PDF-Dokument - Aus kritischen Ereignissen lernen
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Thema<br />
Kritische Ereignisse –<br />
Berichts- und Lernsysteme im Internet<br />
In den letzten 50 Jahren<br />
hat sich die Altenpflege<br />
stark gewandelt. Die Akademisierung<br />
der Pflege<br />
durch die Einführung der Pflegewissenschaften<br />
an den Hochschulen und eine veränderte Altenpflegeausbildung<br />
haben beispielsweise dazu beigetragen,<br />
dass neueste Erkenntnisse verstärkt in<br />
der Praxis umgesetzt werden müssen. Weil aber<br />
in der Altenpflege Menschen mit Menschen arbeiten,<br />
werden Reibungen und Zwischenfälle<br />
mit mehr oder minder relevanten <strong>Aus</strong>wirkungen<br />
für pflegebedürftige alte Menschen auch zukünftig<br />
nicht ausbleiben. Die Arbeit in der Altenpflege<br />
zu optimieren und die Qualität zu sichern<br />
und zu erhöhen, heißt auf jeden Fall, auch<br />
dafür bereit zu sein, lebenslang hinzuzu<strong>lernen</strong>.<br />
Dass die Lehre, also die Art und Weise der Wissensvermittlung,<br />
nicht stillsteht und nicht stillstehen<br />
darf, hat die Reform der Altenpflegeausbildung<br />
schon längst bewiesen. Modernes Lernen<br />
heißt heute aber auch, sich die Möglichkeiten<br />
der modernen Techniken und Medien zunutze<br />
zu machen. Das Titelthema dieser <strong>Aus</strong>gabe<br />
verknüpft diese angesprochenen Themen<br />
und gibt eine Antwort auf die Frage: Wie kann<br />
die Altenpflege mit Hilfe des Internets <strong>lernen</strong>,<br />
eine (noch) bessere Qualität in der Pflegepraxis<br />
umzusetzen<br />
Schon die Ankündigung, dass das Kuratorium<br />
Deutsche Altershilfe ein internetbasiertes<br />
Berichts- und Lernsystem entwickelt, hat zum<br />
Teil hohe Wellen geschlagen. Das System hat<br />
das KDA jedoch nicht neu erfunden. Vor allem<br />
im Bereich der Medizin existierten<br />
bereits unterschiedliche Systeme, auf<br />
deren Erfahrungen und Erkenntnisse<br />
das KDA-Team in seiner Startphase<br />
zurückgreifen und auf die Bedürfnisse<br />
der Altenpflege anpassen<br />
konnte. Dr. Marcus Rall, der für Patientensicherheitssysteme<br />
in der Medizin<br />
wie PaSOS und PaSIS arbeitet,<br />
erklärt in seinem Einführungsartikel<br />
ausführlich das Wesen und die<br />
Funktionsweise von sogenannten Incident-Reporting-Systemen<br />
(IRS), zu<br />
denen auch das KDA-System „<strong>Aus</strong><br />
<strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ gehört. Dass das<br />
KDA mit seinem Engagement und seiner Haltung,<br />
aus immer wiederkehrenden Problemen in<br />
der Altenpflege eine Lehre zu ziehen, indem vorgefallene<br />
„kritische Ereignisse“ anonymisiert in<br />
die Öffentlichkeit des Internets getragen werden,<br />
eine Kontroverse angestoßen hat, wird<br />
ähnliche Gründe wie in der Medizin haben. Dr.<br />
Barbara Hoffmann, die verantwortlich für das<br />
erste IR-System Deutschlands, „Jeder Fehler<br />
zählt“ ist, sagt in ihrem Interview auf Seite 24,<br />
dass solche Systeme noch vor zehn Jahren gar<br />
keine Chance gehabt hätten, da Fehler in medizinischen<br />
Berufen tabuisiert wurden. Auch die<br />
Altenpflege macht diesbezüglich bestimmt keine<br />
<strong>Aus</strong>nahme. Um zu verdeutlichen, dass das<br />
KDA-System aber kein Meldesystem für Missstände,<br />
sondern ein Berichts- und Lernsystem<br />
ist, sprechen die KDA-Experten von „<strong>kritischen</strong><br />
<strong>Ereignissen</strong>“. „Denn jeder nicht vorsätzlich herbeigeführte<br />
und nicht beabsichtigte Zwischenfall<br />
gehört zu den Erfahrungen, die nicht jeder<br />
Pflegende selbst machen muss. Wer aus den Erfahrungen<br />
anderer aber lernt, weil sie öffentlich<br />
gemacht wurden, minimiert das Risiko, dass<br />
sich Ähnliches in seinem Umfeld wiederholt“,<br />
erklärt Heiko Fillibeck, der das Projekt „<strong>Aus</strong><br />
<strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ im KDA leitet. In<br />
seinem Beitrag auf S. 15 erläutert er anhand einiger<br />
Beispiele, die neben vielen anderen mittlerweile<br />
im System unter www.kritische-ereignisse.de<br />
nachzulesen sind, wie auf modernem<br />
Weg die Altenpflege ihr Qualitätsprofil schärfen<br />
kann. Harald Raabe<br />
6<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Incident-Reporting-Systeme erhöhen<br />
die Sicherheit im Gesundheitssystem<br />
Thema<br />
Voraussetzungen für den Erfolg in der Praxis<br />
„Fehler in der Medizin“ zählen zu den zehn<br />
häufigsten Todesursachen im Gesundheits -<br />
wesen. Es gilt als gesichert, dass ca. 70 Prozent<br />
aller Zwischenfälle ihre Ursachen nicht<br />
in mangelndem medizinischem Wissen haben,<br />
sondern im Bereich der sogenannten „Human<br />
Factors“. Durch die in der Medizin leider immer<br />
noch wirkende „Culture of Blame“, in<br />
der im Wesentlichen immer nach Schuld und<br />
Schuldigen gesucht wird, wurde es lange Zeit<br />
verpasst, die wahren Gründe für diese Fehler<br />
herauszufinden und zu beeinflussen. Dr. Marcus<br />
Rall, Fachmann für Systeme zur Patientensicherheit,<br />
berichtet, wie solche sogenannten<br />
Incident-Reporting-Systeme funktionieren.<br />
Es gilt, im Gesundheitssystem immer wieder<br />
nach Ursachen und systematischen latenten<br />
Fehlern und ungünstigen Rahmenbedingungen<br />
zu suchen (siehe Abb. 1) und eben nicht nach<br />
Schuldigen. So werden oft einzelne, meist<br />
durchaus fähige und motivierte Kollegen bestraft,<br />
während die systembedingten „Fehlerfallen“<br />
(latent risikoreiche Konstellationen, welche<br />
unter gewissen Umständen oder in Kombination<br />
mit anderen zufälligen Problemen zu<br />
Richtige Informationen über Fehler<br />
• Alle machen Fehler<br />
• Fehler sind unvermeidbar<br />
• Fehler sind kein Zeichen mangelnder<br />
Expertise<br />
• Fehler sind kein Zeichen mangelnder<br />
Motivation<br />
• Oft werden Fehler gemacht, weil man es<br />
besonders gut machen wollte<br />
• Die negative <strong>Aus</strong>wirkung eines Fehlers<br />
macht den Fehler an sich nicht schwerwiegender<br />
• Hinterher weiß man es immer besser<br />
• Fehler sind schon die Folge, nicht die<br />
Ursache von Zwischenfällen<br />
Fehlern und Zwischenfällen führen können) bestehen<br />
bleiben und „auf den Nächsten“ warten<br />
(siehe Kasten).<br />
Prävention durch Information<br />
Das Entschärfen der „Fehlerfallen“, bevor sie<br />
zuschnappen, ist Ziel moderner Incident-Reporting-Systeme<br />
(IRS), was übersetzt bedeutet: Sys -<br />
Abbildung 1: Fehlerursachen<br />
Entstehung von Fehlern und<br />
Zwischenfällen in der Medizin:<br />
a) Der Fehler (F) ist nicht die<br />
Ursache von Zwischenfällen.<br />
b) Mehrere (latente) Ursachen und<br />
Gründe (U1–3) führen meist in Kombination<br />
dazu, dass ein Mitarbeiter<br />
einen Fehler macht. Meist erfordert<br />
es weitere Begleitumstände (B1–2),<br />
damit aus dem Fehler ein Zwischenfall<br />
entsteht.<br />
Gute Incident-Reporting-Systeme<br />
suchen nicht (zu spät) nach Schäden,<br />
sondern schon im Vorfeld nach<br />
möglichst vielen Us und Bs.<br />
Quelle: Abbildung aus A&I, 2005<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 7
Thema<br />
teme zum Berichten von <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong>.<br />
So könnten IRS, wie in anderen Industriezweigen,<br />
auch in der Medizin zu einem Meilenstein<br />
bei der Erhöhung der Systemsicherheit werden,<br />
wie dies auch der Präsident der Ärztekammer<br />
Berlin, Günter Jonitz, im Vorwort der Kurzstudie<br />
zu Incident-Reporting-Systemen im deutschsprachigen<br />
Raum betont. Die WHO hat in ihrer<br />
„World Alliance for Patient Safety“ (www.<br />
who.int/patientsafety/en) die Dringlichkeit zur<br />
Einführung von Incident-Reporting-Systemen<br />
betont (siehe Kasten) und im Internet frei verfügbar<br />
einen detaillierten, sehr guten Entwurf<br />
zu Leitlinien für IR-Systeme veröffentlicht. Danach<br />
hängt der Erfolg dieser Systeme entscheidend<br />
von der Art des verwendeten Fragebogens<br />
(Freitext!) und einer professionellen und unabhängigen<br />
Analyse der Fälle ab, welche es ermöglicht,<br />
das enthaltene Wissen über Zwischenfälle<br />
und Fehlerursachen auszuwerten und damit die<br />
Voraussetzung für eine Verbesserung in der Praxis<br />
zu schaffen. Einige IRS werden aus diesem<br />
Grund auch als Lernsysteme bezeichnet.<br />
Der „Gelbes-Kabel-Test“<br />
„Wenn irgendwo auf der Welt ein Ingenieur<br />
an einem Linienflugzeug ein gelbes Kabel mit<br />
einem fertigungsbedingten Defekt entdeckt,<br />
dann werden (durch die international etablierten<br />
Meldesysteme) sehr wahrscheinlich<br />
innerhalb von Tagen weltweit an allen Maschinen<br />
dieses Typs die gelben Kabel ausgetauscht.<br />
Wann wird die Medizin diesen ‚Gelbes-Kabel-Test‘<br />
bestehen“<br />
Verkürzt aus dem Vorwort<br />
der WHO-Guidelines<br />
Vom Fallbericht zur Umsetzung<br />
von Maßnahmen<br />
Durch effektive IRS bekommt man Einblicke in<br />
sicherheitsgefährdende Bedingungen und Handlungen,<br />
die sonst nur schwer zu erhalten wären.<br />
Fehler sind, wenn sie entsprechend analysiert<br />
werden, aussagekräftige Ereignisse zur Diagnose<br />
des sogenannten „Sick-System-Syndrom“:<br />
Da in IRS vor allem Ereignisse ohne Patientenschaden<br />
gemeldet werden, bieten IRS tatsächliches<br />
„Lernen ohne Schaden“. Idealerweise können<br />
so latente Probleme erkannt werden, bevor<br />
sie sich in einem Zwischenfall mit Schaden ma-<br />
Info-Tabelle:<br />
Charakteristika von effektiven IRS<br />
1 Unterstützt die kontinuierliche Opti -<br />
mierung der positiven Sicherheitskultur<br />
innerhalb der Organisation. Besitzt<br />
hohen Stellenwert auf Leitungsebene.<br />
2 Keine negativen Sanktionen für<br />
Meldende und Beteiligte – anonyme<br />
Meldemöglichkeit.<br />
Keine Suche nach dem „Wer“,<br />
sondern nach dem „Warum“.<br />
Rechtsschutz der Daten und Datensicherheit.<br />
3 System außerhalb der Hierarchie (unabhängig),<br />
d. h., Meldungen werden nicht<br />
direkt an die Führungsebene (Chef- oder<br />
Stabsstellen, Personen mit Personal -<br />
verantwortung) geschickt.<br />
4 Systemorientiert:<br />
– Für alle relevanten Personengruppen<br />
zugänglich (z. B. Ärzte, Pflegekräfte,<br />
Techniker!).<br />
– Einfache Möglichkeiten zum Melden:<br />
für jeden, überall, jederzeit.<br />
– <strong>Aus</strong>bildung des Personals (Meldende)<br />
in Human Factors und Möglichkeiten<br />
von IRS.<br />
– „Nihil nocere“-Stimmung – Patientensicherheit<br />
sollte als erstes und wichtigstes<br />
Ziel einer Abteilung hochgehalten werden.<br />
5 Freitextbasiert: Der Schwerpunkt der<br />
Informationen liegt in der freien Formulierung<br />
von Texten.<br />
6 Zeitnahes Feedback an Meldende!<br />
