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Aggression und Gewalt gegen Kinder, unter Kindern und Jugendlichen

Virtuelle Gewalt - reale Gefahr? Emotionale Verödung - Missachtung der Menschenwürde. Psychopathologie mangelnder Sozialisationserfahrung. Sexualisierte Gewalt. Präventive Möglichkeiten.

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Fortbildung<br />

<strong>Aggression</strong> <strong>und</strong> <strong>Gewalt</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Kinder</strong>,<br />

<strong>unter</strong> <strong>Kinder</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendlichen</strong><br />

Von Dr. Michael F. R. Popovic´, Eppstein<br />

Schlagen wir die Zeitung auf, schalten<br />

wir den Fernseher an, oder zappen gar,<br />

so stoßen wir täglich auf <strong>unter</strong>schiedliche<br />

Formen der Darstellung von <strong>Gewalt</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Aggression</strong>, sex and crime,<br />

Krieg <strong>und</strong> Horror, im Kleinen wie im<br />

Großen. Schon wir, die wir die Rolle der<br />

Elterngeneration verantwortlich wahrzunehmen<br />

haben, gewinnen den Eindruck,<br />

als seien Schreckensmeldungen,<br />

Angst verursachende Darstellungen von<br />

ausgeübter <strong>Gewalt</strong> <strong>und</strong> <strong>Aggression</strong> oder<br />

Berichte darüber all<strong>gegen</strong>wärtig. In uns<br />

Erwachsenen, <strong>und</strong> im Vergleich zu unseren<br />

<strong>Kinder</strong>n im Leben Erfahrenen,<br />

entsteht das Gefühl, als sei die Ausübung<br />

von <strong>Gewalt</strong> <strong>und</strong> Macht zu einem<br />

bestimmenden Faktor der Lebenswirklichkeit<br />

geworden. Die Globalisierung<br />

der Informationsgesellschaft mit den<br />

audiovisuellen Medien <strong>und</strong> dem nahezu<br />

grenzenlosen Surfen im Internet tragen<br />

dazu bei, daß die Räume, in denen wir<br />

uns bewegen, verschwimmen. Die Wirklichkeit,<br />

das tatsächliche Erfahren <strong>und</strong><br />

Begreifen, findet fließende Übergänge<br />

zu den virtuellen Welten von Telematikträumen<br />

<strong>und</strong> -traumen .<br />

Wie sollen sich unsere <strong>Kinder</strong> bei<br />

diesen sich verwischenden oder aufgehobenen<br />

Grenzen orientieren<br />

Virtuelle <strong>Gewalt</strong> –<br />

reale Gefahr <br />

In einer Initiative <strong>gegen</strong> <strong>Gewalt</strong>darstellungen<br />

in den Medien hat die “Vereinigung<br />

leitender <strong>Kinder</strong>ärzte <strong>und</strong> <strong>Kinder</strong>chirurgen<br />

Deutschlands” 1998 ein Verbot<br />

von detaillierten <strong>Gewalt</strong>- <strong>und</strong> Tötungsdarstellungen<br />

im Fernsehen gefordert.<br />

Es vergehe kein Tag, “ohne daß<br />

brutal zusammengeschlagen, erstochen<br />

<strong>und</strong> erschossen wird <strong>und</strong> die <strong>Kinder</strong><br />

dies dank ständig verbesserter Aufnahmetechnik<br />

aus nächster Nähe, vergrößert<br />

<strong>und</strong> farbig miterleben können. Die<br />

“<strong>Kinder</strong>schutz-Zentren in Deutschland”<br />

erklärten am 10.12.1999: “<strong>Kinder</strong>schutz<br />

beginnt am Computer”, da unbeaufsichtigtes<br />

Surfen in Internet zur<br />

Verunsicherung <strong>und</strong> Ängstigung führen<br />

könne. Gefährdend sei auch die<br />

<strong>Gewalt</strong>verherrlichung <strong>und</strong> <strong>Kinder</strong>pornographie.<br />

