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Holm Roch Biografische Notizen 1938 bis 2008 - Verlag Erika Roch

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<strong>Holm</strong> <strong>Roch</strong><br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> <strong>1938</strong> <strong>bis</strong> <strong>2008</strong>


Sie dürfen dieses Werk unter Angabe des Verfassers weiterverbreiten, jedoch nicht<br />

verändern oder kommerziell nutzen.<br />

Infos unter: www.creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/<br />

© Alle weitergehenden Rechte verbleiben beim Autor.<br />

2


Vorwort<br />

Die folgenden biografischen <strong>Notizen</strong> sind in einzelnen Etappen zwischen 2003 und <strong>2008</strong> entstanden.<br />

Im ersten Teil beschreibe ich meine Kindheit und Jugend während der Kriegs- und<br />

Nachkriegszeit. Die Überschrift "Bleem oder nieber machn" nimmt eine Frage auf, die das<br />

Leben der Menschen in meiner Heimatstadt Leipzig und überall im Osten seit dem Ende des<br />

zweiten Weltkrieges bestimmte: Sollen wir hier bleiben oder "nieber machn", also: in den<br />

Westen gehen. Hunderttausende haben, bevor der Bau der Berliner Mauer dem Weggehen ein<br />

Ende setzte, ihre Heimat verlassen und im Westen neu angefangen. Ich habe diesen Schritt<br />

1958 getan. Da war ich zwanzig Jahre alt.<br />

Der zweite Teil beschreibt meine “Lehr– und Wanderjahre” (1958 <strong>bis</strong> 1969), also das Studium<br />

in Bonn und Mainz, die nachfolgende kirchliche Ausbildung am Predigerseminar in Herborn,<br />

die Promotion an der Ruhr-Universität in Bochum und das Vikariat in Essen-Heisingen.<br />

Die Nachkriegszeit, die Zeit des Wiederaufbaus ging zu Ende. Die auffallendsten Kriegsschäden<br />

– zerbombte Städte, zerstörte Brücken, kaputte Straßen – waren beseitigt. Es ging aufwärts.<br />

Von Jahr zu Jahr gab es immer mehr „Wohlstand für alle“. Erst besaß man ein Moped,<br />

dann einen Motorroller, schließlich sogar einen Kleinwagen. Anders als heute wurden Arbeitskräfte<br />

dringend gebraucht, bald musste man sie sogar im Ausland anwerben. Das Leben<br />

verlief berechenbar. Wer einen Beruf erlernte oder studierte, bekam mit Sicherheit einen Arbeitsplatz<br />

und konnte darauf vertrauen, <strong>bis</strong> zur Rente ein festes Einkommen zu haben - von<br />

Jahr zu Jahr immer etwas mehr.<br />

Das gesellschaftliche Klima war in jener Zeit eher konservativ und bewahrend als neugierig<br />

und kreativ. Man hielt die mühsam wiederaufgebaute Ordnung für die beste aller Welten. Wer<br />

das bezweifelte, vielleicht sogar alternative Vorstellungen entwickelte, der bekam schnell den<br />

Rat „Wenn es dir hier nicht passt, kannst du ja gleich nach drüben gehen!“<br />

In dieser Gesellschaft hatte die Kirche ihren festen Platz als Hüterin konservativer Werte.<br />

Man muss sich nur einmal anschauen, wieviel Raum sie im neu aufkommenden Fernsehen<br />

einnahm. Von den Kirchentagen wurde damals stundenlang berichtet, heute reicht eine zusammenfassende<br />

Viertelstunde kurz vor Mitternacht im dritten Programm. Es herrschte eine<br />

große Angst vor allem, das mühsam Erworbene zu bedrohen schien, insbesondere Sozialismus<br />

und Kommunismus waren gefürchtet wie die Pest. Mit antikommunistischen Parolen<br />

ließ sich jede Bundestagswahl gewinnen. So baute sich ein gewaltiger Reformstau auf, der<br />

dann in den 68ern gewaltsam zum Durchbruch kam.<br />

Im dritten Teil geht es um meine erste Pfarrstelle in Essen-Steele (1969 <strong>bis</strong> 1976). Es handelt<br />

sich um jene Phase des Berufslebens, die gern mit dem Begriff „Praxisschock“ bezeichnet<br />

wird. Die eigenen beruflichen Wünsche und Hoffnungen treffen auf die harten Realitäten. Da<br />

ist manches anders als erwartet. Das, worauf man sich gefreut hat, nimmt nur einen Teil des<br />

beruflichen Alltags ein. Routinearbeit, Sitzungen und Besprechungen kosten eine Menge<br />

Zeit. Das Zusammenraufen mit Menschen, die teilweise völlig andere Vorstellungen von einer<br />

Kirchengemeinde haben, verbraucht Energie. Andererseits ist man als Berufsanfänger<br />

noch weit vom „burn out“ entfernt, steckt voller Tatendrang und empfindet die neue Situation<br />

als Herausforderung.<br />

3


Meine ersten Berufsjahre fallen in eine Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Eine neue<br />

Generation war herangewachsen und wendete sich gegen die Werte und Ziele der Elterngeneration.<br />

Selbstbestimmung statt Anpassung, Überwindung bürgerlicher Normen, Aufstand der<br />

Basis (des „Volkes“ wie man gern sagte) gegen seine Unterdrücker waren angesagt. Überall<br />

gärte es. Die Kirche blieb von diesen Erschütterungen nicht verschont. Kirchenreform war<br />

ein gängiges Schlagwort und es erschienen zahlreiche Bücher mit Vorschlägen, was man alles<br />

anders machen müsse. Einige meinten sogar, dass man bald ganz auf die Kirche verzichten<br />

könne. Hinzu kam, dass nach der Engführung der Hitlerzeit und den Jahren des Wiederaufbaus<br />

der Blick zunehmend über den eigenen Tellerrand hinweg nach draußen wanderte. Da<br />

sah man, dass Kirche in anderen Ländern ganz anders aussieht. Sie hat keine so enge Bindung<br />

an den Staat wie bei uns, lebt nicht von Kirchensteuern - und ist doch kreativ und munter.<br />

Sie hatte auch längst Lösungen für Probleme, die in Deutschland ganz neu wahrgenommen<br />

wurden. Klinisches Seelsorgetraining, Gruppenpädagogik und Gemeinwesenarbeit sind<br />

nur einige Beispiele für Arbeitsformen, die in den 70er Jahren neu zu uns kamen.<br />

Von den genannten gesellschaftlichen Veränderungen war ich in meiner Gemeinde nur indirekt<br />

betroffen. Hier fanden keine Straßenschlachten zwischen Studenten und Polizisten statt.<br />

Es wurden auch keine US-Fahnen verbrannt. Und doch spiegelte sich die allgemeine Bewegung,<br />

der Zeitgeist, natürlich auch in dem Mikrokosmos, den so eine einzelne etwas abgelegene<br />

Kirchengemeinde wie die in Horst-Eiberg, darstellt.<br />

Der vierte Teil meiner autobiografischen <strong>Notizen</strong> umfasst die zehn Jahre, die ich mit meiner<br />

Frau <strong>Erika</strong> und unserem Sohn Dominik in Koblenz zugebracht habe (1976 <strong>bis</strong> 1986). Rückblickend<br />

erscheint mir dieses Jahrzehnt wie ein „Goldenes Zeitalter“. Das liegt einmal an<br />

meinem damaligen Lebensalter. Die Zeit zwischen Vierzig und Fünfzig ist eine Lebensphase,<br />

in der man noch „voller Saft und Kraft“ dabei ist, ohne sich Gedanken über das spätere Alter<br />

und die damit verbundenen Einschränkungen zu machen. Es liegt auch an den interessanten,<br />

vielfältigen Aufgaben, mit denen ich es in Koblenz zu tun bekam. Und es liegt daran, dass ich<br />

in ein Geflecht freundschaftlicher Beziehungen eingebettet war. Ich denke mit großer Dankbarkeit<br />

an diese Zeit und alle Menschen, die mich damals unterstützt und angeregt haben, zurück.<br />

Im fünften Teil beschreibe ich meine Tätigkeit als landeskirchlicher Pfarrer für Familienbildung<br />

(1986 <strong>bis</strong> 1995) und die nachfolgende Arbeit bei der Erwachsenenbildung hier im Kirchenkreis<br />

<strong>bis</strong> zum Beginn des sog. Ruhestandes (1996 <strong>bis</strong> 2001). Dieser Lebensabschnitt<br />

spielt in Iserlohn, einer Stadt am Rande des Sauerlandes, die für <strong>Erika</strong> und mich zur neuen<br />

Heimat geworden ist. 1986 sind wir aus Koblenz hierher gezogen, zunächst in ein Reihenhaus<br />

in der Bertholdstraße, dann in unsere Alterswohnung in der Iserlohner Heide, einem<br />

Neubaugebiet aus den 70er Jahren.<br />

Von meiner Kindheit in Leipzig-Gohlis <strong>bis</strong> hierher war es ein weiter Weg, dessen Stationen<br />

hauptsächlich durch meinen Beruf bestimmt wurden. Dass ich einmal endgültig in Westfalen<br />

landen würde, war nicht vorauszusehen. Überrascht hat mich, dass es eine Parallele zu meinen<br />

Kindertagen gibt: der Ortsname Gohlis stammt aus dem Sor<strong>bis</strong>chen und bedeutet soviel<br />

wie „draußen in der Heide“. „In der Heide“, nämlich in der Iserlohner Heide, wohne ich jetzt<br />

wieder.<br />

Nachdem ich meine <strong>Notizen</strong> zum Abschluss gebracht hatte, wollte ich allen Teilen ein gleiches<br />

Aussehen geben und sie zu einem einzigen Heft zusammenfügen. Dabei ist die vorlie-<br />

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gende Fassung entstanden. Sie unterscheidet sich nur unwesentlich von den Einzelheften, die<br />

es vorher gab. An einigen Stellen habe ich den Text geringfügig verbessert. Die Fotos habe<br />

ich aus der Download-Fassung herausgenommen.Im Jahre <strong>2008</strong> habe ich dann noch ein neues<br />

Kapitel über die ersten sieben „Rentnerjahre“ angefügt.<br />

Schwierigkeiten hatte ich, eine gemeinsame Überschrift für alle Kapitel zu finden. Gibt es so<br />

etwas wie einen “roten Faden” oder ein durchgängiges Motiv in meinem Leben? Ich habe<br />

mich für den Titel “Zwischen den Stühlen” entschieden, denn ich war immer zwischen unterschiedlichen<br />

Welten zu Hause. Meine Kindheit verbrachte ich in einem kleinbürgerlichen Beamtenmilieu.<br />

Wir waren nicht arm, aber auch nicht reich, wir waren dazwischen. Mein Vater<br />

stammte aus Sachsen, meine Mutter kam aus Baden, wieder so ein Zwischending. Den antikirchlichen<br />

Sozialismus der DDR lehnte ich ab, neigte aber dem religiösen Sozialismus zu.<br />

Mit zwanzig Jahren floh ich aus der DDR in den Westen, wurde aber nie ein richtiger “Wessi”,<br />

sondern blieb ein Zwischenwesen. Erst wollte ich Grafiker werden, als das nicht ging,<br />

wurde ich Pfarrer, suchte mir aber immer wieder Aufgaben bei denen ich meine ursprünglichen<br />

Interessen einbringen konnte. Als Pfarrer war ich meinen Vorgesetzten nicht fromm genug,<br />

aber natürlich war ich auch kein Atheist. In meiner ersten Gemeinde war ich den Leuten<br />

zu politisch, später, als Studentenpfarrer, war ich den Kollegen nicht politisch genug. Manche<br />

religiösen Überzeugungen, vor allem zum Thema Jenseits und zum Weiterleben nach dem<br />

Tod, sind mir fremd. Andererseits halte ich den christlichen Glauben für eine positive, weltverändernde<br />

Kraft. Zehn Jahre lang war ich für die Familienbildung in der Westfälischen Kirche<br />

zuständig, hatte aber keine eigenen, leiblichen Kinder und schon gar keine “Vorzeigefamilie“.<br />

Was die Zeichnerei anlangt, bin ich kein gelernter Künstler, sondern ein Autodidakt -<br />

wieder so ein Zwischenwesen. Das Radiomachen habe ich mir selbst beigebracht und auch<br />

nach über 100 Sendungen unterläuft mir immer noch der eine oder andere Schnitzer. So habe<br />

ich immer “zwischen den Stühlen” gelebt.<br />

Eine solche Position hat ihre Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite ist sie unbefriedigend,<br />

man möchte endlich einmal einen festen, dauerhaften Platz haben. Auf der anderen Seite hat<br />

es einen eigenen Reiz, “zwischen den Stühlen” zu sein. Wer sich dort befindet, kann auf mehreren<br />

Stühlen Platz nehmen! Menschen, die in verschiedenen Welten zu Hause sind, eignen<br />

sich gut als Vermittler - sofern sie ihre Ambivalenz akzeptieren und nicht versuchen, eine Seite<br />

auszublenden. Die ganze Pädagogik beruht darauf, dass einer (Vater, Mutter, Lehrer, Erwachsenenbildner<br />

...) in verschiedenen Welten zu Hause sein kann: in seiner eigenen und in<br />

der seiner Schüler. Auch die Tätigkeit als Supervisor und Berater erfordert, ebenso wie das<br />

Zeichnen von Cartoons, einen wechselnden Standpunkt. Man muss gleichzeitig drinnen und<br />

draußen sein können.<br />

In meiner beraterischen Tätigkeit habe ich mir zunächst den Grundsatz “Der Berater ist der<br />

Hüter der Realität” zu eigen gemacht. Später ist für mich ein zweiter Satz mindestens ebenso<br />

wichtig geworden: “Der Berater ist der Anwalt der Ambivalenz!” Alles hat mehrere Seiten<br />

und es ist hilfreich, es von unterschiedlichen Seiten aus zu betrachten, oder - um im Bild zu<br />

bleiben - nacheinander auf verschiedenen Stühlen Platz zu nehmen.<br />

Obwohl sich dazu noch vieles sagen ließe, setze ich hier einen Schlusspunkt und wünsche allen<br />

Leserinnen und Lesern einen Gewinn bei der Lektüre der folgenden Seiten.<br />

Iserlohn, im Oktober 2009 <strong>Holm</strong> <strong>Roch</strong><br />

5


Bleem<br />

oder niebr machn?<br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> <strong>1938</strong> <strong>bis</strong> 1958<br />

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1.1 Ein Vorkriegskind<br />

Während des zweiten Weltkrieges machte es einen wichtigen Unterschied ob etwas schon als<br />

"Kriegsware" oder noch als "Vorkriegsware" einzustufen war. Ein Mantel beispielsweise war<br />

entweder noch Vorkriegsware, dann war er gut verarbeitet, "etwas fürs Leben", oder er war<br />

Kriegsware, dann taugte er nicht viel, die Knöpfe rissen ab und wärmen tat er auch nicht.<br />

Nach dieser damals grundlegenden Einteilung bin ich noch "Vorkriegsware".<br />

Am 5. September <strong>1938</strong> wurde ich in einer kleinen Privatklinik in der Leipziger Salomonstraße<br />

geboren. Ich kam zu früh zur Welt und verbrachte die ersten Lebenswochen im Brutkasten.<br />

Ein Kind also, dass schon am Anfang seines Lebens seinen Eltern Sorgen bereitete! Später<br />

hat mir meine Mutter gelegentlich vorgehalten, dass ich ihr gleich am Anfang solche Mühe<br />

gemacht habe.<br />

Trotz dieser Schwierigkeiten, mit denen offenbar niemand gerechnet hatte, war ich ein willkommenes<br />

Kind. Vor allem für meinen Vater. Sechzig Jahre war er bei meiner Geburt schon<br />

alt und bekam nun endlich seinen ersehnten “Stammhalter”. Das hat ihm mächtig gut getan,<br />

und er erwies sich als liebevoller, fürsorglicher Vater - obwohl er dem Alter nach gut mein<br />

Großvater hätte sein können. Abends vor den Einschlafen sang er mir Gutenacht-Lieder vor.<br />

Auf seinem Arm lernte ich die Wunder meiner nächsten Umgebung kennen. Das allergrößte<br />

Wunder war die Kuckucksuhr im Flur. Ein Zug an einer kleinen Kette ließ das Türchen aufklappen,<br />

der Kuckuck schaute heraus, sperrte seinen Schnabel auf und ließ sein “Kuckuck -<br />

Kuckuck!” ertönen, so lange <strong>bis</strong> das Gewicht in Tannenzapfenform den Fußboden erreicht<br />

hatte.<br />

1.2 Mein Vater<br />

Mein Vater stammte aus Großhartau in der Nähe von Bautzen. Der Name <strong>Roch</strong> findet sich<br />

dort recht häufig und ist vermutlich sor<strong>bis</strong>ch-wendischen Ursprungs. Die Bezeichnungen<br />

<strong>Roch</strong>sburg und <strong>Roch</strong>litz haben ebenfalls diese Wurzel. Unter den ohnehin nicht sehr zahlreichen<br />

<strong>Roch</strong>s gehöre ich also zu der kleineren, "heidnischen" Gruppe mit ost-sächsischem Ursprung,<br />

während es sich bei der deutlich größeren, westlichen Gruppe um Abkömmlinge von<br />

Hugenotten handelt, eingedeutschte La<strong>Roch</strong>es, die nach dem heiligen <strong>Roch</strong>us genannt sind.<br />

Dieser Unterschied ist mir erst viel später bewusst geworden. Es war mir dann aber doch<br />

wichtig, ein “übertaufter” Heide, also ein Mensch mit einem vitalen Kern, und nicht ein sanfter,<br />

blasser Heiliger zu sein.<br />

Mein Vater wurde 1878 geboren. Er war ein uneheliches Kind und erhielt den Mädchennamen<br />

der Mutter. Seine Mutter war eine einfache Arbeiterin und hatte vermutlich kaum Zeit,<br />

sich um ihr Kind zu kümmern. Jedenfalls wuchs ihr kleiner Emil-Max bei seinem Großvater<br />

auf. Dieser Großvater war Nachtwächter. Mein Vater sang mir später alle die traditionellen<br />

Stundensprüche vor, er von seinem Großvater gelernt hatte. "Hört, ihr Leut und lasst euch sagen,<br />

unsere Glock hat zwölf geschlagen. Hüt das Feuer und das Licht, dass der Stadt kein<br />

Schad geschicht!" So ein Nachtwächter hatte eine wichtige Aufgabe, denn bei der damaligen<br />

engen Bauweise, brannte - wenn es denn brannte - schnell der ganze Ort ab. Seine Stundenrufe<br />

ersetzten die Uhr, denn einfache Leute besaßen keine. Wurde man nachts wach und hörte<br />

den Nachtwächter bei seinem Rundgang, wusste man "was die Stunde geschlagen hat". Ich<br />

8


nehme an, dass mein Urgroßvater tagsüber noch andere kommunale Aufgaben zu erledigen<br />

hatte, also ein "Gemeindediener" war. In der Phantasie, habe ich mir gern ausgemalt, wie<br />

mein Urgroßvater im Jahre 1813, als kleines Kind am Straßenrand stehend, den aus Russland<br />

zurückkehrenden Napoleon und die Reste seiner Armee vorbeireiten sieht. Wahrscheinlich<br />

stimmt es nur in meiner Phantasie, aber rein rechnerisch wäre es durchaus möglich.<br />

Über den leiblichen Vater meines Vaters, meinen Großvater also, ist nichts bekannt. Allerdings<br />

gibt es in der Nähe von Großhartau ein eindrucksvolles Schloss und - wer weiß, wer<br />

weiß - vielleicht fließt ja ein wenig blaues Blut in meinen Adern.<br />

Nach der Volksschule hat mein Vater eine Lehre im Büro gemacht. Man muss sich so ein<br />

Büro wie eine Schulklasse vorstellen. Ein Raum voller Schreibpulte, vorne thront ein ehemaliger<br />

Offizier mit gezwirbeltem Schnurrbart. Wenn nicht fleißig gerechnet wird, wenn jemand<br />

zum Fenster hinausschaut oder gar in der Nase bohrt, bekommt er eins mit dem Lineal übergezogen.<br />

"Dir juckt wohl das Fell, wart ich helf dir kratzen!", war nach Auskunft meines Vaters<br />

in solchen Fällen der übliche Spruch seines Vorgesetzen. Alles orientierte sich am militärischen<br />

Drill und was dabei herauskam, sah ebenfalls militärisch aus: eine gestochen saubere<br />

Handschrift, ein Buchstabe so akkurat wie der andere, Zahlengruppen wie Marschkolonnen.<br />

Büroalltag in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts.<br />

1.3 Zwölf-Ender und erster Weltkrieg<br />

Mein Vater war strebsam, er wollte es trotz seiner einfachen Herkunft zu etwas bringen. Dafür<br />

bot sich eine militärische Laufbahn an. Wer sich zu zwölf Jahren Militärdienst verpflichtete,<br />

also ein sogenannter "Zwölf-Ender" wurde, konnte anschließend Beamter werden. Das<br />

war für einen mittellosen jungen Mann eine einmalige Chance. Sportlich war er übrigens<br />

auch, mein Vater. Auf dem Hochrad nahm er an Radrennen teil und die tägliche Gymnastik,<br />

meist ein "Müllern" genanntes, windmühlenartiges Armkreisen mit und ohne Hanteln hat er<br />

