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Leseprobe Belzer Bionik - Deutsche Akademie für Kinder

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Sigrid <strong>Belzer</strong>, geboren 1972, ist Diplom-Geologin<br />

und beschäftigt sich bereits seit ihrem Studium<br />

mit der Vermittlung von Naturwissenschaften<br />

an Schüler, Lehrer und interessierte Laien.<br />

Sie entwickelt und leitet <strong>Bionik</strong>-Veranstaltungen<br />

für <strong>Kinder</strong>, verfasst Unterrichtsmaterialien und<br />

erfindet auch mal Spiele, Modelle und Bastelsets,<br />

um <strong>Bionik</strong> verständlich zu machen.<br />

Peter Nishitani, geboren 1970, studierte Illustration<br />

an der Fachhochschule Hamburg.<br />

Er hat schon viele Bücher und auch Spiele illustriert<br />

und arbeitet für verschiedene Zeitschriften.<br />

Peter Nishitani lebt und arbeitet in Hamburg.


Sigrid <strong>Belzer</strong><br />

Mit farbigen Illustrationen von Peter Nishitani<br />

<strong>Bionik</strong> für <strong>Kinder</strong><br />

Fischer Schatzinsel


Fischer Schatzinsel<br />

www.fischerschatzinsel.de<br />

Die Durchführung der in diesem Buch beschriebenen Experimente<br />

erfolgt auf eigene Verantwortung. Trotz sorgfältiger Auswahl der<br />

Experimente können die Autorin und der Verlag nicht ausschließen,<br />

dass einzelne Experimente nicht wie beschrieben gelingen.<br />

Die Haftung für das Gelingen der Experimente und mögliche Schäden<br />

bei ihrem Fehlschlagen wird ausgeschlossen.<br />

Für alle<br />

Neugier nasen<br />

2. überarbeitete Auflage: August 2010<br />

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010<br />

Lektorat: Ilona Einwohlt, Weiterstadt<br />

Fotonachweis für den Innenteil am Ende des Buches<br />

Umschlaggestaltung: bilekjaeger<br />

Umschlagfotos: © photocase, Corbis<br />

Gestaltung der Innenseiten: KOKOM Kommunikation GmbH, Darmstadt<br />

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel GmbH, Ulm<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978-3-596-85389-2


I nhalt<br />

BIONIK – Erfindungen der Natur 9<br />

Was wir von der Natur lernen können 11<br />

<strong>Bionik</strong> – Biologie und Technik 15<br />

Gezielte Suche in der Natur oder: das »Top down«-Prinzip 18<br />

Von der Natur in die Technik oder: das »Bottom up«-Prinzip 28<br />

Ideenkiste Natur 38<br />

Der Traum vom Fliegen 40<br />

Am Anfang war der Vogel 42<br />

Entwicklung zu modernen Flugzeugen 50<br />

Warum ein Flugzeug fliegt 59<br />

<strong>Bionik</strong> im Aufwind 64<br />

Wie ein Fisch im Wasser 76<br />

Die Tricks der Schwimmspezialisten 78<br />

Auf die (Antriebs-)Technik kommt es an 86<br />

Oberflächen im Wasserstrom 102<br />

Wenn Roboter laufen lernen 112<br />

Roboter helfen Menschen 114<br />

Bionische Roboterarme 123<br />

Bionische Laufroboter 135<br />

Roboterfußball: sehen und gesehen werden 143<br />

Sensoren und Kommunikation 148<br />

Bionische Sensoren 158


Haften, kleben, reinigen 164<br />

Vielseitige Oberflächen 166<br />

Haltemechanismen von Insekten 178<br />

Sandsturmerprobte Wunderechse 184<br />

Fleißige Bienen sammeln im Dienst der Umwelt 192<br />

Die Wasserspinne – Wasserbad mit Taucherglocke 198<br />

Nie mehr waschen – die Tricks der Lotuspflanze 204<br />

Formstabile Wunderbauten 216<br />

Von der Natur inspiriert 219<br />

Der passende Baustoff für jedes Haus 221<br />

Stabile Gebäude nach Vorbild der Natur 227<br />

Eine Hülle für die Luft 234<br />

Stabilität durch Knicke 242<br />

Materialien im Verbund 250<br />

Verbundmaterial Pflanzenhalm 254<br />

Leicht, stark, optimiert 260<br />

Immer besser 262<br />

So stabil wie ein Grashalm 265<br />

So stark wie ein Baum 269<br />

Knochen – so leicht wie möglich und so fest wie nötig 281<br />

Bionisch optimierte Fahrzeugteile 288


Clevere Energiesparer 294<br />

Wie der Eisbär sich den Rücken wärmt 296<br />

Solarzellen – Strom aus der Sonne 308<br />

Energiesparende Klimaanlagen 314<br />

Wasser trinken wie der Nebeltrinker-Käfer 321<br />

Energiepolitik 328<br />

<strong>Bionik</strong> – unendlich viele Ideen 330<br />

Fortschritt durch Wissen 332<br />

Sprung in die Zukunft 342<br />

Anhang 344<br />

Register 346<br />

Bildnachweis 349<br />

Danksagung 350<br />

Infobox<br />

Experimente zum Mitmachen


<strong>Bionik</strong><br />

Erfindungen<br />

der<br />

Natur<br />

Im täglichen Kampf ums Überleben müssen<br />

sich Tiere und Pflanzen immer wieder ihrer<br />

veränderten Umgebung anpassen.<br />

Im Laufe der Evolution hat die Natur dabei<br />

erstaunliche Tricks entwickelt.


Der Webervogel baut kunstvolle<br />

stabile Nester aus Pflanzenhalmen.


Was wir von der Natur lernen können<br />

11<br />

Fliegen wie ein Vogel, schwimmen wie ein Fisch, klettern wie ein<br />

Gecko – es gibt viele Dinge, die uns Menschen an der Natur faszinieren<br />

und die wir selbst gerne können würden. <strong>Bionik</strong> bedeutet, vereinfacht<br />

gesagt, sich etwas von den Lebewesen abzuschauen und in<br />

die Technik zu übertragen.<br />

Du wirst in diesem Buch lesen, was die Flugzeugbauer vom Vogel gelernt<br />

haben, wieso es Roboter gibt, die Fußball spielen, und warum<br />

manche Pflanzen immer sauber bleiben.<br />

Das besondere Etwas<br />

Die Natur steht Pate für viele tolle Erfindungen. Es gibt viel Spannendes<br />

zu entdecken, denn Pflanzen und Tiere haben sich über viele<br />

Millionen Jahre entwickelt und dabei oft erstaunliche Eigenschaften<br />

herausgebildet. Schließlich kämpfen sie täglich um ihr Überleben und<br />

den Fortbestand ihrer Art. Deshalb sind auf der Erde unzählige Arten<br />

entstanden. Jede davon hat eine Besonderheit, die einen Vorteil gegenüber<br />

den anderen Arten bietet, zum Beispiel weil ein Tier durch<br />

einen bestimmten Körperbau weniger Energie zum Rennen, Fliegen<br />

oder Schwimmen braucht oder weil eine Pflanze mit nur wenig Baumaterial<br />

besonders stabil ist und sich deshalb gegen andere Arten<br />

durchsetzen kann.<br />

Auch wir wollen mit möglichst wenig Energie Auto fahren oder unsere<br />

Häuser stabil und aus günstigen Materialien bauen – daher untersuchen<br />

die <strong>Bionik</strong>er, was wir uns von Tieren und Pflanzen für unsere<br />

technischen Probleme abschauen können.


