Bus. „Ananass, Ananass, komm, wir machen die Anna<br />
nass“, macht die Musik. Ein paar Mädchen mosern zaghaft<br />
(„Gibt‘s dich auch in leise?“, „iih, du hast Käsefüße!“), die<br />
meisten ergeben sich ihrem Schicksal, sie versenken sich in<br />
eine Diddl-Maus-artige Trance.<br />
Kurz vor Frankfurt, Zigarettenrauchen, Raststätte. Das<br />
heißeste Gesprächsthema: Fliegen die Erfurter raus? Paul<br />
sagt: „Ick hab ja nüscht gegen Stimmung, wirklich nich,<br />
aber das is dann doch ’n bisschen viel.“ Annika und Sophie<br />
aus dem Umland von Berlin, die sich jede eine Cinderella-<br />
Decke mitgebracht haben und sich später den Pocahontas-<br />
Soundtrack wünschen, werden sagen, sie könnten diese<br />
Typen umbringen, so einen schlechten, frauenfeindlichen<br />
Musikgeschmack hätten sie noch nicht erlebt. Der zweite<br />
Reiseleiter, Alex, der sehr muskulös ist und aus irgendwelchen<br />
„Rainbow-Tours“-internen Gründen schon zwei<br />
Nächte in Folge nicht geschlafen hat, nimmt die Erfurter<br />
beiseite und droht ihnen ein bisschen: „Also, Folgendes:<br />
Jetzt steigen gleich noch 30 Leute ein, dann sind wir 77, es<br />
wird also eng. Der neue Busfahrer ist jetzt schon voll am<br />
Heulen. Der ist voll sauer und streng. Der wartet nur darauf,<br />
einen von euch rauszuschmeißen.“ „Können wir dem nicht<br />
einfach in die Fresse hauen?“, fragt Rico den Reiseleiter.<br />
<strong>Zur</strong>ück im Abteil gibt er die Parole aus, dass der Busfahrer<br />
ja wohl der „übelste Hitler“ sei. „Hey Leude, Hitler<br />
fährt den Bus!“ So böllern und saufen wir weiter, stunden-<br />
und tagelang. Hinter baden-württembergischen Rebstöcken<br />
versinkt die <strong>Sonne</strong>, in Frankreich ist es Nacht, in Katalonien<br />
wieder hell.<br />
»Musse schreibe:<br />
Jugendliche habe kein Gehirn«<br />
Am nächsten Morgen halten wir auf dem letzten Rastplatz<br />
vor Lloret de Mar an der spanischen Costa Brava, wo Busse<br />
aus ganz Deutschland darauf warten, im Corso in die Stadt<br />
einzufahren. Flankiert von unterbezahlten Reiseleitern, die<br />
teilweise gerade mal drei bis fünf Jahre älter sind als sie,<br />
steht eine ganze Horde Jugendlicher auf dem staubigen Asphalt<br />
zwischen den Bussen, aufgekratzt, müde, verkatert,<br />
planlos. Manche tragen Strohhüte, manche haben Kissen<br />
in der Hand. Spanien! Tankstelle! Sie blinzeln in die <strong>Sonne</strong>,<br />
schauen sich skeptisch um. Ein gnomenhafter Mann<br />
nähert sich. Er sei der Fahrer eines anderen Busses, sagt er,<br />
und er habe bemerkt, dass wir Reporter seien. Der Mann<br />
erzählt irgendwas von Sat.1 und RTL, die schon da waren,<br />
und dass er es scheiße findet, über 20 Stunden zu fahren<br />
und danach noch mal drei Stunden zu putzen. Er sagt:<br />
„Was ist los mit diese Leute? Musse schreibe: Jugendliche<br />
habe kein Gehirn.“<br />
Als wir schließlich auf der palmengesäumten Hauptstraße<br />
von Lloret ankommen, stürmt ein Mann, der sich<br />
in einen weißen Bademantel gehüllt und sich eine Plastikperlenkette<br />
um den Hals gelegt hat, in unseren Bus und<br />