Eigentlich müßte es doch hinlänglich<br />

bekannt sein, daß solche (virtuelle) Darstellungen<br />

nicht nur Angst machen, verunsichern<br />

<strong>und</strong> Ekel erregen, sondern<br />

daß auch Nachahmungseffekte ausgelöst<br />

werden. Wesentlich ist, wie unsere<br />

Gesellschaft den <strong>Kinder</strong>n <strong>gegen</strong>übertritt:<br />

<strong>Kinder</strong>, die täglich <strong>Gewalt</strong> im Elternhaus<br />

<strong>und</strong> in den Medien erleben,<br />

verstehen es nur schwer, daß sie ihre<br />

Probleme auch anders lösen können.<br />

Bereits Albert Schweitzer kritisierte<br />

in “Kultur <strong>und</strong> Ethik” eine sich abzeichnende<br />

Divergenz der Entwicklung zwischen<br />

kulturellem <strong>und</strong> technologischen<br />

Fortschritt. Die kulturelle Weiterentwicklung<br />

hinke dem technologischen<br />

Wandel hinterher <strong>und</strong> sei nicht mehr in<br />

der Lage, mit diesem adäquat umzugehen.<br />

Emotionale Verödung –<br />

Mißachtung der Menschenwürde<br />

Schranken- <strong>und</strong> orientierungslos, die<br />

Menschenwürde nicht selten mißachtend,<br />

ist nicht nur unsere sich wahnsinnig<br />

dynamisch entwickelnde Informations-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsgesellschaft.<br />

Wir selbst sind es, die dazu beitragen,<br />

daß alles möglich ist oder erscheint, was<br />

man sich wünscht, wenn man nur über<br />

das nötige Kleingeld verfügt.<br />

Und damit sind wir bei einem weiteren<br />

Problem, der “neuen Armut”. Die<br />

zunehmende <strong>und</strong> zu Recht als bedrohlich<br />

empf<strong>und</strong>ene Arbeitslosigkeit, die<br />

die Elterngeneration bedrückt, entwikkelt<br />

sich für nicht wenige Jugendliche zu<br />

einer bedrohlichen Zukunft ohne Perspektive,<br />

voller Neid, Angst <strong>und</strong> ohne<br />

positiv besetzte Vorbilder. Ich bin weit<br />

entfernt davon, ein neues Bild des Schrekkens<br />

den vorhandenen hinzuzufügen.<br />

Im Gegenteil: Um zu verstehen, was um<br />

uns herum vorgeht, ist es erforderlich,<br />

daß wir erkennen, was die Ursachen für<br />

das sind, was wir beklagen: <strong>Aggression</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Gewalt</strong>. Wir können nur dann etwas<br />

da<strong>gegen</strong> <strong>unter</strong>nehmen, wenn wir<br />

bei uns selbst, bei den Nachbarn <strong>und</strong> in<br />

der Gesellschaft die Verhaltensweisen<br />

herausfinden, die die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Entstehung von Angst, Kränkung <strong>und</strong><br />

Verletzung sind.<br />

Auch Daniel Goleman sieht in der<br />

zunehmenden Verödung emotionaler<br />

Intelligenz gerade bei <strong>Kinder</strong>n <strong>und</strong> <strong>Jugendlichen</strong><br />

ein wachsendes Potential an<br />

<strong>Gewalt</strong>bereitschaft, das aus einer mangelnden<br />

Fähigkeit zum Umgang mit Frustrationen<br />

resultiert. Insbesondere die<br />

Vernachlässigung von <strong>Kinder</strong>n durch<br />

ihre Eltern in den besonders prägenden<br />

ersten Entwicklungsjahren ist als Ursache<br />

für dieses supranational flächendeckende,<br />

psychopathologische Phänomen<br />

wesentlich.<br />

Psychopathologie mangelnder<br />

Sozialisationserfahrung<br />

Die zunehmende Anwendung von <strong>Gewalt</strong><br />

bei sich entwickelnden <strong>und</strong> bestehenden<br />

Problemen innerhalb <strong>und</strong> außerhalb<br />

der Familie hat aber neben der<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> mangelnden Perspektive,<br />