<strong>bis</strong> ins hohe Alter betrieben. Mit seinem sportlich trainierten Körper gab er einen guten Ausbilder<br />

für junge Rekruten ab und zwar in Straßburg, das damals zum Deutschen Reich gehörte.<br />

In seiner schmucken Uniform sah er richtig flott aus und ich kann mir gut vorstellen, wie solchen<br />

Burschen, wenn sie in den umliegenden Dörfern auf Brautschau gingen, die Herzen der<br />

Mädchen zuflogen. Jedenfalls hat sich meine Vater seine (erste) Frau aus dem Hanauerland<br />

geholt. Das liegt, von Straßburg aus gesehen flussabwärts, auf der rechten Rheinseite, gegenüber<br />

dem Elsaß. Die beiden heirateten und bekamen 1907 ihr erstes und einziges Kind, Hilda<br />

- meine Halbschwester.<br />

Der Übergang vom Militär zum deutschen Beamten war recht einfach. Mein Vater musste lediglich<br />

einen Besinnungsaufsatz schreiben, mit dem für die damalige Zeit typischen Titel:<br />

"Arbeit und Fleiß, das sind die Flügel, die führen über Tal und Hügel." So wurde man zu Kaisers<br />

Zeiten Postbeamter!<br />

In der Karriere des Postbeamten Emil-Max <strong>Roch</strong> trat gleich zu Beginn eine unvorhergesehene<br />

Unterbrechung ein. Der Kaiser brauchte ihn als Soldaten. In den Krieg zu ziehen, muss damals<br />

eine geradezu religiöse Begeisterung ausgelöst haben. Ich erinnere mich an alte Postkar-<br />

9


ten. Da sind die Viehwaggons, welche die Soldaten an die Front bringen mit martialischen<br />

Aufschriften versehen: “Jeder Schuss - ein Russ, jeder Stoß - ein Franzos!” Es stimmt doch<br />

hoffnungsvoll, wie stark sich diese Einstellung innerhalb von zwei Generationen verändert<br />

hat. Mein Sohn, 1972 geboren, hat bereits im ersten Schuljahr Französischunterricht gehabt<br />

und ist ab dem dritten Schuljahr zum Schüleraustausch nach Frankreich gefahren. Er würde<br />

nie auf die Idee kommen, gegen “die Franzosen” Krieg zu führen.<br />

Mein Vater ist ziemlich viel herumgekommen in diesem Krieg. Westfront, Ostfront, Karpaten<br />

und russische Sümpfe. Das hat er mir alles während der Stromsperren nach dem zweiten<br />

Weltkrieg erzählt. Aber ich habe mir kaum etwas davon gemerkt, hatte vielleicht auch eine<br />

pubertäre Abneigung gegen die alten Kriegsgeschichten. So sind mir nur Bruchstücke seiner<br />

Erzählungen in Erinnerung geblieben. Zum Beispiel, dass er bei den Fesselballonfliegern<br />

war. Da saß er hoch oben in einem Korb unter seinem Ballon und musste schauen, ob die Artillerie<br />

ihre Ziele traf. Per Telefon musste er dann nach unten melden, ob sie etwas weiter<br />

nach rechts oder nach links schießen sollten. Da die Deutschen ihre Ballons mit brennbarem<br />

Leuchtgas füllten, war das ein gefährliches Unternehmen. Kaum war man oben, erschienen<br />

auch schon feindliche Doppeldecker und schossen auf den Ballon. Wenn der Ballon explodierte,<br />

hieß es, schnell aus dem Korb zu springen, den Fallschirm zu öffnen und zu hoffen,<br />

dass die brennenden Ballonteile woanders landeten als man selbst. Mut hatte er also, mein<br />

Vater. Viele Male ist er abgesprungen und er besaß eine Menge Auszeichnungen. Das Ende<br />

des Krieges hat er in irgendwelchen polnischen Sümpfen erlebt, wo er sich mit dem Beobachten<br />

von Kreuzottern und dem Ausdenken von Kreuzworträtsel die Zeit vertrieb. Er war mutig,<br />

aber nicht tollkühn. Im Gegenteil, eine seiner Haupteigenschaften war die Schlitzohrigkeit.<br />

Eins hatte er im Krieg gelernt: Orte, an denen geschossen wird, sollte man meiden. Besser etwas<br />

Abstand halten, abwarten <strong>bis</strong> die Lage sich bessert und dafür etwas länger leben. So hat<br />

er den Krieg einigermaßen heil überstanden. So hat er auch die folgende Nazizeit hinter sich<br />

gebracht. Und ich habe mir ein ganzes Stück von dieser Lebensweisheit abgeguckt. Sich bloß<br />

nicht danach drängeln, an die vorderste Front zu kommen!<br />

Eine weitere hervorstechende Eigenschaft war sein Humor. Viele Jahre seines Lebens laborierte<br />

er an einem Bruchleiden herum, musste ein Bruchband tragen, musste operiert werden.<br />

Geholt hatte er sich den Bruch, als er über einen Witz zu heftig lachen musste. Er hatte sich<br />

buchstäblich "krank gelacht". Das finde ich, bei allem Ärger, den er damit hatte, eine köstliche<br />

Geschichte.<br />

1918 war der Krieg zu Ende, und mein Vater konnte seine Beamtenlaufbahn fortsetzen. Auch<br />

dabei hatte er den "richtigen Riecher". Er wurde Postinspektor beim Postscheckamt in Leipzig<br />

und zwar bei der Nachforschungsstelle für Auslandspostanweisungen. Diese Stelle bestand<br />

aus einem einzigen Beamten, nämlich meinem Vater. Er war dort sein eigener Herr,<br />

konnte schalten und walten wie er wollte. Warum gerade diese Stelle? Nun, der Schriftverkehr<br />

mit dem Ausland wurde auf Französisch geführt und Französisch hatte mein Vater in<br />

seiner Straßburger Zeit gelernt.<br />

10


1.4 Meine Mutter<br />

Meine Mutter kam aus dem gleichen kleinen Dorf in der Nähe von Straßburg, aus dem auch<br />

schon die erste Frau meines Vaters stammte. Diese Tatsache hat mir eine recht umfangreiche<br />

Verwandtschaft beschert. Mit einem Teil der Dorfbewohner bin über die erste Frau meines<br />

Vaters verwandt, mit einem anderen über seine zweite Frau, meine Mutter. Das Dorf heißt<br />

Helmlingen (heute: Rheinau-Helmlingen) und liegt etwas abseits der Bundesstraße, die von<br />

Rastatt nach Kehl führt. Mein Großvater (mütterlicherseits) war der Dorfschuster. Daneben<br />

hatte er eine kleine Landwirtschaft, 2 <strong>bis</strong> 3 Kühe, die nicht nur Milch lieferten, sondern auch<br />

zum Pflügen und Eggen angespannt wurden. Es herrschten ärmliche Verhältnisse. Meine<br />

Großeltern hatten Mühe, ihre sechs Kinder zu ernähren. In den Hungerjahren nach dem ersten<br />

Weltkrieg war es eine große Entlastung, wenn wenigstens die Mädchen aus dem Haus gingen<br />

und für sich selbst sorgten. Dafür bot sich das nahe Straßburg an. Wer dort "in Stellung ging",<br />

lernte gut kochen (die berühmte Gänseleber und vieles mehr). Also ging meine Mutter nach<br />

Straßburg, in den Haushalt eines Apothekers, und als sie dort genug gelernt hatte, ging sie<br />

nach Leipzig. Dort hatte ein Verwandter eine Gaststätte, und es gab um ihn herum eine Art<br />

"Badische Kolonie". Eine Stelle fand meine Mutter im Haushalt der Familie Arnst. Den<br />

Arnsts gehörte die Leipziger Universitätsbuchhandlung. In der Nähe des Völkerschlachtdenkmals<br />

besaßen sie eine große Villa. Die musste sauber gehalten werden, es musste gekocht<br />

werden, Einladungen und Feste standen an und zwei kleine Kinder waren auch zu versorgen,<br />

z.B. wenn "die Herrschaft" standesgemäß zum Wintersport in Davos weilte.<br />

Einem dieser Kinder verdanke ich meinen ausgefallenen Vornamen. Der Stammhalter der Familie<br />

Arnst hieß ebenfalls <strong>Holm</strong>. Allerdings bekam ich noch einen Bindestrich-Dieter dazu,<br />

(<strong>1938</strong> hieß man Klaus-Dieter, Fritz-Dieter usw.), wurde also <strong>Holm</strong>-Dieter gerufen. Auf einigen<br />

alten Fotos ist ein kleiner Junge auf dem Hof meiner Großeltern zu sehen. Die Beschriftung<br />

"Mit <strong>Holm</strong> in Helmlingen" führt jedoch in die Irre. Das bin nicht ich, das ist <strong>Holm</strong><br />

Arnst. Es war damals nichts ungewöhnliches, dass zwischen "Herrschaft" und "Personal" persönliche<br />

Bindungen bestanden. Solange sie noch kein eigenes Kind hatte, durfte meine Mutter<br />

den kleinen <strong>Holm</strong> Arnst auf ihr Dorf mitnehmen. Auch später gab es noch lange eine gute<br />

Beziehung zu dieser Familie. Meine Mutter ist öfters mit mir hingefahren, auch um zu zeigen,<br />

wie gut sich ihr Sprössling entwickelte. Später sind Arnsts in den Westen gegangen und<br />

der Kontakt riss ab. Schade, ich wüsste gern, was aus meinem Namenspatron geworden ist.<br />

Die erste Frau meines Vaters war kränklich, sie hatte einen Herzfehler. Als sie 1933 starb, fiel<br />

das Auge meines Vaters auf die wesentlich jüngere Frieda Hänsel, die schon lange zum<br />

Freundeskreis der Familie gehörte. Noch ehe das Trauerjahr um war, heirateten die beiden.<br />

Sie waren ein ungleiches, aber durchaus ansehnliches Paar. Auf der einen Seite der gut situierte<br />

Beamte, 56 Jahre alt, eine stattliche Erscheinung mit Schnurrbart und Glatze, auf der anderen<br />

Seite die hübsche, in Haushaltsdingen erfahrene, 25 Jahre jüngere Frau. Abgesehen von<br />

der gegenseitigen Zuneigung, über die ich nichts weiß, war es für beide eine vorteilhafte Verbindung.<br />

Sie machte "eine gute Partie", er konnte der Bewunderung seiner Kollegen sicher<br />

sein und sich für den Rest seines Lebens gut versorgt wissen.<br />

Einen Verlierer gab es allerdings bei dieser Eheschließung: Hilda, die Tochter aus der ersten<br />

Ehe meines Vaters. Sportlich war sie (Tennis, Diskus und Hockey), von Verehrern war sie<br />

umschwärmt, - wir befinden uns in den lebenslustigen 20er Jahren! - und der gute Papa las<br />

ihr jeden Wunsch von den Augen ab, zahlte auch die Reisen zum Wintersport in die Schweiz<br />

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und was sonst gerade Mode war. Damit war jetzt Schluss! Meine Mutter übernahm das Regiment.<br />

Hilda, damals 27 Jahre alt, musste ihr Paradies verlassen. <strong>1938</strong> hat sie dann Rudi Pfau<br />

geheiratet, einen schneidigen, sportlichen Lehrer mit “Schmiss”. Im Jahr darauf bekamen die<br />

beiden ihre erste Tochter und ich wurde, obwohl erst ein Jahr alt, zum ersten Mal Onkel. Das<br />

Verhältnis zwischen unseren Familien hat sich allerdings für einige Jahre deutlich abgekühlt,<br />

bevor Krieg und Nachkriegszeit sie wieder enger zusammenrücken ließen.<br />

1.5 Das Beamtenmilieu<br />

Das Umfeld, in das ich hineingeboren wurde, war typisch für den Beamten"stand". Man fühlte<br />

sich erhaben über alle, die auf der gesellschaftlichen Leiter weiter unten standen. Spielkameraden,<br />

die sich nicht benehmen konnten, die von "Arsch" und "Scheiße" sprachen, wurden<br />

mir verboten. Mit solchen Menschen machte man sich nicht gemein. Der Umgang mit Kultur<br />

war ein wichtiges Merkmal des eigenen Standes. Bei uns hing ein Ölgemälde an der Wand,<br />

während in einer Arbeiterfamilie normalerweise nur ein Kunstdruck zu sehen war. Meine Eltern<br />

lasen "anspruchsvolle" Literatur anstelle von Trivialromanen, sie gingen auch ins Theater<br />

und nicht nur ins Kino.<br />

Gegenüber Höhergestellten galt es, bescheiden und höflich aufzutreten. "Hast du dich gut benommen?<br />

Hast du uns keine Schande gemacht?" Das waren die ersten Fragen, wenn ich von<br />

einem Kindergeburtstag zurückkam. Es war das typische Milieu sozialer Aufsteiger. Man<br />

grenzt sich nach "unten" hin ab, will möglichst nichts mehr mit der eigenen Herkunft zu tun<br />

haben. Nach oben hin ist man auf der Hut, und weiß dass man sich mit "Höhergestellten" besser<br />

nicht anlegt. Denn die eigene Position ist eine höchst unsichere: Man kann auf der sozialen<br />

Stufenleiter schnell wieder eine Stufe zurückfallen. Die einzige Möglichkeit, um weiter<br />

nach oben zu gelangen, sind "Arbeit und Fleiß". In einem solchen Milieu wird eine Moral der<br />

Anpassung vermittelt: Bloß nicht unangenehm auffallen! Verhalten wird nicht an sich selbst<br />

gemessen - ob jemand hilfsbereit oder egoistisch, ehrlich oder unaufrichtig ist - sondern daran,<br />

was es bei anderen bewirkt. "Was sollen die Leute von uns denken?" ist wichtiger als:<br />

"Wie würdest du vor dir selbst dastehen?"<br />

Wir wohnten in einem großen Mietshaus aus der Gründerzeit und zwar in der ersten, also der<br />

besten Etage. Das Haus hatte 5 Etagen und darüber noch mehrere Dachböden. Die unterste<br />

Etage lag deutlich über dem Straßenniveau, “Hochparterre” nannte man das. Solche Häuser<br />

werden heute nicht mehr gebaut. Aufzüge gab es damals schon, aber nicht bei uns, sondern<br />

nur in “herrschaftlichen” Häusern. So hatte unser Hausmeister einen mühevollen Aufstieg <strong>bis</strong><br />

in seine kleine Wohnung im Dachgeschoss. Dafür wohnte er aber billiger als wir. Der Hausmeister<br />

war der einzige "richtige" Arbeiter in unserem Haus, ansonsten wohnten Beamte und<br />

Beamtenwitwen dort, außerdem eine Zahnärztin und ein Elektromeister, der auch die damals<br />

neu aufkommenden Radios reparierte. Unsere Wohnung hatte neben Küche Bad, Toilette und<br />

Flur ein großes und ein kleineres Wohnzimmer, eine Kammer (die dann mein Kinderzimmer<br />

wurde) und das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich schätze die Größe der Wohnung auf 65 <strong>bis</strong><br />

70 Quadratmeter. Nach heutigen Maßstäben war es eine kleine Wohnung, nach damaligen<br />

Maßstäben war sie großzügig. Dem Grundriss nach waren in dieser Wohnung maximal 2<br />

Kinder vorgesehen, ersatzweise ein Dienstmädchen. Auch das passte zum Beamtenmilieu.<br />

Man hatte nicht mehr so viele Kinder wie die bäuerlichen Vorfahren.<br />

12


Natürlich war es ganz undenkbar, eins der beiden Wohnzimmer als Kinderzimmer zu benutzen.<br />

Das eine Wohnzimmer war zum täglichen Gebrauch bestimmt, das andere war als "gutes<br />

Zimmer" besonderen Anlässen vorbehalten, wenn Besuch kam, oder für Weihnachten. Das<br />

gute Zimmer wurde auch nur bei solchen Gelegenheiten geheizt. Heizen war nicht nur teuer<br />

sondern auch arbeitsaufwendig. Kohlen mussten aus dem Keller geholt werden, Anfeuerholz<br />

musste zerkleinert werden. Waren die Kohlen richtig durchgebrannt, wurde der Ofen luftdicht<br />

zugeschraubt. Es waren sogenannte “Berliner Öfen”, große Kachelöfen, bei denen der Rauch<br />

bevor er zum Schornstein gelangt, durch viele gemauerte Windungen zieht. War so ein Ofen<br />

gut angefahren und im richtigen Moment zugeschraubt, hielt er mehrere Tage lang warm.<br />

Schraubte man den Ofen zu früh zu, konnte er explodieren. Dann hatte man die Wohnung<br />

voller Ruß und der Ofensetzer musste einen neuen Ofen mauern. Heizen war also eine aufwändige<br />

und gefährliche Angelegenheit, die man sich nur gönnte, wenn es richtig kalt war.<br />

Kammer, Flur und Schlafzimmer hatten ohnehin keine Heizung. Die Toilette und die Badewanne<br />

in der Wohnung waren damals Luxus, in den Nachbarhäusern befanden sich die Toiletten<br />

noch im Treppenhaus.<br />

Wir wohnten also standesgemäß und lebten standesgemäß. Gekocht wurde “Badische Küche”,<br />

grüner Salat beispielsweise immer mit Essig, Öl und Salz, aber ohne den in Sachsen üblichen<br />

Zucker. Überhaupt hatten wir einen Hang zum Badischen. Zu der sächsischen Sippe<br />

meines Vaters gab es keinen Kontakt. Auch war mein Vater durch seine Straßburger Zeit und<br />

seine beiden Ehen nach Baden hin orientiert. So lebten wir wie Badener im Exil. Wir waren<br />

von Sachsen umgeben, pflegten aber die Badischen Eigenheiten. Meine Eltern hatte kaum<br />

Freunde, und wenn, waren es ebenfalls Badener, die es nach Sachsen verschlagen hatte. Urlaub<br />

machten wir ohnehin in Helmlingen.<br />

1.6 Der Krieg<br />

Der Krieg, den ich als Kind kennen lernte, war der Bombenkrieg. Es fing immer auf die gleiche<br />

Weise an. Im Radio kamen erste Vorwarnungen: "Feindliche Bomberverbände im Raum<br />

Braunschweig...". Zu diesem Zeitpunkt war noch offen, wen es diesmal treffen würde. Die<br />

Chemiewerke bei Bitterfeld oder die Leunawerke bei Merseburg oder eben Leipzig. Plötzlich<br />

heulten die Sirenen. Jetzt wurde es ernst. Schnell in den Keller. Dann ging es auch schon los.<br />

Bomben heulten, die Flak bellte, dann immer heftigere Detonationen und das Schlimmste:<br />

die Kellerwände schwankten hin und her. Wir hockten auf unseren Bänken im Luftschutzraum<br />

und konnten nichts tun als abwarten. Manche schrieen laut, wenn es wieder so entsetzlich<br />

krachte, andere wimmerten vor sich hin. Dann ging auch noch das Licht aus, und jeder<br />

dachte: Nun ist Schluss, das Haus bricht zusammen und begräbt uns alle unter sich. Hinzu<br />

kam noch die Sorge, was aus den Angehörigen, die nicht mit im Keller waren, geworden ist.<br />

Mein Vater beispielsweise, hatte er in seinem Postscheckamt überlebt, kam er wieder? Nach<br />

der Entwarnung schauten wir nach draußen. Die Luft war voller Staub, Nachbarhäuser waren<br />

zusammengestürzt, andere brannten, Menschen irrten umher, suchten nach Angehörigen. Am<br />

gleichen Tag kam dann oft noch ein zweiter Angriff, nachts ein dritter.<br />

Wer immer sich diese Art der Kriegführung gegen die Zivilbevölkerung ausgedacht hat - ihm<br />

gebührt ein besonderer Platz in der Hölle! Es war ein Bruch des Völkerrechts, denn dieses gebietet,<br />

Zivilisten aus dem Krieg herauszuhalten. Dass die Deutschen damit angefangen haben,<br />

Wohngebiete zu bombardieren, in Rotterdam und Coventry, rechtfertigt dieses Vorgehen nicht<br />

13


(zumal sich die Alliierten moralisch überlegen fühlten). Ich glaube auch nicht, dass der Bombenterror<br />

(anders vielleicht als der Einsatz der Atombombe in Japan) das Ende des Krieges<br />

beschleunigt hat.<br />

Aber ich greife den Ereignissen vor. Das war der Krieg in seinem Endstadium. Am Anfang<br />

war der Krieg erst einmal weit weg. Etwa so wie ein Gewitter, das langsam aufzieht und von<br />

ferne grummelt, aber man denkt noch: das zieht woanders hin, oder: es wird schnell vorübergehen.<br />

In der ersten Kriegsjahren besaßen die Alliierten noch nicht die nötige Luftüberlegenheit<br />

und vor allem noch keine Flugzeuge, die große Mengen Bomben <strong>bis</strong> nach Mitteldeutschland<br />

tragen konnten. Hamburg, später auch das Ruhrgebiet, waren schon früher erreichbar als<br />

wir im fernen Sachsen.<br />

In Leipzig fielen die ersten Bomben1943. Ich war damals fünf Jahre alt und kann mich noch<br />

gut erinnern, wie Tausende von Menschen in die Nähe des Postbahnhofs pilgerten, um sich<br />

den Schaden anzuschauen. Bei einem Haus waren die Wände in den oberen Etagen herausgerissen.<br />