macht eine Durchsage: „Pardy, Pardy, Pardy!“ Die Stimme<br />
des Rainbow-Chefkoordinators klingt, als hätte er seit ungefähr<br />
1997 nicht mehr geschlafen. „Die Frauen, die euch<br />
Nelken anstecken wollen, sind Taschendiebe. Haut die einfach<br />
um.“<br />
Wir werden ins Hotel gebracht. Das Casino Royal (***)<br />
ist ein Klotz aus gelblich-braunem Beton, Stammheim mit<br />
Schwimmbecken und Balkon. Durch das Innere fressen<br />
sich dunkle, stollenartige Spiegelgänge, obwohl die Decken<br />
beklemmend niedrig sind, haben die Spanier sie mit<br />
tropfsteinförmigen Plastikkronleuchtern behängt. Deutsche,<br />
französische und niederländische Jugendliche (die alles in<br />
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allem übrigens absolut identisch aussehen) schlappen mit<br />
ihren Flip-Flops durch das Treppen<strong>haus</strong>. Auf einer Pinnwand<br />
ist das Animationsprogramm für diese Woche angeschlagen:<br />
„Disco“, „Luftgewehrschießen“, „Fiesta infantíl“.<br />
Nur langsam durchschauen wir das Prozedere im Casino<br />
Royal: Wer ein verwirrendes Autorisierungsverfahren besteht,<br />
bekommt an den Hotelbars von 10 bis 24 Uhr Bier,<br />
Sangría und terpentinhaltige Alkopops für umsonst. In einer<br />
Art Besäufnishalle mit Internet und Gepäckablage treffen<br />
wir auch Ronny wieder, einen jungen Zeitsoldaten aus<br />
Sachsen, der im Bus im unteren Abteil saß. „Ich bin immer<br />
noch Hacke. Bei uns ging‘s ab. Ich muss euch sagen, die<br />
Anna hat eine ganz schön feuchte Muschi gehabt.“<br />
Am Abend, nachdem wir unsere Zimmer bezogen und<br />
präventiv anverwüstet haben (Kekse zerbröselt, Schranktür<br />
entfernt), gehen wir mit den anderen auf die „Rainbow<br />
Willkommensparty“ in die Disko „Revolution“. Auf der<br />
Tribüne des Raums, einer Art überdachter Gladiatorenarena,<br />
schenkt uns ein misslauniger Spanier rabattierten Alkohol<br />
aus. Autoscootergeräusche und Sirenen jaulen durch<br />
DUMMY / JU GEND<br />
die Luft, Bass-Kaskaden peitschen hinterher, Zahnspangen<br />
glitzern im Scheinwerferlicht. Plötzlich ist es still. Nebel<br />
zischt in den Kessel, hunderte junger Fäuste werden in<br />
Richtung Decke gereckt. Eine Stimme verkündet feierlich:<br />
„I come from Miami, bitch!“ Als wäre das eine geheime<br />
Losung, irgendein Kommando, vielleicht der Schlüssel<br />
zu diesem ganzen Lloret de Mar, brüllen sie wie aus einer<br />
Kehle los, bis die Musik wieder einsetzt und sie zum<br />
Schweigen bringt.<br />
Um Mitternacht verklumpt die Menge dann, die ersten<br />
Paare bilden sich. Manche Jungs tun besoffener, als sie<br />
sind, hängen sich einfach wie nasse Säcke auf eine Frau.<br />
Andere verzweifeln an Mädchen, die partout ihren Mund<br />
beim Küssen nicht öffnen wollen, heben sie hoch, schieben<br />
sie ratlos die Wand hinauf. Ronny, der Fummler, nähert<br />
sich im ersten Stock von hinten einer Frau, die etwas von<br />
einem narkotisierten Walfisch hat. Mit beiden Händen fasst<br />
er ihr an die Hüfte, tastet sich mit mehreren Unterbrechungen<br />