Rückmeldung von Meldungseingang,<br />
-analyse und (geplanten) Konsequenzen.<br />
7 Umgang mit Meldungen:<br />
– Analyse durch (interdisziplinäre) Experten<br />
in Fehleranalysen (Human Factors).<br />
– Bei Bedarf nachgeschaltete Analysen<br />
vor Ort.<br />
– Warnungen, Hinweise, Maßnahmen<br />
als Folge der Meldungen.<br />
– Einbau der Erkenntnisse in realitäts -<br />
nahe Simulationstrainings für Teams.<br />
8<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
8 Zeitnahe Umsetzung von Verbesserungen:<br />
Wenn das IRS nicht „reaktionsfreudig“<br />
ist oder nicht über ausreichende<br />
Ressourcen zur Beseitigung sicherheitsgefährdender<br />
Umstände verfügt, erlahmt<br />
die essenzielle Meldebereitschaft der Mitarbeiter,<br />
und das IRS kommt zum Stillstand.<br />
Ziel eines IRS ist nicht die Sammlung<br />
von Meldungen, sondern das Umsetzen<br />
von Verbesserungen. Jede Meldung ist<br />
ein Schatz, den man bergen muss.<br />
9 Überwachung der Verbesserungen auf<br />
Effektivität und eventuelle, nicht anti -<br />
zipierte negative Nebeneffekte<br />
(„Verschlimmbesserung“).<br />
10 Organisationale Förderung von<br />
Meldungen.<br />
Arbeitszeit, interne Sanktionsfreiheit,<br />
andere Belohnungen und Anreize.<br />
Motivation der Geschäftsführung<br />
(eigene Meldungen eingeben, Um setzung<br />
von Maßnahmen).<br />
Quelle: modifiziert nach Rall,<br />
zusammengestellt aus verschiedenen Quellen<br />
nifestieren. In guten IRS erfährt man, was<br />
„wirklich abläuft“ und vor allem „warum“.<br />
Schließen IRS positive Ereignisse mit ein<br />
(siehe Abb. 2, Seite 11), liefern sie auch Informationen<br />
über besondere Stärken im System,<br />
welche es eben zu erhalten gilt.<br />
Analyse durch externe Begutachtung<br />
Viele Fehler in der Medizin haben ihre wirklichen<br />
Ursachen in organisationalen und systematischen<br />
Bedingungen innerhalb einer Organisation.<br />
Oft ist der Fehler der aktiv handelnden<br />
Personen nur das letzte Quäntchen, welches<br />
zum „Überlaufen des Fasses“ führt. Von Schuld<br />
im traditionellen Sinne kann unter Berücksichtigung<br />
der Rahmenbedingungen, unter denen der<br />
Fehler begangen wurde, oft nicht die Rede sein.<br />
Im Gegenteil, oft wurde durch den „Fehler“<br />
versucht, negative Folgen für Patienten zu verhindern.<br />
Der im Nachhinein offensichtliche<br />
Fehler ist in der akuten Situation meist eine für<br />
die handelnde Person sehr vernünftig erscheinende<br />
Handlungsoption. Die Beschäftigung mit<br />
und die Kenntnis von „Human Factors“ bei der<br />
Entstehung von Fehlhandlungen in komplexen<br />
Sys temen kann von den meisten Mitarbeitern<br />
im Gesundheitswesen nicht verlangt werden –<br />
zumal diese Inhalte in keinem <strong>Aus</strong>bildungsabschnitt<br />
bei Ärzten oder Pflegepersonal behandelt<br />
werden.<br />
Um die wirklich zugrunde liegenden Faktoren<br />
und systematischen Probleme der Organisation<br />
oder Prozesse zu ergründen, ist also die<br />
Analyse durch ein (externes) interdisziplinäres<br />
Team, welches sich auf diese Thematik spezialisiert<br />
hat, notwendig (siehe Kasten Seite 10). Solche<br />
Teams haben einen geschulten Blick für die<br />
zum Teil versteckten Zusammenhänge und können<br />
sich als externe „Berater“ jederzeit „trauen“,<br />
solche Zusammenhänge herzustellen. Hier<br />
wäre auch der Ort und Rahmen, um systematische<br />
Analysemodelle anzuwenden oder Klassifizierungen<br />
der Fälle zentral vorzunehmen, was<br />
von einem modernen, funktionierenden IRS erwartet<br />
werden kann.<br />
Die Motivation der Meldenden<br />
Das Wissen über risikoträchtige Situationen<br />
liegt bei den pflegerischen und ärztlichen Mitarbeitern.<br />
Sie sind nahe am Geschehen, sind Experten<br />
für ihr Arbeitsgebiet und haben zahlreiche<br />
Kontextinformationen. Damit ist die Motivation<br />
der Mitarbeiter zum Melden von <strong>kritischen</strong><br />
<strong>Ereignissen</strong> der Schlüsselfaktor für die<br />
Einführung und den langfristigen Erfolg von Incident-Reporting-Systemen.<br />
Daher gilt: Nur<br />
wenn sich die Meldenden sicher sein können,<br />
dass ihnen und ihren Kollegen aus der Meldung<br />
keine negativen Konsequenzen erwachsen, werden<br />
sie die notwendige Offenheit und Informationstiefe<br />
in den Berichten an den Tag legen.<br />
Nur wenn es gelingt, den Meldenden durch<br />
konsequente Maßnahmen zu verdeutlichen,<br />
dass sie selbst und die ihnen anvertrauten Patienten<br />
wirklich einen Nutzen von einem IRS<br />
haben, dann werden sie die Mühe auf sich nehmen,<br />
einen Fall zu melden. Leider wird die essenzielle<br />
Motivation der Mitarbeiter und damit<br />
die effektive, zeitnahe Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen<br />
bei vielen IRS-Konzepten<br />
nicht oder nur ungenügend berücksichtigt. Hier<br />
ist eine gute Planung und eine ausreichende<br />
<strong>Aus</strong>stattung mit Ressourcen notwendig. Zahlreiche<br />
Fragen und Probleme in diesem Zu-<br />
Thema<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 9
Thema<br />
sammenhang wurden im Bereich Arbeits- und<br />
Organisationspsychologie beantwortet und stehen<br />
als Referenz zur Verfügung (z. B. Verbesserungs-,<br />
Change- oder Wissensmanagement etc.).<br />
Welche Fälle sollen in einem IRS<br />
gemeldet werden<br />
Zur Analyse von Zwischenfällen<br />
• Nicht fragen: „Wer ist schuld“<br />
• Nicht sagen: „Der Kollege hätte besser aufpassen müssen“<br />
oder „Wenn die Kollegin dies oder jenes nicht gemacht hätte,<br />
dann …“<br />
• Richtig: „Was sind die Ursachen“ – gefolgt von immer<br />
vertiefenden Fragen „Warum, warum, warum“<br />
• Richtig: Was hätten andere Kollegen in dieser Situation gemacht<br />
(häufig denselben Fehler), nicht im Nachhinein beurteilen!<br />
• Richtig: Wie können wir systematisch diesen Zwischenfall<br />
in Zukunft verhindern, abschwächen, früher erkennen<br />
• Falsch: <strong>Aus</strong>sagen wie: „Da muss man aufpassen“ oder „Da<br />
darf halt nichts passieren.“<br />
• Prinzip: Es gibt fast nie nur einen Grund für einen<br />
Zwischenfall, es ist immer eine ungünstige, nicht vorhergesehene<br />
Kombination von latenten Fehlern und Systemschwächen.<br />
• Prinzip: Niemand geht morgens zur Arbeit, um Patienten<br />
zu schädigen! (Es muss also harte Gründe geben, wenn dies<br />
doch passiert.)<br />
• Das wichtigste Initial: Patienten optimal weiterversorgen<br />
und informieren.<br />
Die Aufgabe von IRS ist es, gefährliche, latente<br />
Prozessschritte und Faktoren zu entdecken,<br />
noch bevor Schäden am Menschen eingetreten<br />
sind. Die Antwort bei einem guten IRS auf die<br />
Frage, was gemeldet werden soll, könnte sein:<br />
„Melden Sie alles, was Sie gerne vorher gewusst<br />
hätten“, oder aber die Festlegung auf den<br />
Grundsatz, alle „sicherheitsrelevanten“ Ereignisse<br />
zu melden. Sicherheitsrelevant kann jedes<br />
Ereignis sein, das die Patientensicherheit tatsächlich<br />
gefährdet hat oder unter anderen Umständen<br />
hätte gefährden können. Dabei ist immer<br />
schon das Potenzial zur Schädigung ein<br />
hinreichendes Kriterium. In diesem Sinne können<br />
sicherheitsrelevante Ereignisse auch positive<br />
Beispiele und gute Lösungen sein. Die Meldenden,<br />
als professionelle Mitarbeiter, entscheiden<br />
in einem anonymen, freiwilligen System<br />
selbst, welches Ereignis für sie „sicherheitsrelevant“<br />
ist.<br />
Wir empfehlen, innerhalb der Medizin alle<br />
relevanten Fälle einzuschließen, egal ob ein Patientenschaden<br />
anzunehmen ist, eingetreten ist<br />
oder nicht. Sicherlich ist grundsätzlich der Umgang<br />
mit Beinaheunfällen einfacher und Fälle<br />
mit Patientenschaden müssen zusätzlich über<br />
die gesetzlich vorgeschriebenen Berichts- und<br />
Meldesysteme bearbeitet werden.<br />
Für ein gutes IRS müssen nicht alle Ereignisse<br />
gemeldet werden, es reicht aus, wenn eine<br />
genügende Anzahl an Meldungen eingeht, um<br />
mögliche Ursachen, Einblicke in das System, sozusagen<br />
„hinter die Kulissen“, zu erhalten.<br />
Zur Integration von positiven Meldungen<br />
wurde ausgeführt: „Auch wenn negative Ereignisse<br />
traditionell eher benannt und analysiert<br />
werden als gute Lösungen, so sollten IRS auch<br />
diese positiven Ereignisse erfassen und ihr Zustandekommen<br />
und ihre Replizierbarkeit systematisch<br />
analysieren. Begreift man Incidents im<br />
ursprünglichen Sinne als unerwartete, aus der<br />
Routine herausragende Ereignisse, so gilt dies<br />
auch für ihre positive Variante. So gesehen sind<br />
negative und positive Ereignisse sicherheitsrelevante<br />
Ereignisse, wobei man aus guten Lösungen<br />
noch lieber lernt.“<br />
Durch den relativ schlechten <strong>Aus</strong>tausch<br />
zwischen den Mitarbeitern in der Medizin findet<br />
ein regelmäßiges Feedback auch über positive<br />
Ereignisse eher selten statt. IRS können hier<br />
wichtige Funktionen übernehmen. Es scheint<br />
ebenfalls sinnvoll, innerhalb einer Institution<br />
auf der Basis gemeldeter Fälle regelmäßige Fortbildungen<br />
zu veranstalten.<br />
Alle sicherheitsrelevanten Ereignisse bilden<br />
also die Grundlage für individuelles und organisationales<br />
Lernen zur Erhöhung der Patientensicherheit<br />
(siehe Abb. 2).<br />
Was Mitarbeiter von einem<br />
guten IRS haben<br />
Das Personal hat idealerweise die Möglichkeit,<br />
ohne Angst vor Sanktionen gegen sich selbst<br />
oder Kollegen, sicherheitsrelevante, als wichtig<br />
erachtete Umstände zu melden. Dabei können<br />
die wirklich zugrunde liegenden realen Bedingungen<br />
genannt werden. Es braucht nichts geschönt<br />
oder verschleiert zu werden. Die Mel-<br />
10<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
dungen erlangen dabei in einem guten System<br />
offiziellen Charakter und werden bearbeitet.<br />
Auf die Meldungen hin werden Maßnahmen<br />
zur Verbesserung und zur Erhöhung der Patientensicherheit<br />
ergriffen. Durch ein IRS erhalten<br />
bisher vielleicht zu wenig beachtete oder in der<br />
Routine verloren gegangene Hinweise der Mitarbeiter<br />
einen höheren Stellenwert. Man ist wieder<br />
aktiver an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen<br />
beteiligt, und es „tut sich etwas“. Durch<br />
Integration besonders guter Verläufe (positive<br />
Fälle) entsteht darüber hinaus eine echte Expertenplattform.<br />
Was die Führungsebene<br />
von einem guten IRS hat<br />
Die Geschäftsführung oder Leitungsebene bekommt<br />
sicherheitsrelevante Informationen zentral<br />
und systematisch gemeldet. Die Gefahr von<br />
Organisationsverschulden durch länger bekannte,<br />
aber nicht bearbeitete Mängelzustände<br />
wird reduziert. Verbesserungsmaßnahmen können<br />
nach Prioritäten sortiert angegangen werden<br />