Man konnte von außen in die Zimmer schauen. Bilder hingen noch an den Wänden,<br />

abgerissene Tapeten flatterten im Wind. Es war eine große Attraktion und niemand konnte<br />

sich vorstellen, dass es bald in jeder Straße so aussehen würde. Am 4. Dezember 1943 kam<br />

dann der erste große Angriff auf Leipzig. Für den folgenden Tag war mein erster Theaterbesuch<br />

geplant. Die Märchenoper "Hänsel und Gretel" sollte mir die Welt des Theaters eröffnen.<br />

Meine Mutter war mit mir in die Stadt gefahren, wir hatten die Karten abgeholt und uns<br />

das Theater schon mal von außen angeschaut. Ich war mächtig aufgeregt vor diesem Ereignis<br />

- aber dann wurde nichts daraus. In der Nacht gab es Fliegeralarm und danach brannte die<br />

ganze Innenstadt. Der Krieg war bei uns angekommen.<br />

Wie kommt ein Kind mit solchen Erlebnissen klar? Das Erleben der Todesangst und der totalen<br />

Ohnmacht während der Bombardierungen haben sich mir tief eingeprägt und käme - da<br />

bin ich mir sicher - in vergleichbaren Situationen oder im Rollenspiel schnell wieder an die<br />

Oberfläche. Orange angestrahlte Burgen und Schlösser erinnern mich sofort an brennende<br />

Städte. Ansonsten suchen sich Kinder ihre eigenen Formen, Erlebtes zu verarbeiten. Natürlich<br />

zeigten meine ersten kindlichen Zeichnungen Flieger aus denen Bomben auf brennende<br />

Häuser herabfallen. Sie zeigten aber auch Geschütze und deutsche Flieger, die feindliche<br />

Bomber abschossen, deuteten also eine "Problemlösung" an und machten damit das Erlebte<br />

erträglicher. Selbstverständlich haben wir Kinder ständig Krieg gespielt. Das nötige Spielmaterial<br />

gab es in jeder Familie. "Bomben auf Engeland" war eins dieser populären Spiele (im<br />

Bonner Haus der Geschichte ist ein Exemplar zu besichtigen). Mit einer Wippe wurden Hütchen<br />

auf eine Karte von Großbritannien geschleudert. Traf man eine Großstadt, gab es viele<br />

Punkte, traf man in abgelegene Regionen, gab es weniger. Heutigen Friedenspädagogen werden<br />

angesichts solcher Spiele die Haare zu Berge stehen. Wir hatten unseren Spass am Gewinnen.<br />

Was hätten wir auch sonst spielen sollen? Dass Konfliktvermeidung besser als Krieg<br />

ist, lag uns jedenfalls fern und ist wohl auch eher eine erwachsene als eine kindliche Idee.<br />

(Sie kommt ja auch in der Geschichte der Menschheit erst spät vor). Das spricht natürlich<br />

nicht dagegen, es heute zum Erziehungsziel zu machen.<br />

Dass die Schwiegermutter meiner Schwester beim Bombenangriff umkam, hat mir keine<br />

Probleme bereitet. Natürlich ist man tot, wenn einem das ganze Haus auf den Kopf fällt. Dass<br />

ich nun nicht mehr mit ihrer tollen Märklin-Eisenbahn spielen konnte, war schade, aber einzusehen.<br />

Die lag ja mit unter dem Trümmerberg. Kinder werden mit so etwas fertig und leben<br />

einfach weiter. Außerdem hatten die Zerstörungen auch spannende Seiten. Es lag viel<br />

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Brauchbares auf der Straße herum und die Trümmerberge dienten uns als Spiellandschaft.<br />

Wir sammelten Granat- und Bombensplitter und tauschten sie untereinander. Für dieses Tauschen<br />

gab es das herrliche sächsische Wort “Gaubeln”.<br />

Viel schwerer zu verkraften war es sicher, wenn Kinder selbst oder wenn nahe Angehörige<br />

verletzt oder getötet wurden. Davon bin ich zum Glück verschont geblieben.<br />

1.7 Waren meine Eltern Nazis?<br />

In der Partei, also in der NSDAP, waren sie nicht. Mein Vater war im Beamtenbund und hat<br />

es, - vielleicht dank seiner Schlitzohrigkeit - geschafft, den Eintritt in die Partei zu vermeiden.<br />

Gewählt haben sie Hitler und seine Partei - wie die meisten Deutschen.<br />

Selbstverständlich hing in unserer Wohnung ein Hitlerbild. Natürlich besaßen wir eine Hakenkreuzfahne<br />

und hängten sie am 1. Mai vors Fenster. Alle deutschen Fensterbretter besaßen<br />

damals die nötige Halterung für die Fahnenstange. Die Hersteller müssen damit ein Vermögen<br />

verdient haben. Vor dem Einschlafen sprach meine Mutter mit mir immer ein kurzes Gebet.<br />

Dazu gehörte auch die Bitte, dass Hitler den Krieg gewinnen möge. Das war aber weniger<br />

als Unterstützung für den Führer gedacht, sondern geschah zu meinen Gunsten. Meine<br />

Mutter war nämlich davon überzeugt, dass alle kleinen Kinder, wenn Hitler den Krieg verliert,<br />

nach Sibirien verschleppt würden. Ins eiskalte Sibirien wollte sie ihr einziges Kind nun<br />

wirklich nicht gehen lassen. Und auch ich wollte lieber bei meiner Mama bleiben.<br />

Später, als Pubertierender, habe ich meinen Eltern die heftigsten Vorwürfe gemacht. "Wie<br />

konntet ihr nur diesen Hitler wählen?" "Ja, was hätten wir denn sonst wählen sollen?" "Und<br />

die Vernichtungslager? Fandet ihr es denn richtig, dass Juden umgebracht wurden, obwohl sie<br />

nichts Böses getan hatten?" - "Das mit den Juden hat Hitler sicher übertrieben. Das hätte er<br />

nicht machen sollen. Aber er war ja auch nur ein Anstreicher." (Eine Anspielung darauf, dass<br />

Hitler gern Kunstmaler geworden wäre, aber von der Münchner Akademie abgelehnt worden<br />

war). Ja, sie waren wie Millionen anderer Deutscher, meine Eltern. Aufgewachsen in einem<br />

Obrigkeitsstaat, dazu erzogen, das Regieren “denen da oben” zu überlassen. Weit davon entfernt,<br />

Politik als eigene Aufgabe zu betrachten, waren sie darauf aus, nicht aufzufallen und<br />

die Zeit, deren Schattenseiten sie ja auch erlebten (zB dass Juden nach den Nürnberger Gesetzen<br />

nicht mehr Beamte sein durften), heil zu überstehen.<br />

Zweifellos haben meine Eltern durch ihr Verhalten den Nationalsozialismus möglich gemacht,<br />

aber welche Alternativen hatten sie? Ich meine nicht: theoretische Möglichkeiten<br />

(theoretisch konnte jeder Widerstandskämpfer werden), ich meine Wahlmöglichkeiten, die<br />

tatsächlich als Alternativen erlebt wurden. Ein deutscher Beamter fühlte sich verpflichtet, seinem<br />

Dienstherrn treu zu dienen. Kam ein anderer Herr, galt es, diesem mit der gleichen Treue<br />

zur Verfügung zu stehen. Dass man sich auch einen besseren Dienstherren suchen könne,<br />

vielleicht sogar den Dienst verweigern musste, war dem deutschen Beamtentum fremd. Eben<br />

deshalb konnten die gleichen Beamten nach der Hitlerzeit ja auch so leicht "weiterverwendet"<br />

(ein sehr aufschlussreicher Ausdruck der Beamtensprache!) werden. Globke diente Adenauer<br />

genau so treu, wie er vorher Hitler gedient hatte. Im proletarischen Milieu gab es da ganz andere<br />

Traditionen, da wusste man, dass Politik "auf der Straße gemacht wird".<br />

15


Anders als mancher Obernazi, der sich am Ende der Hitlerzeit seiner Verantwortung durch<br />

Selbstmord entzog oder im Ausland untertauchte, haben meine Eltern die Suppe, die sie eingebrockt<br />

hatten, auch selbst ausgelöffelt. Mein Vater verlor zum zweiten Mal sein angespartes<br />

Vermögen (1923 hatte er durch die Inflation schon einmal alles eingebüßt). Und auch die<br />

Entbehrungen der Nachkriegszeit, unter denen wir so lange zu leiden hatten, waren ja eine<br />

Folge des von Deutschland begonnenen Krieges.<br />

So blicke ich mit gemischten Gefühlen, aber auch mit einem gewissen Verständnis auf das<br />

Verhalten meiner Eltern in jener Zeit. Hätte ich an ihrer Stelle wirklich soviel anders gemacht?<br />

- Nur mit einem kann ich mich schlecht abfinden: Meine Eltern haben sich nie kritisch<br />

zu ihrem eigenen Verhalten geäußert. "Wir haben etwas falsch gemacht" - zu einem solchen<br />

Satz konnten sie sich nicht durchringen.<br />

1.8 Kriegsende<br />

Dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen konnte, war schon lange vor dem Ende klar.<br />

Mein Vater war auch in Sachen Sieg und Niederlage ein verlässlicher Buchhalter. In seinem<br />

Atlas markierte er täglich den Frontverlauf. Da sah man ganz deutlich, wie der Hase lief.<br />

1942/43 Stalingrad, 1944 Landung der Alliierten in der Normandie - dieser Krieg war nicht<br />

mehr zu gewinnen.<br />

1944 war ich in die Schule gekommen und zwar in die 35. Grundschule, etwa einen halben<br />

Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Mein erstes Schuljahr stand ganz im Zeichen des<br />

Krieges. Wir gingen zwar morgens zur Schule, aber schon bald gab es Fliegeralarm. Dann<br />

wurden wir nach Hause geschickt, besorgte Mütter kamen uns entgegen gerannt, packten uns<br />

und brachten uns in den Luftschutzkeller, aus dem wir dann nach dem Angriff wieder auftauchten<br />

und das alltägliche Leben fortsetzten - <strong>bis</strong> zum nächsten Alarm. Erstaunlich, dass ich<br />

trotz dieser ständigen Unterbrechungen lesen und schreiben gelernt habe. Unsere Schulsachen<br />

trugen wir in einem Tornister, an dem ein Schwamm baumelte. Der Schwamm diente<br />

zum Abwischen der Schiefertafel, auf die mit einem Griffel geschrieben wurde. Die ersten<br />

Schulbücher waren voller nationalsozialistischer Propaganda. Zum Beispiel sah man einen<br />

schmutzigen Jungen traurig abseits stehen, während eine Gruppe fröhlicher Hitlerjungen in<br />

sauberen Uniformen vorbeimarschierte. Klar, wozu wir hier erzogen werden sollten! Es gab<br />

auch noch die Prügelstrafe. Einmal hatten wir im Gang herumgejohlt und wurden - die ganze<br />

Klasse - nacheinander vom Lehrer übers Knie gelegt. Der Rohrstock (noch Vorkriegsware!)<br />

hinterließ einen dicken Striemen auf meinem Po und die folgenden Tage konnte ich nur auf<br />

der Stuhlkante einigermaßen schmerzfrei sitzen. Wer nicht hören will, muss eben fühlen! Die<br />

Hände hatten immer nebeneinander auf der Tischplatte zu liegen. Manche Lehrer malten dafür<br />

extra mit Kreide einen Kreis auf den Tisch. Sobald jemand diese Grenze überschritt (außer<br />

um sich zu melden) trat der Rohrstock in Aktion. Es war schon eine ziemlich finstere<br />

Pädagogik, die hier praktiziert wurde. Aber sie passte zum System.<br />

Es war nun Frühjahr 1945. Der Westen Deutschlands, das Rheinland, das Ruhrgebiet und<br />

Westfalen war bereits von den Alliierten besetzt. Nun rückten sie nach Thüringen und Sachsen<br />

vor. In der Ferne, aus Richtung Halle, war schon das Wummern der Geschütze zu hören.<br />

Niemand wusste genau, was uns bevorstand. Wurden nun alle Nazis erschossen? Kamen alle<br />

deutschen Kinder nach Sibirien?<br />

16


In solchen Situationen lebte man einfach von einem Tag auf den anderen. Angesichts des nahen<br />

Kriegsendes war die Bevölkerung gespalten. Die einen wollten Deutschland "<strong>bis</strong> zum<br />

letzten Blutstropfen" verteidigen. Die anderen probierten schon mal, wie man ein weißes<br />

Betttuch an der Fahnenstange befestigt. Am besten mit Reißzwecken. (Ich nannte sie noch<br />

Jahre danach Reichszwecken. Wo doch alles mit dem Reich zu tun hatte, die Reichsbahn, der<br />

Reichskanzler und die Reichsmark, war ich gar nicht auf die Idee gekommen, das Wort anders<br />

zu schreiben). Das Hitlerbild in unserer Wohnung wurde abgehängt. Schwierig war in<br />

diesen Tagen, das richtige Tempo zu haben, also nicht zu schnell aber auch nicht zu langsam<br />

zu sein. Was tun, wenn uns der Blockwart einen Besuch abstattet? "Volksgenosse <strong>Roch</strong>, wo<br />

ist denn das Bild unseres Führers geblieben, das immer hier gehangen hat? Das wird dem<br />

Führer aber gar nicht gefallen. Da muss ich gleich eine Meldung machen." So lustig war das<br />

leider nicht. Es sind damals tatsächlich Menschen hingerichtet worden, nur weil sie gesagt<br />

hatten, dass Deutschland den Krieg verliert.<br />

Alte, Kranke und Heranwachsende wurden jetzt noch schnell eingezogen, sollten Panzergräben<br />

bauen oder mit der Panzerfaust die Heimat verteidigen. Zum Glück wurde mein Vater dabei<br />

übersehen. Zum regulären Kriegsdienst hatte er nicht gemusst, weil er schon am ersten<br />

Weltkrieg teilgenommen hatte und für den zweiten zu alt war. Jetzt fuhr er weiter mit der<br />

Straßenbahn durch unsere zerbombte Stadt in sein Postscheckamt und bearbeitete verlorengegangene<br />

Potschecksendungen. Ein Muster an Pflichterfüllung. Er wird genug zu tun gehabt<br />

haben. In diesen Zeiten ging eine Menge verloren - nicht nur der Krieg.<br />

Die allerletzten Kriegstage verliefen ziemlich chaotisch. In unserer Nähe gab es große Vorratslager<br />

mit Wehrmachtsbedarf, die wurden aufgelöst, manchmal auch geplündert. Nachdem<br />

wir jahrelang keine Schokolade mehr gesehen hatten, kippte ein LKW überraschend eine<br />

ganze Ladung davon auf die nächste Straßenkreuzung - beste Fliegerschokolade, die mit den<br />

Rillen. Orden und Ehrenzeichen waren eimerweise zu haben. Wir Kinder steckten uns die Jacken<br />

voller Orden, natürlich alle mit Hakenkreuzen und überdimensionierten Adlern. Die Eltern<br />

rissen sie uns wieder ab. "Wenn euch der Ami damit erwischt, werdet ihr gleich erschossen!"<br />

Es war ein heilloses Durcheinander. Dann schickten mich meine Eltern zum Gemüseladen<br />

an der Ecke. Dort stand - ich werde es nie vergessen - ein Jeep auf dem Bürgersteig und<br />

darin saß der erste Neger meines Lebens. Der Krieg war zu Ende.<br />

An den Hauswänden klebten überall große Plakate, wie wir uns zu verhalten hätten: Waffen<br />

abgeben, sich nicht zusammenrotten, nachts in den Häusern bleiben. Seltsamerweise mussten<br />

auch alle Fotoapparate abgegeben werden. Um schnell die Wünsche der neuen Herren zu erfüllen,<br />

- auch sie drohten gleich mit der Todesstrafe - übersah meine Mutter, dass noch ein<br />

Film in der Kamera war, der mit den Bildern von meiner Einschulung. So kommt es, dass<br />

von mir kein Foto mit Zuckertüte existiert. Aber das war zu verschmerzen. Wir hatten den<br />

Krieg heil überstanden, waren nicht einmal ausgebombt, irgendwie würde es schon weitergehen.<br />

1.9 Die Russen kommen<br />

Gerade hatten wir uns an die Amis gewöhnt und es gab die ersten Liebschaften zwischen<br />

deutschen Frauen und "Besatzern", da zogen sie schon wieder ab. Anstelle der großen amerikanischen<br />

Lkws rollten jetzt kleine Wägelchen mit Panje-Pferdchen davor in die Stadt, natür-<br />

17


lich auch Panzer - der berühmte T-34. Über die Hintergründe dieser Aktion haben wir lange<br />

gerätselt. Es war so: die Amerikaner hatten mehr Land erobert als ihnen nach den Absprachen<br />

von Jalta zustand, das wurde jetzt korrigiert. Leipzig gehörte fortan zur Sowjetischen Besatzungszone<br />

(SBZ) oder, wie man von den westlichen Zonen aus lieber sagte: Zur Ostzone<br />

bzw. einfach "zur Zone".<br />

Später, zu DDR Zeiten, mussten wir dann immer am 8. Mai, die Befreiung durch die ruhmreiche<br />

Sowjetarmee feiern. Kein Wort davon, dass uns Leipziger die US-Armee befreit hatte.<br />

Wir dachten uns so unseren Teil, brachten auch manchen Lehrer in Verwirrung ("Erzählen Sie<br />

doch mal, wie das war, als die Sowjetarmee uns befreite.")<br />

Die neuen Besatzer hielten sich in der Öffentlichkeit sehr zurück. Ganz anders als bei den<br />

Amerikanern waren Kontakte zwischen den Soldaten und der Bevölkerung nicht erwünscht.<br />

Die Masse der Soldaten war in den ehemaligen Wehrmachtskasernen ganz in unsrer Nähe untergebracht.<br />

Dort wurden sie den ganzen Tag über mit Musik und markigen Sprüchen beschallt,<br />

man hörte es im ganzen Stadtteil, konnten aber nichts verstehen. Russischunterricht<br />

bekamen wir in der Schule erst später.<br />

Viele der einfachen Soldaten kamen aus entlegenen Gebieten der Sowjetunion, hatten fremde,<br />

mongolische Gesichtszüge. Für sie war unsere Lebensweise sehr ungewohnt. Manche hatten<br />

noch nie eine Toilette mit Wasserspülung gesehen. Die Geschichte von dem Russen, der seine<br />

Wäsche in der Toilette wäscht, machte schnell die Runde. Da fühlte man sich sofort in der<br />

Meinung bestätigt, dass es sich um "Untermenschen" handelt. In der Stadt sah man nur gelegentlich<br />

Russen, meist Offiziere. Das waren oft sehr gebildete Leute, die gut Deutsch sprachen,<br />

Goethe und Schiller schätzten.<br />

Einmal haben wir Jungens mit Schneebällen auf eine vorüberfahrende Straßenbahn geworfen.<br />

Dabei trafen wir versehentlich zwei Russen. Am nächsten Tag mussten wir zum Schuldirektor<br />

und wurden heftig zusammengestaucht. Wir sollten froh sein, wenn wir nicht abgeholt<br />

würden. "Abgeholt" wurden damals viele, fast immer nachts, damit die Nachbarn nichts<br />

mitbekamen. Es waren Leute, die unter Hitler wichtige Positionen innehatten, aber auch völlig<br />

unschuldige, die von anderen denunziert worden waren. Das Schlimme war: es gab keine<br />

Prozesse, die Angehörigen bekamen erst nach Jahren oder auch nie Bescheid, wohin jemand<br />

gebracht worden war. Für die Familien war das eine Katastrophe. Die Ehefrau wusste nicht<br />

ob ihr Mann noch lebte, ob sie Witwe war, ob sie wieder heiraten konnte, ob sie Anspruch auf<br />

eine Rente hatte usw. Ein Freund hat auf diese Weise seinen Vater verloren. Er weiß <strong>bis</strong> heute<br />

nicht, was aus ihm geworden ist. Es war eine Zeit der allgemeinen Verunsicherung.<br />

1.10 Hungerjahre<br />

Wirtschaftlich ging es bei uns nur ganz langsam voran. Zwar waren die Gas- und Wasserleitungen<br />

bald geflickt, die Straßenbahnen fuhren wieder, Dächer waren notdürftig repariert,<br />

über die Trümmerlandschaft waren Trampelpfade angelegt. Aber die Versorgung mit dem Alltäglichen<br />

lag völlig darnieder. Es gab keine Seife, keine Streichhölzer, keine Bleistifte, kein<br />

Toilettenpapier - es gab gar nichts. Zudem gingen die Sachen aus der Vorkriegszeit nach und<br />

nach kaputt und man bekam keinen Ersatz mehr. Was tun, wenn der Herd endgültig versagte,<br />

das Bügeleisen kalt blieb, der Wasserboiler seinen Geist aufgab? In unserem Haus praktizier-<br />

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te ein Zahnärztin. Was sollte sie tun, nachdem der elektrischer Bohrer ausgeleiert, die letzte<br />

Ampulle mit Betäubungsmittel verbraucht war? Irgendwie musste man sich behelfen und gelegentlich<br />

musste man die Zähne zusammenbeißen. Es wurden die unmöglichsten Erfindungen<br />

gemacht. Autos zum Beispiel bekamen einen Holzvergaser. In einem großen Kessel wurde<br />

unter Luftabschluss Holz verbrannt, das entstehende Gas wurde direkt zum Vergaser geleitet.<br />

Es stank furchtbar, aber die Dinger funktionierten tatsächlich. Man sah diese Holzvergaser<br />

meist bei LKWs und bei Lieferwagen, wie dem berühmten Tempo-Dreirad, das bei<br />