zaghaft vor bis zu ihrem Schritt. Die, die kein Mädchen<br />
abbekommen haben, schunkeln pro forma noch ein biss-<br />
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chen <strong>zur</strong> Musik, krallen sich mit leeren Gesichtern an ihren<br />
Plastikbechern fest. Um ein Uhr hat auch der Letzte registriert,<br />
dass es an diesem Abend mehr Verlierer als Gewinner<br />
geben wird. Die mathematische Realität ist gnadenlos:<br />
Mindestens 70 Prozent Männer in Lloret de Mar – und fast<br />
alle wollen eine Frau.<br />
Der Strand ist eine Piste aus Katzenstreu<br />
Nachts im Hotel ist von Party nicht mehr viel zu spüren. Es<br />
herrscht eine Stimmung wie im Bürgerkrieg. Der Portier hat<br />
sich mit einem Baseballschläger bewaffnet. Die arabischen<br />
Sicherheitsleute leuchten die Fassade mit Suchscheinwerfern<br />
ab, um herauszufinden, wer mal wieder Kondome/<br />
Bierflaschen/Fernseher/Betten auf die Straße geschmissen<br />
hat. Türen bersten. Glas klirrt. Wir hören die Schreie prügelnder<br />
und geprügelter Franzosen, ein Mädchen auf dem<br />
Gang wimmert: „Miri! Lass mich rein, ich will weitersaufen.“<br />
Auf der Straße skandieren die nach Hause Kommenden:<br />
„Germany! Wir waschen uns nie!“ Von draußen dringt<br />
zartes Stöhnen zu uns herein. Als ich nachschauen gehe,<br />
segeln vier Möwen krächzend über den Sportplatz und die<br />
Baustelle vor dem Balkon.<br />
Nach dem Aufstehen gehen wir zum Strand, einer kilometerlangen<br />
Piste aus katzenstreuartigen Steinen, die mit<br />
einem dichten Teppich aus glänzenden Menschenkörpern<br />
bedeckt ist. Wir treffen die Erfurter an einer Cocktailbar<br />
mit Blick aufs Meer. Marc erzählt, er habe im Hotel eine<br />
18-jährige Engländerin kennen gelernt, die mit ihrem<br />
Vater und ihrem kleinen Bruder in Lloret sei. „Wenn ich<br />
heud‘ keine neue find‘, werd‘ ich sie noch mal knaddern“,<br />
verkündet er. „Hola, wir wollen saufen. Long Island Ice<br />
Tea, groß!“, ruft Rico der Bedienung zu. Sie bringt uns fünf<br />
vasenartige Gefäße mit einem bittersüßen, braunen Zeug<br />
darin. Wir sind sofort besoffen und stolpern gemeinsam, die<br />
Trinkkelche wie Zepter schwingend, über den Strand. Irgendwo<br />
fallen wir auf den Boden und verbrüdern uns. Rico:<br />
„Ihr seid meine Leude, ehrlich. Wenn euch irgendwer blöd<br />
kommt, dann hau ich den um. Es sei denn, ihr seid schwul.<br />
Dann ist es jetzt vorbei.“<br />
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„Man sieht gleich, dass ihr hier nicht herpasst“, sagt der<br />
Mann, der bei unserer Ankunft in den Bus gestürmt kam,<br />
zu uns. Er nennt sich Don Francis, wir treffen ihn in seiner<br />
eigenen Bar, die „I love Don Francis“ heißt. Er ist 36 Jahre<br />
alt, zutätowiert und einer der wenigen Typen in der Stadt,<br />
der nicht wie ein kurzgeschorener/auftrainierter/gegeelter<br />
Profifußballer aussieht. Seine langen, zum Pferdeschwanz<br />
gebundenen Haare fallen auf sein ärmelloses, weißes T-Shirt<br />
herab. Seit zehn Jahren lebt er jetzt in Lloret de Mar, davor<br />
Hamburg, St. Pauli. „Ich komm aus ’m Milieu, mehr sage<br />