(Risikomatrix), und es kann (nach innen<br />
und außen) gezeigt werden, dass Patientensicherheit<br />
einen hohen Stellenwert innerhalb der<br />
Organisationsleitung hat und dass sich auf Meldungen<br />
hin auch etwas tut. Die Schnittstelle IRS<br />
(Informationen) – Risikomanagement (Umsetzung<br />
von Maßnahmen) muss hierfür gut funktionieren.<br />
Folgen auf Meldungen keine oder<br />
stark verzögerte Reaktionen, kommt es zum<br />
Versiegen der Meldungen.<br />
Anonymität – die oberste Priorität des IRS<br />
Die Anonymität der Meldenden innerhalb eines<br />
IRS ist von zentraler Bedeutung. Jede Verletzung<br />
der Anonymität, die kleinste Lücke im<br />
IRS, durch die ein Meldender oder ein von einer<br />
Meldung Betroffener durch das IRS bekannt<br />
wird, führt mit großer Wahrscheinlichkeit zum<br />
Zusammenbruch des gesamten Systems.<br />
Die Aufgabe der Anonymisierung und De-<br />
Identifizierung der Meldungen kann also nicht<br />
sorgfältig genug betrieben werden. Eine (externe)<br />
zentrale professionelle Anonymisierung und<br />
De-Identifizierung erscheint auch aus juristischen<br />
und datenschutzrechtlichen Gründen angebracht.<br />
Keine Statistik mit IRS<br />
Charles Billing, der Gründer des weltweiten<br />
Aviation Safety Reporting Systems, sag te:<br />
„Counting incidents is a waste of time.“ Aufgrund<br />
der freiwilligen Teilnahme am IRS und<br />
der optionalen Nutzung der Meldemöglichkeit<br />
verfügen IRS nicht über eine gemeinsame Datenbasis<br />
und erlauben daher per definitionem<br />
keine quantitativen <strong>Aus</strong>wertungen wie zum Beispiel<br />
Zunahme- und Abnahmetrends, Häufigkeiten<br />
innerhalb oder zwischen Abteilungen<br />
oder Interventionstracking, da die Grundge -<br />
samtheit nicht bekannt ist. Solche statischen<br />
<strong>Aus</strong>wertungen sollten unterlassen werden, da<br />
sie in die Irre führen. Zur systematischen Erhöhung<br />
und Erhaltung der Patientensicherheit<br />
zählt aber dennoch jeder Einzelfall.<br />
Thema<br />
Abbildung 2:<br />
Die Pyramiden der sicherheits -<br />
relevanten Ereignisse im Zyklus<br />
des geschlossenen Incident-<br />
Reporting-Systems.<br />
Quelle: nach Rall aus A&I<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 11
Thema<br />
Geringe Kosten – große Effekte<br />
Ziel eines guten IRS muss die Erhöhung der Patientensicherheit<br />
sein. Dies wird aber nur gelingen,<br />
wenn auf die Meldungen entsprechende<br />
Maßnahmen folgen. Diese sollten grundsätzlich<br />
so angelegt sein:<br />
1. Gefundene Schwachstellen sollten möglichst<br />
beseitigt werden, indem Prozesse, Verfahren<br />
und Geräte optimiert werden.<br />
2. Erst wenn dies nicht möglich ist, sollten entsprechende<br />
Schutzmaßnahmen etabliert<br />
werden.<br />
3. Erst wenn auch dies nicht möglich ist, sollten<br />
Beteiligte für die Vermeidung von oder den<br />
Umgang mit der Gefahr geschult werden.<br />
Häufig sind diese Veränderungen nicht sehr<br />
kostspielig, oft führen sie durch Prozessoptimierungen<br />
sogar zu Kosteneinsparungen, da der sicherere<br />
Prozess oft auch letztendlich der kostengünstigere<br />
ist.<br />
PaSIS und PaSOS – auf dem Weg zum<br />
idealen Incident-Reporting-System<br />
Das bundesweit und interdisziplinär verfügbare<br />
IRS mit der Bezeichnung PaSIS (Patienten-Sicherheits-Informations-System)<br />
wurde von unserer<br />
Arbeitsgruppe zunächst mit dem Ziel entwickelt<br />
und implementiert, ein „ideales“ IRS<br />
aufzubauen und zu testen. <strong>Aus</strong> diesem Experiment<br />
entstand das inzwischen bekannte PaSIS,<br />
welches mittlerweile z. B. die Deutsche Rettungsflugwacht<br />
(DRF) bundesweit auf allen<br />
Luftrettungszentren einsetzt.<br />
Kurze Zeit nach Beginn von PaSIS haben<br />
die Deutsche Gesellschaft für Anaesthesiologie<br />
und Intensivmedizin (DGAI) und der Berufsverband<br />
Deutscher Anästhesisten (BDA) im Rahmen<br />
des Forum Qualitätssicherung und Ökonomie<br />
durch die Arbeitsgruppe Incident Reporting<br />
ein bundesweites IRS entwickeln lassen, welches<br />
ebenso die bekannten Aspekte eines modernen<br />
IRS abdecken sollte (www.pasos-ains.<br />
de). Das inzwischen für alle Mitglieder beider<br />
Vereinigungen bundesweit verfügbare IR-Sys -<br />
tem PaSOS (Patienten-Sicherheits-Optimie -<br />
rungs-System) basiert im Wesentlichen auf unserem<br />
PaSIS-System und wird auch von uns im<br />
Auftrag der DGAI und des BDA in Zusammenarbeit<br />
mit der Arbeitsgruppe betrieben. Nun ist<br />
es die Hoffnung aller Beteiligten, dass sich dieses<br />
System durch rege Teilnahme möglichst<br />
zahlreicher Kliniken, Praxen und Institutionen<br />
rasch zu einem wertvollen Lernsystem zur Erhöhung<br />
der täglichen Patientensicherheit entwi -<br />
ckeln kann. Durch weite Verbreitung und erste<br />
Erfolge des Systems kann es sukzessive verbessert<br />
und in den Analysefunktionen erweitert<br />
werden.<br />
Und dann kommt der Staatsanwalt …<br />
In Deutschland gibt es im Gegensatz zu den<br />
USA zurzeit keine gesetzliche Grundlage zum<br />
Schutz von Daten der Qualitätssicherung vor<br />
dem Zugriff des Staatsanwaltes im Falle eines<br />
Haftungsprozesses. <strong>Aus</strong> diesem Grunde wurde<br />
für PaSOS ein Gutachten in Bezug auf allgemeine<br />
juristische Möglichkeiten zum Schutz der<br />
Organisationen und Melder in Auftrag gegeben<br />
und in Kooperation mit der Arbeitsgruppe IRS<br />
bearbeitet. Das Rechtsgutachten empfiehlt ganz<br />
klar eine externe, zuverlässige Anonymisierung<br />
und De-Identifizierung mit verlässlicher Vernichtung<br />
aller Originalmeldungen. In Einrichtungen<br />
gelagerte, papierbasierte Meldungen<br />
wurden demnach als hochriskant bewertet, zumal<br />
dann, wenn sie handgeschrieben sind.<br />
Sonderstellung für PaSOS: PaSOS (und entsprechend<br />
auch PaSIS) gelten als bundesweites<br />
Informationsorgan der Fachöffentlichkeit und<br />
unterliegen damit dem Presserecht im Sinne einer<br />
Redaktion. Dadurch erhalten alle Teilnehmer<br />
(Melder und IRS) den besonderen Status<br />
von Pressemitarbeitern und genießen daher ein<br />
weitreichendes Zeugnisverweigerungsrecht und<br />
Beschlagnahmebeschränkungen. Damit kann<br />
PaSIS/PaSOS seinen Teilnehmern einen in<br />
Deutschland für institutionsinterne IRS mit fall-<br />
PaSOS/PaSIS in Zahlen:<br />
An PaSIS und PaSOS nehmen bereits über 50<br />
Institutionen teil, es befinden sich mehr als<br />
1.000 Fälle im System, jeden Monat besuchen<br />
über 2.500 Kollegen das System, die<br />
Fälle wurden über 40.000 Mal gelesen, und<br />
es haben sich unzählige lokale und viele überregionale<br />
Verbesserungen der Patienten -<br />
sicherheit umsetzen lassen.<br />
12<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Abbildung 3:<br />
Anatomie und Datenlauf von Fall -<br />
berichten beim Incident-Reporting-<br />
System PaSIS (www.pasis.de).<br />
Thema<br />
Quelle: Stricker & Rall nach A&I<br />
bezogenem Feedback bisher einmaligen Schutz<br />
vor negativen rechtlichen Konsequenzen bieten.<br />
Das neue KDA-Berichts- und Lernsystem<br />
für die Altenpflege<br />
Das KDA hat sich dazu entschieden, für die Altenpflege<br />
ein eigenes System aufzubauen und zu<br />
betreiben. Dabei wurde mit guter Planung und<br />
ausreichend Ressourcen nach bestehenden Lösungen<br />
gesucht und versucht, im <strong>Aus</strong>tausch mit<br />
erfahrenen Betreibern wichtige, bewährte Elemente<br />
zu übernehmen; jedes Rad muss nicht<br />
neu erfunden werden. „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong><br />
<strong>lernen</strong>“ hat dabei die Systeme PaSIS und Pa-<br />
SOS, betrieben vom TüPASS, „Jeder-Fehlerzählt“<br />
von der Allgemeinmedizin in Frankfurt<br />
und das CIRSmedical Deutschland als technische<br />
und inhaltliche Vorlage effektiv genutzt.<br />
Entstanden ist ein modernes, transparentes<br />
IRS auf aktuellem Stand der Technik. Die freie<br />
Lesbarkeit der Original-Fallberichte für jeden<br />
ist begrüßenswert und sicher immer noch selten,<br />
bietet sich bei einem bundesweiten System<br />
ohne Herkunftsangabe der Meldung aber an.<br />
Trotzdem erfordert es Mut, dies zu tun, zumal<br />
ja eben auch im KDA-System schon Fälle mit<br />
beträchtlichen Schäden geschildert werden (z. B.<br />
„Schmerzäußerungen werden nicht ernst genommen“).<br />
Hier stehen sicherlich mehrere ju -<br />
ris tisch relevante Elemente im Raum wie zum<br />
Beispiel unterlassene Hilfeleistung oder Körperverletzung.<br />
Die Melder müssen darauf hingewiesen<br />
werden, dass sie solche Vorkommnisse<br />
parallel zum anonymen KDA-System, geeignet<br />
und wie gesetzlich vorgeschrieben, melden müssen.<br />
Da viele geschilderte Fälle eine lokale Reaktion<br />
erfordern oder nur lokal zu verbessern<br />
sind, müssen lokal Maßnahmen vorgeschlagen<br />
und umgesetzt werden. Im KDA-System kann<br />
durch den fehlenden Bezug zur meldenden Institution<br />
und dem damit fehlenden Feedback zur<br />
Organisation, aus welcher der Bericht stammt,<br />
für den Einzelfall nichts getan werden. Dies ist<br />
sicher ein Vorteil für geschlossene Feedback -<br />
systeme wie PaSOS und PaSIS, wo die Institutionsherkunft<br />
der anonymen Meldung bekannt<br />
und damit eine lokale Reaktionsmöglichkeit gegeben<br />
ist und regelmäßig erfolgt.<br />
In diesem Sinne wäre es wünschenswert,<br />
dass der engere, meldungsbezogene Feedback -<br />
bogen als Option im KDA-System noch eingebaut<br />
wird.<br />
Das KDA hat unter <strong>Aus</strong>nutzung aktueller<br />
erfolgreicher Systeme ein innovatives und modernes<br />
Incident-Reporting-System erstellt, welches<br />
weit über den aktuellen Standard hinausgeht.<br />
Hierzu kann man gratulieren.<br />
Fazit<br />
Kein Industriezweig, der nach hoher Betriebssicherheit<br />
strebt (wie zum Beispiel öffentliche<br />
Fluglinien, Atomkraftwerke), verzichtet auf den<br />
extensiven Gebrauch von Incident-Reporting-<br />
Systemen (IRS). Die Medizin und Pflege in<br />
Deutschland hat nun in fast allen Bereichen damit<br />
begonnen, solche Systeme zu etablieren,<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 13
Thema<br />
oder darüber nachzudenken. Leider werden oft<br />
Systeme und Methoden eingesetzt, von denen<br />
bekannt ist, dass sie Nachteile haben und, wenn<br />
überhaupt, nur zu einem Teilerfolg führen können.<br />
Dies ist umso bedauernswerter und unverständlicher,<br />
als aus den anderen Industrien zahlreiche<br />
Informationen (Studienergebnisse und<br />
Praxiserfolge) vorhanden sind. Daraus abgeleitete<br />
Anforderungen an ein modernes IRS in der<br />
Medizin sind in der Tabelle auf S. 8/9 genannt.<br />
Dabei ist es leider nicht so, dass ein schlechtes<br />
IRS besser ist als keines, da es die Einführung<br />
