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Zur Sonne, zur Freiheit! - museum schiefes haus

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hen wollen, wissen sie noch nicht. Auf die Schaumparty<br />

jedenfalls nicht, weil die Jungs sich im Schaum verstecken<br />

und sie heimlich am Po und den Brüsten begrapschen<br />

würden und sie doch jetzt alle vergeben sind. Im Zimmer<br />

gegenüber sitzen Jonas, Leon und Norman und erzählen,<br />

wie einer von ihnen gestern Nacht von Holländern verprügelt<br />

wurde, weil er besoffen deren Getränke umgekippt<br />

hat. „Das ist eben nicht Deutschland“, sagt Norman. „Ich<br />

glaube, ein Menschenleben ist hier viel weniger wert.“<br />

Mittlerweile haben sich die Erfurter vom Baden im Pool<br />

wuchernde Geschwüre an Armen und Ohren geholt. Die<br />

Ärztin habe gesagt, es komme von einem speziellen Bakterienstamm,<br />

der seit Langem in der Stadt zu Hause sei.<br />

Das Essen, der Alkohol, das schmutzige Wasser und die<br />

Klimaanlagen, die die Diskos auf Gefrierschranktemperaturen<br />

abkühlen, fordern Tribut. In der Rainbow-Gruppe<br />

sind mittlerweile gut ein Drittel der Jugendlichen von der<br />

sogenannten Lloret-Krätze befallen: Halsschmerzen, Husten,<br />

Durchfall, Kopfweh, mysteriöse gelbe und rote Punkte<br />

auf Armen und Beinen. Das sei gar nichts, sagt ein Zwölftklässler<br />

aus Köln. „Als ich letztes Jahr hier war, haben zwei<br />

Typen in meinem Zimmer die Schweinegrippe gehabt.“<br />

Kurz nach vier am Morgen: Es geht nicht mehr. Ich laufe<br />

runter <strong>zur</strong> Rezeption, überall von der Schaumparty übriggebliebener<br />