ich nicht.“ Sein Markenzeichen sind der weiße Bademantel<br />
und die weiße <strong>Sonne</strong>nbrille, er ist nicht nur „Chefkoordinator<br />
von Rainbow-Tours“, sondern auch der selbst ernannte<br />
„König von Lloret de Mar“. Noch immer ist Don Francis<br />
ein bisschen angefressen, weil ihm Olli, ein Reiseleiter, in<br />
einem „Spiegel“-Artikel vom vergangenen Jahr das Wort<br />
„Eskalation“ geklaut hat. Auf „Eskalation“ hat Don Francis<br />
in Lloret de Mar nämlich ein Copyright, das ist seine<br />
ganz persönliche Erklärung dafür, warum dieses Küstenkaff<br />
jedes Jahr aufs Neue von zehntausenden Teenagern<br />
aus ganz Europa in Geiselhaft genommen wird. „Wir feiern<br />
hier nicht, wir eskalieren hier“ – der Olli hat diesen eindeutig<br />
Don Francis zuzuschreibenden Satz dem Typen vom<br />
„Spiegel“ in den Block diktiert. Im Winter, als die Urlauber<br />
weg waren, hat er <strong>zur</strong>ückgeschlagen. Don Francis hat eine<br />
CD aufgenommen („Eskalation“) und auch noch seine Autobiografie<br />
geschrieben („Ausnahmezustand“), die man im<br />
Internet schon anlesen kann: Da steht zum Beispiel, dass<br />
er ein Kind mit einer Hamburgerin hat, die in Lloret auf<br />
Abifahrt war, und dass das Kind mit zweitem Namen auch<br />
Francis heißt, und dass er, wenn er mal keine feste Freundin<br />
hat, gut hundert Mädels in einer Touristensaison durchnudeln<br />
kann. „Hier, riecht mal“, sagt er und stellt uns eine<br />
Probepackung seines neuen Don-Francis-Parfüms auf den<br />
Tisch. Gemeinsam mit seinem Bodyguard steigt der König<br />
von Lloret dann auf einen Motorroller, um in eine der Diskotheken<br />
zu fahren, wo er den Jugendlichen ein bisschen<br />
was vorsingen wird. Zum Abschied ruft er uns etwas zu, das<br />
klingt wie: „Wir gehen noch mal eben einen Burger verhaften.<br />
Bis gleich.“<br />
Die Holländer pinkeln vom Balkon<br />
Am nächsten Abend besuchen wir die Erfurter im Hotel<br />
Alexis (***). In der holzvertäfelten Lobby gibt es Bier für<br />
einen Euro fünfzig. Ein paar ältere Frauen sitzen verloren<br />
an Tischen herum, trinken süße Getränke mit Terpentin und<br />
schauen in Richtung einer Nische, wo eine Musikanlage<br />
aufgebaut ist und ein Schwarzer, der ein blau-gelb marmoriertes<br />
Hawaiihemd trägt, eine ballettartige Performance<br />
aufführt. Aus den Boxen tönt ein Lied: „When I get older,<br />
I will be stronger.“ Marc sitzt draußen auf einem Plastikstuhl<br />
neben Becky aus Essex, seiner 18-jährigen englischen<br />
Urlaubsfreundin, in deren Mund eine feste Zahnspange zu<br />
sehen ist. Ihr Vater, der auch irgendwo steht und trinkt und<br />
sich darüber beschwert, dass man ihn in ein Hotel mit lauter<br />
besoffenen Teenagern gesperrt hat, weiß nicht, dass die bei-<br />
DUMMY / JU GEND<br />
den eine Affäre haben. Marcs Gesicht ist rot, seine Augen<br />
quellen hervor, seine Zunge verhakt sich ständig im Mund.<br />
Becky lehnt sich zu ihm:<br />
„Marc, why are you always drunk?“<br />
„Noooo.“<br />
„First thing he does is start drinking in the morning.“<br />
„Where you buys jeeeanz ...“<br />
