Revolution 1848/49 – auch im Enzkreis? - Landratsamt Enzkreis
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die demokratischen Bestrebungen fanden hier bei der Mehrzahl der Bürger großen Beifall.<br />
Ein Volksverein bildete sich hier, welcher in lebhaftem Verkehr mit den radikalen<br />
Helden von Bretten stand. Lehrer Stier war ein Hauptagent für die revolutionäre Propaganda<br />
und der Haupturheber des unternommenen Pfarrhaussturmes, welcher über so<br />
viele Familien Unglück gebracht hat. Was war geschehen?<br />
In Nußbaum kommt es in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 18<strong>49</strong> zu einem Aufruhr<br />
von Mitgliedern des ersten Aufgebotes der dortigen Bürgerwehr, also der kampftauglichen<br />
und ledigen 18- bis 30-jährigen Männer, gegen Pfarrer Friedrich Wilhelm Schember.<br />
Anlass für diese Empörung ist der <strong>–</strong> zu niedrige <strong>–</strong> Beitrag des Pfarrers in Höhe von nur<br />
einem Gulden für dieses Aufgebot. Schember hatte jedoch schon zuvor in Nußbaum<br />
einen schweren Stand. In jener Nacht zieht eine tobende Menge unter lautem Geschrei<br />
vor das Pfarrhaus und zertrümmert mit Steinwürfen und Axthieben Fensterläden, Hausund<br />
Kellertüren. Die wütende Meute fordert 150 Gulden in bar. Pfarrer Schembers Gegenangebot<br />
beläuft sich aber nur auf 50 Gulden. Daraufhin wird der Pfarrer weiter bedroht<br />
<strong>–</strong> 68 Gulden, die dieser aus dem Fenster schleudert, beruhigen die Menge nicht.<br />
Dieses kleine Ablenkungsmanöver ermöglicht es Schember jedoch, sich und seine Familie<br />
durch die Hintertür und Scheune unbemerkt ins nahe gelegene Sprantal in Sicherheit zu<br />
bringen.<br />
Aus seinem „Exil“ wendet sich Schember am 13. Juni 18<strong>49</strong> an das zuständige Evangelische<br />
Oberkirchenamt, um seine Versetzung zu erwirken. Er empfindet es als unzumutbar,<br />
nach den geschilderten Vorkommnissen nochmals in Nußbaum tätig zu werden.<br />
Sein Versetzungsgesuch wird zunächst abschlägig beschieden: er muss am 24. Juni nach<br />
Nußbaum zurückkehren. Der Neubeginn Schembers in Nußbaum aber steht <strong>–</strong> erwartungsgemäß<br />
<strong>–</strong> unter keinem guten Stern. Sein erster Morgengottesdienst an jenem Tag wird<br />
von der Bürgerwehr aus Bretten unterbrochen, die dort die ländliche Umgebung nach<br />
Lebensmitteln absucht, um die in Bretten lagernden <strong>Revolution</strong>struppen und Freischaren<br />
zu versorgen. Erst <strong>im</strong> September 1850 wird seinem Versetzungsgesuch entsprochen: er<br />
kommt nach Freistett bei Kehl und wird später Dekan des Kirchenbezirks Rheinbischofshe<strong>im</strong>.<br />
Gegen die Aufrührer aber werden nach der <strong>Revolution</strong> strafrechtliche Untersuchungen<br />
eingeleitet. Die Gemeinde Nußbaum muss der großherzoglichen Staatskasse 870 Gulden<br />
als Maiaufstandskosten entrichten, was diese wiederum auf die Einwohnerschaft<br />
umlegt. Insgesamt werden 15 Männer zu Arbeitshausstrafen verurteilt: Jacob Augenstein,<br />
Christian Widmann und Johann Lindemann je zu einem Jahr, Johann Hauser, Gottlieb<br />
Merker, Jacob Fretz, Andreas Fretz, Ernst Lansche, Gottlieb Lansche, Leonhard Gauß,<br />
Leonhard Klein, Michael Bischoff und Johann Adam Götz je zu sechs Monaten sowie<br />
Stephan Klein und Christian Wanner zu drei Monaten Arbeitshaus. Elf weitere Angeklagte<br />
werden freigesprochen.<br />
Die Verurteilten legen Widerspruch be<strong>im</strong> Oberhofgericht in Mannhe<strong>im</strong> ein. Die zu<br />
sechs beziehungsweise drei Monaten Verurteilten können dabei eine Halbierung ihrer<br />
Strafen erreichen. Pfarrer Schember hat sich, damals noch in Nußbaum, übrigens schriftlich<br />
für die Verurteilten be<strong>im</strong> Großherzog eingesetzt. Sie hätten zwischenzeitlich ihre<br />
Tat bereut und nähmen sogar regelmäßig am Gottesdienst teil.<br />