Vernachlässigung <strong>und</strong> Mißhandlung<br />

der <strong>Kinder</strong> durch die Eltern,<br />

der Verhältnisse in sozial schwierigen<br />

(Problem-)Familien auch andere Ursachen<br />

wie Lehrerstellenmangel, mangeln-<br />

Hessisches Ärzteblatt 8/2000 337


Fortbildung<br />

der Ausbildung von ErzieherInnen in<br />

Konfliktlösungsstrategien, ohne daß diese<br />

Aufzählung vollständig wäre.<br />

Eltern müssen wieder lernen Probleme<br />

zu bewältigen, selbst positives Beispiel<br />

zu geben <strong>und</strong> <strong>Kinder</strong>n Grenzen zu<br />

setzen. Auffällig gewordene <strong>Kinder</strong> kommen<br />

überdurchschnittlich häufig aus<br />

Problemfamilien, die auf Gr<strong>und</strong> eigener<br />

Lebens- <strong>und</strong> Sozialisationserfahrung<br />

soziale Ausgrenzung <strong>und</strong> persönliche<br />

Perspektivlosigkeit erlebt haben. Gerade<br />

diese Familien vermeiden Erziehungsverantwortung,<br />

entwickeln eine unbewußte<br />

Solidarität mit dem Fehlverhalten<br />

ihrer <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> verteidigen sie in<br />

Situationen, in denen statt dessen harte<br />

Erziehungsarbeit nötig wäre.<br />

<strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche, die keine<br />

Bindung, kein Vertrauen <strong>und</strong> keine<br />

Zuneigung bekommen, haben es schwerer,<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Erfolge zu erzielen,<br />

sie haben eine geringere Frustrationstoleranz.<br />

Viele wollen aus diesem<br />

Kreislauf ausbrechen <strong>und</strong> versuchen<br />

durch Grenzüberschreitungen auf sich<br />

aufmerksam zu machen.<br />

“Täter sind meist Opfer von gestern”,<br />

so schrieb die Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung im Bericht über die Pressekonferenz<br />

in der Landesärztekammer Hessen<br />

am 9.7.1998 anläßlich der Vorstellung<br />

des hessischen Leitfadens “<strong>Gewalt</strong><br />

<strong>gegen</strong> <strong>Kinder</strong>”, der in über 5.000 Exemplaren<br />

an Jugendämter, Kriminalpolizei,<br />

Lehrer, Ges<strong>und</strong>heitsämter, <strong>Kinder</strong>gärten<br />

<strong>und</strong> viele andere verteilt wurde.<br />

Körperliche <strong>Gewalt</strong> <strong>gegen</strong> <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong><br />

Vernachlässigung sind in der Regel keine<br />

einmaligen Vorkommnisse, sondern<br />

Ausdruck von Problemen <strong>und</strong> Belastungen<br />

in der Familie. “Wenn wir <strong>Kinder</strong>n<br />

helfen wollen, müssen wir zunächst versuchen,<br />

die Hintergründe zu verstehen,<br />

warum Eltern ihre <strong>Kinder</strong> vernachlässigen<br />

oder körperlich mißhandeln”, so<br />

Lisa Cerny vom Jugendamt Köln.<br />

Auch werden nach Aussagen der<br />

neuen Vorsitzenden des “Berufsverbandes<br />

der Ärzte für <strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

<strong>und</strong> Psychotherapie” viele<br />

<strong>Kinder</strong>, die an schweren seelischen Störungen<br />

leiden, viel zu spät fachärztlich<br />

oder fachtherapeutisch betreut <strong>und</strong> versorgt.<br />

Dies gelte ganz besonders für<br />

<strong>Kinder</strong>- <strong>und</strong> Jugendliche, die an manifesten<br />