12<br />

Es war einmal das Urpferdchen<br />

Wie sich Lebewesen im Laufe der Evolution entwickeln und ihren Körperbau<br />

verändern, können wir zum Beispiel anhand mancher Fossilien erkennen.<br />

Das sind versteinerte Überreste von Pflanzen, Tierskeletten oder Gehäuseschalen,<br />

wie die der Ammoniten, die du im Kapitel »Wie ein Fisch im Wasser«<br />

kennenlernen wirst. Durch die Erforschung urzeitlicher Tiere können wir einen<br />

Blick in die Vergangenheit werfen und ihr Aussehen und ihren Entwicklungsstand<br />

mit den heutigen Arten vergleichen. Das hilft uns, die Evolution besser<br />

zu verstehen. Die Anpassungen an den Lebensraum können manchmal in<br />

den Skeletten der Lebewesen erkennbar werden. So ist es zum Beispiel auch<br />

beim sogenannten Urpferdchen im Vergleich zu unseren heutigen Pferden.<br />

Die Urpferdchen-Fossilien aus der Fossilienfundstätte Grube Messel bei<br />

Darmstadt sind etwa 47 Millionen Jahre alt. Zur damaligen Zeit herrschte bei<br />

uns ein anderes Klima als heute, weil es insgesamt auf der Erde wärmer war<br />

und Europa ein bisschen weiter südlich lag. So kam es, dass es zu Lebzeiten<br />

der Pferdchen einen tropischen Regenwald gab – hier im heutigen Deutschland<br />

lebten sogar Krokodile! Fossilien können wir in der Grube Messel finden,<br />

weil die Urpferdchen und andere Tiere und Pflanzen dort damals in einen tiefen<br />

See fielen oder darin lebten und teilweise erhalten sind. Die Urpferdchen<br />

waren nur etwa so groß wie Hunde. Dadurch, dass sie so klein waren, konnten<br />

sie sich gut im Regenwald bewegen und schnell verstecken, wenn Gefahr<br />

durch Raubtiere drohte. Schauen wir uns ihre Anpassung an einen veränderlichen<br />

Lebensraum am Beispiel der Füße an: Der Boden im Regenwald war<br />

weich, und die Urpferdchen hatten gut angepasste Füße. Diese bestanden nicht<br />

aus einem starken Zeh mit einem großen Huf, wie du es von heutigen Pferden<br />

kennst, sondern sie hatten mehrere kleine Zehen mit Mini-Hufen, die ihnen<br />

auf dem Waldboden guten Halt boten. Als das Klima sich langsam veränderte<br />

und es auf der Erde kühler wurde, verkleinerten sich die Regenwälder, und<br />

entsprechend wandelte sich der Lebensraum der Tiere nach und nach in offene<br />

Graslandschaften und Steppen.<br />

Das Pferdeskelett, vor allem die Beine und Füße, passte sich dem härteren<br />

Untergrund in den Steppen an. Während der Mittelzeh sich nach und nach verstärkte,<br />

bildeten sich die anderen Zehen zurück. Den Mittelzeh kennen wir beim<br />

heutigen Pferd als Fuß mit einem dicken Huf. Aus den kleinen, mehrzehigen<br />

Pferdchen entwickelten sich über viele Generationen hinweg langbeinige, auf<br />

starken Hufen laufende Pferde, wie du sie heute kennst.


Das Urpferdchen war an einen<br />

anderen Lebensraum angepasst<br />

als die heutigen Pferde.


14<br />

Veränderliche Bedingungen in der Natur<br />

Die Vorteile und Besonderheiten der Tier- und Pflanzenarten entwickeln<br />

sich seit vielen Millionen Jahren von Generation zu Generation<br />

immer ein wenig weiter. Denn die Tiere und Pflanzen passen sich<br />

an die Bedingungen ihres Lebensraumes an. Und dieser Lebensraum<br />

kann sich ständig verändern: Im Laufe der Erdgeschichte haben sich<br />

das Klima und damit die Lebensbedingungen in allen Regionen der<br />

Erde immer wieder gewandelt.<br />

So konnte aus einer üppigen Graslandschaft eine karge Steppe werden<br />

oder aus einem tropischen Regenwald eine kühle Region. Für Tiere<br />

und Pflanzen bedeutet dieser stetige Wechsel von Temperatur, Licht,<br />

Wasser und Nahrungsangebot, dass sie im Kampf um ihren Platz in<br />

der Nahrungskette immer neue Probleme lösen müssen. Ihre Körper<br />

und Fähigkeiten passen sich im Laufe der Evolution an die sich ändernden<br />

Lebensumstände an. Wenn ihnen das nicht gelingt, können<br />

sie unter Umständen aussterben wie die Dinosaurier.<br />

Von den Anpassungen der Pferde könnten wir zum Beispiel lernen,<br />

auf welche Art sich ein Roboter auf einem weichen oder auf einem<br />

harten Boden fortbewegen könnte – die unterschiedliche Stellung und<br />

die Anzahl der Zehen wären vielleicht die Lösung, damit der Roboter in<br />

weichem Boden nicht einsinkt, sondern stabil laufen kann. Kommt er<br />

in eine Gegend mit härterem Untergrund, könnte er seine Zehen zusammenklappen<br />

und einen einzigen festen Fuß benutzen! Das ist nur<br />

ein kleines Beispiel für etwas, was wir uns aus der Natur für die Technik<br />

abschauen könnten. Die Erforschung der Natur hilft manchmal,<br />

die Technik zu verbessern.