eines guten Systems für lange Zeit verzögern<br />
kann. Leider erfüllen nicht alle heute eingesetzten<br />
IRS die erforderlichen Kriterien. Als wichtigste<br />
Kriterien für erfolgreiche IRS wären zu<br />
nennen:<br />
• Höchstmögliche Unterstützung von Seiten<br />
der Geschäftsleitung („Patientensicherheit<br />
ist unsere Aufgabe“) und der Wille zur Umsetzung<br />
von Verbesserungsmaßnahmen<br />
• Anonymität und garantierte Sanktionsfreiheit<br />
• Freitextbasierte Meldungen (Ankreuzfelder<br />
enthalten kaum produktiv zu nutzende Informationen)<br />
• Interdisziplinäre Analyse der Fälle<br />
• Zeitnahes fallbezogenes Feedback an die<br />
Meldenden (Mitarbeiter)<br />
• Bestmöglicher Rechtsschutz der Daten<br />
Das KDA hat mit dem System „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong><br />
<strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ für die Altenpflege eine innovative<br />
und aktuelle Basis für ein zukunfts -<br />
trächtiges IRS geschaffen. Durch den weiteren<br />
<strong>Aus</strong>bau des Systems (fallbezogenes Feedback an<br />
die Herkunftsorganisation) und eventuell die<br />
Aufnahme von positiven <strong>Ereignissen</strong> (Plattform<br />
für „best practice“) könnte der breite Erfolg des<br />
Systems weiter optimiert und das Ziel einer verbesserten<br />
Sicherheitskultur in der Praxis und<br />
weniger vermeidbaren Schäden an Menschen<br />
erreicht werden.<br />
Die Autoren als Betreiber von PaSIS und PaSOS<br />
freuen sich jederzeit über Feedback und konstruktive<br />
Verbesserungen. Wir <strong>lernen</strong> gern, ein<br />
Leben lang!<br />
Der Text wurde in ähnlicher Form bereits publiziert<br />
in A&I und Enkker (siehe Literaturhinweise).<br />
Mitautoren von Marcus Rall waren:<br />
Bertram Schädle, Silke Reddersen, Jörg Zieger,<br />
Peter Dieckmann, Patty Hirsch, Eric Stricker.<br />
Kontakt:<br />
Dr. med. Marcus Rall beschäftigt<br />
sich am TüPASS seit über zehn<br />
Jahren in Training und Forschung<br />
mit der systematischen<br />
Erhöhung der Patientensicherheit<br />
(Human Factors, CRM<br />
und Simulationstraining).<br />
Foto: TüPASS<br />
TüPASS Tübinger Patienten-Sicherheits- und<br />
Simulationszentrum<br />
Patienten-Sicherheits-Informations-System<br />
PaSIS<br />
Patienten-Sicherheits-Optimierungs-System<br />
PaSOS von DGAI/BDA<br />
Universitätsklinik für Anaesthesiologie und<br />
Intensivmedizin<br />
Universitätsklinikum Tübingen<br />
Dr. med Marcus Rall<br />
Silcherstraße 7<br />
72076 Tübingen<br />
Tel.: 0 70 71/2 98 67 33<br />
Fax: 07071/294943<br />
E-Mail: marcus.rall@med.uni-tuebingen.de<br />
Internet: www.pasis.de,<br />
www.tupass.de,<br />
www.pasos-ains.de<br />
14<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Literatur:<br />
• Rall, M.; Martin, J.; Geldner, G.; Schleppers,<br />
A.; Gabriel, H.; Dieckmann, P. et al.:<br />
Charakteristika effektiver Incident-Reporting-Systeme<br />
zur Erhöhung der Patientensicherheit.<br />
Anästhesiologie und Intensivmedizin<br />
2006(47).<br />
• Rall, M.; Dieckmann, P.; Stricker, E.: Arbeitsgruppe<br />
Incident Reporting der DGAI.<br />
Patientensicherheits-Optimierungs-System<br />
(PaSOS). Anästhesiologie und Intensivmedizin<br />
2006(47).<br />
• Rall, M.; Dieckmann, P.; Stricker, E.: Erhöhung<br />
der Patientensicherheit durch effektive<br />
Incident Reporting Systeme am Beispiel<br />
von PaSIS. In: Ennker, J. PD, Editor. Risikomanagement<br />
in der operativen Medizin.<br />
Darmstadt: Steinkopff, 2007:122–137.<br />
Eine ausführlichere Literaturliste zu dem Thema<br />
können Sie auch beim Verfasser anfordern.<br />
Weitere bestehende IRS:<br />
• http://www.jeder-fehler-zaehlt.de<br />
• Cirs-Meldesysteme:<br />
https://www.cirsmedical.ch/Deutschland<br />
www.cirs.ch<br />
www.cirsmedical.org<br />
www.cirs-notfallmedizin.de<br />
• http://www.kritische-ereignisse.de<br />
• http://psrs.arc.nasa.gov/<br />
• http://www.npsa.nhs.uk/health/reporting<br />
Thema<br />
KDA-Qualitätsoffensive für die Pflege:<br />
<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong> –<br />
ein Online-Berichts- und Lernsystem<br />
für die Altenpflege<br />
In den ersten Tagen, nachdem das KDA-Berichts- und Lernsystem „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong><br />
<strong>lernen</strong>“ freigeschaltet war, wurde das Projektteam von der Resonanz überrascht – dieses Mal<br />
nicht nur aus den Medien, sondern vor allem von der eigentlichen Zielgruppe des Systems: den<br />
privat und beruflich Pflegenden sowie Heim- und Pflegedienstleitungen. Nur vier Tage nach<br />
dem offiziellen Start zum Oktober 2007 lagen der Redaktion bereits 26 Berichte und über 70<br />
Kommentare zu <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> vor. Durchschnittlich gehen seitdem am Tag zwei bis drei<br />
Berichte und zwischen acht und 20 Kommentare ein. Erste Ergebnisse, Erkenntnisse und zukünftige<br />
Vorhaben stellt der Projektleiter im KDA, Heiko Fillibeck, vor.<br />
Von vermeintlichen Lappalien …<br />
Die bislang eingegangenen Berichte bilden ein<br />
breites Spektrum von <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> in<br />
der Altenpflege ab. Erfreulich ist dabei vor allem,<br />
dass nach der Freischaltung der Berichte<br />
die Nutzerinnen und Nutzer des Systems mit einer<br />
Fülle von konstruktiven Kommentaren reagieren,<br />
die häufig praktikable Lösungsvorschläge<br />
zu den einzelnen Berichten enthalten. Dies<br />
zeigt, dass die Kommentierenden verstanden<br />
haben, dass es sich um ein Lernsystem und nicht<br />
um ein Melde- oder gar Klagesystem handelt.<br />
Viele Berichte enthalten auf den ersten Blick<br />
harmlos anmutende Sachverhalte. So werden in<br />
einem Fall beispielsweise die persönlichen<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 15
Thema<br />
Gegenstände eines Patienten, der von seinen<br />
Angehörigen aus dem Krankenhaus abgeholt<br />
werden soll, von den Pflegenden in einem Müllsack<br />
verstaut. Was aus Sicht der Pflegenden als<br />
Lappalie erscheinen mag, haben die Angehörigen<br />
aber als eine Missachtung der Würde des<br />
Patienten empfunden. Die Kommentare von<br />
den Pflegenden, die diesen Bericht gelesen haben,<br />
zeigen, dass sie Verständnis für die Empfindungen<br />
der Angehörigen haben. Ihre Vorschläge<br />
sind einfach und schnell umzusetzen wie zum<br />
Beispiel: „Schaffen Sie für solche Fälle doch<br />
Kunststofftragetaschen mit dem Aufdruck ‚Patienteneigentum‘<br />
an.“ In einem anderen Kommentar<br />
heißt es, dass die Angehörigen kurz vor<br />
der Entlassung angerufen werden sollten mit<br />
der Bitte, sich um die persönlichen Gegenstände<br />
zu kümmern, oder ihnen aber mitzuteilen, dass<br />
man die persönlichen Gegenstände in einen<br />
Karton habe packen müssen, da auf der Station<br />
keine geeigneteren Behältnisse vorhanden seien.<br />
… zu atemstockenden<br />
Ungeheuerlichkeiten<br />
Es gehen auf dem externen und vor unbefugten<br />
Zugriffen geschützten Server der Redaktion<br />
aber auch Berichte ein, die auch dem KDA-<br />
Team den Atem stocken lassen, da diese zu gravierenden<br />
Folgen für die betroffenen Menschen<br />
geführt haben.<br />
Da werden in einem Fall Bewohner stundenlang<br />
auf Toilettenstühlen festgebunden und<br />
bekommen in diesem entwürdigenden und menschenverachtenden<br />
Zustand sogar ihr Frühstück<br />
vorgesetzt. In den Kommentaren dazu<br />
wird geraten, dass das Gespräch mit der Pflegedienstleitung<br />
und/oder der Heimleitung gesucht<br />
werden sollte mit dem Ziel, die Zustände durch<br />
eine Dienstanweisung abstellen zu lassen. Dies<br />
liest sich beispielsweise so: „Es besteht sofortiger<br />
Handlungsbedarf. Und es bedarf auch keiner<br />
Diskussion mit den Verfechtern dieser Praxis<br />
aus dem Pflegedienst. Also zunächst: Dienst -<br />
anweisung > Kontrolle der Einhaltung > wenn<br />
erforderlich, Abmahnung. Parallel: Qualitätszirkel<br />
bilden, um die Organisationsstrukturen<br />
zu hinterfragen und anzupassen. Wäre dieses<br />
wiederkehrende Ereignis weniger kritisch, würde<br />
ich hiermit beginnen. Da aber ein positives<br />
Ergebnis hieraus nicht kurzfristig zu erwarten<br />
ist, schlage ich aufgrund der Dringlichkeit die<br />
Einleitung mit einer Dienstanweisung vor.“<br />
In einem anderen Fall wird eine Ernährungspumpe<br />
so schnell eingestellt, dass die große<br />
Menge der in den Magen gepumpten Flüssignahrung<br />
sich bis in den Rachenraum des Heimbewohners<br />
zurückstaut. Dadurch kommt es zu<br />
einer Aspirationspneumonie, die schließlich<br />
zum Tod des Bewohners führt.<br />
Hier schlagen die Kommentatoren den Angehörigen<br />
vor, zunächst darauf zu bestehen,<br />
Einblick in die Pflegedokumentation zu erhalten.<br />
Dabei wird erörtert, dass diese Vorgehensweise<br />
aber nur den Angehörigen gestattet ist,<br />
die die Betreuung mit den Aufgabenbereichen<br />
„Personensorge“ und/oder „Gesundheitsfürsorge“<br />
innehaben. Auch hier wird empfohlen,<br />
dringlich das Gespräch mit der Pflegedienstlei-<br />
Wenn ungeheuerliche Einzelfälle wie gefährliche Pflege situationen mit Todesfolge oder unrechte Fixierungen analysiert<br />
werden, können Pflegende daraus <strong>lernen</strong>. Fotos: Werner Krüper<br />
16<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
tung und Heimleitung zu suchen, um die Verantwortlichen<br />
zur Rechenschaft zu ziehen und<br />
solche Ereignisse zukünftig zu vermeiden. Auf<br />
die Rückmeldung der Angehörigen, dass dieses<br />
bereits alles geschehen sei, aber nur für wenige<br />
Wochen für Abhilfe gesorgt habe, erfolgt der<br />
Rat, eine Anzeige bei der Polizei zu machen. Es<br />
wird auch auf die Möglichkeit hingewiesen,<br />
dass dadurch von der Staatsanwaltschaft eine<br />
Obduktion des Leichnams in die Wege geleitet<br />
werden könne.<br />
In einem weiteren Bericht wird geschildert,<br />
wie eine Bewohnerin über mehrere Monate hinweg<br />
30 Kilogramm an Gewicht verliert, ohne<br />
dass seitens der Pflegenden darauf reagiert<br />
wird. Nachdem der Hausarzt die Bewohnerin<br />
schließlich in ein Krankenhaus eingewiesen hat,<br />
stirbt sie am nächsten Tag.<br />
In den Kommentaren zu diesem Bericht ergeht<br />
zunächst der Aufruf an die Angehörigen,<br />
die eigenen Beobachtungen zu den körperlichen<br />
Veränderungen der Bewohnerin den Pflegenden<br />
zu schildern und, wenn nötig, weitere Institutionen<br />
einzuschalten. Die „PDL“ formuliert dies<br />
so: „Mmh, was kann man daran ändern bzw.<br />
daraus <strong>lernen</strong> Vielleicht, dass es sehr merkwürdig<br />
ist, dass Angehörige es „über Monate“ hinnehmen,<br />
dass die Angehörige rapide abnimmt.<br />
Warum haben da denn die Angehörigen nicht<br />
schon vorher reagiert Zum Beispiel, indem<br />