Milch- und Schrotthändlern so beliebt war.<br />

Es war die große Zeit des Tauschhandels. Für Geld - immer noch die alten Scheine aus der<br />

Hitlerzeit - konnte man, außer der "Zuteilung" d.h. dem, was man an Lebensmitteln und Kleidung<br />

auf "Marken" bekam, nichts kaufen. Geld war praktisch wertlos. Also musste man tauschen.<br />

Ein Radio gegen einen Sack Kartoffeln, ein defektes, aber noch reparierbares Bügeleisen<br />

gegen Goethes gesammelte Werke und so weiter. Dafür gab es sogenannte Tauschzentralen.<br />

Man gab etwas ab, bekam dafür soundsoviel Punkte und konnte dafür etwas anderes<br />

mitnehmen. Natürlich wurde auch auf dem "Schwarzen Markt" getauscht, an bestimmten<br />

Plätzen und Straßenecken, immer in der Gefahr, von der Polizei geschnappt zu werden. Eine<br />

neue deutsche Polizei war direkt nach Kriegsende etabliert worden. Was früher Schupo<br />

(Schutzpolizist) oder Wachtmeister hieß war jetzt ein "Volkspolizist", abgekürzt: Vopo.<br />

In diesen ersten Nachkriegsjahren sind viele Menschen gestorben, oft an ganz einfachen<br />

Krankheiten. Sie waren in so schlechter Verfassung, dass sie eine einfache Erkältung nicht<br />

überstanden. Es gab auch richtige Epidemien. Alle wurden wir gegen Typhus und Paratyphus<br />

geimpft. Und es gab auch immer wieder Selbstmorde, weil jemand keine Perspektive mehr<br />

für sich sah. Mein Schulweg führte über eine Eisenbahnbrücke. Dort habe ich mehrfach gesehen,<br />

dass ein Zug auf freier Strecke hielt, weil sich jemand vor die Räder geworfen hatte.<br />

Die Schule hatte im Oktober 1945 wieder angefangen. Manches war jetzt anders als vorher.<br />

Die Prügelstrafe war abgeschafft. Es gab viele neue Lehrerinnen und Lehrer, denn anders als<br />

in den Westzonen waren im Osten alle Lehrer, die der NSDAP angehört hatten, entlassen<br />

worden. Man wollte einen wirklichen Neuanfang machen. An ihre Stelle traten sog. Neulehrer,<br />

meist Frauen - viele Männer waren ja noch in Kriegsgefangenschaft -, die keine richtige<br />

Ausbildung hatten, dafür aber mit großem Eifer bei der Sache waren. Es kam vor, dass unsere<br />

Lehrerin uns im Lehrbuch nur ein Kapitel voraus war. Eigentlich eine interessante pädagogische<br />

Situation. Wir hätten gemeinsam lernen können!<br />

Alle waren wir neugierig. Ich erinnere mich an eine Vertretungsstunde. Der Lehrer kam herein<br />

und fragte nur: ”Was wollt ihr wissen?” Wir wollten wissen wie ein Auto funktioniert. Da<br />

hat er uns das Zusammenspiel von Motor und Getriebe erklärt. Das war die spannendste<br />

Schulstunde meines ganzen Lebens. Später bin ich noch vielen Lehrern begegnet (und auch<br />

selbst einer geworden), aber nie wieder hat einer gefragt "Was wollt ihr wissen?" Der Mann<br />

hatte noch eine weitere Begabung: er konnte mit beiden Händen gleichzeitig schreiben und<br />

zeichnen. Mit der linken Hand zeichnete er z.B. den Querschnitt einer Blüte an die Tafel, mit<br />

der rechten schrieb er - gleichzeitig! - die Erläuterung dazu. Auch das habe ich kein zweites<br />

Mal erlebt.<br />

In den ersten Nachkriegsjahren gab es, was das geistige Leben anlangt, einen großen Aufbruch.<br />

In der Hitlerzeit war so vieles unterdrückt worden - man denke nur an Malerei und Architektur<br />

- das sollte nun alles Raum bekommen. Menschen kehrten aus dem Exil zurück, er-<br />

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zählten vom Leben in fernen Erdteilen, die wir <strong>bis</strong> dahin nur aus Abenteuerbüchern kannten.<br />

Einer meiner Lehrer war in den USA gewesen. Er brachte den Unterschied zu Deutschland<br />

auf den herrlichen Satz: “In Amerika fahren die Leichenwagen auf zwei Rädern um die Kurve!”<br />

Gemeint war: Sie fahren so schnell, dass zwei der vier Räder abheben. Ein anderer war<br />

zur See gefahren, war den Krieg über interniert gewesen und erzählte uns spannende Seefahrergeschichten.<br />

Manche kamen in die SBZ, weil sie dort ihre Familie hatten, andere weil sie<br />

von einem sozialistischen Deutschland träumten und diesem im Osten größere Chancen einräumten.<br />

Alle wollten sie mitmachen beim Aufbau einer ganz neuen Gesellschaft. Man darf<br />

diese "wilde" Zeit nicht mit der späteren DDR verwechseln. Damals war noch vieles offen,<br />

was später normiert und gleichgeschaltet wurde. Eine Zeit für kühne Träume!<br />

Offen war auch, was aus Deutschland werden sollte. Nur eins war klar: in diesem Land sollte<br />

nie wieder eine faschistische Diktatur an die Macht kommen, und es sollte nie wieder ein<br />

Krieg von Deutschland ausgehen. Abgesehen von dieser grundsätzlichen Übereinstimmung<br />

ähnelten die (noch) Alliierten einer Reisegruppe, die sich uneins ist, wohin die Reise gehen<br />

soll. Die einen wollten ein möglichst schwaches Deutschland, allenfalls mit einer kleinen Armee<br />

zur Selbstverteidigung, jedenfalls nicht in der Lage, nochmal einen Krieg anzufangen<br />

(das Japanische Modell), vielleicht auch politisch neutral, an keine der Großmächte gebunden<br />

(das Modell Österreich). Andere dachten schon an die sich abzeichnenden "Blöcke". Wohin<br />

gehörte dann ein künftiges Deutschland? Als Ganzes zum Osten, als Deutsche Volksdemokratie?<br />

Oder aufgeteilt: die Westzonen zum Westen, die Ostzone zum Osten? Dass dieses Modell<br />

sich schließlich durchsetzen würde, war in den ersten Nachkriegsjahren keineswegs vorauszusehen.<br />

Die Sowjetunion und die SBZ haben noch lange eine gesamtdeutsche Lösung angestrebt,<br />

die der Westen, vor allem Frankreich, nicht wollte und die Adenauer möglicherweise<br />

durch seine einseitige Hinwendung zum Westen verhindert hat.<br />

1.11 Mein Vater als Gärtner<br />

Im Herbst 1945 war mein Vater in Pension gegangen. Nun hatte er endlich Zeit, sich gründlich<br />

um seinen Garten zu kümmern. Genau genommen waren es zwei Gärten, beide in der<br />

gleichen Schrebergartenkolonie, etwa einen Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Da<br />

ging er nun jeden Morgen nach dem Frühstück hin, kam zum Mittagessen heim, machte anschließend<br />

noch ein Nickerchen auf den Sofa und verzog sich dann wieder in seine Gärten.<br />

Es war ein kleines Paradies, das er da zum Blühen brachte. Apfelbäume, Birnbäume, Johannisbeeren,<br />

Stachelbeeren, Salatköpfe, Gurken, Möhren, all das wuchs und wuchs, musste aber<br />

auch ständig gegossen und gegen Unkraut und Schädlinge verteidigt werden. Auch Tabak<br />

wurde dort angebaut. Mein Vater war ein starker Raucher und brauchte Tabak für seinen Pfeife.<br />

In jedem der beiden Gärten hatten wir eine gemütlich eingerichtete Laube. Dahinein konnte<br />

man sich zurückziehen, wenn es regnete. In der Laube zu sitzen, den Regen auf das Dach<br />

trommeln zu hören oder in der offenen Tür sitzend, zuzuschauen wie der Regen auf den Pfützen<br />

Blasen bildet, das sind für mich die schönsten Kindheitserinnerungen. Es war eine Art<br />

vorgeburtliche Geborgenheit. Gern hätte mein Vater aus mir einen Gärtner, wie er einer war,<br />

gemacht, aber ich war ihm nicht genau genug. So exakt wie die Zahlenkolonnen auf seinen<br />

Papieren, so genau sollten auch die Salatpflanzen in einer Reihe stehen. Solchen Ansprüchen<br />

genügte ich nicht und so ist mir der berühmte "grüne Daumen" leider nicht gewachsen.<br />

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Die Gärten waren für uns eine große Hilfe, weil sie unsere Ernährung sicherten. Leider wuchsen<br />

im Garten keine Buntstifte, die ich dringend für die Schule brauchte und die es nirgends<br />

zu kaufen gab. Auch Fleisch wuchs nicht auf Bäumen. Da kam dann wieder die Tauschwirtschaft<br />

ins Spiel. Nicht weit von unserem Garten betrieb jemand eine Biberzucht. Diese possierlichen<br />

Tierchen landeten gelegentlich in unserem Kochtopf. Sie schmeckten lecker, nur<br />

die riesigen Zähne wirkten abschreckend.<br />

Was nicht im Garten wuchs, musste durch "Stoppeln" besorgt werden. Oft bin ich mit meinen<br />

Eltern hinaus aus Land gefahren, um auf abgeernteten Feldern einzusammeln, was beim Ernten<br />

übrig geblieben war: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben. Es gab damals noch keine modernen<br />

Erntemaschinen, deshalb blieb für uns und die vielen tausend anderen Stoppler, die<br />

heuschreckenartig über die Äcker herfielen, eine Menge übrig. Allerdings machte die Technik<br />

Fortschritte. Schon bald gab es eine Kartoffelerntemaschine, die den sinnigen Namen "Stopplertod"<br />

trug.<br />

Ein glücklicher Zufall half uns, das Heizungsproblem zu lösen: Unsere Gasuhr ging kaputt.<br />

Neue Gasuhren gab es nicht. Wir wurden direkt an die Gasleitung angeschlossen, zahlten<br />

einen geringen Pauschalbetrag und konnten soviel Gas verbrauchen, wie wir wollten. Mehrere<br />

Winter lang brannten bei uns ständig alle drei Brenner des Herdes auf vollen Touren, die<br />

Zimmertüren standen offen und wir brauchten nicht zu frieren. Es waren übrigens außergewöhnlich<br />

kalte Winter, so als würden wir nun auch klimatisch stärker an den Osten angekoppelt<br />

(die "sibirische Kälte").<br />

Ein weiteres Problem waren die Stromsperren. Strom wurde nicht genug produziert und man<br />

brauchte ihn für die Industrie, also musste die Bevölkerung im Dunkeln sitzen. Nach einer<br />

Weile hatte sich das ganz gut eingespielt. In der Zeitung stand, an welchen Tagen unser Stadtbezirk<br />

dran war. Man konnte sich darauf einrichten, den Abend im Dunkeln zu verbringen.<br />

Kerzen waren uns zu teuer und zum Lesen waren sie ohnehin zu dunkel. Meist saßen dann<br />

meine Eltern auf dem Sofa, während ich mir aus Decken und Kissen auf dem Boden eine<br />

Höhle baute. Dann erzählten meine Eltern Geschichten aus ihrem Leben. Die Kaiserzeit, den<br />

ersten Weltkrieg, die angeblich goldenen "zwanziger Jahre" - all das habe ich auf diese Weise<br />

aus erster Hand erzählt bekommen.<br />

1.12 Lernen fängt mit Neugier an<br />

Verglichen mit heute war es schon eine wesentlich andere Welt, in der wir damals aufwuchsen.<br />

Kürzlich habe ich meinen Sohn gefragt, warum er nie wissen wollte, wie es in meiner<br />

Kindheit zuging. "Kenn ich doch alles aus dem Fernsehn", war seine Antwort.<br />

Anders als heute, wurden wir nicht mit Informationen überschüttet, sondern mussten uns vieles<br />

selbst zusammensuchen. Besonders wichtig wurde für mich die Volksbücherei. Erst<br />

brachte mein Vater, der ein fleißiger Leser war, mir Bücher mit, später ging ich selbst hin. Ich<br />

las so ziemlich alles, was ich in die Finger bekam, besonders Abenteuerbücher oder Reisebeschreibungen,<br />

Sven Hedin zum Beispiel. Natürlich auch Karl May, der war ja ohnehin eine<br />

Art sächsischer Volksheld. Von seinen 64 Bänden habe ich 52 gelesen. Ein absoluter Spitzenwert,<br />

denn in der Bücherei hatten sie ihn nicht. Karl May galt als "nicht jugendfrei". Neu gedruckt<br />

wurde er auch nicht. Man musste herausfinden, wer noch ein paar Bände aus der Vor-<br />

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kriegszeit besaß. Das waren dann meist die bekannteren Titel, zum Beispiel "Winnetou", aber<br />

wer besaß schon den autobiografischen Band mit dem genialen Titel "Ich"?<br />

Neben dem Lesen verbrachte ich viel Zeit mit Basteln. Ich nahm alles auseinander, was ich in<br />

die Finger bekam. Das war nicht ungefährlich, vor allem, wenn ich die Wirkungsweise nicht<br />

verstand. Warum hat die Steckdose zwei Löcher? Ganz einfach, dachte ich mir, durch zwei<br />

Leitungen kann mehr Strom fließen, als durch eine. (Ein schönes Beispiel für kindliche<br />

"Theoriebildung". Ich stellte mir Strom wie Wasser vor, hatte also das Prinzip des Spannungspotentials<br />

nicht verstanden). Dann könnte man aber doch auch anstelle der beiden Leitungen<br />

eine einzelne, doppelt so dicke nehmen. Ich suchte mir ein dickes Kabel, spaltete es<br />

auf und steckte die eine Kabelhälfte in das linke die andere in das rechte Loch der Dose.<br />

"Patsch" war meine Konstruktion verschmort und eine neue Sicherung fällig. Meine Eltern<br />

ließen mich gewähren, hatten vermutlich gar keine Ahnung in welche Gefahr mich meine<br />

Entdeckerfreude gelegentlich brachte, zumal ich meist in ihrer Abwesenheit auf Entdekkungsreise<br />

ging.<br />

Einen großen Vorteil hatte meine Wissbegier: ich kam in der Schule gut voran. Vor allem in<br />

den naturwissenschaftlichen Fächern. In Mathematik, Chemie und Physik war mir, die ganze<br />

Schulzeit über, eine Eins sicher. Der Rest waren Zweier, <strong>bis</strong> auf je eine Drei in Sport und Musik.<br />

Einschränkend muss man dazu allerdings sagen, dass die Noten im Osten nur <strong>bis</strong> zur<br />

Fünf gingen.<br />

Eines Tages machte ich eine Entdeckung, die mein weiteres Schulleben wesentlich erleichterte.<br />

Man konnte sich schon die Schulbücher der folgenden Klasse besorgen und darin herumschmökern.<br />

Ich betrieb also "selbstorganisiertes Lernen", wie es heute heißt, und ließ die<br />

Lehrer darüber staunen, was ich schon alles wusste. Damit macht man sich bei Mitschülern<br />

nicht gerade beliebt und so hatte ich keinen leichten Stand in der Klasse. Hinzu kam, dass ich<br />

immer einer der Kleinsten war. Beim Völkerball machten sich die anderen immer einen Spaß<br />

daraus, mich "abzuschießen". Zwar versuchte ich flink auszuweichen, aber irgendwann traf<br />

mich der dicke, schwere Ball, ich ging damit zu Boden und schrammte mir Beine und Arme<br />

auf. Auch sonst hatte ich allerhand Hänseleien zu ertragen, lernte dabei aber auch, mir Freunde<br />

zu verschaffen, die mich beschützten.<br />

Meine Eltern freuten sich natürlich sehr über ihr aufgewecktes Kind. Allerdings waren sie<br />

nicht leicht zufrieden zu stellen. Schrieb ich in einer Klassenarbeit eine Zwei, hieß es prompt:<br />

"Da hättest du dich ruhig noch etwas mehr anstrengen können!" Es war das typische Schicksal<br />

eines Einzelkindes aus einer Aufsteigerfamilie. So ein Kind muss es weiter bringen als<br />

seine Eltern. Als Leitbild schwebte meinem Vater der Sohn eines seiner Postkollegen vor. Der<br />

war Professor und hatte zwei Doktortitel. Tut mir leid, ich habe es nur zu einem Lehrauftrag<br />

für Sozialphilosophie und Sozialethik und auch nur zu einem einzigen Doktortitel gebracht.<br />

Da hätte ich mich ruhig etwas mehr anstrengen können.<br />

1.13 Die Spaltung Deutschlands<br />

Die Frage, ob es nicht besser sei, sich in den Westen abzusetzen, hat meine Eltern oft beschäftigt.<br />

Einerseits besaßen wir noch die alten Bindungen nach Süddeutschland. Die gesamte<br />

Sippe meiner Mutter lebte dort. Daran hätten wir anknüpfen können. Mein Vater hätte auch<br />

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im Westen weiter seine Pension bekommen. Aber: Wer "nieber machte", konnte bestenfalls<br />

sein Handgepäck mitnehmen. Unsere Möbel, den Garten, die ganze vertraute Umgebung hätten<br />

wir zurücklassen müssen. Mein Vater war jetzt siebzig. Hätte er es geschafft, noch mal ein<br />

ganz neues Leben zu beginnen? Wir schwankten hin und her.<br />

Ständig gingen Menschen in den Westen, weil sie sich dort bessere Lebensbedingungen erhofften.<br />

Auch meine Schwester hatte schon diesen Weg gewählt. Technisch war es kein Problem.<br />

Die Grenzen zwischen den Besatzungszonen waren noch durchlässig. Die Zonengrenze<br />

entsprach den alten Ländergrenzen und schlängelte sich noch ohne "Todesstreifen", ohne<br />

Minen und Selbstschussanlagen durchs Gelände. Man brauchte nur einen ortskundigen<br />

"Schlepper", der einen hinüber brachte. Schlimmstenfalls wurde man erwischt und zurückgeschickt,<br />

vielleicht auch ein paar Tage festgehalten, wie es einem unserer Lehrer erging. Der<br />

wollte zu einer Beerdigung in den Westen. Zum traurigen Anlass passend, hatte er einen<br />

schwarzen Anzug angezogen. Leider wurde er geschnappt und für ein paar Wochen ins Kalibergwerk<br />

gesteckt. Von dort kam er wieder, als wäre nichts gewesen - nur sein Anzug, der<br />

war jetzt weiß.<br />

1948 konnte ich mir das alles aus der Nähe ansehen. Verwandte meiner Mutter waren gestorben,<br />

Erbschaftsangelegenheiten mussten geregelt werden. Meine Mutter nutzte die Gelegenheit,<br />

sich mal wieder in ihrer alten Heimat umzusehen und nahm mich mit. Von der sowjetischen<br />

Behörde bekamen wir einen Interzonenpass. Was zwischen den einzelnen Zonen ablief,<br />

war ja immer noch Sache der Besatzungsmächte. Damit wurde uns gestattet, aus der sowjetischen<br />

über die amerikanische in die französische Zone zu reisen. In vier Wochen hatten<br />

wir zurück zu sein.<br />

Die Verkehrsverbindungen waren noch schlecht, die Züge überfüllt. Am ersten Tag kamen<br />

wir nur <strong>bis</strong> Eisenach. Das war schon ganz in der Nähe der Grenze. Hier hatten nun die meisten<br />

Reisenden ein Problem. Anders als wir besaßen sie keinen Interzonenpass, mussten also<br />

"schwarz über die grüne Grenze". Nach Einbruch der Dunkelheit begann um den Bahnhof<br />

herum ein emsiges Treiben. Überall standen kleine Menschengrüppchen, die um den Schlepperlohn<br />

feilschten, um dann noch vor Sonnenaufgang Richtung Westen aufzubrechen. Eine<br />

Stimmung wie in einem Goldgräberfilm und für mich ein spannendes Abenteuer! Wir hatten<br />

es besser, schliefen im Wartesaal auf Kartoffelsäcken mit pieksender Strohfüllung und reisten<br />

am nächsten Morgen weiter über Frankfurt nach Bühl, - wo die Bühler Zwetschgen und der<br />

UHU-Kleber herkommen. Von Bühl aus fuhr damals eine Kleinbahn <strong>bis</strong> nach Kehl. An dieser<br />

Strecke lag Helmlingen, das Heimatdorf meiner Mutter. Dort sah alles etwas freundlicher aus<br />

als im fernen Leipzig, aber der große Wohlstand war auch dort noch nicht ausgebrochen. Das<br />

Dorf war vom Krieg ziemlich mitgenommen, denn um den Rheinübergang bei Kehl war heftig<br />

gekämpft worden. Aber natürlich hatten die Bauern genug zu essen. Obwohl für mich als<br />

Großstadtkind hier vieles ungewohnt war, gefiel es uns gut. Meine Mutter ließ sogar bei den<br />

Franzosen in Baden-Baden unseren Interzonenpass verlängern. Bei der Rückreise führte das<br />

an der Grenze zu einer heftigen Szene. Die Franzosen seien überhaupt nicht berechtigt, ein<br />

sowjetische Dokument zu verlängern, hieß es. Wir hätten ungültige Papiere. Diese Auseinandersetzung<br />

war so ein kleines Spiegelbild der internationalen Lage. Die ehemaligen Kampfgefährten,<br />

- Amerikaner, Engländer und Franzosen auf der einen, Russen auf der anderen<br />