<strong>Bionik</strong> – Biologie und Technik<br />

15<br />

<strong>Bionik</strong> ist eine Wissenschaftsdisziplin, in der Biologen und Ingenieure<br />

Erkenntnisse aus der Natur nutzen, um technische Probleme zu lösen.<br />

Diese Zusammenarbeit zwischen Biologen und Technikern bringt<br />

auch das Wort <strong>Bionik</strong> zum Ausdruck: Es setzt sich aus den Begriffen<br />

Biologie und Technik zusammen. Biologie ist ein griechisches Wort<br />

(bios = Leben und logos = Lehre) und bedeutet übersetzt »Lehre vom<br />

Leben«. In dieser Naturwissenschaft geht es um Pflanzen, Tiere und<br />

den menschlichen Körper. Biologen erforschen, wie Lebewesen aufgebaut<br />

sind, wie sie zusammenleben, sich verhalten und warum sie so<br />

aussehen, wie sie aussehen. All diese Eigenschaften hängen oft sehr<br />

eng mit ihrem jeweiligen Lebensraum zusammen.<br />

Mit dem Begriff Technik bezeichnet man alle Geräte, Maschinen und<br />

Hilfsmittel, die wir Menschen bauen und gebaut haben, um uns das<br />

Leben leichter zu machen. Diese Erfindungen können groß sein wie<br />

Flugzeuge oder Autos oder eher klein wie spezielle Klebebänder oder<br />

Computerchips.<br />

In der <strong>Bionik</strong> arbeiten Biologen und Techniker eng zusammen. Die Biologen<br />

erforschen dabei, wie bestimmte Dinge in der Natur grundlegend<br />

funktionieren, und die Ingenieure haben die Aufgabe, dieses Wissen in<br />

der Technik anzuwenden. So können ganz neue Erfindungen gemacht<br />

oder ältere Ideen verbessert werden. Einer der wichtigsten <strong>Bionik</strong>er in<br />

Deutschland ist Professor Werner Nachtigall, der viele Jahre das deutsche<br />

<strong>Bionik</strong>-Kompetenz-Netzwerk BIOKON leitete. In diesem Netzwerk<br />

haben sich Wissenschaftler und Ingenieure zusammengeschlossen,<br />

um ihr Wissen miteinander zu teilen und gemeinsam zu arbeiten.


16<br />

RatNic ist ein bionischer Roboter, dessen Bewegungsapparat<br />

kletternden Tieren nachempfunden ist.<br />

Was der Mensch verbessern will<br />

Ingenieure und Erfinder haben ständig neue Ideen. Sie erfinden Dinge,<br />

die zwar nicht immer überlebensnotwendig, aber praktisch sind, wie<br />

Schuhe ohne Schnürsenkel, leichtere Fahrräder, schnellere Autos oder<br />

bunte Radiergummis. Sie verbessern unseren Alltag, unser Leben<br />

wird dadurch komfortabler und schöner. In manchen Fällen sind wir<br />

jedoch auch einfach abhängig von der Technik, wie bei der Zubereitung<br />

von Nahrung und in der Medizin. Dabei stellt sich uns immer wieder


17<br />

die schwierige Frage: Wie können wir Dinge produzieren, ohne dabei<br />

unnötig Rohstoffe oder Energie zu verschwenden Auch wir Menschen<br />

müssen uns ja an unsere Umwelt anpassen, oft ist es leider so, dass die<br />

Umwelt unter uns und unseren vielen technischen Erfindungen leidet.<br />

Das soll in Zukunft anders werden! Der Klimawandel und unsere<br />

knapper werdenden Rohstoffe stellen uns vor neue Herausforderungen.<br />

Um unser Überleben zu sichern und die unterschiedlichen Ökosysteme<br />

der Erde nachhaltig zu schützen, geht es in Forschung und<br />

Technik vor allem darum, neue Ideen und umweltfreundliche Lösungen<br />

für verschiedene technische Probleme zu finden. Kann man Autos<br />

bauen, die unsere Umwelt nicht verschmutzen Wie kann man Roboter<br />

so programmieren, dass sie uns im Alltag helfen Wie können Schiffe<br />

und Flugzeuge schnell, aber energiesparend Menschen und Waren<br />

transportieren Wie kann man Brücken und Häuser mit möglichst<br />

wenig Material bauen, ohne dass sie dabei an Stabilität verlieren<br />

Wie kann man Energieformen nutzen, die in großen Mengen vorhanden<br />

sind, zum Beispiel Wasser-, Wind- und Sonnenenergie<br />

Die <strong>Bionik</strong> gibt auf diese Fragen oft völlig überraschende wie faszinierende<br />

Antworten, auf die die Wissenschaftler und Ingenieure erst<br />

durch genaues Beobachten der Natur kommen. Alle Lebewesen mit<br />

ihren besonderen Eigenschaften können Vorbild für technische Erfindungen<br />

sein. Um den Tricks der Natur auf die Spur zu kommen, gibt es<br />

in der <strong>Bionik</strong> zwei Methoden: Entweder suchen die <strong>Bionik</strong>er gezielt in<br />

der Natur nach einer Lösung für ein Problem, oder sie entdecken zufällig<br />

etwas in der Natur, was so spannend ist, dass sie es in die Technik<br />

übertragen möchten. Schauen wir uns diese beiden Möglichkeiten<br />

genauer an. Was ist zum Beispiel bei der gezielten Suche nach Ideen<br />

aus der Natur bereits erfunden worden Und welche Erfindungen verdanken<br />

wir »Professor Zufall«


Gezielte Suche in der Natur oder: das »Top down«-Prinzip<br />

Sucht ein Ingenieur für ein technisches Problem ganz gezielt<br />

nach einer Lösung in der Natur, arbeitet er nach dem sogenannten<br />

»Top down«-Prinzip (englisch für »von oben nach<br />

unten«). Dafür muss er zunächst wissen, welche Lebewesen<br />

eine Lösung für ein Problem bieten, das seinem technischen<br />

Problem ähnelt. Er kann dazu einen Biologen um<br />

Rat fragen. Gemeinsam bilden sie dann ein <strong>Bionik</strong>-Team<br />

und suchen nach Ähnlichkeiten von Form, Funktion oder anderen<br />

Eigenschaften zwischen Natur und Technik – solche<br />

Ähnlichkeiten bezeichnet man als Analogien.<br />

Wenn du zum Beispiel ein Flugzeug bionisch verbessern möchtest,<br />

dann suchst du ein Vorbild aus der Natur, das ebenfalls fliegen kann,<br />

wie Storch, Möwe oder Flugsamen, und untersuchst, was du von diesem<br />

Tier oder der Pflanze lernen kannst. Das haben schon viele Erfinder<br />

getan, und du lernst in diesem Buch noch einige Beispiele für<br />

zum Teil halsbrecherische Flugapparate kennen, die nach natürlichen<br />

Vorbildern gebaut wurden.<br />

Wenn du ein <strong>Bionik</strong>er bist, nutzt es dir vermutlich wenig, einen Maulwurf<br />

anzuschauen, um die Flugeigenschaften deines Flugzeugs zu<br />

optimieren. Aber weil der Maulwurf hervorragend graben kann, sind<br />

seine Krallen vielleicht die perfekte Fundgrube für neue Formen von<br />

Baggerschaufeln. Der Entenfuß sieht der Schwimmflosse auf dem Titelbild<br />

ähnlich. Das bedeutet nicht, dass die Schwimmflosse erfunden<br />

wurde, weil es Entenfüße gibt, und Baggerschaufeln sind auch ohne<br />

Maulwurf-Unterstützung gebaut worden. Aber Entenfuß und Maul-


19<br />

wurfkralle haben ähnliche Formen und Funktionen wie die Schwimmflossen<br />

oder Baggerschaufeln und könnten deshalb als Vorbild für<br />

eine technische Verbesserung dienen.<br />

Die Maulwurfkralle<br />

könnte das Vorbild für<br />

eine verbesserte Baggerschaufel<br />

sein.