man die Heimaufsicht und den MDK einschaltet.<br />
Zudem kann man auch jetzt noch was tun,<br />
nämlich die Krankenkasse informieren.“ Denn<br />
diese Institutionen würden dann durch eine<br />
Überprüfung der Pflegedokumentation die<br />
mangelnde Sorgfalt aufdecken können.<br />
In einem weiteren Kommentar wird allerdings<br />
auch die Vermutung geäußert, dass es in<br />
(zu) vielen Heimen zu Gewichtsverlusten der<br />
Bewohner kommen würde, was als ein Indiz für<br />
ein generelles Ernährungsproblem in den Pflegeheimen<br />
gewertet werden könne.<br />
Einzelfälle helfen, Qualitätsentwicklung<br />
voranzutreiben<br />
Wer solche Berichte liest, kann den Eindruck<br />
gewinnen, die Pflege alter Menschen ist ein einziges<br />
Horrorszenario. Es muss daher deutlich<br />
darauf hingewiesen werden, dass es sich bei den<br />
geschilderten Berichten um Einzelfälle handelt,<br />
die kein allgemeingültiges Abbild des Zustands<br />
Stand der Berichte und Kommentare<br />
(Stand: 6. Dezember 2007)<br />
Eingegangene Berichte 145 100 %<br />
davon veröffentlichte Berichte 111 76,6 %<br />
nicht veröffentlichte<br />
(abgelehnte) Berichte 34 23,4 %<br />
Eingegangene Kommentare 677 100 %<br />
davon veröffentlichte<br />
Kommentare 623 92 %<br />
nicht veröffentlichte Kommentare 54 8 %<br />
Nicht-Veröffentlichung von Berichten<br />
und Kom mentaren:<br />
Die Redaktion behält sich vor, Berichte nicht<br />
zu veröffentlichen, wenn<br />
• sie augenscheinlich mit der Absicht verfasst<br />
wurden, Personen, Personengruppen<br />
oder Pflegeeinrichtungen bloßzustellen,<br />
zu diffamieren oder zu schädigen;<br />
• sie augenscheinlich mit der Absicht verfasst<br />
wurden, die Altenpflege allgemein<br />
zu diffamieren oder zu schädigen;<br />
• in ihnen kein konkreter Fall benannt,<br />
sondern nur über unzumutbare Arbeitsbedingungen<br />
berichtet wird;<br />
• über Handlungen berichtet wird, die vorsätzlich<br />
zum Schaden anderer durchgeführt<br />
wurden.<br />
Kommentare werden nicht veröffentlicht,<br />
wenn Texte eingestellt werden,<br />
• die nichts mit den Inhalten des Berichts<br />
oder der anderen Kommentare zu tun haben;<br />
• die keine Vorschläge zum Umgang mit<br />
dem <strong>kritischen</strong> Ereignis beinhalten;<br />
• in denen allgemein über Zustände in der<br />
Altenpflege berichtet wird;<br />
• die ausschließlich über weitere kritische<br />
Ereignisse berichten.<br />
der Pflege in Deutschland widerspiegeln. Es<br />
wird zwar schonungslos offengelegt, was in<br />
diesem oder jenem Pflegeheim, Krankenhaus<br />
oder Pflegedienst geschehen ist, dies aber zu<br />
dem Zweck, daraus eine Lehre zu ziehen, um<br />
solche Ereignisse zukünftig zu vermeiden. Hierbei<br />
sollte auch nicht die Erwartungshaltung geweckt<br />
werden, dass das Online-Berichts- und<br />
Thema<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 17
Thema<br />
Lernsystem überall zu schnell sichtbaren Veränderungen<br />
in der Pflegepraxis beitragen kann.<br />
Vielmehr soll die Nutzung des Systems der erste<br />
Baustein in einem andauernden Qualitätsentwicklungsprozess<br />
sein. Die Hauptarbeit liegt<br />
dann bei Arbeitsgruppen bzw. Qualitätszirkeln,<br />
die aber nach § 80 SGB XI gefordert sind und<br />
daher mittlerweile fester Bestandteil von Qualitätsentwicklungsstrategien<br />
in der Altenpflege<br />
sind. Mit Hilfe der Inhalte aus den Berichten,<br />
der Vorschläge aus den Kommentaren sowie der<br />
Stellungnahmen der KDA- oder anderen Experten,<br />
die zu jedem Bericht des Monats erstellt<br />
werden, bietet sich den Arbeitsgruppen eine<br />
Grundlage, mit der anhand von konkreten Einzelsituationen<br />
gearbeitet werden kann. Diesen<br />
Zweck muss man sich als Leserin oder Leser der<br />
zum Teil dramatischen <strong>kritischen</strong> Ereignisse, die<br />
in den Berichten beschrieben sind, immer wieder<br />
vor Augen führen.<br />
Erkennen – Berichten – Lesen – Lernen<br />
Im KDA führen wir uns daher stets vor Augen,<br />
was umgekehrt im Falle des Verschweigens der<br />
geschilderten Ereignisse eintritt. Nämlich in der<br />
Regel eine Verschleierung und eine Vertuschung<br />
der Sachverhalte und ihrer Folgen. Damit bleibt<br />
das Potenzial, das aus den Erfahrungen mit diesen<br />
<strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> resultiert, ungenutzt.<br />
Das Benennen und Zur-Verfügung-Stellen eines<br />
<strong>kritischen</strong> Ereignisses ist also als ein erster<br />
Schritt zu verstehen, damit andere daraus <strong>lernen</strong><br />
können. Bei der Redaktion von „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong><br />
<strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ gehen nur selten<br />
Kommentare ein, in denen jemand ausschließlich<br />
seine Entrüstung äußert. Über 90 Prozent<br />
äußern sich zu den Berichten konstruktiv. Zwar<br />
bringen sie durchaus ihre persönliche Erschütterung<br />
zum <strong>Aus</strong>druck, machen aber zugleich praxisorientierte<br />
Vorschläge zum Umgang bzw. zur<br />
zukünftigen Vermeidung solcher Ereignisse.<br />
Insofern tragen auch die vielen von Angehörigen<br />
eingereichten Berichte dazu bei, dass sich<br />
die Qualität der Altenpflege weiter verbessern<br />
kann. Auch bei Angehörigen steht also nicht<br />
nur das Berichten von erlebten Missständen im<br />
Vordergrund, sondern sie haben den Wunsch,<br />
dass sich das von ihnen erlebte Leid nicht woanders<br />
wiederholt. So gibt der Bericht darüber,<br />
wie die Kinder nach dem Tod ihrer Mutter das<br />
Zimmer ausräumen müssen, obwohl die Verstorbene<br />
noch im Bett liegt, den Pflegenden Anstoß,<br />
darüber nachzudenken, wie sie nach dem<br />
Tod von Bewohnern im Sinne der Angehörigen<br />
handeln sollten. Dass es und vor allem wie es<br />
anders geht, zeigen die folgenden drei <strong>Aus</strong>züge<br />
aus veröffentlichten Kommentaren beispielhaft:<br />
• „Selbst wenn es sich – wie ich vermute und<br />
hoffe – um eine Fehlplanung bzgl. der Aufnahme<br />
eines neuen Bewohners handelte,<br />
hätte sich m. E. immer eine Lösung im Sinne<br />
Ihrer Familie finden lassen.“<br />
• „Ich komme zwar aus der ambulanten Pflege,<br />
aber so weit ich weiß, gibt es auch in<br />
Heimen Verträge. Diese enden – nicht wie<br />
im ambulanten Bereich – am Sterbetag, sondern<br />
meistens 14 Tage später. Also haben<br />
die Angehörigen so lange noch Zeit.“<br />
• „Unsere Verträge enden mit dem Sterbetag,<br />
räumen aber den Angehörigen noch 7 Tage<br />
Zeit ein, um die persönlichen Gegenstände<br />
abzuholen. Andernfalls können diese von<br />
uns eingelagert werden.“<br />
Erste Erkenntnisse aus dem Betrieb<br />
Dass aus „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“<br />
keine Rückschlüsse auf Häufigkeiten und keine<br />
<strong>Aus</strong>sagen über Verteilungen von <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong><br />
gemacht werden können, liegt in der<br />
18<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
„Ein kritisches Ereignis ist ein Ereignis, das<br />
nicht vorsätzlich herbeigeführt wurde, so<br />
nicht beabsichtigt war und auch so nicht<br />
mehr erwünscht ist. Wer erst einmal ein kritisches<br />
Ereignis erlebt hat, dem passiert so was<br />
in der Regel nicht ein zweites Mal. Im Umkehrschluss<br />
müssen aber in einer Pflegeorganisation<br />
nicht alle <strong>kritischen</strong> Ereignisse selbst<br />
erlebt werden, um aus diesen zu <strong>lernen</strong> –<br />
denn gelernt werden kann auch aus den Erfahrungen<br />
anderer.“<br />
<strong>Aus</strong> den Projektinformationen<br />
der Internetseite<br />
Konzeption von Berichts- und Lernsystemen<br />
(siehe auch Beitrag S. 7). Dennoch lassen sich<br />
schon jetzt nach erst zehnwöchigem Betrieb einige<br />
Schlüsse ziehen:<br />
Eine bessere Kommunikation und Kooperation<br />
zwischen Pflegenden und Angehörigen<br />
würde dabei helfen, so manches kritische Ereignis<br />
zu verhindern, wie auch der Bericht des Monats<br />
November zeigt (siehe S. 21). Ein weiteres<br />
Beispiel dafür ist nachzulesen unter dem Bericht<br />
„Misslungene Mobilisation in dem Zimmersessel“.<br />
Hier wurde die Situation beschrieben, dass<br />
ein Bewohner im Bett bleiben muss, weil sich<br />
Pflegende und Angehörige nicht auf einen geeigneten<br />
Mobilisationszeitpunkt einigen können.<br />
Die Kommentare zu diesem Bericht machen<br />
deutlich, dass im Gespräch zwischen Pflegenden<br />
und Angehörigen mehrere Lösungen gefunden<br />
werden könnten. So zum Beispiel die Anschaffung<br />
eines fahrbaren Ruhesessels, der mehr Sicherheit<br />
gewährleistet als ein herkömmlicher<br />
Rollstuhl, mit dem der Bewohner aber dennoch<br />
aus dem Zimmer gebracht werden könnte.<br />
Oder aber geeignete Lagerungshilfsmittel einzusetzen,<br />
die eine sichere Mobilisation im vorhandenen<br />
Pflegerollstuhl ermöglichen würden.<br />
Gleich aus mehreren Berichten wird deutlich,<br />
dass ein weit verbreitetes Problem in Heimen<br />
die angemessene Anreichung von Mahlzeiten<br />
zu sein scheint, weil sie die Pflegeteams vor<br />
große organisatorische Probleme stellt. In der<br />
Folge kommt es zu <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> – so<br />
werden nicht zu akzeptierende Notlösungen geschildert,<br />
wie zum Beispiel das Hineinspritzen<br />
von Flüssignahrung in den Mund mit einer großen<br />
Spritze, die eigentlich zur Spülung eines<br />
Harnwegskatheters entwickelt wurde.<br />
Es kommt immer wieder vor, dass der reibungslose<br />
Ablauf in Wohnbereichen über das Wohl<br />
der Bewohner gestellt wird. Dies zeigt der „Bericht<br />
des Monats“ vom Oktober, in dem dargestellt<br />
wird, wie Bewohner vom Nachtdienst geweckt<br />
und gewaschen werden, um den Frühdienst<br />
zu entlasten. Diese Vorgehensweise steht<br />
absolut konträr zur KDA-Position, dass nämlich<br />
die größtmögliche Selbstständigkeit und<br />
das größtmögliche Wohlbefinden von pflegebedürftigen<br />
alten Menschen das übergeordnete<br />
Ziel der Altenpflege sein muss. Diese Position<br />
und entsprechende Lösungsvorschläge hat das<br />
KDA-Projektteam daher auch als Stellungnahme<br />
zu diesem Bericht in das Online-Berichtsund<br />
Lern sys tem eingestellt.<br />
<strong>Aus</strong> vielen Kommentaren geht auch hervor,<br />
dass bei <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> in der Altenpflege<br />
schnell der Ruf nach der Einschaltung einer<br />
übergeordneten Institution laut wird. Und zwar<br />
immer dann, wenn Heim- und/oder Pflegedienstleitungen<br />
keine Dienstanweisungen erlassen,<br />
um die Ereignisse zu verhindern, oder aber<br />
nicht auf die Umsetzung bestehender Dienstanweisungen<br />
achten. Oder – und auch das wird<br />
vereinzelt geschildert – fachlich und menschlich<br />