Störungen des Sozialverhaltens (wie<br />

Kontaktstörungen oder <strong>Aggression</strong>sausbrüchen)<br />

oder an sogenannten stillen<br />

seelischen Störungen litten, die sich meist<br />

in Depressionen <strong>und</strong> Ängsten äußern.<br />

Professor Dr. Dr. H. Remschmidt,<br />

Marburg, hat in einer international vergleichenden<br />

Untersuchung festgestellt,<br />

daß psychische Auffälligkeiten <strong>unter</strong><br />

Schülern zwischen 8 <strong>und</strong> 21 Prozent<br />

schwanken mit Betonung städtischer<br />

Regionen. Obwohl bei einer Untersuchung<br />

nordhessischer Schüler die Auffälligkeitsrate<br />

12,7 % betrug, befanden<br />

sich nur 3,3 % der auffälligen <strong>Kinder</strong> in<br />

psychiatrisch – psychotherapeutischer<br />

Behandlung. Das bedeutet, daß etwa<br />

drei Viertel der <strong>Kinder</strong>, die eine Beratung<br />

oder Behandlung benötigen, eine<br />

solche nicht erfahren.<br />

Sexualisierte <strong>Gewalt</strong> in Relation<br />

zur allgemeinen Entwicklung<br />

der <strong>Gewalt</strong>kriminalität<br />

Nach Auffassung der Familientherapeutin<br />

<strong>und</strong> forensischen Psychiaterin E.<br />

Trube-Becker hat es die sexuelle <strong>Gewalt</strong><br />

<strong>gegen</strong> <strong>Kinder</strong> schon immer gegeben,<br />

<strong>und</strong> es gibt sie immer noch. Sie sei nicht<br />

erst ein Delikt der Gegenwart, wenn<br />

auch heutzutage besonders viel <strong>und</strong><br />

häufig darüber diskutiert wird <strong>und</strong> Publikationen<br />

zu diesem Problemkreis<br />

zugenommen haben. Gleichwohl sind<br />

die nackten Zahlen erschreckend genug,<br />

die sich dahinter verbergenden<br />

Schicksale bedenklich.<br />

Die polizeiliche Kriminalstatistik registriert<br />

in Deutschland jährlich etwa<br />

10.000 bis 15.000 Fälle von sexualisierter<br />

<strong>Gewalt</strong>, wobei in 80 % der Fälle<br />

keine körperliche <strong>Gewalt</strong> angewendet<br />

wird. Das Statistische B<strong>und</strong>esamt weist<br />

in seinen neuesten Veröffentlichungen<br />

darauf hin, daß 1996 gut 2.000 Personen<br />

wegen sexuellen Mißbrauchs von<br />

<strong>Kinder</strong>n rechtskräftig verurteilt wurden,<br />

40 % mehr als 1986. Dem<strong>gegen</strong>über<br />

waren 1976 etwa 2.300 Personen<br />

wegen Kindesmißbrauch verurteilt worden,<br />

13 % mehr als 1996. 1997 wurden<br />

allein in Hessen 1.054 Fälle registriert,<br />

in denen <strong>Kinder</strong> Opfer sexueller <strong>Gewalt</strong><br />

wurden.<br />

Seit Anfang der 90er Jahre ist ein<br />

Anstieg der registrierten Jugendkriminalität<br />

zu verzeichnen. 1996 wurden im<br />

früheren B<strong>und</strong>esgebiet 41.000 Jugendliche<br />

von 14 bis <strong>unter</strong> 18 Jahren wegen<br />

Straftaten rechtskräftig verurteilt, 27 %<br />

mehr als 1991. Hierbei überwiegen zwar<br />

die Eigentumsdelikte (46 %). 1996<br />

wurden 19.000 Personen <strong>unter</strong> 25 Jahren<br />

wegen Betäubungsmitteldelikten,<br />

viermal soviel wie 1976, verurteilt. Die<br />

Ausländerkriminalität hat sich bei der<br />

Altersgruppe der 14 - 25jährigen zwischen<br />

1976 <strong>und</strong> 1996 mehr als verdoppelt<br />

(+ 107 %), da<strong>gegen</strong> bei den Deutschen<br />

um 26 % verringert.<br />

Präventive Möglichkeiten<br />

Der Vater der Psychoanalyse, Siegm<strong>und</strong><br />

Freud, meinte vor etwa h<strong>und</strong>ert Jahren:<br />

“Es sieht wirklich so aus, als müßten<br />

wir anderes <strong>und</strong> andere zerstören, um<br />