20<br />

Analogien zwischen Natur und Technik<br />

Maulwurfkralle und Baggerschaufel sind ein Analogienpaar, denn sie<br />

haben ähnliche Funktionen – beide eignen sich besonders gut zum Graben.<br />

Schwimmflossen ähneln den Füßen von Enten. Sie verdrängen<br />

durch ihre große Fläche viel Wasser, und Enten wie auch Taucher können<br />

deshalb schnell damit schwimmen. Der Tintenfisch hat an seinen<br />

Armen Saugnäpfe, mit denen er sich und seine Beute festhalten kann.<br />

Uns dienen Saugnäpfe aus Kunststoff dazu, Dinge auf glatten Oberflächen<br />

zu befestigen, wie der Handtuchhalter im Badezimmer. Vögel<br />

benutzen ihren Schnabel wie der Mensch seine Hand. Sie können damit<br />

ihre Nahrung festhalten oder Nüsse knacken. Und der Mensch benutzt<br />

Pinzetten, Zangen oder Nussknacker, die oft eine ganz ähnliche Form<br />

haben wie ein Schnabel.


21<br />

Das heißt natürlich nicht, dass der Nussknacker nur erfunden werden<br />

konnte, weil es Vögel gibt, die mit ihrem Schnabel Nüsse aufknacken<br />

können! Die Menschen haben sich zwar viele Ideen in der Natur geholt,<br />

aber die meisten Geräte haben sie wahrscheinlich entwickelt, ohne dabei<br />

viel über Tiere oder Pflanzen nachzudenken, und das wird sicher<br />

auch so bleiben. Die <strong>Bionik</strong> bietet zusätzliche Möglichkeiten, um die bestehende<br />

Technik zu verbessern oder auf ganz neue Ideen zu kommen.<br />

Ähnlichkeiten zwischen<br />

Natur und Technik<br />

nennt man Analogien.<br />

Von der Katzenpfote zum Autoreifen<br />

Ein Beispiel, bei dem die gezielte Suche nach einer Lösung im Naturreich<br />

erfolgreich war, ist die bionische Verbesserung eines Autoreifens der<br />

Firma Continental. Reifen sollen zwar einerseits besonders gut rollen,<br />

aber auch ihr Bremsverhalten ist überaus wichtig. Die Reifen-Ingenieure<br />

fragten ihre Kollegen aus der Biologie um Rat, um ein Lebewesen


22<br />

zu finden, das ihnen als Vorbild dienen könnte, weil es beide Eigenschaften<br />

vereint. Es sollte einerseits in seinen Bewegungen schnell<br />

und wendig sein, andererseits aber auch sehr gut abbremsen. Sie<br />

stellten fest, dass Katzen genau das besonders gut können. Aber wie<br />

machen die Katzen das<br />

Katzenpfoten sind ganz schmal, wenn die Katze rennt, und verbreitern<br />

sich, wenn sie stoppt – dadurch bekommen die Pfoten mehr Bremsfläche.<br />

Dieses Prinzip haben die Entwickler auf ihren Autoreifen übertragen.<br />

Der Reifen verbreitert sich jetzt stärker als herkömmliche<br />

Reifen, wenn das Fahrzeug bremst, dadurch wird der Bremsweg sehr<br />

viel kürzer. Eine solche Verbesserung nennt man übrigens auch Optimierung.<br />

Die Pfoten der Katze verbreitern sich, wenn sie abbremst. Das Prinzip der verbreiterten<br />

Bremsfläche haben Ingenieure auf den Katzenpfotenreifen übertragen.


23<br />

Streuer gesucht<br />

Ein weiteres Beispiel für das gezielte Suchen einer Lösung in der Natur<br />

führte zu einer Erfindung nach Vorbild einer Pflanze. Im Jahr 1920 hatte<br />

der österreichisch-ungarische Wissenschaftler Raoul Francé ein Problem,<br />

das ihn intensiv beschäftigte: Bei seinen Forschungen zur Fruchtbarkeit<br />

von Ackerböden wollte er Kleinstlebewesen, sogenannte Mikroorganismen,<br />

möglichst gleichmäßig auf einer Bodenprobe verteilen, um<br />

zu testen, wie sich diese auf die Ernte auswirken. Als Wissenschaftler<br />

untersuchte er das aber nicht auf dem Acker, sondern in seinem Labor.<br />

Er baute also den Acker im kleinen Maßstab nach.<br />

Im Gegensatz zur freien Natur, wo es mal regnet, hagelt oder wochenlange<br />

Trockenheit herrscht, kann man im Labor die Versuchsbedingungen<br />

immer gleich halten und dann gezielt bestimmte Bedingungen<br />

verändern. So kann man genau erforschen, welche Einflüsse die<br />

einzelnen Veränderungen, wie zum Beispiel die Regenmenge oder die<br />

Menge von Dünger, auf das Ergebnis haben.<br />

Francé überlegte sich, dass es sicher am besten funktionieren würde,<br />

die Mikroorganismen auszustreuen, um sie gleichmäßig auf der Bodenprobe<br />

zu verteilen. Er testete deshalb einige ihm bekannte Streugeräte<br />

wie einen Salzscheffel, einen Puderstreuer, wie ihn damals<br />

Ärzte benutzt haben, und einen Zerstäuber. Dabei stellte er sehr unzufrieden<br />

fest, dass sie ungleichmäßige Reihen oder Flecken streuten,<br />

nichts funktionierte wirklich gut. Also überlegte er gezielt – heute<br />

würde man sagen: nach dem »Top-down«-Prinzip –, welche Pflanzen<br />

und Tiere ein feines Pulver oder eine größere Menge kleiner Teilchen<br />

gut verstreuen können. Besonders interessant erschien ihm, wie verschiedene<br />

Pflanzen ihre Samen durch den Wind verteilen lassen.