Im Jahre 1806 wird das südöstlich Pforzhe<strong>im</strong>s gelegene Herrschaftsgebiet der Freiherren<br />
von Gemmingen dem neu geschaffenen Großherzogtum Baden eingegliedert. Die<br />
Gemmingen verlieren damit ihren Status als Ortsherrschaft, bleiben aber Besitzer des<br />
größten Teils an Grund und Boden. 1818 garantiert die relativ liberale badische Verfassung<br />
den „neuen Landeskindern“ Steuer- und Rechtsgleichheit.<br />
Schon 1820 beginnt dann ein jahrelanger Rechtsstreit zwischen den Bewohnern der<br />
acht Bietdörfer (Hamberg, Hohenwart, Lehningen, Mühlhausen, Neuhausen, Schellbronn,<br />
Steinegg und Tiefenbronn) und ihrem Grundherrn, Freiherr Julius von Gemmingen. Streitpunkt<br />
sind die grundherrschaftlichen Abgaben und Frondienste. Die Einwohner nämlich<br />
empfinden es als ungerecht, dass sie sowohl an den badischen Staat als <strong>auch</strong> weiter an<br />
den Grundherrn Abgaben entrichten müssen. Diese Doppelbelastung ist den ohnehin<br />
meist sehr armen Bauern und Handwerkern zuviel: Amtmann Thierry, der für den Freiherrn<br />
Geld als Ersatz für die Frondienste einziehen soll, wird in sämtlichen Dörfern des<br />
Biets mit Zahlungsverweigerung konfrontiert. Julius von Gemmingen ist daraufhin fest<br />
entschlossen, seine Geldforderungen sogar mit Hilfe von Polizei und Militär durchzusetzen.<br />
Das Oberamt Pforzhe<strong>im</strong> jedoch lässt es nicht so weit kommen und vermittelt <strong>im</strong>mer<br />
wieder zwischen den Parteien.<br />
Der Widerstand der Bietbewohner wird maßgeblich von Adlerwirt Albert Leicht (1798<strong>–</strong><br />
1858), dem ehemaligen Amtmann Josef Anton Württemberger (1769<strong>–</strong>1823), beide aus<br />
Neuhausen, Hirschwirt Franz Josef Württemberger (1808<strong>–</strong>1873) aus Hohenwart, Hirschwirt<br />
Volz aus Schellbronn und Lammwirt Volz aus Tiefenbronn organisiert. Über die<br />
Weihnachtsfeiertage des Jahres 1830 ist sogar der badische Landtagsabgeordnete Karl<br />
von Rotteck in Neuhausen und unterstützt die Bürger <strong>im</strong> Kampf um ihre verfassungsmäßigen<br />
Rechte. Geschürt wird der Protest <strong>auch</strong> durch den Schreiner August Kern (1816<strong>–</strong><br />
1892) aus Neuhausen, der die Auswirkungen der Julirevolution von 1830 in Paris erlebt<br />
und die revolutionären Gedanken von dort in seine He<strong>im</strong>at gebracht haben soll. Auch<br />
die <strong>–</strong> noch vom Grundherrn eingesetzten <strong>–</strong> Ortsvorsteher der Bietdörfer stehen auf der<br />
Seite ihrer Einwohnerschaft.<br />
Als Julius von Gemmingen 1831 gegen die Bietgemeinden klagt, wird der Karlsruher<br />
Advokat Stebel beauftragt, die Interessen der Abgabepflichtigen zu vertreten. Die Streitsache<br />
geht sogar bis vor das badische Hofgericht in Rastatt. Ein endgültiges Urteil wird<br />
erst 1834 verkündet: beide Parteien erhalten Zugeständnisse, die Gerichtskosten werden<br />
geteilt. Doch Julius von Gemmingen bleibt nicht mehr lange Herr <strong>im</strong> Biet: 1839 verkauft<br />
er seinen Besitz um 535.000 Gulden an den badischen Staat. Auch danach wird ein Teil<br />
der ursprünglichen Abgaben weiter erhoben. Die endgültige Ablösung der Frondienste<br />
erfolgt dann erst um 1860.<br />
Vor dem Hintergrund der dargestellten Vorgeschichte verwundert es nicht mehr so<br />
sehr, dass in dem doch etwas abgelegenen ehemaligen Gebiet der Freiherren von Gemmingen<br />
eine nicht unerhebliche freiheitliche Bewegung feststellbar ist. 1851 klagt das<br />
Oberamt Pforzhe<strong>im</strong>, dass die Gemeinde Neuhausen als die erste unter den wenigen<br />
bezeichnet werden muß, in welchen die Lehren der Democratie tiefe Wurzeln geschla-<br />
Die <strong>Revolution</strong> <strong>im</strong> „Biet“<br />
63<br />
62 Konstantin Huber<br />
<strong>Revolution</strong> <strong>1848</strong>/<strong>49</strong>