Marc stützt sich auf ihren Oberarm, kippt beim Versuch, an<br />
ihrer Weste zu zupfen, fast vom Stuhl. „Oh, just my boy!“,<br />
sagt sie.<br />
Plötzlich schreien alle wild durcheinander. Der Portier<br />
kommt angerannt. Die Holländer pinkeln vom Balkon.<br />
Etwa am dritten Tag befällt uns das Gefühl, bereits mehrere<br />
Wochen hier zu sein. Lloret de Mar ist in Wahrheit ein<br />
riesengroßes Hamsterrad. Die Jugendlichen sausen durch<br />
die Gassen und wir hetzen hinterher, vom Hotel zum Strand,<br />
vom Strand zum Hotel, vom Hotel in die Bar, von der Bar in<br />
die Disko, und dann wieder nach Haus. Wir trinken, trinken,<br />
trinken, und können doch kein Teil des Ganzen sein. Dr. Döner<br />
alias Ali thront auf einem Barhocker und erklärt uns ein<br />
gastronomisches Konzept namens billiger Alkohol. Jemand<br />
drückt uns eine Einladung für eine Ü20-Party in die Hand.<br />
Der Bodyguard von Don Francis sagt, wir müssten unbedingt<br />
den Fickfelsen suchen gehen, aber als wir am Fickfelsen<br />
ankommen, ist es dunkel und nass und niemand ist da.<br />
Im Speisesaal des Casino Royal, wo uns hasserfüllte Katalanen<br />
verwelkte Pommes, nach Staub schmeckenden Kaffee,<br />
nach Tod riechendes Fleisch und einen als Grapefruitsaft<br />
getarnten, rostfarbenen Zuckersirup auftischen, keimt<br />
auf einmal wieder Hoffnung unter den Jungs auf: Gerüchte<br />
über Gruppensex gehen um. Nichts scheint unmöglich. Einer<br />
sagt: Gestern Nacht auf der Party hätte es eine Frau mit<br />
acht Männern in zwei Schichten gemacht.<br />
Später gehe ich alleine runter an den Pool, wo ein paar dicke<br />
Engländer Wasserball spielen und der Putz abbröckelt.<br />
Die halbe Wienerwurst, die hier eben noch schwamm, ist<br />
vermutlich untergegangen oder von einem Kind gegessen<br />
worden. Ich habe statt Alkohol das neue (sehr schlechte)<br />
Buch von Bret Easton Ellis dabei, ich spüre, dass mich das<br />
irgendwie verdächtig macht. Neben mir knallen sich Paul,<br />
der bald eine Ausbildung zum Krankenpfleger machen<br />
wird, und Justus, der sich als Marineoffizier für 13 Jahre<br />
bei der Armee verpflichtet hat, einen Gin Tonic aus den Alles-inklusive-Plastikbechern<br />
rein. Sie diskutieren darüber,<br />
wann das Leben zu Ende ist.<br />
„Ich will nicht älter werden.“<br />
„Nee, auf keinen Fall.“<br />
„20 ist gut.“<br />
„Mhm. Oder 22. Maximal 23. Dann kann die Zeit von<br />
mir aus stehen bleiben.“<br />
„Bitte. Mehr geht nicht.“<br />
Im Zimmer neben uns läuft lauter Techno, es riecht nach<br />
Haarspray und Schnaps. Ein Rudel Kölner Mädchen macht<br />
sich fertig für den Abend. Auf ihre Nachtkästen haben sie<br />
gerahmte Knutsch- und Rumsitzfotos von ihren Freunden<br />
gestellt. „Ist halt voll die <strong>Freiheit</strong> hier. Keiner passt auf<br />
uns auf“, sagt Michelle, die 16 Jahre alt ist. Wo sie hinge-<br />
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hen wollen, wissen sie noch nicht. Auf die Schaumparty<br />
jedenfalls nicht, weil die Jungs sich im Schaum verstecken<br />
und sie heimlich am Po und den Brüsten begrapschen<br />