24<br />

Die Ausbreitung von Pflanzensamen kann auf ganz verschiedene Arten<br />

stattfinden: Sie können einfach hinunterfallen wie Eicheln und<br />

Kastanien, sie können rotieren wie Ahornsamen oder segeln wie Flugsamen,<br />

deren Flugtechnik Menschen zu Fluggeräten inspiriert hat,<br />

wie du im Kapitel »Der Traum vom Fliegen« noch lesen wirst. Als perfektes<br />

Vorbild für seinen Streuer fand der Wissenschaftler schließlich<br />

die Mohnkapsel.<br />

In einer Mohnkapsel bilden sich kleine, schwarze Mohnsamen, wie du<br />

sie von deinem Mohnbrötchen kennst. Wenn sie reif sind, trocknet die<br />

Kapsel aus und öffnet kleine Löcher unter ihrem Deckel.<br />

Wird der Pflanzenstiel dann vom<br />

Wind hin- und herbewegt, fallen<br />

die Mohnkörnchen durch die kleinen<br />

Öffnungen am oberen Rand<br />

der Mohnkapsel hinaus und werden<br />

so in der Umgebung verteilt.<br />

Die Mohnkapsel<br />

verstreut ihre Samen<br />

durch die kleinen Öffnungen<br />

am Deckelrand.<br />

Raoul Francé kopierte die Bauweise<br />

der Mohnkapsel und entwickelte<br />

auf diese Weise einen neuartigen<br />

Streuer, mit dem er seinen<br />

Laborversuch erfolgreich durchführen<br />

konnte.<br />

Francé nannte diese Methode,<br />

sich gezielt Mechanismen aus der<br />

Natur für die Technik abzuschauen,<br />

»Biotechnik« und meldete den<br />

Mohnkapselstreuer zum Patent an.


25<br />

Streuversuche<br />

Baue Francés Versuch nach und teste, wie unterschiedliche Streuer ihren<br />

Inhalt verteilen. Der Wissenschaftler zeichnete sich dazu ein Raster<br />

auf und zählte, wie viele Körnchen jeweils in die Kästchen gefallen sind.<br />

Je besser der Streuer funktionierte, desto gleichmäßiger konnte er die<br />

Körnchen verteilen.<br />

Welche Arten von Streuern kennst du Ist jeder Streuer für jedes Streumittel<br />

geeignet Teste, wie sich Zucker, Gewürze, Glitter, Puder oder Sand aus<br />

einem Salzstreuer streuen lassen. Erfinde einen neuen Streuer für Puderzucker.<br />

Finde heraus, wie du zum Beispiel Zucker und Zimt in unterschiedlichen<br />

Mustern auf deinen Milchreis streuen kannst.<br />

Hinweis: Die Streuer, die du testest, musst du nach Gebrauch reinigen.<br />

Fülle nichts in Lebensmittelstreuer, was nicht essbar ist! Nicht zum Experimentieren<br />

geeignet sind Putzmittel zum Streuen, Dünger oder Ameisengift.<br />

Am besten besprichst du deinen Versuch vorher mit einem Erwachsenen.<br />

Streuexperiment<br />

von Raoul Francé


Die Mohnkapsel diente als Vorbild für einen Spezial-Streuer für Laborversuche.<br />

Seine Erfindung war damit das erste »bionische« Patent in Deutschland.<br />

Ein Vorbild für unseren heutigen Salzstreuer war der Mohnkapselstreuer<br />

wohl nicht, auch wenn dies manchmal vermutet wird. Unser<br />

Salzstreuer hat nämlich die Löcher oben im Deckel und nicht auf der<br />

Seite, damit das Salz zielgenau auf das Frühstücksei gestreut werden<br />

kann und nicht weitflächig verteilt wird, wie es Francés Ziel war.<br />

Fortschritt durch Dokumentation<br />

In der Wissenschaft ist es wichtig, sich Dinge, die man herausgefunden hat,<br />

für die nächsten Versuche zu merken. Auch wenn man sein Wissen anderen<br />

Menschen zur Verfügung stellen will, ist es hilfreich, seine Versuchsergebnisse<br />

genau festzuhalten, also zu zeichnen oder zu beschreiben.<br />

Du kannst beschreiben, welche deiner Streuer sich am besten eignen und<br />

welche Probleme bei deinen Versuchen auftraten. Wie wichtig es ist, dir genau<br />

aufzuschreiben, was du wie erforscht und herausgefunden hast, lässt<br />

sich an einem einfachen Beispiel erklären: Wenn du einen sehr leckeren<br />

Kuchen backst und aufisst, kannst du natürlich hinterher sagen, dass du<br />

einen wirklich leckeren Kuchen gemacht hast, aber beweisen kannst du es<br />

nicht. Wenn du nicht aufschreibst, ob du zwei oder zehn Eier genommen


27<br />

hast, und was du damit gemacht hast, kannst du den Kuchen vielleicht nicht<br />

noch einmal backen. Beim Backrezept ist wichtig, wie viel Gramm Mehl,<br />

Zucker, Butter und Nüsse du genommen und in welcher Reihenfolge du die<br />

Zutaten zusammengerührt hast.<br />

Genauso ist es in der Wissenschaft: Um festzuhalten, was du untersucht hast<br />

und was dabei herausgekommen ist, musst du deine Versuchsergebnisse<br />

aufschreiben. Das Dokumentieren hat den Vorteil, dass du nichts vergisst<br />

und andere einfach nachlesen können, was du zusammengerührt hast, ohne<br />

dass du es ihnen erklären musst.<br />

In Wissenschaft und Forschung sind nur auf diese Weise die Ergebnisse für<br />

andere Wissenschaftler und für Ingenieure nachvollziehbar. Die Experimente<br />

können dann von dir und anderen weiterentwickelt werden und die Grundlage<br />

für neue Erfindungen und Entdeckungen sein.<br />

Echte Forscher befolgen allerdings nicht nur vorgegebene Versuchsanleitungen,<br />

sondern sind immer auf der Suche nach neuen Fragen, denen sie<br />

nachgehen können. Sie probieren in der gebotenen Vosicht die verrücktesten<br />

Sachen aus, weil sie so neugierig sind und wissen wollen, wie alles Mögliche<br />

funktioniert. Und genau dadurch entsteht technischer Fortschritt!<br />

Besonders gut ist es, wenn du dir ein Forscherheft anlegst, in dem du deine<br />

Experimente, Ergebnisse und Ideen für weitere Forschungen zusammenträgst.