nicht vertretbare Dienstanweisungen durchsetzen,<br />
wie dies bei dem schon oben genannten<br />
Beispiel bezüglich des Festbindens von Bewohnern<br />
auf Toilettenstühlen während des Frühstücks<br />
geschehen ist.<br />
Immer wieder finden sich auch Berichte, in<br />
denen die Problematik angesprochen wird, dass<br />
sich gesetzliche Betreuer nicht für das Wohl der<br />
ihnen unterstellten pflegebedürftigen Personen<br />
einsetzen. Dies lässt darauf schließen, dass Betreuerinnen<br />
und Betreuer bessere pflegefachliche<br />
Kenntnisse erwerben sollten.<br />
Das angemessene Anreichen von Mahlzeiten stellt viele<br />
Pflegeteams vor große organisatorische Probleme.<br />
Foto: Werner Krüper<br />
Thema<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 19
Thema<br />
Weitere Schritte neben der Darstellung<br />
von Berichten und Kommentaren<br />
im System<br />
Anhand dieser ersten <strong>Aus</strong>wertungen wird deutlich,<br />
wie durch ein publiziertes kritisches Ereignis<br />
und eine daran anknüpfende Diskussion bisher<br />
nicht sichtbare oder immer wiederkehrende<br />
Problemfelder in der Altenpflege aufgedeckt<br />
werden. Mit Hilfe von fachlichen Informationen,<br />
die zwar auf einen konkreten Einzelfall Bezug<br />
nehmen, haben Pflegende anschließend die<br />
Möglichkeit, ihre Pflegepraxis zu überprüfen<br />
und entsprechend (neu) auszurichten. Mit der<br />
Aufarbeitung von Einzelfällen in einem Berichts-<br />
und Lernsystem ist also ein erster Schritt<br />
zu Veränderung des Pflegealltags getan.<br />
Danach kommt es allerdings auf die Pflegeteams<br />
sowie auf die Pflegedienst- und Heimleitungen<br />
an. Mit ihrer Bereitschaft zur Veränderung<br />
steht und fällt die Qualität.<br />
Das KDA wird rund um das Online-Berichts-<br />
und Lernsystem in den kommenden Monaten<br />
Fortbildungsmaterialien für Pflegeteams<br />
entwickeln und anbieten. Mit diesen können die<br />
Erkenntnisse aus den Inhalten des Systems in<br />
die Abläufe der Qualitätsentwicklung in Einrichtungen<br />
und Pflegediensten, aber auch in<br />
Pflegestudiengänge sowie <strong>Aus</strong>-, Fort- und<br />
Weiterbildungen integriert werden.<br />
Darüber hinaus sind weitere Kooperationsvereinbarungen<br />
geplant, wie sie beispielsweise<br />
bereits mit dem Betreiber des IQB-Internetportals<br />
„Medizin-, Pflege- und Psychiatrierecht“<br />
und der juristischen Fachzeitschrift „Pflegerecht“<br />
existieren. Damit können vermehrt den<br />
Nutzerinnen und Nutzern von „<strong>Aus</strong> kritschen<br />
<strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ auch Stellungnahmen zu juristisch<br />
relevanten Sachverhalten zur Verfügung<br />
gestellt werden.<br />
Im Rahmen des vom Bundesgesundheitsministerium<br />
bis 2009 geförderten Projektes wird<br />
das KDA die Inhalte und Erkenntnisse, die das<br />
Projektteam aus dem Berichts- und Lernsystem<br />
gewinnen wird, auch in die Diskussion über<br />
strukturelle und organisatorische Veränderungen<br />
in der Altenpflege einbringen. Ermöglicht<br />
wird dies durch die vielseitigen Kontakte, die<br />
das KDA im Rahmen von Projekten wie zum<br />
Beispiel der Koordinierung der Demenz-Servicezentren<br />
in NRW oder dem Aufbau von Pflegestützpunkten<br />
(siehe Editorial) hat. Die Erkenntnisse<br />
werden auch mit in die vielen Beratungs-<br />
gremien einfließen können, in denen das KDA<br />
tätig ist. Damit wird gewährleistet, dass das<br />
Projekt „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ einen<br />
grundlegenden Beitrag im Rahmen der<br />
KDA-Qualitätsoffensive für die Altenpflege leis -<br />
tet.<br />
Kontakt:<br />
Heiko Fillibeck, Projektleiter<br />
„Kritische Ereignisse“<br />
(www.kritische-ereignisse.de)<br />
Foto: privat<br />
„<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe<br />
An der Pauluskirche 3, 50677 Köln<br />
Wir bitten Sie, die Möglichkeit zu nutzen, uns<br />
über das Kontaktformular auf der Website oder<br />
über info@kritische-ereignisse.de anzuschreiben!<br />
Wie kann ich bei „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong><br />
<strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ mitmachen<br />
Wer www.kritische-ereignisse.de besucht,<br />
kann:<br />
• selbst erlebte kritische Ereignisse berichten;<br />
• Berichte von <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> anderer<br />
lesen und recherchieren;<br />
• fachliche Kommentare der KDA-Experten<br />
zu den Berichten lesen;<br />
• Hinweise, Vorschläge und Kommentare<br />
von anderen Pflegenden lesen;<br />
• selbst Hinweise, Vorschläge und Kommentare<br />
zu den Berichten abgeben;<br />
• Fragen zu den Berichten, den Kommentaren<br />
oder zum System stellen und Antworten<br />
erhalten.<br />
20<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Lernen vom „Bericht des Monats“<br />
Thema<br />
Das Projektteam „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong><br />
<strong>lernen</strong>“ wählt für jeden Monat einen besonders<br />
informativen Bericht aus und veröffentlicht<br />
ihn als „Bericht des Monats“ auf der<br />
Website. Zu diesem Bericht erscheint auch immer<br />
eine Stellungnahme der KDA-Experten.<br />
Für den Monat November lautet der Bericht:<br />
Hand mit Kontrakturen wird nicht gepflegt.<br />
Im Folgenden sind Bericht, Stellungnahme<br />
und Kommentare dargestellt.<br />
Foto: Daniel Hoffmann<br />
Der Bericht:<br />
Was ist passiert<br />
<strong>Aus</strong>löser<br />
Positive Faktoren<br />
Die Finger eines Bewohners mit einer Hemiparese verkrampfen sich zu<br />
einer Faust mit innenliegendem Daumen. Es kommt zu Kontrakturen<br />
der gesamten Hand.<br />
Das Pflegepersonal führt nur eine unzureichende Reinigung der Innenfläche<br />
durch, so dass durch die verschwitzte Hand ein penetranter<br />
Geruch entsteht.<br />
Es bleibt den Angehörigen überlassen, einmal wöchentlich die Finger zu<br />
öffnen, um die Handfläche zu reinigen und die teilweise eingewachsenen<br />
Fingernägel zu schneiden.<br />
Fehleinschätzung der Spätfolgen einer Hemiparese.<br />
Angehörige kommen auf die Idee, in die gereinigte Hand einen aufgerollten<br />
Waschlappen zu legen.<br />
Ab diesem Zeitpunkt ist eine Reinigung der Hand für den Bewohner nicht<br />
mehr mit so starken Schmerzen verbunden wie zuvor.<br />
Umgang mit der In Anwesenheit der Angehörigen bleibt der Waschlappen an seiner Stelle.<br />
Situation Am nächsten Morgen liegt er aber unbenutzt auf dem Nachttisch. Ange -<br />
hörige vermuten, dass man diese Maßnahme für nicht erforderlich hält.<br />
Verbesserungsvorschläge<br />
Arbeitsbereich<br />
Zeit<br />
Häufigkeit<br />
Versorgungsform<br />
Berichtende<br />
Beteiligte<br />
Bei rechtzeitigem Reagieren wären dem Bewohner viele Schmerzen erspart<br />
geblieben. <strong>Aus</strong>gebildetes Pflegepersonal sollte bei einer Hemiparese<br />
Vorsorgemaßnahmen gegen Kontrakturen treffen.<br />
Pflege<br />
Sonstiges<br />
Wiederholt » Dauerhaft<br />
Stationär » Klassisches Altenpflegeheim<br />
Sonstige » Angehörige<br />
Mitarbeiter Pflege<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 21
Thema<br />
Die Stellungnahme der<br />
KDA-Pflegeexperten:<br />
Im geschilderten Bericht ist zunächst einmal zu<br />
klären, ob es sich um eine Kontraktur oder eine<br />
Spastik der Hand handelt. Denn obwohl die<br />
Angehörigen von einer Kontraktur sprechen,<br />
handeln die Pflegenden so, dass auf eine Spastik<br />
geschlossen werden kann.<br />
Definition Spastik<br />
Gesteigerte Muskelspannung, die zu einer<br />
unkontrollierten Verkrampfung der Skelett mus -<br />
kulatur führen kann. Im Gegensatz zu einer<br />
Muskelsteifigkeit (Rigor) nimmt die Verkrampfung<br />
proportional zur Geschwindigkeit einer<br />
passiven Dehnung des Muskels zu. Bei fortgesetzter<br />
Dehnung kann die Verkrampfung plötzlich<br />
nachlassen (sog. Taschenmesserphänomen).<br />
Definition Kontraktur<br />
Unter einer Kontraktur versteht man eine<br />
bleibende Bewegungseinschränkung eines Gelenks.<br />
Eine Kontraktur entsteht, wenn ein Gelenk<br />
über einen individuellen Zeitraum mangelhaft<br />
bewegt wird. Die Mangelbewegung führt<br />
dazu, dass zu wenig Gelenkflüssigkeit produziert<br />
wird mit der Folge, dass der Gelenkknorpel<br />
nicht ausreichend ernährt wird und<br />
schrumpft. Daneben kommt es zur Verkürzung<br />
von Muskeln, Sehnen und Bändern, was<br />
schließlich dazu führt, dass das betroffene Gelenk<br />
nicht mehr bewegt werden kann, also versteift.<br />
Je nachdem ob eine Kontraktur oder eine Spas -<br />
tik vorliegt, sind unterschiedliche Maßnahmen<br />
angezeigt:<br />
Maßnahmen bei einer Spastik:<br />
1. Bei Bewegungen der von der Spastik betroffenen<br />
Körperseite Gefühl für Rhythmus der<br />
Spasmen entwickeln. Nicht gegen den erhöhten<br />
Muskeltonus arbeiten, sondern bei<br />
abnehmendem Tonus sanftes Halten, Streichen<br />
der entsprechenden Partien oder therapeutische<br />
Berührung zur Tonussenkung<br />
2. Physiotherapie, Ergotherapie<br />
3. Medikamentöse Therapie, z. B. Muskelrelaxanzien<br />
4. Ggf. neurochirurgischer Eingriff, z. B. die<br />
Durchtrennung von Nerven (selektive dorsale<br />
Rhizotomie)<br />
Maßnahmen bei einer Kontraktur:<br />
1. Physikalische Therapie<br />
2. Intraartikulär (in das Gelenk hinein) verabreichte<br />
Lokalanästhetika<br />
3. Ggf. operative Mobilisation durch Lösung<br />
von intra- oder extraartikulären Verwachsungen<br />
oder Durchtrennung einer geschrumpften<br />
Gelenkkapsel<br />
Um zu klären, ob es sich im geschilderten Fall<br />
um eine Spastik oder eine Kontraktur handelt,<br />
ist eine ärztliche Diagnose erforderlich. Den<br />
Pflegenden ist also anzuraten, der behandelnden<br />
Hausärztin/dem behandelnden Hausarzt<br />
die Situation zu schildern. Diese entscheiden<br />
dann über die weiteren therapeutischen Maßnahmen.<br />
Falls es sich wirklich, wie von den Angehörigen<br />
angenommen, um eine fortgeschrittene<br />
Kontraktur der gesamten Hand handelt, ist neben<br />
einer physiotherapeutischen Behandlung<br />
(physikalische Therapie) eine entsprechend vorsichtige<br />
Pflege der Hand dringend notwendig.<br />
Denkbar wäre auch die Gabe eines Schmerzmittels<br />
bevor die Handpflege durchgeführt wird<br />
(nach ärztlicher Verordnung).<br />
Die verbliebene Bewegungsfähigkeit der<br />
Finger ist mehrmals täglich zu fördern. Auch<br />
das Einlegen eines weichen Gegenstandes in die<br />
Hand, wie es von den Angehörigen vorgeschlagen<br />
wird, ist dann geboten, um das „Eingraben“<br />
der Fingernägel in die Handfläche zu vermeiden.<br />
Der weiche Gegenstand darf allerdings<br />
nicht so dick sein, dass die Finger bis zur<br />
Schmerzgrenze gedehnt werden, und sollte<br />
mehrmals am Tag entfernt und erneuert werden.<br />
Der Bericht offenbart allerdings noch eine<br />