würden und sie doch jetzt alle vergeben sind. Im Zimmer<br />
gegenüber sitzen Jonas, Leon und Norman und erzählen,<br />
wie einer von ihnen gestern Nacht von Holländern verprügelt<br />
wurde, weil er besoffen deren Getränke umgekippt<br />
hat. „Das ist eben nicht Deutschland“, sagt Norman. „Ich<br />
glaube, ein Menschenleben ist hier viel weniger wert.“<br />
Mittlerweile haben sich die Erfurter vom Baden im Pool<br />
wuchernde Geschwüre an Armen und Ohren geholt. Die<br />
Ärztin habe gesagt, es komme von einem speziellen Bakterienstamm,<br />
der seit Langem in der Stadt zu Hause sei.<br />
Das Essen, der Alkohol, das schmutzige Wasser und die<br />
Klimaanlagen, die die Diskos auf Gefrierschranktemperaturen<br />
abkühlen, fordern Tribut. In der Rainbow-Gruppe<br />
sind mittlerweile gut ein Drittel der Jugendlichen von der<br />
sogenannten Lloret-Krätze befallen: Halsschmerzen, Husten,<br />
Durchfall, Kopfweh, mysteriöse gelbe und rote Punkte<br />
auf Armen und Beinen. Das sei gar nichts, sagt ein Zwölftklässler<br />
aus Köln. „Als ich letztes Jahr hier war, haben zwei<br />
Typen in meinem Zimmer die Schweinegrippe gehabt.“<br />
Kurz nach vier am Morgen: Es geht nicht mehr. Ich laufe<br />
runter <strong>zur</strong> Rezeption, überall von der Schaumparty übriggebliebener<br />
Schaum, Zombies in Flip-Flops torkeln durchs<br />
Bild. „Hola Señor, ich sterbe. Ich habe Husten und Schmerzen<br />
im Hals. Haben sie etwas Medizin für mich?“ Der Portier<br />
glotzt mich teilnahmslos, irgendwie fischig an. Dann<br />
lacht er einfach so los. „Nein, Amigo. Das Einzige, was ich<br />
für dich habe, ist Alkohol.“<br />
Am nächsten Abend treffen wir den Direktor des Hotels<br />
in seinem Büro, einem zellenartigen Schlauch ohne Fenster,<br />
in dem es ungefähr fünf Grad hat. Vor uns sitzt ein etwa<br />
vierzigjähriger katalanischer Nationalist mit blonden Bartstoppeln<br />
und krummem Rücken, der die diffuse Aura eines<br />
gebeutelten Mannes verströmt. Er zündet sich eine billige<br />
Zigarette der Marke Winston an. „Hier, die neuen Verbotsschilder.<br />
Keine Megafone, kein Geschrei, keine Gegenstände<br />
aus dem Fenster werfen. Ach, das hat doch sowieso keinen<br />
Zweck.“ Von seinem Schreibtisch aus hat er ein Dutzend<br />
Monitore im Blick, auf denen man die Gäste in Schwarz-<br />
Weiß durch die Gänge ruckeln sieht. Er zeigt uns die letzten<br />
Auswertungen der Videoüberwachung: Zwei Engländer<br />
haben fälschlicherweise behauptet, ihnen seien iPhones und<br />
iPods gestohlen worden. Und da sei gestern auch dieses Fax<br />
aus Deutschland angekommen: Eine Mutter erlaubt ihrem<br />
17-Jährigen Sohn ausdrücklich Alkohol zu trinken. „Aber<br />
nee, ich bin doch nicht blöd. Wenn der Junge vom Balkon<br />
stürzt, kriegen sie mich dran.“ Das Telefon klingelt. „Hola,<br />
Gran Hotel Casino Royal. Ja. Holen sie die Polizei. Anzeige.<br />
Alles klar.“ Der Direktor legt eine nachdenkliche, ja fast<br />
philosophische Miene auf. „Bueno, wahrscheinlich haben<br />
auch wir, das Hotel, Schuld an der Misere. Schauen sie sich<br />