Seite - standen sich zunehmend feindselig gegenüber. Als wir in Leipzig ankamen, hörten wir<br />

aus dem Lautsprecher, soeben sei der letzte Interzonenzug eingetroffen. Die Verkehrsverbindungen<br />

waren gekappt, Deutschland in Ostdeutschland und Westdeutschland geteilt.<br />

23


1.14 Die DDR entsteht<br />

Die Spaltung zwischen West und Ost verschärfte sich. Mit der Berlin-Blockade ließ sich die<br />

Sowjetunion auf eine riskante Machtprobe ein. Sie verlor diese nicht nur, sie beschleunigte<br />

damit auch das Entstehen eines (west)deutschen Staates, der sich als "Bollwerk gegen den<br />

Kommunismus" verstand. Am 23.Mai 1949 wurde die BRD gegründet, wenige Tage später<br />

folgte als Reaktion die Gründung der DDR. Wir Ossis erlebten diese Vorgänge ziemlich passiv.<br />

Partei und Regierung erwarteten zwar ständig eine breite Zustimmung der Bevölkerung,<br />

gewünscht war aber lediglich ein Ja-Sagen zu Plänen, die bereits feststanden. Sich an der Suche<br />

nach Alternativen zu beteiligen, war nicht gefragt. Also fanden wir uns damit ab, dass wir<br />

in der DDR lebten - man konnte ja doch nichts daran ändern.<br />

Die wirtschaftliche Lage unserer Familie verschlechterte sich. Während die Einkommen der<br />

Arbeiter langsam stiegen, bekam mein Vater weiterhin seine 90,-- Mark Rente. Zwar zahlten<br />

wir nur eine geringe Miete und der Lohn eines Facharbeiters betrug1950 auch nur ganze<br />

256,-- Mark, aber die Schere zwischen dem Durchschnittseinkommen und unserem Familieneinkommen<br />

ging immer weiter auseinander. Da traf es mich hart, wenn andere mit ihrem<br />

neuen Reichtum protzten. Einmal musste ich zuschauen, wie so ein "Besserverdiener" in der<br />

Gaststätte seinen Hund mit Bockwürsten fütterte. Noch eine und noch eine und noch eine für<br />

das liebe Hundevieh. Ich hätte auch gern eine Bockwurst probiert - sie kamen gerade in Mode<br />

-, konnte sie aber nicht bezahlen. Dieses und ähnliche Erlebnisse haben in mir ein tiefes<br />

Gerechtigkeitsbedürfnis wachsen lassen, das ich mir auch mit dem Schimpfwort "Sozialneid"<br />

nicht ausreden lasse. Es gibt auf dieser Welt Verhältnisse, die sind so ungerecht, dass sie geändert<br />

werden müssen - notfalls mit Gewalt. Wenn jemand mit Reichtum protzt, kann ich<br />

spontan zum Kommunisten werden.<br />

Meine Eltern haben sich nach Kräften bemüht, die Familie über die Runden zu bringen. Mein<br />

Vater fing an, Flaschen und Buntmetalle zu sammeln und weiter zu verkaufen. Viel Verwertbares<br />

fand er rund um die russischen Kasernen. Es war dort üblich, Abfälle aller Art einfach<br />

über den Zaun zu entsorgen. Bald sah es in unserer Gartenlaube aus wie auf einem Schrottplatz<br />

und es roch auch so. Einmal fand mein Vater eine fast komplette Maschinenpistole. Die<br />

ließ er aber rasch verschwinden, denn die Staatsmacht sah es gar nicht gern, wenn das Volk<br />

Waffen besaß. Später ging mein Vater an die Autobahn, Beeren sammeln. Die verkaufte er an<br />

einen Heilmittelhändler. Außerdem vermieteten wir ein Zimmer an Studenten. Als meine<br />

Schwester in den Westen ging, hatte sie uns ihr Klavier dagelassen. Dadurch konnten wir an<br />

Musikstudenten vermieten. Die zahlten für die Nutzung des Klaviers extra, gingen mir damit<br />

aber auch ganz schön auf die Nerven. Es ist ein großer Unterschied, ob man sich ein komplettes<br />

Klavierkonzert anhört oder eine einzelne Passage daraus zwanzig oder dreißig Mal hintereinander.<br />

Oft haben uns auch unsere Verwandten im Westen weiter geholfen, indem sie Waren schickten,<br />

die es in der DDR nicht gab, Medikamente beispielsweise oder einen neuen Schulfarbkasten.<br />

Bis sich die Versorgungslage deutlich besserte, dauerte es noch eine ganze Weile. Zunächst<br />

wurde in die Schwerindustrie investiert, erst später kamen Konsumgüter dran. Die<br />

DDR hatte, was die Wirtschaft anlangt, deutlich schlechtere Startbedingungen als die BRD.<br />

Sie besaß weniger Rohstoffe (Braunkohle statt Steinkohle), sie musste erst eine eigene<br />

Schwerindustrie aufbauen (das Ruhrgebiet lag im Westen), und sie zahlte länger Reparationen<br />

als Westdeutschland. Der Versuch, die Entwicklung durch langfristige Wirtschaftspläne<br />

24


anzukurbeln, erwies sich nur teilweise als Erfolg. Nicht alles ist planbar, gute Ideen beispielsweise<br />

nicht, Begeisterung auch nicht.<br />

Eine besondere Situation für uns Leipziger ergab sich aus dem Status unserer Stadt. Leipzig<br />

war Messestadt und die Messen waren auch gleich nach dem Krieg (1946) wieder aufgenommen<br />

worden. Seitdem herrschte zweimal im Jahr, zur Frühjahrs- und zur Herbstmesse, Ausnahmezustand.<br />

Wer irgendwie ein Bett freimachen konnte, vermietete es an einen "Messeonkel",<br />

möglichst an einen aus dem westlichen Ausland. Die Messeonkel zahlten nicht nur gut,<br />

sie brachten auch mal eine Packung Kaffee und westliche Zeitungen mit. Zudem sorgte der<br />

Staat während der Messe besonders gut für seine Bürger. Leipzig galt als "Schaufenster des<br />

Sozialismus". Lange Schlangen vor Lebensmittelläden luden nicht gerade dazu ein, es doch<br />

auch einmal mit dem Sozialismus zu versuchen. Deshalb gab es bei uns während der Messe<br />

volle Schaufenster, gelegentlich sogar ein paar Bananen und Apfelsinen. In anderen Städten<br />

der DDR haben sie uns Leipziger um diesen Vorteil beneidet.<br />

Ein paar Mal hat mein Vater sich während der Messe als Wachmann anstellen lassen. In einem<br />

der Messehäuser musste er nachts Streife gehn. Da hört er doch tatsächlich aus einer<br />

Messekoje ein verdächtiges tick - tick - tick. Eine Bombe? Vorsichtshalber wurde die Polizei<br />

gerufen. Zum Glück war es nur ein Wecker. Trotzdem: großes Lob für Wachmann R., der<br />

durch sein umsichtiges Eingreifen einen möglichen Anschlag des Klassenfeindes vereitelt<br />

hat.<br />

1.15 Lausejungen<br />

Je älter ich wurde, desto wichtiger war für mich natürlich die Gruppe der Gleichaltrigen.<br />

Nach dem Mittagessen hieß es: Schnell die Schularbeiten erledigt und dann ab nach draußen.<br />

Mit den Nachbarjungen Fußball spielen. Irgendwelche Streiche aushecken. Auch gefährliche<br />

Mutproben kamen vor. Eine bestand darin, sich in der obersten Etage außen an die Hauswand<br />

zu hängen. Man stieg auf das Fensterbrett, hielt sich mit beiden Händen am Fensterrahmen<br />

fest und ließ sich mit ausgestreckten Armen, wie an einer Reckstange, nach unten hängen,<br />

wohlgemerkt: an der Außenseite des Hauses! Da blieb so manchem Zuschauer die Luft weg.<br />

Aber so ein wenig echten Nervenkitzel musste man schon riskieren, wenn man in der Gruppe<br />

der Gleichaltrigen etwas gelten wollte.<br />

Ein besonderes Leipziger Thema war "Tauchschern". Taucha ist ein Vorort von Leipzig, Endpunkt<br />

einer Straßenbahnlinie. Dort gab es einen Wochenmarkt. Mit dem hatten sich früher<br />

einmal Studenten der Leipziger Universität einen Jux erlaubt. Sie verkleideten sich als Indianer<br />

und überfielen den Markt. Seitdem ist in Leipzig am 1. Montag im September "Tauchschern".<br />

Die Kinder verkleideten sich als Indianer, Trapper, Cowboys und andere Wildwesttypen.<br />

Ganz wichtig war es, zu einer "Bande" zu gehören. Diese Banden waren als Straßenbanden<br />

organisiert und bekämpfen sich untereinander heftig. Unter Indianergeheul warfen<br />

wir Steine auf die Gegner, die Trümmerberge boten dafür reichlich Material. Wir lieferten<br />

einander auch handfeste Prügeleien. Manchmal wurde auch jemand an einen Marterpfahl gebunden<br />

und gequält, ganz so, wie wir das bei Karl May gelesen hatten. Tauchschern war der<br />

Höhepunkt im Jahreslauf, jedenfalls für Jungen. Mädchen durften allenfalls als Squaw für die<br />

Jungs ein Süppchen kochen. Weil es soviel Spaß machte, wuchs sich die Sache - ähnlich wie<br />

der Rheinische Karneval - zu einer fünften Jahreszeit aus. Es gab "Vortauchschern" und<br />

25


"Nachtauchschern". Wir hätten immer so weitermachen können. Die Obrigkeit versuchte, die<br />

Sache in den Griff zu bekommen und so eine Art Kinderfest im Zeichen der Völkerfreundschaft<br />

daraus zu machen - ohne Erfolg.<br />

Zu Tauchschern gehörte auch, dass es knallt und kracht. Also begannen wir, Raketen, "Frösche"<br />

und andere Feuerwerkskörper zu bauen. Hier fand meine Lust am Experimentieren ein<br />

reiches Betätigungsfeld. Die nötigen Chemikalien besorgten wir uns in der Drogerie. "Unkraut-ex"<br />

war ein vorzügliches Ausgangsmaterial für Raketen, denn es enthielt Kaliumchlorat.<br />

Zusammen mit "Wanzengas", einem Insektenvertilgungsmittel, ließ sich daraus auch<br />

"Knallpulver" machen. Man schüttete ein kleines Häufchen davon auf das Pflaster, legte<br />

einen kleinen Stein darauf und ließ darauf einen großen Stein fallen - es tat einen fürchterlichen<br />

Schlag. Oder man schraubte das Pulver in das Gewinde eines dicken Bolzens und<br />

schleuderte diesen an die Wand. Harmlos waren diese Vergnügen nicht. Oft hätte es auch "ins<br />

Auge gehen” können. Einmal habe ich mit einer Rakete den Balkon unserer Nachbarn in<br />

Brand gesetzt. Zum Glück hatten sie es bemerkt und löschten das Feuer mit einem Eimer<br />

Wasser. Es gab rund um Tauchschern auch Ausschreitungen in der Art von Jugendrevolten<br />

und Vandalismus. Das wurde aber, aus Angst vor Nachahmern, nicht an die große Glocke gehängt.<br />

Eine Eisdiele in einem benachbarten Stadtteil, ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche,<br />

war so ein Ort, an dem immer mal wieder "Rowdytum" zu erleben war. Beispielsweise wurden<br />

mit Unkraut-Ex Hakenkreuze auf den Asphalt geschüttet und angezündet. Die brannten<br />

sich tief in den Straßenbelag ein und die Staatsmacht hatte lange zu kratzen, <strong>bis</strong> man nichts<br />

mehr davon sah. Dafür reagierte sie aber auch ausgesprochen sauer. Wer bei dabei erwischt<br />

wurde, verschwand für etliche Jahre. Mit Neofaschismus hatte das kaum etwas zu tun. Für<br />

den fehlten organisatorische Strukturen. Es war einfach so, dass man mit Hakenkreuzen die<br />

Erwachsenen am besten ärgern konnte.<br />

1.16 Ende der Grundschulzeit<br />

So langsam war ein Ende meiner Grundschulzeit abzusehen. Anders als im Westen bauten in<br />

der DDR die Schultypen aufeinander auf. Alle Kinder gingen 8 Schuljahre lang zur Grundschule,<br />

anschließend kamen die besten auf die Oberschule, wo sie entweder <strong>bis</strong> zur mittleren<br />

Reife (am Ende des zehnten Schuljahres) oder <strong>bis</strong> zum Abitur (am Ende des zwölften Schuljahres)<br />

verblieben. Da ich bereits mit fünf Jahren eingeschult worden war, stand kurz vor<br />

meinem 14. Geburtstag, im Sommer 1952, das Thema Oberschule an. Um dorthin zu kommen,<br />

brauchte man nicht nur gute Noten (die waren für mich kein Problem), sondern musste<br />

sich auch "gesellschaftlich" bewährt haben. Punkte sammeln konnte man z.B. durch die Mitgliedschaft<br />

in Massenorganisationen. Die "Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft"<br />

bot sich an. Sie erwartete neben einem bescheidenen Mitgliedsbeitrag kein weiteres<br />

Engagement. Bei den Jungen Pionieren sah das schon anders aus. Man musste zu Gruppenstunden<br />

und zu Arbeitseinsätzen und bei allen möglichen Anlässen, beispielsweise bei Schulfeiern,<br />

durften wir als "Sprechchor" auftreten. Da ich eine gute Stimme hatte, stand ich immer<br />

wieder mit weißem Hemd und blauem Pionier-Halstuch vor der gesamten Schülerschaft,<br />

manchmal auch vor der Belegschaft unseres Patenbetriebes. "Sie haben deinen Vater erschossen,<br />

Junge, einen unserer besten Genossen!" rief ich mit noch nicht vom Stimmbruch getrübter<br />

Stimme den versammelten Massen zu. Das Epos handelte vom heldenmütigen Widerstand<br />

in der Hitlerzeit.<br />

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Punkte ließen sich natürlich auch durch die richtige Gesinnung sammeln. Auf die Lehrerfrage:<br />

"Warum brennt im Kreml spät am Abend noch Licht?" (Interpretation des Gedichtes "Im<br />

Kreml brennt noch Licht") lautete die korrekte Antwort: "Weil sich Genosse Stalin <strong>bis</strong> spät in<br />

die Nacht um das Wohlergehen des Sowjetvolkes sorgt." Das konnte man sich an den fünf<br />

Fingern abzählen. Antwortete man dagegen, wie es tatsächlich so ein Esel von Klassenkamerad<br />

tat: "Weil er vergessen hat, es auszumachen", sah es mit der weiteren Schulkarriere nicht<br />

so gut aus (auch wenn Stalin mit zunehmendem Alter vielleicht tatsächlich vergesslich wurde<br />

und die Antwort, so gesehen, durchaus intelligent war). Man durfte es aber auch nicht übertreiben.<br />

In einem Aufsatz zu schreiben "In Westdeutschland nagen alle Arbeiter am Hungertuch",<br />

war denn doch etwas zu dick aufgetragen. Besser also "viele Arbeiter", oder am besten<br />

"immer mehr Arbeiter", denn diese Formulierung bewies, dass man das Prinzip verstanden<br />

hatte. Es handelte sich um einen historischen Prozess, der zwangsläufig zum Sieg des Sozialismus<br />

führen musste. Deshalb würde die DDR ja auch schon bald den Westen bei der Produktion<br />

von Konsumgütern überholen. Nur ein klein wenig gedulden mussten wir uns eben<br />

noch.<br />

Vor dem Ende der Grundschulzeit sollte ich konfirmiert werden. Das war damals noch eine<br />

verbreitete, volkskirchliche Sitte. Erst einige Jahre später begann die staatliche Kampagne zugunsten<br />

der Jugendweihe. Leipzig war seit der Reformationszeit eine durch und durch evangelische<br />

Stadt. Auch meine Freunde waren alle evangelisch und wurden ebenfalls konfirmiert.<br />

Natürlich gab es in Leipzig auch Katholiken. Durch die Flüchtlinge aus dem katholischen<br />

Osten hatte ihre Zahl etwas zugenommen, aber im öffentlichen Leben spielten sie keine<br />

Rolle. Es gab nur einige wenige katholische Kirchengebäude, eins davon in unserem Stadtteil.<br />

Wenn dort Fronleichnam gefeiert wurde, kam uns das wie seltsame Stammesriten eines<br />

fremden Volkes vor. Eine verständnisvolle Beziehung hatten wir dazu nicht. Meine Eltern<br />

waren beide evangelisch. In den Gottesdienst gingen sie, wie es sich gehörte, an Ostern und<br />

an Weihnachten und auch sonst noch ein paar Mal im Jahr. Religion war für sie gleichbedeutend<br />

mit "ein anständiger Mensch zu sein" und einen Sinn für Höheres zu haben. Nicht zu lügen,<br />

nicht zu stehlen und sich von "Niedrigem" fernzuhalten, das sollte ein Kind beizeiten<br />

lernen. Dazu war die Religion da.<br />

Diese kleinbürgerliche Frömmigkeit war weit verbreitet. Eine politische Dimension fehlte ihr<br />

völlig. Jesus war ein vorbildlicher Mensch, dem es nachzueifern galt, kein Revolutionär, der<br />

als Umstürzler hingerichtet wurde. Obwohl viel von Höherem die Rede war, hatte diese Art<br />

der Frömmigkeit auch wenig mit Spiritualität zu tun. Es ging ihr darum, den Alltag anständig<br />

zu bestehen, nicht um den Kontakt zum "Heiligen". Beim Jüngsten Gericht würde Gott nichts<br />

anderes fragen, als meine Mutter, wenn ich von einem Kindergeburtstag zurück kam: "Hast<br />

du dich auch anständig benommen?"<br />

Schon lange vor der Konfirmandenzeit wurde ich sonntags in die Kirche, zum Kindergottesdienst<br />

geschickt. Ich ging gerne hin, denn das war eine recht kindgemäße Angelegenheit. Anstelle<br />

der Predigt im Erwachsenengottesdienst wurden im Kindergottesdienst biblische Geschichten<br />

erzählt. Das war spannend und weil die Geschichte am folgenden Sonntag fortgesetzt<br />

wurden, kamen wir gern wieder. Gelegentlich ließen diese kindgerecht aufbereiteten Geschichten<br />

bei mir allerdings erste Zweifel aufkommen. "Moses kommt zum Palast des Pharao,<br />

er klingelt einmal, er klingelt noch einmal und als Pharao schließlich öffnet, sagt Moses:<br />

"Pharao, ich muss mit dir etwas ganz Dringendes besprechen..." Konnte das wirklich so gewesen<br />

sein? Hatten die alten Ägypter tatsächlich schon elektrische Klingeln?<br />

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Auch gruppenpädagogisch war der Kindergottesdienst auf der Höhe der Zeit. Wer in der zurückliegenden<br />

Woche Geburtstag hatte, durfte nach vorn kommen und sich ein Lied wünschen.<br />

Regelmäßige Anwesenheit wurde mit "Fleißkärtchen" belohnt. Darauf waren biblische<br />

Sprüche und Blumenbildchen. Man konnte die Kärtchen sammeln und gegen andere tauschen.<br />

Das kam unserer Sammelleidenschaft entgegen und hielt uns ebenfalls "bei der Stange".<br />

So war ich auf den Konfirmandenunterricht, den ich ab 1950 zwei Jahre lang besuchen<br />

sollte, gut vorbereitet.<br />

Mein Konfirmator, Pfarrer Kriewald, war ein freundlicher, älterer Herr, der sich redlich abmühte,<br />

uns für die höheren Werte des Lebens zu interessieren. Dabei hatten wir ganz andere<br />

Dinge im Kopf. Zwischen Jungen und Mädchen wanderten erste Briefchen hin und her. Aber<br />

in uns schlummerten natürlich auch altersgemäße Sinnfragen: Was will ich einmal werden?<br />

Hat das Leben einen Sinn? Daran konnte der Unterricht anknüpfen und tat das in verständlicher,<br />

lebensnaher Weise ohne viel Dogmatik. Uns wurden Lebensbilder vorgestellt: Luther,<br />

Bodelschwingh, Albert Schweitzer. Die Aussicht, einmal so zu werden, wie sie, war verlockend.<br />

Kriewald war ein liberaler Theologe. Jedes Jahr am Totensonntag hielt er in der Trauerhalle<br />

des Friedhofs eine Ansprache über den Wert der menschlichen Seele. "Wenn man ein Streichholz<br />

abbrennt, dann könnte man meinen, es sei hinterher nichts mehr davon da. Aber falsch!<br />

Physik und Chemie zeigen: Es ist alles noch da, nur in verwandelter Form, als Gas, als Asche<br />

usw. Wenn das nun aber schon bei einem wertlosen Streichholz so ist, wie könnte dann die<br />

unendlich viel wertvollere menschliche Seele nach dem Tode zu einem Nichts werden." Das<br />

leuchtete ein, und Kriewald wiederholte diesen Gedanken in jedem Jahr aufs neue.<br />

Wir haben diesem Pfarrer manchen Streich gespielt, ihn aber auch geschätzt und respektiert,<br />

denn eine positive Seite hatte seine Theologie: Weil ihm die menschliche Seele so wertvoll<br />

war, behandelte er jeden von uns mit Wertschätzung.<br />

Dafür dass ich bei der Konfirmandenprüfung so viel wusste, schenkte mit Kriewald eine Bibel.<br />

