Texte fürs netz - Museum Junge Kunst Frankfurt
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Sonja Daemen<br />
Das Prinzip der Gnade (Zu: Balavat (Eckehard Böttrich)<br />
Die Gnade – weggesperrt. Konserviert in einem Einweckglas, wie ich es jetzt gerade<br />
gut in meiner heimischen Küche gebrauchen könnte. Denn durch die Gnade, die mir<br />
der vorzeitige Herbsteinbruch erweist, ersticke ich beinahe in einer Apfel- und<br />
Pflaumenschwemme.<br />
Balavats Gnadenprinzip erscheint in Form eines selbstvergessenen Engels. Tief ins<br />
Gebet versunken, spiegelt sich der Widerschein ungeahnter himmlischer Freuden<br />
auf seinem Gesicht. Glasklar unter seinen Füßen eine Ansammlung durchsichtiger<br />
Steine. Unter ihnen ein tiefblauer Stein, der auf etwas Geheimnisvolles hinzuweisen<br />
scheint; vielleicht markiert er den Punkt, von dem die Andacht ausgeht. Er könnte<br />
das Wertvollste in dem mit Wasser gefüllten Weckglas sein, dieser falsche Amethyst.<br />
Ebenso sind die durchsichtigen Steine nicht etwa Bergkristall, sondern lediglich<br />
geschliffenes Glas. Immerhin ist die chemische Grundsubstanz dieselbe:<br />
Siliziumdioxid. Aber auch die Gnade selbst entpuppt sich bei genauerem Hinsehen<br />
als unecht. Ein süßlich lächelnder, von einer alten Weihnachtspyramide<br />
übriggebliebener Spielzeugengel, den zu entsorgen man wahrscheinlich vergessen<br />
hat.<br />
Denn in der Welt gibt es keine Gnade. Sogar als Wort kennen wir sie heute nur noch<br />
in ihrer Verneinung. Gnadenlos. Ungnade. In Ungnade fallen. Wer sagt dagegen<br />
schon noch „gnadenvoll“, „gnadenreich“ „gnädig“ oder dergleichen? Manchmal hat<br />
die Gnade in Wortzusammensetzungen überlebt. Gnadenbrot. Gnadengesuch. Das<br />
des RAF-Terroristen Klar wurde abgelehnt. Denn auch er kennt noch immer keine<br />
Gnade mit unserem netten Kapitalismus.<br />
Auf polnisch heißt „Gnade“ laska, und ich kenne dieses Wort nur aus der Kirche.<br />
Dasselbe Wort auf russisch, laska, sollte man dagegen mit „Zärtlichkeit“ übersetzen.<br />
Bedeutungseinengung oder einfach nur Säkularisierung? Als widerlich profan<br />
empfinde ich die Umarmung eines Menschen, der mir mit gewaltigem Wortschwall<br />
etwas erklären will, was er nur von mir selbst weiß. Soll ich das als „unverdiente<br />
Milde“ schlucken? Ebenso profan erscheint mir dieses Weckglas hier, obwohl es<br />
nicht einmal mein irdisches Obst beherbergt, sondern das verfälschte Prinzip der<br />
himmlischen Gnade.