Schaum, Zombies in Flip-Flops torkeln durchs<br />

Bild. „Hola Señor, ich sterbe. Ich habe Husten und Schmerzen<br />

im Hals. Haben sie etwas Medizin für mich?“ Der Portier<br />

glotzt mich teilnahmslos, irgendwie fischig an. Dann<br />

lacht er einfach so los. „Nein, Amigo. Das Einzige, was ich<br />

für dich habe, ist Alkohol.“<br />

Am nächsten Abend treffen wir den Direktor des Hotels<br />

in seinem Büro, einem zellenartigen Schlauch ohne Fenster,<br />

in dem es ungefähr fünf Grad hat. Vor uns sitzt ein etwa<br />

vierzigjähriger katalanischer Nationalist mit blonden Bartstoppeln<br />

und krummem Rücken, der die diffuse Aura eines<br />

gebeutelten Mannes verströmt. Er zündet sich eine billige<br />

Zigarette der Marke Winston an. „Hier, die neuen Verbotsschilder.<br />

Keine Megafone, kein Geschrei, keine Gegenstände<br />

aus dem Fenster werfen. Ach, das hat doch sowieso keinen<br />

Zweck.“ Von seinem Schreibtisch aus hat er ein Dutzend<br />

Monitore im Blick, auf denen man die Gäste in Schwarz-<br />

Weiß durch die Gänge ruckeln sieht. Er zeigt uns die letzten<br />

Auswertungen der Videoüberwachung: Zwei Engländer<br />

haben fälschlicherweise behauptet, ihnen seien iPhones und<br />

iPods gestohlen worden. Und da sei gestern auch dieses Fax<br />

aus Deutschland angekommen: Eine Mutter erlaubt ihrem<br />

17-Jährigen Sohn ausdrücklich Alkohol zu trinken. „Aber<br />

nee, ich bin doch nicht blöd. Wenn der Junge vom Balkon<br />

stürzt, kriegen sie mich dran.“ Das Telefon klingelt. „Hola,<br />

Gran Hotel Casino Royal. Ja. Holen sie die Polizei. Anzeige.<br />

Alles klar.“ Der Direktor legt eine nachdenkliche, ja fast<br />

philosophische Miene auf. „Bueno, wahrscheinlich haben<br />

auch wir, das Hotel, Schuld an der Misere. Schauen sie sich<br />

doch einfach um. Aber was ist mit diesen Jugendlichen los?<br />

Ich glaube, wir haben ein Erziehungsproblem. Nicht nur in<br />

Deutschland, nein auch in Spanien und ganz Europa. Sie<br />

kommen wegen dem Sex, sie kommen wegen dem Strand,<br />

sie kommen wegen den Partys und dem Alkohol. Sie kommen<br />

hierher, weil sie glauben, dass es keine Regeln gibt. In<br />

meiner Jugend war es ganz einfach. Wenn ich mich danebenbenommen<br />

habe, hat mir mein Vater eine gescheuert,<br />

und dann habe ich es ganz schnell kapiert.“<br />

Auf der Rückreise sind alle zahm,<br />

nur der Zeuge Jehovas faselt von der Hölle<br />

In der letzten Nacht sehen wir viele aus unser Gruppe <strong>zur</strong><br />

Abschiedsparty wieder. Die meisten von ihnen sind blass,<br />

manche scheinen zu humpeln. Die Älteren meckern über<br />

das Essen und das Hotel. Nur bei den Minderjährigen wirkt<br />

der Zauber von Lloret de Mar noch immer wie am ersten<br />

Tag. Sie zählen die Getränke auf, die sie getrunken und<br />

gelegentlich auch wieder ausgespien haben. Sie schwärmen<br />

von den Diskotheken, in die man sie reingelassen hat.<br />

Sie schwören, dass es hier auf jeden Fall super und total<br />

toll sei, und dass sie wiederkom-<br />

men werden, aber hundertpro. Don<br />

Francis hat sich im Erdgeschoss<br />

der Disko „St. Trop“ das Mikrofon<br />

geschnappt und gibt zum ungefähr<br />

tausendsten Mal in dieser Woche<br />

eine seiner Sauftechno-Hymnen<br />

zum Besten: „Wir sind hier, machen<br />

Lärm und Dreck / Erst nach<br />

ner Woche sind wir wieder weg /<br />

Einmal in deinem Leben, da muss<br />

es passieren / In Lloret de Mar<br />

wirst du eskalieren.“ „Willst du<br />

auch ein Kind von Don Francis“,<br />

frage ich ein kreischendes, blondes<br />

Mädchen. „Ja“, ruft sie. „Ich<br />

habe ein T-Shirt von ihm!“ An der<br />

Bar treffen wir eine aufgewühlte<br />

Russin. Sie sagt, in Sibirien, wo<br />

sie lebe und für Gazprom arbeite,<br />

Der König von<br />

Lloret de Mar<br />

verstehe zwar keiner, worum es in den Texten gehe, aber<br />

sie sängen die Lieder von Don Francis Tag und Nacht.<br />

In den Stunden vor der Abreise sind wir noch einmal am<br />

Meer. Wortfetzen wehen über den Strand. „Spaziergang.“<br />

„Tierpark.“ Justus hat schon wieder einen Riesencocktail<br />

in der Hand. Steffi, die eine Ausbildung bei der Bahn<br />

macht, hat die Augen geschlossen und liegt mit dem Kopf<br />

in Pauls Schoß, der auch einen Riesencocktail neben sich<br />

stehen hat. Die beiden reden darüber, wie es in Berlin mit<br />

ihnen weitergeht. Die Erfurter haben sich T-Shirts gekauft,<br />

ein schlapper Puma liegt auf den Buchstaben „Coma“. „Es<br />

spiegelt den Verlauf der Reise wider“, sagt Marc.<br />

Im Bus <strong>zur</strong>ück nach Hause sind sie alle ganz zahm. Der<br />

Einzige, der noch Krawall macht, ist ein 67-jähriger Zeuge<br />

Jehovas.<br />

Er sitzt unter uns und faselt von der Hölle und dem<br />

Untergang der Welt.<br />

Einige der Namen wurden von der Redaktion geändert.<br />

DUMMY / JU GEND 43<br />

Dummy_Final_18___24-51.indd 43 07.09.2010 7:29:14 Uhr

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