Vorn hatte er hineingeschrieben: "Nach diesem Buch formte Jesus sein Leben - tu es ihm<br />

nach!" Auf dieses Geschenk war ich sehr stolz. Ich spürte, dass es von Herzen kam, auch<br />

wenn es da einen kleinen Schönheitsfehler gab: Wie konnte Jesus sein Leben nach einem<br />

Buch formen, das teilweise erst nach seinem Tod geschrieben wurde? Die eigentliche Konfirmation<br />

ging dramatisch über die Bühne. Eine Grippewelle kam, wir Konfirmanden schleppten<br />

uns mit Fieber in die Kirche und verkrochen uns anschließend in unsere Betten. Unter<br />

meinen Geschenken war - von meiner Schwester aus dem Westen - eine Armbanduhr Marke<br />

Junghans. Davon hatte ich kaum zu träumen gewagt. Armbanduhren waren damals das wichtigste<br />

Zeichen der Jugendkultur. Man musste einfach eine haben. Da es keine zu kaufen gab,<br />

jedenfalls keine, die zuverlässig ging, verlegten sich die Uhrmacher darauf, alte Uhren aus<br />

der Vorkriegszeit umzubauen. Da saß dann in einem neuen Herrenuhr-Gehäuse das klitzekleine<br />

Uhrwerk einer früheren Damenuhr. Ich aber besaß jetzt eine durch und durch echte, genau<br />

gehende Herrenuhr, sogar mit rotem Sekundenzeiger!<br />

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1.17 Auf der Karl-Marx-Oberschule<br />

Die erste Stufe auf der sozialen Stufenleiter hatte ich 1952 geschafft: Ich wurde Oberschüler<br />

und zwar an der Karl-Marx-Oberschule. Diese Schule lag in der Löhrstraße, direkt am Rande<br />

der Innenstadt. Wie schon der Name vermuten lässt, handelte es sich um eine Neugründung,<br />

die sich deutlich von den Leipziger Traditionsgymnasien, wie der Thomasschule mit ihrem<br />

berühmten Thomanerchor oder der Nikolaischule, absetzte. An unserer Schule wollte man die<br />

Elite des sozialistischen Staates heranbilden, wollte eine "Kaderschmiede" sein. Hier lag alles<br />

hundertprozentig auf der gewünschten Linie. Die Schulwoche begann mit einem Flaggenappell.<br />

Wir mussten im Schulhof antreten, es wurde Meldung gemacht : "Klasse 9a vollzählig<br />

zum Fahnenappell angetreten!". Die FDJ-Flagge stieg am Fahnenmast empor, kurze Ansprache<br />

zum Thema: "Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!" (oder zu irgendeiner anderen<br />

gängigen Losung), “Weggetreten zum Unterricht!”<br />

Die Unterscheidung zwischen Arbeiter- und Bauernkindern und “Sonstigen” nahm man sehr<br />

ernst. Als Sohn eines Postbeamten fiel ich unter Sonstige und musste deshalb bessere Leistungen<br />

erbringen, um in die folgende Klasse versetzt zu werden. Der Fahrradkeller war Arbeiter-<br />

und Bauernkindern vorbehalten. Die anderen - so argumentierte man - hatten ja "reiche<br />

Eltern", mussten gar nicht mit dem Rad kommen, sondern konnten eine Monatskarte der<br />

Straßenbahn kaufen. Mein Vater bekam aber weiterhin nur seine 90,-- Mark Rente, während<br />

Facharbeiter inzwischen deutlich mehr verdienten. Trotzdem durfte mein Rad nicht in den<br />

Keller. Weil ich es wegen der Diebstahlgefahr auch nicht anderswo unterstellen konnte, bin<br />

ich ein ganzes Schuljahr lang zu Fuß zur Schule gegangen. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück.<br />

Später haben mir meine Eltern dann doch die Monatskarte bezahlt.<br />

Zu dem Anspruch, eine besonders vorbildliche Schule zu sein, gehörte natürlich auch, dass<br />

hier vorbildlich gelernt werden sollte. Wir hatten nicht nur politisch korrekte, sondern auch<br />

fachlich gute Lehrerinnen und Lehrer, manche waren sogar für eine Oberschule überqualifiziert.<br />

Unsere Biologielehrerin wollte mit uns wissenschaftlich arbeiten, so als ob wir schon an<br />

der Uni wären. Also mussten wir Regenwürmer zerschneiden und anschließend wieder zusammennähen.<br />

Dabei lernte man, dass sich das einfache Strickleiternervensystem dieser Tiere<br />

ganz schnell regeneriert. Zerschnitten reagierten sie als zwei Würmer, zusammen genäht wieder<br />

als eines. Auch Frösche durften wir sezieren. Das war schon etwas eklig. Hinterher waren<br />

wir ziemlich bedudelt, denn wir hatten von dem Chloroform, mit dem wir die Frösche betäubten,<br />

auch selbst eine Menge abbekommen.<br />

Neben der einseitig politisch ausgerichteten Schule gab es reichlich Ausgleich und Abwechslung.<br />

Hatten wir eher Schluss, weil Stunden ausfielen, gingen wir ins Kino. Die Innenstadt<br />

lag gleich nebenan und das "Capitol" war ein Ganztagskino. "Fanfan der Husar", "Die Karthause<br />

von Parma", "Rot und Schwarz"... wir haben alles gesehen, was damals "in" war, vor<br />

allem die ausländischen Filme, die <strong>bis</strong> in die DDR gelangten. Die spannendsten waren natürlich<br />

nicht jugendfrei, da musste man auf die Toleranz der Kartenabreißerin hoffen oder einen<br />

anderen Zugang wählen: Statt zum Eingang des Kinos ging man zum Ausgang, wartete das<br />

Ende der vorangehenden Vorstellung ab, drängte sich mit der Behauptung "Ich habe etwas<br />

vergessen" an den heraus strömenden Menschen vorbei, wartete auf der Toilette <strong>bis</strong> es dunkel<br />

war und suchte sich dann einen guten Platz. Auf diese Weise konnte man sogar das Eintrittsgeld<br />

sparen.<br />

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Die großen Sommerferien habe ich oft im Westen verbracht. Zu dieser Zeit, lange vor dem<br />

Bau der Mauer, war das - jedenfalls für Schüler - noch möglich. Man musste einen Antrag<br />

stellen, bekam eine Reiseerlaubnis, kaufte eine Bahnfahrkarte und konnte auch sein Fahrrad<br />

mitnehmen. Das Problem war, wovon man sich die ganze Zeit über ernähren sollte, denn<br />

Geld durfte man nicht mitnehmen. Wer wie ich Verwandte im Westen hatte, bei denen er<br />

"auftanken" konnte, hatte es gut. Einmal bin ich von Stuttgart durch den ganzen Schwarzwald<br />

<strong>bis</strong> in das Heimatdorf meiner Mutter gefahren, ein andermal vom Ruhrgebiet <strong>bis</strong> zum Bodensee.<br />

Übernachtet habe ich in Jugendherbergen. Das wurde von der BRD gefördert. So ganz<br />

wollte man die "Brüder und Schwestern" aus dem ärmeren Teil Deutschlands doch nicht auf<br />

dem Trockenen sitzen lassen. Also gab es beim Jugendherbergswerk kostenlos Gutscheine für<br />

Übernachtung und Verpflegung. Mit diesen Gutscheinen wurde ein schwunghafter Handel<br />

getrieben. Hatte man am Ende der Reise einige über, ließen sie sich zu Bargeld machen, um<br />

noch eins der im Osten so begehrten "Buschhemden" zu kaufen. Nach der Rückkehr war<br />

dann immer eine schwierige Umstellung nötig. Auf der einen Seite hatte man viel zu erzählen<br />

vom "Goldenen Westen" und wurde bewundert wie ein Weltreisender. Andererseits hatte<br />

einen der DDR-Alltag wieder. Statt einfach in einen Laden zu gehen, wie im Westen, hieß es<br />

jetzt wieder: anstellen! Überall gab es Schlangen. Eine praktische Lebensweisheit hieß: Erst<br />

mal anstellen und danach erst fragen, was es gibt. Irgendetwas Wertvolles musste es ja geben,<br />

sonst hätte sich keine Schlange gebildet. Vielleicht gab es Kochtöpfe, vielleicht Fahrradspeichen,<br />

vielleicht Gemüse. Die am häufigsten gestellte Frage jener Jahre, so ein DDR-Witz, begann<br />

mit "Hammse" und ein Leipziger Geschäftsmann soll, der vielen Fragen überdrüssig,<br />

ein Schild ins Schaufenster gehängt haben: "Hammse hammer nich!".<br />

1.18 Sehlis<br />

Die Versuche der Schule, aus mir einen vorbildlichen Sozialisten zu machen, die Diskriminierung<br />

als "Nicht-Arbeiterkind", meine West-Orientierung und eine Portion pubertärer Eigensinn<br />

führten dazu, dass ich mir sagte: Ich mache hier bei euch mit, weil ich sonst das Abitur<br />

nicht bekomme, aber ich mache nur das Nötigste. Auf keinen Fall werde ich so, wie ihr<br />

mich gerne haben wollt. -<br />

Meine eigentliche Heimat fand ich bei der Kirche. Dort gab es unter der Überschrift "Junge<br />

Gemeinde" eine gut organisierte Jugendarbeit. Nach dem Ende des Konfirmandenunterrichts<br />

wurden wir eingeladen, in eine Jugendgruppe überzuwechseln. Dort herrschte ein völlig anderes<br />

Klima als an der Schule. Wir trafen uns zu Gruppenstunden, übten Theaterstücke ein<br />

und fuhren nach Sehlis.<br />

Sehlis war ein unansehnliches Dorf in der Nähe von Leipzig, für uns aber der Inbegriff von<br />

Freiheit, Abenteuer und erlebter Gemeinschaft. Von der Endstelle der Straßenbahn in Taucha<br />

aus musste man noch etwa eine Stunde laufen. Dann kam, hinter dem gleichnamigen Dorf,<br />

"unser Sehlis", eine ehemalige Kies- oder Tongrube mit einigen Wohnbaracken. Für Großstadtkinder<br />

war es ein richtiges Abenteuerland. Die steilen Hänge konnte man sich hinunter<br />

kugeln lassen oder im Winter mit dem Schlitten hinunter fahren. Am Rande gab es ein kleines<br />

Wäldchen, da konnte man Baumhäuser bauen und sich verstecken. Und in der Mitte des Geländes<br />

lag ein Tümpel mit Ringelnattern. Das Gelände gehörte der Kirche und war praktisch<br />

immer voll belegt. Wir schliefen auf Doppelstockbetten, ließen uns Geschichten vorlesen,<br />

bastelten, malten oder saßen am Lagerfeuer. So etwas konnte uns die FDJ nicht bieten. Bei<br />

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ihr war alles auf Schulung ausgerichtet. Hier dagegen herrschte ein freier Geist. Unsere Themen<br />

konnten wir weitgehend selbst bestimmen. Im Grunde wurde hier an die Jugendarbeit<br />

der zwanziger Jahre angeknüpft. Zwar durften wir uns nicht "Pfadfinder" nennen, aber die<br />

Rituale, die Vorlesegeschichten, die Lieder samt Gitarrenbegleitung und auch mancher ältere<br />

Mitarbeiter kamen aus dieser Tradition. Hinzu kam ein kirchlicher Akzent, der aber nicht aufdringlich<br />

wirkte. Vor dem Essen sprachen wir ein Tischgebet, zur Andacht versammelten wir<br />

uns um ein riesiges Holzkreuz, wir lasen in der Bibel und diskutieren "über Gott und die<br />

Welt" und natürlich auch darüber: ob man ES schon tun dürfe, wenn man noch nicht verheiratet<br />

ist.<br />

Das Erfolgsgeheimnis dieser Jugendarbeit war, dass sie bei unseren Bedürfnissen ansetzte.<br />

Außerdem war sie die einzige Alternative zu den staatlichen Angeboten. Das führte auch<br />

Leute zu uns, die zu Hause keinen kirchlichen Hintergrund hatten. Es war eine herrliche Zeit!<br />

Dass die kirchliche Jugendarbeit immer mehr Zulauf hatte, und zwar in der gesamten DDR,<br />

konnte auf Dauer auch dem Staat nicht verborgen bleiben. Anfang 1953 holte er zum Gegenschlag<br />

aus. In der "Leipziger Volkszeitung" erschien ein groß aufgemachter Artikel über Sehlis.<br />

Die staatlichen Sicherheitsorgane hätten sich dort ein wenig umgesehen und ihrem wachen<br />

Blick sei unter vielen anderen jugendlichen Schmierereien ein verdächtiger Totenkopf<br />

aufgefallen. Ein Totenkopf ? - das war doch ein SS-Symbol! Nun war alles klar: hier fanden<br />

geheime faschistische Schulungen statt. Da musste man genauer nachfassen. Diese ganze<br />

"Junge Gemeinde" war offensichtlich eine vom Westen gesteuerte Tarnorganisation, mit dem<br />

Ziel, den Sozialismus zu unterwandern. Aber wartet nur, Freundchen, jetzt schlägt die Arbeiterklasse<br />

entschlossen zurück... So in diesem Tonfall ging es weiter. Es war eine DDR-weite<br />

Kampagne gegen die kirchliche Jugendarbeit, die sich aber an lokalen Gegebenheiten festmachte.<br />

In Leipzig war das Sehlis.<br />

Nun wurde in jeder Schulklasse genau nachgeforscht, wer mit der "Jungen Gemeinde" zu tun<br />

hatte. Die Listen der Verdächtigen wurden am schwarzen Brett ausgehängt, und man musste<br />

"Stellung beziehen". Auf so einer Liste stand auch mein Name. Was sollte ich nun tun? Alles<br />

abstreiten, wie meine Eltern rieten? Aber es gab ja Zeugen, die mich gesehen hatten. Zu den<br />

Tatsachen stehen und mich notfalls von der Schule verweisen lassen? Eigentlich hätte ich das<br />

tun müssen. Lehrte nicht die Bibel, treu zu seiner Überzeugung zu stehen, Nachteile in Kauf<br />

zu nehmen und notfalls sogar als Märtyrer sein Leben hinzugeben? Letzteres stand hier nicht<br />

zur Debatte, wohl aber stand meine schulische Zukunft auf den Spiel. Von unserer linientreuen<br />

Schule wurden etliche mutige Schüler ohne viel Federlesens entfernt. Ich war völlig ratlos,<br />

was ich machen sollte. Schließlich habe ich mich doch irgendwie durch zu wursteln versucht.<br />

Ja gut, ich sei dabei gewesen, aber doch nicht so häufig...<br />

Kurz darauf wurde die ganze Aktion abgeblasen. Staat und Kirche hatten sich arrangiert. Entlassene<br />

Schüler durften sogar an ihre Schulen zurückkehren. Davon hat aber an unserer Schule<br />

niemand Gebrauch gemacht. Die Betroffenen hatten sich schon in den Westen abgesetzt.<br />

Über die "Junge Gemeinde" wurde danach nicht mehr geredet. Man ließ sie gewähren, und es<br />

gab für mich keinen Grund, nicht weiter hinzugehen. Aber: Ich hatte einen kleinen Vorgeschmack<br />

davon bekommen, wie es ist, zu einer verfolgten Minderheit zu gehören. Für viele<br />

Menschen auf dieser Erde ist das der Normalzustand.<br />

Das Jahr 1953 hatte es in sich. Im März starb Stalin. Auf dem Karl-Marx-Platz, dem größten<br />

Platz der Stadt, wurde eine riesige Stalin-Figur aufgestellt. An der mussten wir alle vorbei-<br />

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marschieren und als Zeichen unserer Trauer die Mützen abnehmen. Ein Klassenkamerad weigerte<br />

sich: "Vor meinem größten Feind nehme ich doch nicht die Mütze ab." Er wurde sofort<br />

von der Schule verwiesen. Dass Stalin für den Tod von Tausenden zumeist überzeugter Kommunisten<br />

verantwortlich war, wurde erst viel später und nur "scheibchenweise" bekannt.<br />

1.19 Der siebzehnte Juni<br />

Dann kam - ebenfalls 1953 - der 17. Juni. Im Radio hörten wir über den Westberliner Sender<br />

RIAS, dass sich etwas zusammenbraute. In Berlin und anderen Städten gäbe es Streiks. Also<br />

schnell in die Stadt und nachgeschaut, ob da etwas los ist. In der Innenstadt herrschte ein<br />

ziemliches Chaos. Überall standen Menschen, die meisten nur um zu gucken, wie wir ja<br />

auch. Es gab kleinere Demonstrationen. Die Belegschaften einzelner Betriebe hatten alles stehen<br />

und liegen gelassen und waren in die Innenstadt marschiert, wussten nun aber auch nicht,<br />

wie es weitergehen soll. Jemand wurde zu Boden geworfen, andere traten auf ihn ein. Ein<br />

verhasster Funktionär? - vielleicht aber auch eine Personenverwechslung. Der Info-Pavillion<br />

der Nationalen Front wurde in Brand gesteckt. Ein russischer Offizier kam, zog seine Pistole<br />

und schoss ein paar mal in die Luft. Aus der Ferne waren anhaltende Schießereien zu hören.<br />

Am Abend standen dann überall russischen Panzer, es gab eine Ausgangssperre, der sogenannte<br />

"Arbeiteraufstand" war zu Ende.<br />

Heute werden die damaligen Ereignisse - gerade war der fünfzigste Jahrestag - meiner Meinung<br />

nach viel zu stark heroisiert. Zugegeben, der 17. Juni war ein gewaltiger Einschnitt in<br />

der Geschichte der DDR. Er zeigte, wie weit sich die Herrschenden vom Volk, auf das sie<br />

sich ständig beriefen, tatsächlich entfernt hatten. Bert Brecht hat diesen Punkt genau getroffen,<br />

als er im Blick auf den 17. Juni formulierte: Wenn die Regierung mit dem Volk nicht zufrieden<br />

sei, dann solle sie sich doch ein anderes Volk wählen.<br />

Ansonsten war der 17. Juni ein ungeplantes, chaotisches Ereignis, das keine Chance hatte, die<br />

Verhältnisse zu verändern. Wer hätte auch die nötige Logistik für einen aussichtsreichen<br />

"Aufstand" oder gar eine "Revolution" bereitstellen können? Es gab in der DDR zwar eine<br />

weit verbreitete Unzufriedenheit, aber keine organisierte Opposition. Einfach gesagt: Die<br />

Leute hatten die Schnauze voll, und am 17. Juni lief das Fass über. Die Behauptung der SED,<br />

das Ganze sei vom Westen aus organisiert worden, war eine Propagandalüge und zeigte, wie<br />

sehr man von der Ereignissen überrascht und betroffen war. Die Praxis lag dermaßen quer zur<br />

Theorie, da half nur noch Verdrängen und Sündenböcke suchen. Es stimmt aber auch, dass<br />

sich bei dieser Gelegenheit der Zorn gewalttätig Luft machte. Verhasste Einrichtungen wurden<br />

angezündet, vermeintliche oder wirkliche Gegner zusammengeschlagen - das habe ich<br />

mit eigenen Augen gesehen. Und natürlich gab es Leute, die diese Gelegenheit nutzten um<br />

mal ordentlich “Rabbatz” zu machen. Diese weniger heroische Seite des 17. Juni wird in offiziellen<br />

Darstellungen gern übergangen.<br />

Der Westen hat bei der "Niederschlagung des „Volksaufstandes" eine recht unrühmliche Rolle<br />

gespielt. Jahrelang hatte insbesondere der RIAS die Unzufriedenheit im Osten geschürt.<br />

Jetzt, wo die Sache ernst wurde, rief der gleiche Sender plötzlich zur Mäßigung auf. Man ließ<br />

die Brüder und Schwestern im Osten einfach hängen, und zwar in der doppelten Bedeutung<br />

dieses Wortes. Zwischen 50 und 250 Menschen wurden in der Folge des 17. Juni als Rädelsführer<br />

hingerichtet. Niemand weiß, wie viele es genau waren.<br />

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Staat und Partei hatten sehr gut verstanden, dass sie am 17. Juni einen Denkzettel erhalten<br />

hatten. So etwas durfte nicht noch einmal passieren. Ohne von grundsätzlichen Positionen abzurücken,<br />

gelobte man Besserung. Der "neue Kurs" war angesagt. Dem Volk sollte mehr und<br />

abwechslungsreicheres geboten werden, mehr Konsumgüter in den Läden, mehr Unterhaltung<br />

in Presse und Radio, " Brot und Spiele" also. Insofern hat der 17. Juni tatsächlich etwas<br />

zum Besseren hin verändert.<br />

1.20 Von der Kaderschmiede zur Penne<br />

Im Sommer 1954, ich kam gerade von einer Westreise zurück, erwartete mich eine Überraschung.<br />

Ich wurde an eine andere Schule versetzt. Das war, jedenfalls offiziell, keine Disziplinarmaßnahme,<br />

sondern eine Umverteilung. Vielleicht hatte sich die Schulleitung aber bei<br />

dieser Gelegenheit auch an meine letzte Eskapade erinnert. Das 10. Schuljahr schloss mit der<br />

Prüfung für die mittlere Reife. Da war auch ein Aufsatz zu einem gesellschaftspolitischen<br />

Thema zu schreiben. Mit zwei Seiten meinte ich das Thema erschöpfend behandelt zu haben.<br />

Mich so kurz zu fassen, war bei mir nicht ungewöhnlich. Ich hatte einen knappen, präzisen<br />