Von der Natur in die Technik oder: das »Bottom up«-Prinzip<br />

Katzenpfotenreifen und Mohnkapselstreuer sind Beispiele für das<br />

»Top down«-Prinzip, die gezielte Suche nach Lösungen für ein Problem.<br />

Eine zweite Methode, mit der <strong>Bionik</strong>er arbeiten, nennt man<br />

»Bottom up«-Prinzip (englisch für »von unten nach oben«). So wird<br />

die Entwicklung einer Erfindung bezeichnet, die darauf beruht, dass<br />

ein Biologe etwas herausfindet, was in der Technik verwendet werden<br />

könnte. Dazu wird das biologische Prinzip zuerst gründlich erforscht<br />

und dann in Zusammenarbeit mit Ingenieuren auf eine technische<br />

Fragestellung übertragen. Ein Beispiel dafür ist der sehr<br />

bekannte Lotus-Effekt.<br />

Saubere Pflanzen<br />

Der Grund für die stets saubere Oberfläche der Lotusblätter wurde<br />

von Biologen der Universität Bonn entdeckt. Die Blätter und Blüten<br />

ihrer Pflanzensammlung mussten mit Wasser vom Staub befreit<br />

werden, weil die Forscher deren Oberflächen unter besonders starken<br />

Mikroskopen untersuchen wollten. Dabei machten sie eine Entdeckung,<br />

die weitreichende Folgen hatte: Sie stellten fest, dass es Pflanzen<br />

gibt, die wie von selbst sauber werden. Von ihren Blättern scheint der<br />

Schmutz zu »verschwinden«, kaum dass sie mit einem Tropfen Wasser<br />

in Berührung kommen! Das weckte natürlich das Interesse der<br />

Wissenschaftler, und nach genauer Untersuchung fanden sie heraus,<br />

warum manche Blätter diesen Selbstreinigungseffekt haben und andere<br />

nicht. Das hängt mit den speziellen Eigenschaften dieser Blattoberflächen<br />

zusammen, die du im Kapitel »Haften, kleben, reinigen«<br />

noch genauer kennenlernen wirst.


29<br />

Manche Blattoberflächen<br />

werden nicht nass, das<br />

Wasser perlt sofort ab und<br />

reinigt das Blatt dabei von<br />

Verschmutzungen.


30<br />

Mit ihrer Beobachtung wandten sich die Wissenschaftler an verschiedene<br />

Firmen. Sie hatten die Vermutung, dass ein solcher Selbstreinigungseffekt<br />

auch für uns Menschen nützlich sein könnte. Stell dir<br />

vor, du hättest ein sich selbst reinigendes T-Shirt! Oder Schuhe, die<br />

du nie putzen musst, das wäre doch toll! Deswegen suchten die Biologen<br />

jemanden, der ein technisches Produkt mit ihnen entwickeln<br />

und herstellen wollte. Zuerst glaubte niemand recht an diese Idee,<br />

aber dann fand das Forscherteam einen Hersteller. Inzwischen gibt es<br />

zwar immer noch keine Kleidung, die sich von ganz alleine reinigt, aber<br />

Hunderttausende von Häusern, die mit einer selbstreinigenden Farbe<br />

gestrichen sind. Doch davon später mehr.<br />

Interessante Haken an der Sache: die Klette<br />

Ein weiteres Beispiel für eine »Bottom-up«-Erfindung ist der Klettverschluss,<br />

den du bestimmt von deinen Schuhen oder Taschen kennst.<br />

Das Vorbild dafür stammt, wie könnte es anders sein, aus der Natur.<br />

Es ist nicht schwer zu erraten: Das natürliche Vorbild für den Klettverschluss<br />

war die Klette. Die Klette bildet kleine, stachelige Bälle,<br />

die sich im Fell von Tieren oder auch an unseren Kleidern festhaken,<br />

wenn man die Pflanze streift. Doch warum klettet sie sich fest Sie verbreitet<br />

so ihre Samen in der Umgebung, damit viele neue Klettpflanzen<br />

wachsen können. Es ist eine ziemlich fitzelige Angelegenheit, diese<br />

Klettfrüchte wieder zu entfernen, und meistens kletten sie sich an der<br />

nächsten haarigen Oberfläche sofort wieder fest. Genau diese Eigenschaft<br />

sorgte 1941 für die geniale Erfindung des Klettverschlusses.<br />

Der Schweizer Ingenieur George de Mestral war vollkommen technikbegeistert<br />

und außerdem ein leidenschaftlicher Jäger. Er hatte einen<br />

Hund, der ihn auf seinen Streifzügen stets begleitete. Nach den Spaziergängen<br />

musste er jedes Mal die Klettfrüchte von seinen Kleidern


31<br />

Haken einer Klettfrucht<br />

Fruchtstände der Klette im Hundefell


32<br />

und aus dem Fell seines Hundes entfernen. Weil de Mestral ein neugieriger<br />

Tüftler und Erfinder war, untersuchte er die Kletten genauer.<br />

Er wollte wissen, warum Kletten so hartnäckig haften können.<br />

Er fand die Antwort unter dem Mikroskop: Die Kletten haben kleine,<br />

elastische Widerhaken, die sich an haarigen Strukturen gut festhalten<br />

können. Zieht man an ihnen, biegen sich die kleinen Haken auf und<br />

nehmen danach wieder ihre ursprüngliche Form an. Oft reißen die Haken<br />

beim Ablösen auch einfach ab. Glücklicherweise hat eine Klette<br />

genügend Haken, um sich immer wieder neu festzuhaken.<br />

Mikroskopaufnahme Klettverschluss


33<br />

Vom Hundefell zum Klettverschluss<br />

Diese Eigenschaft der Klette faszinierte de Mestral dermaßen, dass er<br />

sie in die Technik übertragen und einen textilen Verschluss nach dem<br />

Prinzip der Klette entwickeln wollte. Der Verschluss sollte aus Haken<br />

und Schlaufen bestehen, die sich beim Aufeinanderlegen ineinander<br />

verhaken, sich aber auch wieder voneinander lösen können. Er besprach<br />

diese Idee mit vielen Experten für Textilien, doch alle schüttelten<br />

die Köpfe über sein Anliegen, denn so einen seltsamen Stoff hatten<br />

sie noch nie gewebt. Nach langem Suchen fand de Mestral endlich einen<br />

Weber, der an seinem Webstuhl die ersten Klettverschlussstücke<br />

Von der Erfindung zum Patent<br />

Wenn jemand eine Erfindung gemacht hat, kann er sie beim Patentamt in<br />

München als Patent anmelden. Damit kann er dafür sorgen, dass er zwanzig<br />

Jahre lang entscheiden darf, was mit seiner Idee passiert und wer damit Geld<br />

verdienen darf. Eine Patentanmeldung ist ziemlich kompliziert und teuer. Die<br />