uns nicht selbst zu zerstören, um uns<br />

vor der Tendenz der Selbstzerstörung<br />

zu bewahren. Gewiß eine traurige Eröffnung<br />

für den Ethiker”: Freud zitiert<br />

auch gerne aus Thomas Hobbes‘ “Leviathan”,<br />

wonach die ungesellige Wolfsnatur<br />

<strong>und</strong> Bösartigkeit des Menschen<br />

im menschlichen Wesen selbst begründet<br />

sei. Um menschliches Zusammenleben<br />

zu ermöglichen, sind starke <strong>und</strong><br />

vorbildliche Institutionen <strong>und</strong> Herrschaftsinstrumente<br />

nötig. Nur bei solcher<br />

gr<strong>und</strong>sätzlicher Blickeinstellung auf<br />

Leben, <strong>Gewalt</strong> <strong>und</strong> Tod bewegen wir<br />

uns im Hinblick auf das Böse <strong>und</strong> die<br />

<strong>Aggression</strong> in den richtigen Dimensionen.<br />

<strong>Aggression</strong> ist kein Trieb im<br />

Freud’schen Definitionssinne allein,<br />

sondern ein viel komplizierteres Verhalten,<br />

das nur dann richtig erfaßt werden<br />

kann, wenn in die Überlegung die<br />

Angst mit einbezogen wird.<br />

Angst entsteht, wenn ein Individuum<br />

mit einer zielgerichteten Bedürfnisbefriedigung<br />

behindert – frustriert – wird.<br />

Die Angst als innere Erregung hat den<br />

Sinn der Warnung vor realer Gefahr.<br />

Die zuerst einsetzende Schutzhandlung<br />

338 Hessisches Ärzteblatt 8/2000


Fortbildung<br />

auf die durch Angst signalisierte Gefahr<br />

ist der Schutzreflex. Der Fluchtreflex<br />

hat zum Ziel, das bedrohte Individuum<br />

aus der Situation der möglichen Schädigung<br />

oder Vernichtung durch räumliche<br />

<strong>und</strong> zeitliche Distanz zu entziehen.<br />

Je nach Einschätzung der eigenen Stärke<br />

im Vergleich zur drohenden Gefahr<br />

ist aber aktive Abwehr oder aggressive<br />

Reaktion denkbar. Erheblich komplizierter<br />

wird dieses Verhaltensmuster<br />

durch die sich dynamisch entwickelnden<br />

<strong>und</strong> zunehmend vermischenden realen<br />

<strong>und</strong> virtuellen Welten. Was ist dann<br />

die reale (die Lebenswirklichkeit) <strong>und</strong><br />

was ist die fiktive (aus der virtuellen<br />

Welt der Informationstechnologie) Gefahr<br />

Angst zu nehmen ist einer der wichtigsten<br />

Beiträge zur <strong>Gewalt</strong>prävention. Die<br />

Verleugnung unserer aggressiven Neigung<br />

ist dem<strong>gegen</strong>über gefährlich, da<br />

wir sie so der Möglichkeit der Sozialisierung,<br />

das heißt der erzieherischen<br />

Einbeziehung in die menschliche Gemeinschaft,<br />

entziehen. Dieser Erziehungsprozeß<br />

geschieht am gezieltesten<br />

während der Entwicklung des Kindes in<br />

der Familie. Sie stellt somit eine der<br />

wichtigsten sozialen Einrichtungen dar.<br />

Besonders <strong>Kinder</strong>ärzte <strong>und</strong> Hausärzte<br />

haben hier eine besondere Funktion, in<br />

dem sie sich vorsorgend, heilend <strong>und</strong><br />

<strong>unter</strong>stützend den Familien widmen.<br />

Hier, in der kleinsten Zelle des Staates<br />

besteht die Ansatzmöglichkeit zur Miterziehung<br />

zur “konstruktiven Aggressivität”<br />

für ein besseres Zusammenleben.<br />

Die “konstruktive Aggressivität” hat<br />

nicht die Verletzung oder Vernichtung<br />

des “Gegners” zum Ziel, sondern einen<br />

gemeinsamen Fortschritt im positiven<br />

Ringen miteinander. Um ein Höchstmaß<br />

an Konstruktivität zu erreichen,<br />

muß die Feindseligkeit ritualisiert, in<br />

ein Vorgehen nach festgelegter Ordnung<br />

gelenkt <strong>und</strong> die <strong>Aggression</strong> in vernünftige<br />