andere Problematik: nämlich eine defizitäre<br />
Kommunikation zwischen den Pflegenden und<br />
den Angehörigen. Beide Parteien handeln aneinander<br />
vorbei. Ideal wäre ein <strong>Aus</strong>tausch des<br />
Fachwissens und der Ideen zum Umgang mit<br />
der geschilderten Problematik, damit sich<br />
die Handlungen im Sinne des Bewohners ergänzen.<br />
Literaturhinweis:<br />
Pschyrembel Wörterbuch Pflege (2003),<br />
bearbeitet von Susanne Wied, de Gruyter,<br />
Berlin<br />
22<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Thema<br />
Lernen am Bildschirm durch Lesen,<br />
Recherchieren oder Mitmachen.<br />
Foto: Werner Krüper<br />
Die Kommentare:<br />
15.11.07 | 19:56 von PDL<br />
Es wird gelehrt, dass man in die spastisch gelähmte<br />
Hand keine Gegenstände legt, um die<br />
Spastik nicht noch zu erhöhen.<br />
Pflegerisch liegt hier jedoch ein gravierender<br />
Fehler vor.<br />
Alles, also das Öffnen der Hand (denn hier<br />
wird die Kontrakturprophylaxe bestimmt dokumentiert),<br />
die Pflege sowie die Nagelpflege<br />
sind Leistungen, die von der Krankenkasse bezahlt<br />
werden.<br />
Sollte das Pflegepersonal sich weiterhin weigern,<br />
wenden Sie sich an die Krankenkasse und<br />
schildern sie dort den Fall. Die werden Ihnen<br />
weiterhelfen und alles Weitere einleiten.<br />
16.11.07 | 11:34 von prisemutty<br />
Es ist unbestritten nicht o. k., wenn die Hand<br />
nicht regelmäßig gepflegt wird.<br />
Die Idee mit dem Lappen in der Hand ist<br />
recht gut, da die Haut entlastet wird.<br />
Dass der zusammengerollte Waschlappen<br />
entfernt wurde liegt wahrscheinlich daran, dass<br />
es als Pflegefehler gewertet wird, wenn man eine<br />
spastisch gelähmte Hand mit einer Rolle versieht,<br />
da dies die Spastik verstärkt.<br />
Dass die Pflegekräfte den Angehörigen den<br />
Grund ihres Handelns nicht erklären, ist schade,<br />
zumal es den Eindruck verstärkt, dass niemand<br />
etwas tut.<br />
Gegeneinander, statt Miteinander.<br />
Lösungsvorschlag: kein gerollter Waschlappen,<br />
sondern ein glatter Waschlappen oder nur<br />
einen Teil davon eingelegt, bei kleinen Händen,<br />
nimmt den Schweiß auf und löst keine Spastik<br />
aus.<br />
Sprechen Sie das Vorgehen mit den Pflegekräften<br />
vor Ort ab, und lassen Sie das Ergebnis<br />
in die Pflegedokumentation aufnehmen.<br />
20.11.07 | 14:52 von Han Solo<br />
Zu prisemutty: volle Zustimmung.<br />
Gerade solche dickeren Gegenstände in der<br />
Handfläche lösen erst recht Spastiken aus.<br />
Es gibt aber für solche Fälle auch spezielle<br />
Handlappen. Diese habe ich mal auf der Altenpflegemesse<br />
gesehen. (Evtl. mal googlen.) Oder<br />
kleine Waschlappen nur so in die Hand legen.<br />
Regelmäßige Nagelpflege und generell die<br />
Pflege der Hand muss von den Mitarbeitern gewährleistet<br />
werden. Hier gibt es keine <strong>Aus</strong> -<br />
reden.<br />
Ansonsten mal einen Physiotherapeuten ansprechen,<br />
wie man solche Hände vorsichtig und<br />
mit nur wenig Schmerzen öffnen kann.<br />
Über 600 Kommentare wurden von Oktober bis Dezember<br />
2007 ins System gestellt. Foto: Werner Krüper<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 23
Thema<br />
Das ProAlter-Experteninterview:<br />
„Berichts- und Lernsysteme helfen, die<br />
Versorgungsqualität im immer komplexeren<br />
Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten“<br />
„Jeder Fehler zählt“ ist das erste im deutschen Gesundheitssystem betriebene Incidental Report<br />
System, das 2004 online ging. Es wird von einem vierköpfigen Team am Institut für Allgemeinmedizin<br />
der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main betrieben und richtet<br />
sich an die rund 50.000 in Deutschland niedergelassenen Hausärzte und deren Helferinnen. Bislang<br />
haben diese rund 300 Berichte und über 1.000 Kommentare in dem Fehlerberichts- und<br />
Lernsystem verfasst.<br />
Harald Raabe sprach mit der Projektleiterin Dr. Barbara Hoffmann über das System, das<br />
derzeit im Monat durchschnittlich 5.000 Besuche verzeichnet.<br />
Dr. Barbara Hoffmann ist<br />
Leiterin des Fehlerberichts- und<br />
Lernsystems für Hausarztpraxen<br />
„Jeder Fehler zählt“.<br />
Foto: privat<br />
ProAlter: Wie zufrieden sind Sie mit dem bisherigen<br />
Verlauf von „Jeder Fehler zählt“<br />
Hoffmann: Wir sind sehr zufrieden, auch,<br />
weil „Jeder Fehler zählt“ wohl derzeit das bekannteste<br />
Fehlerberichts- und Lernsystem in<br />
Deutschland ist. Im Prinzip ist es ja Vorreiter<br />
für andere Systeme, die es mittlerweile gibt, wie<br />
zum Beispiel „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“,<br />
das vom KDA betrieben wird, oder das<br />
Berichtssystem, das der Berufsverband der Allgemeinzahnärzte<br />
direkt von unserem System<br />
abgeschaut hat. Insgesamt, denke ich, halten die<br />
Nutzerinnen und Nutzer solche Systeme für<br />
sinnvoll, weil sie ganz offensichtlich aus den<br />
Fehlern anderer <strong>lernen</strong> und nicht nur aus den eigenen.<br />
Und weil wir endlich beginnen müssen,<br />
offen über Fehler zu sprechen.<br />
Wir sind jetzt dabei, unser System vor allem<br />
noch bei den Artzhelferinnen bzw. den medizinischen<br />
Fachangestellten bekannter zu machen,<br />
und freuen uns darüber, dass wir auch bei dieser<br />
Berufsgruppe auf ein sehr großes Interesse stoßen.<br />
Hätten Sie mich vor zehn Jahren auf die<br />
Existenz solcher Systeme angesprochen, hätte<br />
ich Ihnen wohl geantwortet, dass ihre Etablierung<br />
gar nicht möglich sei. Dass es heute aber<br />
doch funktioniert, halte ich im Hinblick auf unser<br />
immer komplexer werdendes Gesundheitssystem<br />
für sehr wichtig.<br />
ProAlter: Warum wären solche Systeme<br />
vor zehn Jahren Ihrer Meinung nach noch nicht<br />
erfolgreich gewesen<br />
Hoffmann: Weil es vor zehn Jahren noch<br />
nicht möglich gewesen wäre, so offen über Fehler<br />
in den Gesundheitsberufen zu sprechen. Gerade<br />
über Fehler in der Medizin zu sprechen<br />
war etwas, was man einfach nicht machte, und<br />
wenn doch, dann nur hinter verschlossenen Türen<br />
oder hinter vorgehaltener Hand. Letztendlich<br />
wollte man sich nicht in die Karten gucken<br />
lassen. Heute gibt es viel mehr Patientenautonomie<br />
und die Stellung, die heute Ärztinnen und<br />
Ärzte im Gesundheitssystem haben, ist nicht<br />
mehr eine so Hervorgehobene. Es ist heute<br />
möglich zu hinterfragen, „ob das alles richtig<br />
ist, was die Mediziner so machen“ Diese Entwicklungen<br />
führen dazu, dass auch solche Lernund<br />
Berichtssysteme akzeptiert und verwendet<br />
werden.<br />
ProAlter: Wie hoch schätzen Sie denn<br />
den Lerneffekt bei den Hausärztinnen und -ärzten<br />
ein<br />
Hoffmann: Diese Frage ist schwer zu beantworten.<br />
Ich gebe einfach einmal eine ähnliche<br />
Frage direkt an Sie zurück: Wie hoch würden<br />
Sie denn Ihren Lerneffekt einschätzen,<br />
24<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
wenn Sie ein Buch lesen Was ich damit sagen<br />
will: Lerneffekte wie diese lassen sich leider<br />
nicht wirklich messen und in Maßeinheiten angeben.<br />
„Ich mache das in Zukunft nie wieder“<br />
ProAlter: Anders gefragt: Bekommen Sie in<br />
irgendeiner Art und Weise Rückmeldungen, die<br />
bestätigen, dass Sie ein System entwickelt haben,<br />
von dem alle profitieren<br />
Hoffmann: Wir erhalten immer wieder<br />
Rückmeldungen von Ärzten oder auch Arzthelferinnen,<br />
die uns schreiben, dass sie in unserem<br />
System über einen Fehler aus einer anderen Praxis<br />
gelesen und dabei gelernt haben, dass sie<br />
diesen auch in ihrer Praxis verhindern müssen<br />
und deswegen entsprechende Maßnahmen umgesetzt<br />
haben. Ich erinnere mich beispielsweise<br />
an einen Bericht über eine falsch applizierte<br />
intramuskuläre Windpockenimpfung, die eigentlich<br />
subkutan erfolgen muss. Allein durch<br />
die Veröffentlichung des Berichts wurden die<br />
Leserinnen und Leser darauf hingewiesen, dass<br />
diese Impfung eben nur auf einem Weg vorgenommen<br />
werden darf. Wir erhalten dann auch<br />
Rückmeldungen wie: „Danke, Ihr Bericht hat<br />
mir geholfen, ich mache das in Zukunft nie wieder.“<br />
Das Besondere an Fehlerberichtssystemen<br />
ist ja, dass sie mit dem Wissen der in der Praxis<br />
Tätigen arbeiten und dass sie letztendlich das<br />
enorme Potenzial, das dort vorhanden ist, auch<br />
nutzen. Unter Umständen kann das größere<br />
Lerneffekte erzielen als zum Beispiel der Besuch<br />
von Fortbildungen, auf denen die Fortzubildenden<br />
nicht selten mit einer Frontalveranstaltung<br />
konfrontiert werden.<br />
ProAlter: Kann Ihr System denn Fortbildungen<br />
im ärztlichen Bereich ersetzen<br />
Hoffmann: Nein, natürlich nicht. Ein<br />
Fehlerberichtssystem ist im Prinzip ja Teil des<br />
Fehlermanagements, denn zunächst hilft es dabei,<br />
Fehler zu identifizieren. Erst dann kann ich<br />
mir Gedanken darüber machen, welche Ursachen<br />
dem zugrunde liegen. Und als nächsten<br />
Schritt: Wie kann ich möglicherweise solche<br />
Fehler in Zukunft vermeiden Das Fehlerberichtssystem<br />
ist also eine Sammelstelle von Berichten<br />
und insofern immer nur Teil des Fehlermanagements.<br />
Insofern betrifft es auch nur einen<br />
Teil der ärztlichen Tätigkeit oder der Tätigkeit<br />
anderer Berufsgruppen. Von daher kann es<br />
Fortbildungen im Bereich des Fehlermanagements<br />
ergänzen.<br />
ProAlter: Ließe sich das System denn<br />
nicht zu einem weitergehenden Fortbildungsmedium<br />
ausbauen<br />
Hoffmann: Wir sind schon dabei, bestimmte<br />
Dinge als Fortbildungsmaterialien an<br />
die Nutzerinnen und Nutzer zurückzugeben.<br />
Wir sammeln beispielsweise Tipps zur Fehlervermeidung<br />
in verschiedenen Bereichen. Von ihnen<br />
kann man <strong>lernen</strong>, wie zum Beispiel Fehler<br />
bei der Medikamentengabe oder mit Laborbefunden<br />
vermieden werden können. Auf diese<br />
Art und Weise ergänzen wir unser System mehr<br />
und mehr durch Fortbildungsmaterialien, so<br />
dass ich mir vorstellen kann, dass „Jeder Fehler<br />
zählt“ zukünftig auch eine relativ umfassende<br />
Fortbildung im Bereich Fehlermanagement anbieten<br />
kann.<br />
ProAlter: Wenn dieses Berichtssystem<br />
auf die Unterstützung des Fehlermanagements<br />
ausgerichtet ist, lässt sich daraus ableiten, dass<br />
es dann in der Praxis auch zu deutlich weniger<br />
Fehlern kommt<br />
Hoffmann: Einen wissenschaftlich belegten<br />
Beweis dafür hat bisher noch kein existierendes<br />
Fehlerberichtssystem erbracht. Aber es<br />
liegt ja auf der Hand, dass am Ende weniger<br />
Fehler auftreten, wenn man durch die Nutzung<br />
eines solchen Systems versucht, Sicherheits -<br />
lücken in der Praxis zu schließen. Vermutlich<br />