Schreibstil und schrieb immer sehr kompakte Aufsätze. "Kein Wort zuviel!" war meine Devise.<br />

Diesmal waren es aber offensichtlich ein paar Worte zu wenig gewesen. Jedenfalls meinte<br />

die Prüfungskommission, ich hätte das Thema nicht ernst genommen. Ich bekam aus pädagogischen<br />

Gründen auf meinen Aufsatz nur eine Vier. Die mittlere Reife hatte ich aber trotzdem<br />

sicher in der Tasche.<br />

Wenn Karl Marx Schüler abgeben musste, dann war natürlich klar, dass man sich eher von<br />

den nicht ganz so linientreuen trennte. So fand ich mich zusammen mit einigen anderen eher<br />

kritisch eingestellten Kameraden an der Nikolai-Oberschule wieder. Zuerst war ich recht unglücklich<br />

über diesen Tausch. Die neue Schule lag am anderen Ende der Stadt und mir fehlten<br />

die vertrauten Klassenkameraden. Schon bald zeigte sich aber, dass ich einen richtigen<br />

Glücksgriff getan hatte. Die Nikolaischule blickte auf eine 600-jährige Tradition zurück. Sie<br />

war die älteste Bürgerschule Leipzigs und hatte eine Menge bedeutender Persönlichkeiten<br />

hervorgebracht. Richard Wagner beispielsweise war "Nikolaitaner".<br />

Heute ist das mittelalterliche Schulgebäude unmittelbar neben der Nikolaikirche wieder restauriert<br />

und zu besichtigen. Damals 1952 lag es noch in Trümmern. Was das Gebäude anlangt,<br />

war meine neue Schule genaugenommen nicht die alte Nikolaischule. Die war schon<br />

früher in ein größeres Gebäude umgezogen und dort ausgebombt worden. Aber unsere Schule<br />

führte den Namen weiter und verstand sich als Erbe der alten Nikolai-Traditionen. Untergebracht<br />

waren wir in der Heinrichstraße im Osten der Stadt. In einer Schule mit derartigen<br />

Hintergrund ging es logischerweise anders zu als an der Karl-Marx-Oberschule. Das hier war<br />

eine richtige "Penne" und ich habe an dieser Schule die zwei glücklichsten und auch unterhaltsamsten<br />

Schuljahre meines Lebens verbracht. Selbstverständlich war die Schulleitung<br />

auch hier linientreu, natürlich sollten wir auch hier zu sozialistischen Staatsbürgern erzogen<br />

werden. Aber mit 600 Jahren Schulgeschichte im Rücken, davon gerade mal 5 Jahre unter<br />

DDR-Hoheit, verschoben sich die Gewichte deutlich. Manche unserer Lehrer waren schon<br />

vor dem Krieg an der Schule, hatten bereits die Eltern von Klassenkameraden unterrichtet.<br />

Obwohl wir naturwissenschaftlich ausgerichtet waren, gab es ab der zehnten Klasse Latein<br />

als Unterrichtsfach. Schon dies machte deutlich, woher hier der Wind wehte. Hier war humanistische<br />

Bildung gefragt.<br />

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Manche unserer Lehrer waren Originale, besonders der Musiklehrer. Er wollte uns für die höheren<br />

Werte der Musik begeistern, Beethoven, Bach, Brahms und so weiter, wir aber hatten<br />

nur Boogie-Woogie im Kopf. Waren wir im Musiksaal und unser Lehrer fehlte noch, musste<br />

einer "Schmiere stehen". Dann setzte sich ein Klassenkamerad, ein guter Klavierspieler, der<br />

sich abends als Kneipen-Pianist ein Zubrot verdiente, an den Flügel und begann "herumzujazzen".<br />

Armer Musiklehrer, er hatte es schwer mit uns. In den Musikbüchern machten wir<br />

aus der Bezeichnung "Sarabande" eine "Saharabande". Und wenn als schriftliche Aufgabe<br />

eine kurze Melodie in eine andere Tonart zu transponieren war, schrieben wir "Kompositionsübung"<br />

darüber. Das machte ihn immer ganz fuchtig. Ob wir das denn immer noch nicht<br />

begriffen hätten: Mit Komponieren hätten solche Anfängerübungen nichts zu tun. Komponieren<br />

sei einigen wenigen genialen Menschen vorbehalten. Es ging schon manchmal zu wie in<br />

der "Feuerzangenbowle". Und doch wurden Grenzen respektiert. Nie haben wir versucht,<br />

einen Lehrer fertig zu machen. Es gab so eine Art augenzwinkernde Komplizenschaft zwischen<br />

uns und unseren Lehrern. Sie waren auch mal Schüler gewesen und versuchten nicht,<br />

das zu verleugnen.<br />

Natürlich galt es auch hier, seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Aber<br />

da ging man viel lockerer heran. Beispielsweise waren Aufbaustunden abzuleisten. Zu denen<br />

musste man sich "freiwillig" verpflichten. So etwa fünfzehn Stunden im Schuljahr waren ein<br />

guter Durchschnitt. Da gingen wir zu unseren Klassensprechern und sagten:" Hört mal,<br />

Freunde, wir sind bereit, 15 Stunden zu machen, aber wir verpflichten uns jetzt nur zu zehn.<br />

Dann machen wir 15 und ihr schreibt uns aufs Zeugnis, dass wir unsere Verpflichtung zu<br />

150% erfüllt haben. Aber schreibt nur den Prozentsatz und nicht die absoluten Zahlen". So<br />

kommt es, dass auf meinem Abiturzeugnis zu lesen ist: “Er gehört zu den besten Aufbauhelfern<br />

der Klasse und erfüllte seine Aufbauverpflichtung mit 280%”.<br />

Wir waren nun ein ganzes Stück erwachsener und begannen, uns entsprechen zu verhalten.<br />

Natürlich rauchten wir. Schließlich konnte man in jedem Film sehen, dass - neben Brillantine<br />

im Haar - eine Zigarette aus einem Halbwüchsigen einen richtigen Kerl macht (siehe: James<br />

Dean!). Zigaretten waren uns aber zu popelig, wir rauchten Pfeife, und zwar Wasserpfeife.<br />

Mit einigen Klassenkameraden traf ich mich regelmäßig reihum in unseren Wohnungen zum<br />

"Tabakskollegium". In der Mitte stand die Wasserpfeife. Als Pfeifenkopf diente ein kleiner<br />

Blumentopf, als Wasserbehälter ein Erlemeyerkolben. Den hatten wir, wie auch die Verteilerstücke<br />

und die Schläuche aus dem Chemiesaal mitgenommen. Wir nebelten uns so richtig ein<br />

und führten Männergespräche. Dazu spielten wir Skat und zwar, wie in Sachsen üblich, mit<br />

"Deutschem Blatt" also mit Eichel, Schippe usw. Skat war das Sächsisch-Thüringische Nationalspiel.<br />

Altenburg, das Mekka aller Skatspieler, liegt in der Nähe von Leipzig, zwar in Thüringen<br />

- aber nur weil die sächsische Grenze dort eine Einbuchtung hat. Das Skatspiel hatten<br />

wir alle schon früh gelernt, auch die Mädchen in unserer Klasse. Man fand immer zwei Leute,<br />

um mal schnell "eenen zu dreschn".<br />

Mit dem Rauchen hatte es bei mir noch eine besondere Bewandtnis. Mein Vater war ein starker<br />

Pfeifenraucher. Als ich dann auch damit anfangen wollte, sagte er: "Junge, ich werde dir<br />

jetzt eine Pfeife anrauchen. Das ist dann deine erste." Ich war darauf mächtig stolz und empfand<br />

es, mit Recht, als ein Initiationsritual, das mich in den Kreis der Erwachsenen aufnahm.<br />

Von jetzt an war ich kein Kind mehr.<br />

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Alt war er geworden, mein Vater. Er ging jetzt auf die 80 zu, hatte einen Schlaganfall hinter<br />

sich und wurde langsam pflegebedürftig. Manchmal habe ich mich gegenüber meinen Klassenkameraden<br />

geschämt, so einen alten Vater zu haben. Wenn sie fragten "Wie gehts deinem<br />

Opa?", habe ich das so stehen gelassen. Ich erlebte jetzt die Schattenseite des großen Altersunterschieds.<br />

Als kleines Kind, während des Krieges und in der Nachkriegszeit hatte ich einen<br />

Vorteil: Ich besaß einen Vater, während die anderen ohne ihren Vater zurechtkommen<br />

mussten. Ihre Väter waren im Krieg, danach noch lange in Gefangenschaft, viele kamen auch<br />

gar nicht wieder. Mein Vater war die ganze Zeit über zu Hause. Jetzt aber, in der Pubertät, als<br />

ich dringend einen Vater gebraucht hätte, um mich an ihm abzuarbeiten, hatte ich es mit einem<br />

alten, kränkelnden Mann zu tun, auf den ich Rücksicht nehmen musste. Das ist keine<br />

sehr günstige Voraussetzung, um erwachsen zu werden!<br />

Mein Vater hat allerdings, und das rechne ich ihm hoch an, auch im hohen Alter immer so gut<br />

es eben ging für seine Familie gesorgt. Und er war mit seinem Schicksal einigermaßen ausgesöhnt.<br />

Außerdem ging es uns etwas besser als in den Vorjahren. Die Renten waren erhöht<br />

worden. Meine Mutter ging in der Nachbarschaft putzen und besserte damit unser Familieneinkommen<br />

auf. In den Läden gab es jetzt schon etwas mehr Luxus für alle. Da saß mein<br />

Vater dann mit einer Flasche Pilsner Urquell, anstelle des normalen labbrigen DDR-Bieres,<br />

und war mit sich und der Welt zufrieden.<br />

Eines Tages, etliche Jahre vor seinem Tod, hat er seine geliebte Pfeife aus der Hand gelegt. Er<br />

hatte genug davon.<br />

1.21 Das Abitur<br />

Zwei Jahre waren schnell vorbei. Das Abitur nahte und damit verbunden die Frage, wie es danach<br />

mit mir weitergehen soll. Studieren, klar, sonst hätte ich ja nicht Abitur zu machen brauchen.<br />

Aber was? In der DDR unterlagen auch die Studienfächer der Planwirtschaft, man<br />

konnte nicht einfach studieren wozu man Lust hatte, sondern in einem bestimmten Jahr gab<br />

es für ein bestimmtes Fach eine bestimmte Anzahl Studienplätze. Die wurden sowohl nach<br />

schulischer Leistung als auch nach gesellschaftlicher Beurteilung vergeben. Wie stark der<br />

eine oder der andere Aspekt zu Buche schlug, hing vom Studienfach ab.<br />

Ginge es nach meinen Neigungen, kamen verschiedene Bereiche in Betracht. Schon früh<br />

wollte ich "Quizmaster" werden. Ich konnte gut Witze erzählen, stand gern im Mittelpunkt,<br />

hatte unterhaltsame Einfälle. Dieser Wunsch hatte sich aber schon im Lauf der Grundschule<br />

verflüchtigt. Einmal nahm mich der Vater eines Freundes zu einem Rundfunkkonzert mit. Die<br />

Studioatmosphäre mit all den vielen Lämpchen und Reglern faszinierte mich und ich wäre<br />

gern Tonmeister geworden. Aber dazu musste man zwei Instrumente beherrschen und ich<br />

konnte kein einziges. Meine Westreisen brachten mich auf die Idee, Architekt zu werden. Ich<br />

zeichnete massenweise Hochhäuser aus Stahl und Glas, aber damit hätte ich in der DDR sowieso<br />

nicht landen können. Hier herrschten noch die Ausläufer des "Zuckerbäcker-Stils" à la<br />

Stalinallee. Kunsterzieher wäre auch eine Möglichkeit gewesen, aber dieses Fach gab es in<br />

der Lehrerausbildung nur kombiniert mit Russisch und mit Russisch konnten sie mir gestohlen<br />

bleiben. Wir hatten diese Sprache, weil aufgezwungen, nur mit Widerwillen gelernt. Zudem<br />

ging es im Russisch-Unterricht nicht um Konversation - Kontakte zu Russen oder Reisen<br />

ins große Bruderland waren zu jener Zeit noch kein Thema - wir sollten lediglich in der<br />

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Lage sein, den täglichen Leitartikel der PRAWDA zu lesen. Unser Nachbar riet zum Theologiestudium.<br />

Das hätte zu meinem kirchlichen Engagement gepasst, aber die alten Sprachen<br />

schreckten mich ab.<br />

Was also tun? Seit dem Ende der Grundschule hatte ich viel Zeit mit Fotografieren verbracht,<br />

hatte mir sogar in unserem Bad auf engstem Raum ein kleines Schwarz-weiß-Labor eingerichtet.<br />

Vielleicht ließ sich daran anknüpfen, vielleicht sogar in einer Kombination mit Grafik.<br />

Schließlich bewarb ich mich an der Leipziger “Hochschule für Grafik und Buchkunst"<br />

für den Studiengang Fotografik. Lange war ich damit beschäftigt, geeignete Fotos für die einzureichende<br />

Mappe auszuwählen. Aber ich hatte von vorne herein keine Chance. Auf ein paar<br />

hundert Bewerber kamen 20 Studienplätze, und so toll waren meine Arbeiten nun auch wieder<br />

nicht. Andere Bewerber hatten bereits eine Fotografenlehre hinter sich, arbeiteten mit Solarisation<br />

und Tönungen. Da konnte ich nicht mithalten. Auch ein eindrucksvolles Arbeiterbild<br />

- "Stahlarbeiter am Hochofen" oder "Kumpel, die Norm übererfüllend" - hatte ich nicht<br />

zu bieten. Eine Steinrosette vom Freiburger Münster konnte das, obwohl grafisch eindrucksvoll,<br />

nicht wettmachen.<br />

Leider hat man vergessen, mir die Ablehnung mitzuteilen. Ich ging also zuversichtlich zum<br />

Abitur und malte mir aus, wie ich anschließend Grafiker würde. Dabei war die Sache schon<br />

gelaufen. Das Abitur war für mich eher eine Formsache. Durchfallen konnte ich nicht. Mit<br />

dem Abi in der Tasche war ich nun ein "Muli", ein Wesen zwischen Pferd und Esel. Was heute<br />

Abi-Fete genannt wird, hieß damals Muli-Ball. Es gab auch eine Muli-Zeitung, in der wir<br />

unsere Lehrer noch einmal kräftig verulkten. Dann lief alles auseinander und es dauerte 40<br />

Jahre, <strong>bis</strong> wir uns beim ersten gesamtdeutschen Klasssentreffen 1996 fast vollzählig wiedersahen.<br />

Viele gingen sofort in den Westen, weil sie in der DDR keine Perspektive sahen. Andere<br />

fanden einen einigermaßen akzeptablen Studienplatz. Für mich blieb zunächst alles offen.<br />

1.22 Ehrfurcht vor Gedrucktem<br />

Da saß ich nun, ohne Studienplatz und ohne Zukunftsaussichten. Die Befürchtung meiner Eltern,<br />

dass aus mir nichts rechtes würde, schien sich zu bestätigen. Ein Bekannter verhalf mir<br />

zu einem Aushilfsjob bei der Evangelischen <strong>Verlag</strong>sanstalt (EVA). Das war der einzige vom<br />

Staat einigermaßen unabhängige kirchliche <strong>Verlag</strong> in der DDR. Da sollte ich mich erst mal<br />

nützlich machen, danach würde man weitersehen. Alle evangelischen Gesangbücher wurden<br />

bei der EVA verlegt, daneben gab es eigene Haus-Autoren und vor allem Lizenzausgaben<br />

westdeutscher <strong>Verlag</strong>e. Gegenüber den großen volkseigenen <strong>Verlag</strong>en mit ihren Massenauflagen<br />

war die EVA unbedeutend, sie füllte jedoch eine Lücke: Literatur mit christlichem Hintergrund.<br />

Dafür gab es in der DDR ein eigenes Publikum und die Geschäfte liefen gut.<br />

Der Chef der EVA hieß Heinrich Grothe. Ein Mensch von gewaltigen Ausmaßen, sicher mehr<br />

als zwei Zentner schwer, saß da in einem ebenso gewaltigen Bürostuhl, wischte sich den ständig<br />

rinnenden Schweiß von der Stirn und regierte sein kleines Imperium. Grothe war ein allseits<br />

anerkannter Typograf. Um sich herum hatte er Leute versammelt, die etwas konnten,<br />

aber wegen ihrer christlichen Gesinnung in der DDR keine Chance hatten. Pro forma waren<br />

auch die Schauspieler der Leipziger "Spielgemeinde" - einer freien christlichen Theatergruppe<br />

- als Lektoren bei der EVA angestellt. In Grothes Reichweite durfte ich nun Botengänge<br />

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erledigen, Druckplatten verpacken und Blindbände zum Buchbinder bringen. Blindbände waren<br />

Bücher mit unbedruckten Seiten, die aber bereits den späteren Umfang des Buches besaßen.<br />

Sie mussten einer Behörde vorgelegt werden, um ein Qualitätszeichen für das spätere<br />

Buch zu erhalten.<br />

Junge Leute wie mich förderte Grothe so gut er konnte. Er stellte sich vor, dass aus mir ein Illustrator<br />

werden könne. Deshalb schickte er mich zu einem Künstler, der privaten Kunstunterricht<br />

gab. Hauschild hieß der Mann. In seiner Wohnung trafen sich alle möglichen Künstlernaturen.<br />

Es war eine Entwicklung, die sich später nach dem Mauerbau noch verstärkte. Die<br />

Unangepassten - das waren in einem eher zwanghaften Staat nun mal die Künstler - suchten<br />

sich Nischen, wo sie einigermaßen unbeobachtet eine Art Gegenkultur entwickeln konnten.<br />

Ich zeichnete jede Menge alte Schuhe, später Menschen nach Modell, einmal sogar Akt. Es<br />

war das klassische Herangehen, wie es an Kunstakademien üblich war. Erst unbelebte Gegenstände,<br />

dann der Mensch, zunächst bekleidet, zuletzt nackt wie Gott ihn schuf. Vor allem<br />

aber: üben, üben, üben. Heute würde man erst einmal mit Formen und mit Farben spielen.<br />

Nach ein paar Monaten hat Grothe dann dafür gesorgt, dass ich doch noch einen Studienplatz<br />

bekam und zwar an der "Ingenieurschule Otto Grotewohl". Die lag hinter dem Grassi-Friedhof,<br />

in einem Gebäude im Stil der “neuen Sachlichkeit” aus den dreißiger Jahren. Dort war<br />

<strong>bis</strong> zum Kriegsende die "Meisterschule für das Grafische Gewerbe", als deren Nachfolgerin<br />

sich unsere Schule verstand. Otto Grotewohl, der erste Ministerpräsident der DDR, war gelernter<br />

Buchdrucker. Da lag die Namensgebung nahe. Heute ist in dem Gebäude die Gutenbergschule<br />

untergebracht.<br />

Unsere Ingenieurschule hatte zwei Gesichter. Einerseits war sie linientreu. Das war verständlich,<br />

denn hier sollten Führungskräfte für die grafische Industrie ausgebildet werden. Andererseits<br />

traf ich hier auf die alten Traditionen des Druckgewerbes. Drucker und Schriftsetzer<br />

verstanden sich ja nicht einfach als Arbeiter, sie legten Wert auf Bildung. Wer Maschinensetzer<br />

war, oder sogar Sonderausgaben mit der Hand setzte, der war belesen, oft sogar belesener<br />

als die Autoren, deren Texte er setzte. Lithografen gar, definierten sich als Künstler und trugen<br />

noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts eine Künstlerschleife. Notenstecher mussten<br />

hochmusikalisch sein. Ich habe selbst Manuskripte von Liszt und Beethoven gesehen, in denen<br />

der Notenstecher offensichtliche Fehler des Meisters korrigiert hatte. So empfand man<br />

sich im ganzen grafischen Gewerbe als eine geistige Elite. Dieses Bewusstsein war auch an<br />

unserer Schule deutlich zu spüren. Man lehrte uns die Ehrfurcht vor der Schrift und vor Gedrucktem.<br />

Noch heute kann ich schlecht ein Buch wegwerfen. Ein Buch zerschneiden, wie<br />

ich es kürzlich getan habe, um mein Fluggepäck zu erleichtern, heiliger Gutenberg, welch<br />

eine Sünde!<br />

Das Studium war auf 8 Semester, also auf 4 Jahre, angelegt. Zunächst durften wir überall<br />

mal reinschauen, lernten die verschiedenen Drucktechniken kennen und übten uns im Schriftsetzen.<br />

Später erfolgte eine Aufteilung in Fachrichtungen: Hochdruck, Tiefdruck, Flachdruck<br />

oder Reprofotografie. Ich entschied mich für die Reprofotografie. Da konnte ich an meine<br />

Foto-Erfahrungen anknüpfen.<br />

In der Reproabteilung einer Druckerei ging es darum, aus einer Vorlage, beispielsweise einem<br />

vom Grafiker gezeichneten Plakat, eine Druckplatte zu machen. Dazu musste die Vorlage mit<br />

einer Reprokamera abfotografiert werden. Diese Kameras waren mannshohe Apparate, denn<br />

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der Film musste im Format 1:1 belichtet werden. War die Vorlage DIN A 0, ein Plakat beispielsweise,<br />

musste auch der Film Meterware sein. Heute kann man so eine Vorlage einscannen<br />

und mit dem Computer weiterbearbeiten, damals verbrachte ich täglich viele Stunden im<br />