Erfindung kommt aber auf diesem Wege aus dem Labor oder der Werkstatt<br />

in die Öffentlichkeit. Jeder kann die Beschreibungen lesen, und sie können<br />

ab diesem Zeitpunkt anderen als Grundlage für weitere Forschungen und<br />

Erfindungen dienen. Beim Patentamt findet man also auch Informationen<br />

darüber, welche Dinge andere Leute erfunden haben.<br />

Wenn du eine Erfindung machst und irgendwann zum Patent anmelden<br />

möchtest, hast du eine ganze Reihe von Aufgaben vor dir. Zuerst musst du<br />

natürlich eine gute Idee haben, aber das wird für dich nach dem Lesen dieses<br />

Buches wahrscheinlich kein Problem sein! Die Idee zu deiner Erfindung<br />

kannst du aufschreiben, aufmalen oder ein kleines Modell davon bauen. Wer<br />

sein Patent vermarkten will, braucht meistens zuerst ein erstes Probestück<br />

von seiner Erfindung, einen sogenannten Prototyp. Damit kann er auf die<br />

Suche nach jemandem gehen, der das neue Produkt herstellt und verkauft.<br />

George de Mestral meldete sein erstes Patent übrigens schon im Alter von<br />

12 Jahren an, er hatte ein neuartiges Modellflugzeug erfunden.


34<br />

anfertigte. Nach dem Vorbild der Natur war ein neuartiger Verschluss<br />

entstanden, der sich leicht und schnell öffnen und schließen ließ – und<br />

das beliebig oft.<br />

George de Mestral meldete seine Erfindung zum Patent an und gab<br />

ihr den Namen Velcro ® (Velour = franz. Schlaufe, Flausch oder Samt;<br />

Crochet = Haken). Diese Firma gibt es noch heute, aber der Klettverschluss<br />

wird inzwischen auch von anderen Firmen hergestellt.<br />

Klettverschluss im Einsatz<br />

Zurück zum Klettverschluss: Schau ihn dir doch mal genauer an. Wenn<br />

du die beiden Teile, die aneinander festkletten, untersuchst, stellst du<br />

fest, dass sie sich unterschiedlich anfühlen. Eine Seite ist flauschig<br />

wie das Hundefell, die andere Seite eher rau. Diese raue Seite ist über<br />

und über mit vielen kleinen Haken besetzt, die den Widerhaken der<br />

Klette nachempfunden sind.<br />

Die Haken verfangen sich beim Zusammenlegen der beiden Verschlusshälften<br />

in dem flauschigen Gewebe. Auf diese Weise hält der<br />

Klettverschluss zusammen. Die Haken sind, wie bei der Klettfrucht,<br />

elastisch und werden beim Öffnen des Verschlusses geradegezogen,<br />

sie lassen also los. Danach nehmen sie wieder ihre ursprüngliche<br />

Form an. Manchmal reißen beim Öffnen des Verschlusses auch einige<br />

der vielen Flauschfäden ab.<br />

Das Tolle am Klettverschluss ist, dass man damit eine ziemlich stabile<br />

Verbindung ganz ohne Klebstoff oder Schrauben herstellen kann,<br />

die sich unzählige Male trennen und wieder verschließen lässt – manche<br />

Hersteller werben damit, dass man ihre Klettverschlüsse bis zu<br />

10.000-mal benutzen kann, ohne dass sie kaputtgehen.


35<br />

Wie klettig ist ein Klettverschluss<br />

Normalerweise ziehst du den Klettverschluss beim Öffnen an einer Ecke<br />

nach oben. So werden die Haken nacheinander aus dem Flauschgewebe gelöst.<br />

Was aber passiert, wenn du versuchst, den Verschluss auf eine andere<br />

Weise zu öffnen Besorge dir ein Stück Klettverschluss (zum Beispiel aus<br />

dem Baumarkt oder von einem alten Schuh) und versuche herauszufinden,<br />

welche Kräfte so eine Klettverbindung aushalten kann.<br />

(1) Halte eine Seite des Klettverschlusses<br />

fest oder befestige sie<br />

auf einem Holzbrett.<br />

(2) Öffne den Verschluss, indem du<br />

eine Seite an der Kante löst.<br />

(3) Ziehe den Verschluss in der Mitte der<br />

Haftfläche auseinander und öffne den<br />

Verschluss auf diese Weise. Kostet das<br />

mehr oder weniger Kraft<br />

(4) Ziehe die Oberseite des Verschlusses<br />

zur Seite und teste, wie viel Kraft du<br />

brauchst, um den Verschluss zu lösen.<br />

Wie viel Gewicht kannst du an den Klettverschluss hängen,<br />

bevor er sich öffnet<br />

Der Klettverschluss lässt sich leicht öffnen, wenn man an bestimmten Stellen<br />

und in bestimmte Richtungen zieht. Die Wirkung der Haftverbindung ist also<br />

abhängig von der Zugrichtung.


36<br />

Der Klettverschluss wurde zuerst nur für industrielle Anwendungen<br />

und in der Raumfahrt genutzt. Astronauten müssen zum Beispiel<br />

dicke Handschuhe tragen, wenn sie sich außerhalb ihres Raumschiffes<br />

bewegen, und können deshalb nur schwer kleine Knöpfe oder<br />

Reißverschlüsse öffnen. Es ist bei einem Weltraumspaziergang also<br />

gar nicht so einfach, Werkzeuge aus einer Tasche zu nehmen. Hier<br />

kann der Klettverschluss sehr hilfreich sein, weil man nur an der richtigen<br />

Stelle ziehen muss, um ihn zu öffnen, oder daraufdrücken, um<br />

ihn zu schließen. In Raumschiffen sind die meisten Gegenstände aus<br />

hitzebeständigen Materialien, die notfalls einem Feuer standhalten<br />

können. Deshalb wurden die Raumfahrt-Klettverschlüsse erst aus<br />

Klettverschlüsse findest du zum Beispiel an Kleidung, Schuhen und Taschen.