wird bei Vielen allein durch das Vorhandensein<br />
des Systems ein Prozess angestoßen, über die eigene<br />
Arbeit nachzudenken, was zunächst ja<br />
schon einmal sehr hilfreich ist. Sie müssen aber<br />
davon ausgehen, dass Veränderungen, die unsere<br />
Werteeinstellungen betreffen, kulturelle Veränderungen<br />
sind, die sehr lange brauchen. Sie<br />
können also nicht von einem Fehlerberichts -<br />
system, das sich erst seit drei Jahren im Internet<br />
an 50.000 Hausarztpraxen wendet, spürbare<br />
Veränderung erwarten. Das ist sicherlich zu viel<br />
verlangt. Sie müssten dann nämlich nachweisen,<br />
dass in diesen Praxen in Folge der Nutzung<br />
des Fehlerberichtssystems weniger Fehler auftreten.<br />
Das wird jedoch nicht möglich sein. Lediglich<br />
in kleineren Einheiten, also zum Beispiel<br />
bei einrichtungsinternen Fehlerberichtssystemen<br />
kann dies gelingen, worauf auch schon verschiedene<br />
Studien hinweisen. Doch auch hier<br />
steht letztendlich noch der von der Wissenschaft<br />
geforderte Beweis aus.<br />
Thema<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 25
Thema<br />
„Fehlerberichtssysteme bilden einen<br />
unvollständigen <strong>Aus</strong>schnitt<br />
vom Ganzen ab“<br />
ProAlter: Diesen zu erbringen fällt aber bestimmt<br />
auch deshalb schwer, weil die Datenauswertung<br />
in einem anonymen System nicht ganz<br />
einfach ist, oder<br />
Hoffmann: Viele glauben, dass mit so einem<br />
Fehlerberichtssystem harte Daten erhoben<br />
und als Maßstab für die Qualität der Versorgung<br />
herangezogen werden können. Die Daten<br />
sind jedoch nie repräsentativ. Sie müssen sich<br />
vorstellen, dass Sie mit so einem Fehlerberichtssystem<br />
wie durch ein Guckloch auf ein weites<br />
Feld schauen, dabei aber natürlich nicht das<br />
ganze weite Feld sehen können. Um einen besseren<br />
Einblick zu erhalten, müssen Sie also am<br />
bes ten verschiedene Gucklöcher miteinander<br />
kombinieren.<br />
Zum Beispiel schaut ja der MDK auf die<br />
Krankenakte. Das ist, wenn Sie so wollen, ein<br />
anderes Guckloch. Aber hier kann nur das<br />
nachvollzogen werden, was dokumentiert ist.<br />
Was nicht niedergeschrieben wurde, kann ich<br />
also nicht sehen. Auch Fehlerberichtssysteme<br />
bilden nur einen bestimmten unvollständigen<br />
<strong>Aus</strong>schnitt des Ganzen ab. Sie sind aber deswegen<br />
besonders wichtig, weil Sie dort direkte<br />
Informationen von in der Praxis arbeitenden<br />
Personen erhalten. Es bezieht die in der Pflege<br />
und in der ärztlichen Versorgung Tätigen und<br />
ihr Wissen direkt mit ein und unterstreicht damit<br />
ihre Bedeutung für das Gesundheits -<br />
system.<br />
ProAlter: Trotz dieser Systeme bleibt es<br />
also dabei: „Irren ist menschlich“ und Fehler<br />
können nicht komplett ausgeschaltet werden...<br />
Hoffmann: Dort, wo Menschen arbeiten,<br />
werden immer auch Fehler gemacht werden,<br />
das ist in allen Bereichen so. Menschen, die im<br />
Gesundheitssystem arbeiten, tragen hier aber eine<br />
besondere Verantwortung. Sie arbeiten in einem<br />
sehr komplexen System. Selbst eine kleine<br />
Hausarztpraxis arbeitet nicht im leeren Raum,<br />
sondern kooperiert zum Beispiel mit Apotheken<br />
oder mit anderen Fachdisziplinen. Von daher<br />
muss nicht nur jede Struktur gut organisiert<br />
sein, sondern die Beteiligten müssen verstärkt<br />
miteinander kommunizieren, was bislang leider<br />
noch nicht ausreichend geschieht.<br />
Um einmal für meine Berufsgruppe zu sprechen:<br />
Wir Ärztinnen und Ärzte sind zwar medizinisch<br />
gut ausgebildet, nicht aber was unsere<br />
Rolle im Gesundheitswesen, in der Klinik oder<br />
in der Praxis angeht. Das wird sich jedoch in<br />
nächster Zeit ändern, auch aus der Verpflichtung<br />
heraus, ein Qualitätsmanagement einzuführen.<br />
Insofern kann man erwarten, dass jetzt<br />
ganze Organisationen Lernprozesse durchlaufen<br />
und die Fehler, die heute noch auftreten,<br />
möglicherweise in ein paar Jahren nicht mehr<br />
auftreten. Denn es kommt nicht so sehr darauf<br />
an, was die oder der Einzelne lernt, sondern<br />
dass eine ganze Praxis, eine Station im Krankenhaus<br />
oder eine ganze Klinik lernt.<br />
ProAlter: Sie haben davon gesprochen<br />
„Jeder Fehler zählt“ bei anderen medizinischen<br />
Berufsgruppen wie den Arzthelferinnen bekannter<br />
zu machen. Gibt es denn innerhalb der<br />
unterschiedlichen Berufe auch Nutzungsunterschiede<br />
Hoffmann: Seit über einem Jahr fragen<br />
wir jeden Berichterstatter, zu welcher Berufsgruppe<br />
er oder sie gehört. Es ist nach wie vor<br />
so, dass vorwiegend Ärztinnen und Ärzte „Jeder<br />
Fehler zählt“ nutzen. Das liegt zum einen<br />
daran, dass das System aufgrund einer ärztlichen<br />
Initiative gestartet wurde und zunächst<br />
auch nur Hausärztinnen und -ärzte angesprochen<br />
hat. Das liegt zum anderen aber auch daran,<br />
dass Arzthelferinnen sich in einem Loyalitätskonflikt<br />
befinden, gerade wenn es darum<br />
geht, über Fehler zu berichten, die womöglich<br />
ihr Arbeitgeber zu verantworten hat. Zwar sind<br />
die Berichte anonymisiert und die Arzthelferinnen<br />
brauchten sich diesbezüglich keine Sorgen<br />
zu machen. Doch gerade in den Arztpraxen besteht<br />
noch ein viel stärkeres Hierarchiegefälle<br />
als in den Kliniken, womit sich erklären lässt,<br />
warum Arzthelferinnen eine deutlich höhere<br />
Schwelle überwinden müssen, um Berichte ins<br />
System zu stellen.<br />
„Einzelfälle aus dem gesamten Spektrum<br />
hausärztlicher Praxis“<br />
ProAlter: Lassen sich die Berichte einordnen,<br />
beispielsweise nach dem Gefährdungspotenzial<br />
der berichteten Fehler<br />
Hoffmann: Zunächst beschäftigen wir uns<br />
ja mit einer Summe von Einzelfällen. Besonders<br />
interessante Berichte werden als „Fehler der Woche“<br />
oder als „Fehler des Monats“ samt eingegangener<br />
Kommentare veröffentlicht.<br />
26<br />
ProAlter 4/07 Kuratorium Deutsche Altershilfe
Die Berichte kommen aus dem gesamten<br />
Spektrum hausärztlicher Praxis.<br />
Das fängt an mit der Buchung der Praxisgebühr<br />
und geht bis zu problematischen<br />
Diagnosestellungen, wo z. B. ein<br />
Herzinfarkt oder eine Krebserkrankung<br />
möglicherweise zu spät erkannt<br />
worden ist. Im Prinzip wird also über<br />
alles berichtet, was möglich ist – von<br />
der vermeintlichen kleinen Lappalie<br />
bis zum schwerwiegenden Ereignis.<br />
Über die Häufigkeit können wir Ihnen<br />
aber nichts sagen. Insbesondere für den Bereich<br />
der ambulanten Versorgung sind derzeit kaum<br />
Daten vorhanden, und es gibt bisher auch kein<br />
Fehlerberichtssystem auf der Welt, welches diesbezüglich<br />
<strong>Aus</strong>sagen auf der Basis fundierter Daten<br />
für den Bereich der medizinischen Versorgung<br />
treffen könnte. Unser Ziel ist es aber, die<br />
eingehenden Berichte zu klassifizieren und sie<br />
wissenschaftlich auszuwerten.<br />
ProAlter: Wie lange wird dies dauern<br />
und wie kann so eine <strong>Aus</strong>wertung aussehen<br />
Hoffmann: Diese <strong>Aus</strong>wertung kann kontinuierlich<br />
erfolgen und uns insbesondere über<br />
die Ursachen von Fehlern, über die Faktoren,<br />
die zum Ereignis beigetragen haben, wichtige<br />
Informationen liefern. Oder auch darüber, was<br />
hilfreich ist, solche oder ähnliche Fehler zu vermeiden.<br />
So wissen wir zum Beispiel, dass Medikationsfehler<br />
unter anderem dadurch verursacht<br />
werden, dass Rezepte in der Praxis ohne<br />
Gegenkontrolle an Patienten ausgehändigt werden.<br />
Es wird also nicht hinterfragt, ob Medikament<br />
und Dosis auch wirklich stimmen.<br />
ProAlter: Wie bewerten Sie das Pendant<br />
für die Pflege „<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“<br />
Hoffmann: Wir haben ja das KDA beim<br />
Aufbau dieses Systems beraten und Vieles, was<br />
„<strong>Aus</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Ereignissen</strong> <strong>lernen</strong>“ anbietet, ist<br />
ja schon bei „Jeder Fehler zählt“ verwirklicht<br />
worden. Von daher finde ich es natürlich sehr<br />
gut, dass es dieses System nun auch für die Altenpflege<br />
gibt. Ich finde es auch klasse, dass es<br />
von Anfang an bereits sehr gut von den in der<br />
Pflege Tätigen angenommen wird, und glaube<br />
daher, dass es einen sehr guten Stellenwert in<br />
der Entwicklung der Pflegequalität haben wird.<br />
„Wer in Berichtssysteme<br />
investiert, investiert in<br />
<strong>Aus</strong>bildung und Qualität“<br />
ProAlter: Kritiker solcher Systeme<br />
sagen ja, das sei reine Zeit- und Geldverschwendung<br />
und man solle doch<br />
lieber direkt in die Pflege oder in die<br />
<strong>Aus</strong>bildung der verschiedenen Berufsgruppen<br />
investieren. Was würden<br />
Sie denen antworten<br />
Hoffmann: Wenn Sie in ein Berichts<br />
system investieren, investieren Sie ja direkt<br />
in <strong>Aus</strong>bildung und in die Qualität der pflegerischen<br />
oder medizinischen Versorgung, ich<br />
sehe da gar keinen Gegensatz. Sie müssen aus<br />
den Informationen nur etwas machen. Das<br />
heißt, Sie müssen die Informationen, die Sie<br />
zum Beispiel aus der Pflege erhalten, dann auch<br />
in Veränderungsprozesse einfließen lassen.<br />
Zunächst müssen Sie allerdings erst einmal<br />
dafür sorgen, dass es eine Plattform gibt, die für<br />
alle leicht zugänglich und von möglichst vielen<br />
genutzt wird, am besten im Internet. Sie müssen<br />
sie vor allem bekannt machen und dafür sorgen,<br />
dass beispielsweise alle in der Pflege das KDA-<br />
System kennen. Dann können diese es auch zur<br />
Fortbildung nutzen. Bei „Jeder-fehler-zaehlt.de“<br />
hat diese Entwicklung einige Zeit und<br />
Ressourcen gekostet, beim Pflegeberichtssystem<br />
ging dies jetzt – unter anderem dank schon bereitetem<br />
Boden – schneller.<br />
ProAlter: Können Sie sich für die Zukunft<br />
überhaupt noch vorstellen, dass Gesundheitsberufe<br />
ohne Incidental-Report-Systeme<br />
auskommen oder werden sie irgendwann Standard<br />
sein<br />
Hoffmann: Ich glaube, dass dieses Organisations<strong>lernen</strong><br />
und das Lernen voneinander in<br />
Zukunft einen viel größeren Stellenwert haben<br />
wird als heute. Wir haben ein Gesundheits sys -<br />
tem, das relativ fragmentiert ist. Wir haben den<br />
ambulanten Bereich, wir haben den stationären<br />
Bereich, dieser ist wiederum unterteilt in die<br />
Versorgung chronisch oder akut kranker Menschen<br />
usw.. Das erfordert geradezu, dass solche<br />
Fehlerberichtssysteme auch als Kommunikations-<br />
und als Informationsplattform vermehrt<br />
genutzt werden müssen, um die Qualität der<br />
Versorgung zu verbessern.<br />
Thema<br />
Kuratorium Deutsche Altershilfe ProAlter 4/07 27