doch einfach um. Aber was ist mit diesen Jugendlichen los?<br />
Ich glaube, wir haben ein Erziehungsproblem. Nicht nur in<br />
Deutschland, nein auch in Spanien und ganz Europa. Sie<br />
kommen wegen dem Sex, sie kommen wegen dem Strand,<br />
sie kommen wegen den Partys und dem Alkohol. Sie kommen<br />
hierher, weil sie glauben, dass es keine Regeln gibt. In<br />
meiner Jugend war es ganz einfach. Wenn ich mich danebenbenommen<br />
habe, hat mir mein Vater eine gescheuert,<br />
und dann habe ich es ganz schnell kapiert.“<br />
Auf der Rückreise sind alle zahm,<br />
nur der Zeuge Jehovas faselt von der Hölle<br />
In der letzten Nacht sehen wir viele aus unser Gruppe <strong>zur</strong><br />
Abschiedsparty wieder. Die meisten von ihnen sind blass,<br />
manche scheinen zu humpeln. Die Älteren meckern über<br />
das Essen und das Hotel. Nur bei den Minderjährigen wirkt<br />
der Zauber von Lloret de Mar noch immer wie am ersten<br />
Tag. Sie zählen die Getränke auf, die sie getrunken und<br />
gelegentlich auch wieder ausgespien haben. Sie schwärmen<br />
von den Diskotheken, in die man sie reingelassen hat.<br />
Sie schwören, dass es hier auf jeden Fall super und total<br />
toll sei, und dass sie wiederkom-<br />
men werden, aber hundertpro. Don<br />
Francis hat sich im Erdgeschoss<br />
der Disko „St. Trop“ das Mikrofon<br />
geschnappt und gibt zum ungefähr<br />
tausendsten Mal in dieser Woche<br />
eine seiner Sauftechno-Hymnen<br />
zum Besten: „Wir sind hier, machen<br />
Lärm und Dreck / Erst nach<br />
ner Woche sind wir wieder weg /<br />
Einmal in deinem Leben, da muss<br />
es passieren / In Lloret de Mar<br />
wirst du eskalieren.“ „Willst du<br />
auch ein Kind von Don Francis“,<br />
frage ich ein kreischendes, blondes<br />
Mädchen. „Ja“, ruft sie. „Ich<br />
habe ein T-Shirt von ihm!“ An der<br />
Bar treffen wir eine aufgewühlte<br />
Russin. Sie sagt, in Sibirien, wo<br />
sie lebe und für Gazprom arbeite,<br />
Der König von<br />
Lloret de Mar<br />
verstehe zwar keiner, worum es in den Texten gehe, aber<br />
sie sängen die Lieder von Don Francis Tag und Nacht.<br />
In den Stunden vor der Abreise sind wir noch einmal am<br />
Meer. Wortfetzen wehen über den Strand. „Spaziergang.“<br />
„Tierpark.“ Justus hat schon wieder einen Riesencocktail<br />
in der Hand. Steffi, die eine Ausbildung bei der Bahn<br />
macht, hat die Augen geschlossen und liegt mit dem Kopf<br />
in Pauls Schoß, der auch einen Riesencocktail neben sich<br />
stehen hat. Die beiden reden darüber, wie es in Berlin mit<br />
ihnen weitergeht. Die Erfurter haben sich T-Shirts gekauft,<br />
ein schlapper Puma liegt auf den Buchstaben „Coma“. „Es<br />
spiegelt den Verlauf der Reise wider“, sagt Marc.<br />
Im Bus <strong>zur</strong>ück nach Hause sind sie alle ganz zahm. Der<br />
Einzige, der noch Krawall macht, ist ein 67-jähriger Zeuge<br />
Jehovas.<br />
Er sitzt unter uns und faselt von der Hölle und dem<br />
Untergang der Welt.<br />
Einige der Namen wurden von der Redaktion geändert.<br />
DUMMY / JU GEND 43<br />
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