Bahnen gesteuert, das heißt<br />

kanalisiert werden.<br />

c Ritualisiert durch festgelegte Verhaltensmuster,<br />

die die betroffenen<br />

Menschen wechselseitig beeinflussen,<br />

in denen sich feindselige Antriebe<br />

<strong>unter</strong> gewissen Spielregeln <strong>und</strong><br />

Kontrollen äußern können, zum<br />

Beispiel im Sport, Tanz, oder in der<br />

dramatischen Kunst. Derartige Rituale<br />

verhindern den Ausbruch von<br />

<strong>Aggression</strong>en, denn sie erlauben<br />

zwischenmenschliche Beziehungen,<br />

die sonst tabu sind.<br />

c Kanalisiert durch programmierte<br />

Streittechniken <strong>und</strong> Konfrontationen<br />

in offener Verständigung <strong>unter</strong>einander,<br />

aber mit äußerster Disziplin<br />

<strong>und</strong> Toleranz. Durch die “Sozialisierung”,<br />

den Prozeß der Einordnung<br />

des heranwachsenden Kindes<br />

<strong>und</strong> <strong>Jugendlichen</strong> in die Gesellschaft,<br />

wird aggressives Handeln in<br />

die Verantwortung des Individuums<br />

gelegt, weggeführt vom Menschen<br />

als Gruppenwesen, der an die Stelle<br />

des eigenen Ich-Ideals eine der Gemeinschaft<br />

verpflichtete Führerfigur<br />

setzt.<br />

Zusammenfassung<br />

Zusammenfassend ist festzustellen, daß<br />

nicht nur die Gesellschaft <strong>und</strong> ihr Wandel<br />

das Sozialverhalten der <strong>Kinder</strong> <strong>unter</strong>einander<br />

<strong>und</strong> der Erwachsenen den<br />

<strong>Kinder</strong>n <strong>gegen</strong>über beeinflußt, sondern<br />

daß die besondere Bedeutung des Verhaltens<br />

innerhalb der Familie mit deren<br />

Erziehungsarbeit ergänzt wird durch<br />

die pädagogischen Leistungen in <strong>Kinder</strong>garten<br />

<strong>und</strong> Schule. Internationale<br />

Untersuchungen haben ergeben, daß<br />

Ethos, Wertesystem <strong>und</strong> Erziehungsziel<br />

einer Schule sehr stark Verhalten <strong>und</strong><br />

Erfolg der Schüler über ihre individuellen<br />

Voraussetzungen hinaus bestimmen.<br />

Dementsprechend ist nach H. Remschmidt<br />

der Schule wieder mehr Aufmerksamkeit<br />

zu widmen, nicht in Form<br />

von wissenschaftlich ungenügend abgesicherten<br />

Schulversuchen, sondern in<br />

Form von Untersuchungen über die<br />

Bedingungen, <strong>unter</strong> denen <strong>Kinder</strong> lernen<br />

<strong>und</strong> Lehrer <strong>unter</strong>richten. Dementsprechend<br />

müßten Remschmidt’s Auffassung<br />

zur Folge in der Schule auch<br />

präventive Maßnahmen durchgeführt<br />

werden können. Dies ist auch der Fall:<br />

Es liegen ermutigende Ansätze <strong>und</strong> Erfahrungen<br />

vor (zum Beispiel zur Verminderung<br />

depressiver Störungen oder<br />

zur Verminderung aggressiven <strong>und</strong> gewalttätigen<br />

Verhaltens), die jedoch noch<br />

kaum in umfassender Weise in die Praxis<br />

umgesetzt sind.<br />

Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe von<br />

Eltern, Lehrern, Sozialarbeitern, Jugend<strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsämtern, Polizei <strong>und</strong><br />

auch von Gerichten, nicht zuletzt aber<br />

den Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzten, vorbeugende<br />

Maßnahmen zu ergreifen, um die<br />

<strong>Gewalt</strong>entstehung, aggressives Verhalten<br />

<strong>und</strong> verletzenden Umgang mit <strong>Kinder</strong>n<br />

<strong>und</strong> Erwachsenen zu verhindern.<br />

Nicht Strafe, Ausgrenzung <strong>und</strong> Sonderbehandlung<br />

ist primärer Auftrag, sondern<br />

fachgerechte Prävention, Hilfe <strong>und</strong><br />

Unterstützung der gefährdeten Familien<br />

<strong>und</strong> deren <strong>Kinder</strong>. Denn die <strong>Kinder</strong><br />

<strong>und</strong> ihre Entwicklung sind auch unsere<br />

Zukunft.<br />

Anschrift des Verfassers:<br />

Wiesenstraße 22, 65817 Eppstein<br />

Hessisches Ärzteblatt 8/2000 339

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