37<br />

Metall und später aus Glasfaser hergestellt. Auch Feuerwehrleute und<br />

Rennfahrer tragen an ihren Anzügen nichtbrennbare Klettverschlüsse<br />

aus Kunststoff, damit sie die Kleidung so schnell wie möglich an- und<br />

ausziehen können.<br />

Heute ist der Klettverschluss überall zu finden: Taschen, Schuhe und<br />

Spielgeräte sind mit diesem bionischen Verschlusssystem versehen.<br />

An vielen Kleidungsstücken hat der aufnähbare Klettverschluss mittlerweile<br />

Knöpfe und Reißverschlüsse ersetzt. Klettbänder werden<br />

zum Bündeln von Kabeln, zum Verschließen von Bandagen und sogar<br />

bei Babywindeln genutzt.<br />

Manche Klettverschlüsse werden extra so hergestellt, dass die Haken<br />

und Ösen sich zwar schnell ineinander verhaken, jedoch kaum wieder<br />

voneinander lösen lassen. Diese Verschlüsse werden in der Automobilindustrie<br />

genutzt, um die Polster für einen Autositz möglichst<br />

schnell, aber zugleich sehr fest in ein Auto montieren zu können.<br />

Doch der Klettverschluss hat auch Nachteile: Wenn er verfusselt oder<br />

schmutzig wird, funktioniert er nicht mehr gut. Außerdem macht der<br />

Verschluss ein ganz typisches Geräusch, das du sicher kennst, es<br />

macht »raaatsch«, wenn du ihn öffnest. In manchen Ländern wird er<br />

deshalb sogar Ritschratsch genannt. Dieses Geräusch ist ein Grund,<br />

warum der Klettverschluss nicht in allen Fällen verwendet werden<br />

kann: Ein Verhaltensforscher, der durch den Dschungel schleicht und<br />

scheue Tiere beobachten möchte, würde die Tiere ziemlich schnell<br />

verscheuchen, wenn er einen Klettverschluss öffnen müsste, um sein<br />

Fernglas aus der Tasche zu holen.<br />

Welche anderen Haftmechanismen aus der Natur die <strong>Bionik</strong>er untersucht<br />

haben und wie wir sie zukünftig anwenden können, erfährst du<br />

im Kapitel »Haften, kleben, reinigen«.


Ideenkiste Natur<br />

Viele bionische Anwendungen sind für dich längst selbstverständlich<br />

geworden, wie das erste Kapitel zeigt. Heute steigst du zum Beispiel<br />

ohne nachzudenken in ein Flugzeug, dabei haben Menschen das Fliegen<br />

vor nicht allzu langer Zeit erst mühsam »gelernt« und nach dem<br />

Vorbild von Vogelflügeln verbessert. Ähnlich verhält es sich mit dem<br />

Schiffsbau. Auch hier gibt es viele Verbesserungsmöglichkeiten nach<br />

dem Vorbild der Natur.<br />

Das wesentliche Ziel dabei ist, Formen, Antriebe und Oberflächen aus<br />

dem Tier- und Pflanzenreich auf Schiffe und U-Boote zu übertragen,<br />

um mit weniger Energie mehr Leistung zu erzielen. Roboter sollen<br />

zukünftig selbständig Aufgaben lösen und Arbeiten übernehmen, die<br />

für die Menschen gefährlich oder schwierig sind. Vorbild für die bionischen<br />

Roboter können Fortbewegungsweisen und Körperbau von<br />

Tieren sein.<br />

Besondere Oberflächen an Insekten- und Reptilienfüßen sorgen für<br />

neuartige Möglichkeiten, Klebefilme herzustellen, die Tricks bestimmter<br />

Bienen können sogar bei Ölkatastrophen helfen, die Ölteppiche<br />

vom Meer aufzusaugen. Die Stabilität von Pflanzen und Muschelschalen<br />

wird erforscht, um haltbare oder besonders stabile Materialien zu<br />

entwickeln, die gleichzeitig besonders leicht sind. Bäume und Knochen<br />

wachsen nach bestimmten Prinzipien, die unter anderem im<br />

Fahrzeugbau zu Gewichtseinsparungen genutzt werden können – ein<br />

wirksames Mittel, um Energie in Form von Treibstoffen zu sparen und<br />

Bauteile haltbarer zu machen.<br />

Sonnenenergie in Strom umzuwandeln und sich dabei an der Energieumwandlung<br />

der Pflanzen zu orientieren oder Gebäude natürlich zu


39<br />

belüften, wie es in Tierbauten geschieht, sind weitere Ideen, an denen<br />

die <strong>Bionik</strong>er aktuell arbeiten. Im letzten Kapitel dieses Buches erfährst<br />

du, warum Spinnenseide so interessant für die Forscher ist<br />

und was sie daraus zukünftig herstellen wollen.<br />

In diesem Buch lernst du die genialsten Erfindungen der Natur kennen<br />

und findest viele Möglichkeiten für Versuche, Forschungen und eigene<br />

Erfindungen. Also genau das Richtige für Neugiernasen!


Traum<br />

Der<br />

Fliegen<br />

vom


Fliegen wie ein Vogel – davon<br />

haben Menschen schon immer<br />

geträumt. In der Natur gibt<br />

es die unterschiedlichsten<br />

Flugtechniken, die Ingenieure<br />

und <strong>Bionik</strong>er zu immer neuen<br />

Fluggeräten inspirieren.


Am Anfang war der Vogel<br />

Wie ein Vogel durch die Luft fliegen zu können, das war schon immer<br />

ein Traum der Menschen: Große Entfernungen leicht und mühelos<br />

überwinden, die Welt von oben betrachten, frei und schwerelos zu<br />

sein – hast du dir nicht auch schon einmal vorgestellt, wie es wäre,<br />

wenn du einfach losfliegen könntest<br />

Aber können Vögel wirklich mühelos fliegen In diesem Kapitel erfährst<br />

du, welche Ideen Erfinder und Ingenieure hatten und haben,<br />

um Flugzeuge und erstaunliche Flugapparate nach Vorbildern aus<br />

der Natur zu bauen. Du wirst Tiere und Pflanzen kennenlernen, die<br />

dafür Modell standen, wirst lesen, welche Ideen sich bis heute durchgesetzt<br />

haben und welche Forschungsprojekte unsere Zukunft mitbestimmen<br />

könnten. Denn eins ist sicher: Wir Menschen haben bis<br />

heute nur einen Bruchteil der erstaunlich vielfältigen wie komplizierten<br />

Flugtechniken aus der Natur verstanden.<br />

Leonardo da Vinci<br />

Ein Mann, den das Beobachten der Natur besonders faszinierte, war<br />

der Italiener Leonardo da Vinci. »Da Vinci« ist kein richtiger Nachname,<br />

sondern bedeutet »aus Vinci«, denn dort wurde Leonardo 1452, also<br />

vor über 500 Jahren, geboren. Leonardo da Vinci war ein unglaublich<br />

neugieriger Mensch. Er war Naturforscher, Maler, Erfinder, Architekt,<br />

Künstler und interessierte sich sehr für Medizin. Da er so viele unterschiedliche<br />

Interessen und Talente hatte, bezeichnen wir ihn heute als<br />

ein Universalgenie. Das bedeutet: Er war einfach in allem gut!<br />

Leonardo untersuchte die Dinge, indem er sie zeichnete und malte, das<br />

wissen wir aus unzähligen Zeichnungen, die bis heute erhalten sind.


Leonardo da Vinci studierte schon vor mehr als 500 Jahren den menschlichen Bewegungsapparat.

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