Labor, um solche Riesenformate in großen Trögen zu entwickeln.<br />

Die Reprofotografie hatte noch eine zweite, zeichnerische Seite: die Retusche. Die belichteten<br />

Filme mussten noch verbessert werden. Bei einem Gesicht setzte man noch ein paar<br />

"Lichter" in die Augen oder dunkelte die Augenbrauen nach. Bei Farbauszügen waren umfangreiche<br />

Farbkorrekturen nötig. Dies alles macht heute ein Computer in wenigen Augenblicken.<br />

Damals war es stundenlange Handarbeit mit dem Pinsel. Hier, bei der Retusche, konnte<br />

ich mein zeichnerisches Talent gut gebrauchen.<br />

Wir Studenten waren eine bunt gemischte Truppe. Leute aus dem grafischen Gewerbe und<br />

andere, die es einfach in diesen Bereich verschlagen hatte, Kinder von Funktionären und Leute<br />

wie ich, die politisch eher distanziert <strong>bis</strong> oppositionell eingestellt waren. Bald hatte ich den<br />

passenden Freundeskreis beisammen, alles Leute, die in grundsätzlichem Widerspruch zur offiziellen<br />

Linie standen. Einige waren ebenfalls in der "Jungen Gemeinde" engagiert.<br />

Die einzelnen Klassen standen untereinander im "sozialistischen Wettbewerb". Als Zeichen<br />

der Schande bekam die Klasse mit dem schlechtesten Notendurchschnitt eine rote Laterne an<br />

die Zimmertür gehängt. Am Ende des zweiten Semesters bot sich nun unseren Lehrern folgendes<br />

Bild: Auf dem Schulhof stand die rote Laterne, die wir eben "gewonnen" hatten. Wir<br />

hatten uns an den Händen gefasst, sprangen im Kreis um die Laterne herum und riefen "Wir<br />

hammse, wir hammse!"<br />

Mit solchen Aktionen macht man sich natürlich nicht gerade beliebt. Die Verantwortlichen<br />

hatten mich bald "auf dem Kieker", aber noch schützten mich meine guten Leistungen. Mein<br />

Freund, Peter Weber, durfte sich noch etwas mehr herausnehmen. Sein Vater war Arzt und<br />

1956/57 war die DDR sehr bemüht, Angehörige solcher Berufsgruppen durch Vergünstigungen<br />

bei der Stange zu halten. Es waren schon zu viele in den Westen abgewandert. Peter hatte<br />

als einziger in unserer Klasse ein Auto zur Verfügung, d.h. er lieh sich gelegentlich den Wagen<br />

seines Vater aus und machte damit großen Eindruck – vor allem auf die Mädchen. Mit<br />

ihm habe ich oft darüber gesprochen, ob es nicht besser sei, in den Westen zu gehen. Irgendwann<br />

würden sie Berlin, das letzte Schlupfloch in den Westen, dicht machen. Wer dann nicht<br />

drüben war, musste hier bleiben - für immer.<br />

Zum Ingenieurstudium gehörten Betriebspraktika. Dabei lernte ich einen mir <strong>bis</strong> dahin völlig<br />

fremden Lebensbereich kennen: den Arbeitsalltag. Was ich da zu sehen bekam, war ernüchternd.<br />

In einer Papierfabrik arbeiteten sie noch mit Maschinen aus dem 19. Jahrhundert. In einer<br />

Druckerei waren die Lager der Druckmaschinen so ausgeleiert, dass sich die Farben nicht<br />

mehr passgenau drucken ließen (kein Wunder, dass die DDR-Briefmarken von Jahr zu Jahr<br />

größer wurden). Auf der anderen Seite zeigten uns westdeutsche Firmen auf der Leipziger<br />

Messe, wie weit sie uns voraus waren. Wir ätzten unsere Klischees im Säurebad, im Westen<br />

wurden sie in einem Bruchteil der Zeit aus Nylonplatten gestichelt. Wir klebten unsere Filme<br />

mühsam mit Kleister auf metergroße Glasplatten, die neueste Kamera aus München saugte<br />

den Film einfach per Unterdruck an. Wir bekamen große Augen und hätten gern getauscht.<br />

Ich glaube, dass die Faszination westlicher Technik ganz entscheidend dazu beigetragen hat,<br />

dass damals immer mehr “nach drüben” gingen.<br />

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Hinzu kam die zunehmende Kontrolle, die <strong>bis</strong>weilen kuriose Züge annahm. Die DDR hatte<br />

große Angst, jemand könne etwas Staatsfeindliches verbreiten. Deshalb brauchte nicht nur jedes<br />

Druckerzeugnis sondern auch schon jede Vervielfältigung mit dem Spiritusumdrucker<br />

eine Lizenznummer. Wollte man das Schriftsetzen lernen, durfte nur an Beispieltexten geübt<br />

werden, für die eine Lizenznummer vorlag. Ich habe damals in unendlich vielen Variationen<br />

immer wieder die Zeile "Evangelisches Kirchengesangbuch" gesetzt, ein Titel für den die<br />

EVA eine solche Lizenznummer besaß. Am liebsten hätte der Staat wohl auch fürs Denken<br />

Lizenznummern vergeben.<br />

1.23 Flucht in den Westen<br />

Ich war jetzt im vierten Semester und hatte weitere vier Semester vor mir. Je länger ich das<br />

Studium fortsetzte, um so klarer wurde mir, wie perspektivlos die Sache war. Was wollte ich<br />

nach Abschluss der Ingenieurschule anfangen? Wollte ich wirklich Leiter der Reproabteilung<br />

in einem volkseigenen grafischen Betrieb werden? Bei meiner kritischen Einstellung zur<br />

DDR hatte ich in dieser Richtung wenig Chancen. Es wäre auch kein befriedigender Beruf<br />

für mich gewesen. Sollte ich versuchen, als freiberuflicher Grafiker zu arbeiten? Das war eine<br />

kleine Nische, in die sich schon manche zurückgezogen hatten. Aber wie kam man an Aufträge,<br />

und wie konnte man davon leben? Außerdem: so toll waren meine Arbeiten ja nun auch<br />

wieder nicht, mir fehlte eine gründliche Ausbildung.<br />

Zu Hause ging es mir von Monat zu Monat schlechter. Ständig stritt ich mich mit meinen Eltern<br />

herum. Meist stand dabei die ewige Sorge meiner Mutter im Hintergrund, dass aus mir<br />

doch nichts werden würde. Außerdem geriet ich in eine für männliche Einzelkinder mit alten<br />

Vätern typische Familiendynamik. Mein Vater wurde älter und kränker. Jetzt war ich "der<br />

Mann im Haus", wollte und konnte diese Rolle jedoch nicht übernehmen. So trieb ich langsam<br />

aber sicher auf eine Krise zu, aus der mich nur ein Befreiungsschlag retten konnte.<br />

Eigentlich war die Lösung ganz einfach. Ich brauchte nur in den Westen zu gehen und hatte<br />

dort die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen. Aber durfte ich meine alten Eltern im<br />

Stich lassen? Die Bibel, die mir so wichtig war, sagte ganz klar: "Du sollst Vater und Mutter<br />

ehren..." Was also tun? Wochenlang habe ich kaum geschlafen, mir die Dinge immer und immer<br />

wieder durch den Kopf gehen lassen. Dann hatte ich die Lösung: In den Westen gehen<br />

und dort Theologie studieren. Das war ein Kompromiss, den sogar Gott akzeptieren würde.<br />

Ich ließ zwar meine Eltern allein, würde aber durch diese Berufswahl eine Art Wiedergutmachung<br />

leisten. Vielleicht würde Gott mich sogar dabei unterstützen, die ungeliebten alten<br />

Sprachen rasch leichter hinter mich zu bringen. Schließlich gab es genug Geschichten, die<br />

von solch wunderbaren Fügungen berichteten.<br />

Es war wie eine Erleuchtung! Auf einmal wusste ich, wie ich aus diesem ganzen Schlamassel<br />

herauskam. Ich musste meinen Vorsatz nur noch in die Tat umsetzen. Vor allen Dingen durften<br />

meine Eltern nichts von meinen Plänen merken. Vielleicht hätten sie etwas ausgeplaudert<br />

und dann wäre aus der Flucht nichts geworden. Damals, Mitte 1958, gab es zwar die Berliner<br />

Mauer noch nicht, aber Republikflucht war bereits strafbar. Wurde man erwischt, musste man<br />

seinen Ausweis abgeben und bekam ein Ersatzdokument, mit dem man nicht mehr nach Berlin<br />

fahren konnte. Berlin war aber das einzige Schlupfloch in den Westen.<br />

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Die größte Schwierigkeit bestand darin, ungeschoren nach Berlin hineinzukommen. War man<br />

erst einmal im Ostteil der Stadt, kam man leicht mit der S-Bahn in den Westteil, oder man<br />

wechselte im Bezirk Wedding einfach von der Ost-Seite einer Straße auf die West-Seite. Wegen<br />

dieser durchlässigen Grenze innerhalb Berlins fanden die Kontrollen an der Stadtgrenze<br />

statt. Dort konnte man leicht aus dem Zug geholt und verhört werden. Schlimm, wenn man<br />

keinen überzeugenden Grund für seine Berlin-Reise angeben konnte oder gar Zeugnisse und<br />

andere Papiere, die auf eine Fluchtabsicht schließen ließen, mit sich führte.<br />

Ich musste also meine Reise heimlich und klug vorbereiten. Zunächst verkaufte ich meine<br />

beste Kamera und andere Wertsachen um finanziellen Spielraum zu gewinnen. Dann packte<br />

ich einen Reisekoffer und stellte ihn bei Freunden unter. Ein Bekannter gab mir den Tipp:<br />

"Fahr über Halle. Zwischen Halle und Berlin sind Gleisbauarbeiten. Die Züge kommen verspätet<br />

in Potsdam an. Die Kontrollen sind lasch." So habe ich es dann gemacht. Am "Tag X"<br />

holte ich bei meinen Freunden den Koffer ab und fuhr mit dem Taxi zum Bahnhof. Über Halle<br />

kam ich unbehelligt nach Ostberlin. Dort wartete bereits ein Freund, der mich zur S-Bahn<br />

brachte und vorsorglich noch <strong>bis</strong> Gesundbrunnen, also in den Westteil der Stadt, mitfuhr. Ich<br />

stieg aus, wischte mir den Angstschweiß von der Stirn und war im Westen. Ein neuer Lebensabschnitt<br />

hatte begonnen.<br />

Von Westberlin aus rief ich Freunde in Leipzig an. Sie warfen bei meinen Eltern einen vorbereiteten<br />

Abschiedsbrief ein. Sie sollten schnell erfahren, dass ich in den Westen gegangen<br />

war. Zwar hatte ich meine Reisevorbereitungen vor ihnen verborgen gehalten, aber sicher hatten<br />

sie gemerkt, dass da etwas im Gange war.<br />

Auf mein "nieber machn" reagierten sie recht unterschiedlich. Meine Mutter eher mit Vorwürfen<br />

("Wie konntest du uns das antun?"), mein Vater eher verständnisvoll. Nachträglich haben<br />

meine Eltern mir viele Kleinigkeiten per Postpaket nachgeschickt und mir damit den<br />

Start im Westen erleichtert. Dass jetzt erst einmal ein großer Abstand zwischen ihnen und mir<br />

lag, war schmerzlich, aber – und daran habe ich in der Folgezeit nie gezweifelt – es war für<br />

alle Beteiligten das Beste. Meinen weiteren Weg wollte ich mir alleine suchen.<br />

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Mein Weg zur Kanzel<br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> 1958 <strong>bis</strong> 1969<br />

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2.1 Im „goldenen Westen“<br />

Nun war ich also im "goldenen Westen". Und tatsächlich: die fröhlichen, schick gekleideten<br />

Menschen, die vielen Autos, die von Waren überquellenden Geschäfte - das war doch etwas<br />

ganz anderes als im trist-grauen Osten. Mit den Schattenseiten dieses strahlenden Kapitalismus<br />

- soziale Ungerechtigkeit und kaum verhohlener Faschismus - sollte ich erst später zu<br />

tun bekommen.<br />

Die ersten Tage über war ich ziemlich durcheinander, musste mich erst an die so ganz andere<br />

Welt gewöhnen. Zunächst hatte ich auch Zweifel: War meine Entscheidung, die eigenen Eltern<br />

zu verlassen und in den Westen zu gehen, richtig? War hier tatsächlich alles so, wie es<br />

sich auf den ersten Blick darstellte, oder war dieses Westberlin eine Art Potemkinsches Dorf<br />

und drüben im Westen lebten die Menschen, wie die DDR-Propaganda ständig behauptete, in<br />

Armut und Elend? Worauf hatte ich mich da eingelassen?<br />

Langsam schwand meine Unsicherheit, es war alles "echt", was ich hier sah. Westberlin war<br />

allerdings auch ein untypisches Beispiel für westlichen Lebensstil. Die Stadt galt als "Frontstadt".<br />

Hier wollte man dem Osten deutlich zeigen, dass der Kapitalismus dem Sozialismus<br />

überlegen ist. In Wanne-Eickel oder Duisburg-Meiderich sah die Welt schon etwas grauer und<br />

unfreundlicher aus als in Westberlin. Trotzdem: Zwischen West und Ost lagen Welten. Auch<br />

die Mentalität war eine andere. Die Westler waren selbstbewusster, auch gegenüber ihrem<br />

Staat und seinen Behörden. Im Osten hatte der Staat ein patriarchalisches Verhältnis zu seinen<br />

Bürgern. Vater Staat und Mutter Partei sorgten sich um ihre Kinder. Die mussten dafür aber<br />

auch ständig dankbar sein und wehe, wenn sie ungehorsam waren. Dann gab es schnell ein<br />

paar hinter die Ohren. Im Westen herrschte eher die Überzeugung: Du musst deine Sache<br />

selbst in die Hand nehmen, sonst kommst Du zu nichts.<br />

Meine Sache selbst in die Hand nehmen, musste ich jetzt auch. Zunächst einmal stand ich in<br />

Westberlin, vor dem S-Bahnhof Gesundbrunnen. Wie nun weiter? Der nächste Polizist sagte<br />

mir, wie ich ins Notaufnahmelager nach Marienfelde komme. Das war ziemlich kompliziert,<br />

denn man durfte ja nicht wieder durch die Ostsektoren fahren. Mit Straßenbahn und Bus kam<br />

ich schließlich ans Ziel und erlebte eine richtige Lageratmosphäre. Damals, im Juli 1958, gab<br />

es eine Fluchtwelle, jede S-Bahn, die in Marienfelde hielt, spuckte wieder neue Flüchtlinge<br />

aus. Die meisten hatten, wie ich, nichts weiter dabei als ein paar Habseligkeiten in einem<br />

kleinen Reisekoffer, waren früh am Morgen in Thüringen, Sachsen oder Mecklenburg in den<br />

Zug gestiegen, hatten voller Angst die Kontrollen hinter sich gebracht und aßen nun die letzten<br />

Brote, die sie noch zu Hause mit DDR-Margarine geschmiert hatten. Aber irgendwie würde<br />

es weitergehen und für Verpflegung und Quartier sorgte jetzt erst einmal der Berliner Senat.<br />

Manche waren auch enttäuscht, weil sie sich das neue Leben ganz anders vorgestellt hatten.<br />

In Westberlin herrschte auf Grund der hohen Flüchtlingszahlen Ausnahmezustand. Sämtliche<br />

Lager waren überfüllt. Man behalf sich mit Doppelstockbetten, requirierte Turnhallen und<br />

versuchte, das allgemeine Chaos wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. Im Lager<br />

wurde heftig geklaut. Man brauchte sich nur einmal umzudrehen, schon war die Geldbörse,<br />

die Zahnbürste oder die Seife weg. Kurz: es ging zu, wie in den meisten Flüchtlingslagern<br />

dieser Welt.<br />

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Dass es überhaupt solche Lager gab, hatte folgenden Hintergrund: Genau genommen, war jeder<br />

DDR-Bürger "Deutscher im Sinne des Grundgesetzes", konnte sich also jederzeit irgendwo<br />

in der Bundesrepublik ansiedeln und sich einen bundesdeutschen Pass ausstellen lassen.<br />

Wer im Westen Verwandte hatte, bei denen er unterkommen konnte, und wer Westgeld besaß,<br />

um sich ein Flugticket zu kaufen, konnte einfach diesen Weg gehen. Für die anderen gab es<br />

nur den Weg über das sog." Notaufnahmeverfahren". Dieses Verfahren fand im Flüchtlingslager<br />

statt. Dort musste man diverse Formulare ausfüllen und schließlich vor einer Kommission<br />

erscheinen, die - ähnlich wie heute bei Asylbewerbern - eine Entscheidung traf, ob und was<br />

für ein Flüchtling man war. Es gab einen wichtigen Unterschied zwischen "einfachen" und<br />

politischen Flüchtlingen. Politischer Flüchtling hieß, dass man die DDR verlassen musste,<br />

weil Gefahr für Leib und Leben bestand. Dies wurde allerdings nicht so eng ausgelegt. Hatte<br />

sich jemand bei der Obrigkeit unbeliebt gemacht, etwa durch Mitarbeit bei der Jungen Gemeinde,<br />

sodass der Verlust des Studienplatzes drohte, reichte auch das für die Anerkennung<br />

als politischer Flüchtling. Meine Chancen, den begehrten Flüchtlingsausweis C zu bekommen,<br />

standen also nicht schlecht. Das war für meine Zukunftspläne wichtig, denn politische<br />

Flüchtlinge konnten, wenn sie Hab und Gut zurücklassen mussten, mit einer Entschädigung<br />

nach dem Lastenausgleichsgesetz rechnen. Wer - wie ich - sein Studium aufgegeben hatte,<br />

konnte auf der gleichen Grundlage ein Stipendium erhalten.<br />

Im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens wurde man auch zu den militärischen Geheimdiensten<br />

der Amerikaner, Engländer und Franzosen geschickt. Die hatten natürlich ein Interesse<br />

daran, die neuesten Informationen aus dem Osten zu bekommen. Das war verständlich, aber<br />

eine üble Trickserei war es auch. Uns sagte nämlich niemand, dass diese Befragung keinen<br />

Einfluss auf das Notaufnahmeverfahren hat. Also gingen wir brav hin und erzählten, wo wir<br />

zuletzt einen russischen Panzer gesehen hatten und was für Flugzeuge täglich über unsere<br />

Köpfe geflogen waren. Daraus konnte man uns in der DDR, falls wir uns noch einmal dorthin<br />

verirren sollten, jederzeit einen Strick drehen. Jetzt waren wir nicht nur Republikflüchtlinge,<br />

sondern auch noch Spione!<br />

2.2 Von der Spree an die Lahn und weiter an den Neckar<br />

Bevor ich mit der Notaufnahme zu Ende war, trat eine überraschende Wende ein. Ich erhielt<br />

einen Anruf aus Frankfurt. Unser früherer Nachbar, Edgar Lux, war dort Geschäftsführer des<br />

Diakonischen Werkes. Er hatte von meiner Flucht gehört und freute sich darüber, dass ich<br />

nun doch Pfarrer werden wollte, wozu er mir schon früher geraten hatte. Nun bot er mir an,<br />

die Kosten für die Flugtickets zu übernehmen. Ich könnte auch erst mal eine Woche in einem<br />

kirchlichen Erholungsheim unterkommen und das Notaufnahmeverfahren danach in aller<br />

Ruhe in Gießen absolvieren. Ich war froh aus dem Lager herauszukommen, bestieg den<br />

nächsten Flieger, sah unter mir die ungeliebte DDR vorbeiziehen, landete in Frankfurt und<br />

wurde von Herrn Lux nach Laurenburg an der Lahn gebracht. Dort konnte ich mich erst einmal<br />

von den Aufregungen der letzten Tage und Wochen erholen. Die schwierige Entscheidung,<br />

zu bleiben oder in den Westen zu gehen, die ständigen Auseinandersetzungen mit meinen<br />

Eltern, das alles hatte mich ziemlich fertig gemacht. Erholung tat bitter Not und die fand<br />

ich hier in diesem kleinen verschlafenen Nest an der Lahn, unweit der Schaumburg.<br />

Von Laurenburg aus fuhr ich für ein paar Tage ins Notaufnahmelager nach Gießen und war<br />

nun anerkannter politischer Flüchtling. Mit der Anerkennung war die Einweisung in ein be-<br />

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stimmtes Bundesland verbunden. Wer irgendwo nahe Verwandte hatte, wurde dorthin geschickt.<br />

Weil meine Schwester in Tübingen wohnte, bekam ich eine Einweisung nach Baden-<br />

Württemberg. Allerdings durfte ich nicht direkt nach Tübingen, sondern musste vorher noch<br />

ins "Landesjugenddurchgangslager" Wart bei Nagold. Wir sollten noch auf unsere neue Heimat<br />

eingestimmt und im Blick auf unsere berufliche Zukunft beraten werden. Das war auch<br />

sinnvoll, denn unter den Flüchtlingen befanden sich viele Jugendliche, die einfach zu Hause<br />

abgehauen waren, ohne eine genaue Perspektive für die Zukunft zu haben.<br />

Ich weiß nicht mehr, wie viele wir in jenem Lager waren, aber es hatte einen Hauch von Gefängnis.<br />

Im Speisesaal war es üblich, die Messer unter die Tischplatte zu rammen und dann<br />

auf das federnde Ende zu schlagen. Das gab einen Höllenlärm und hörte sich stark nach Gefangenenrevolte<br />

an. Pro Tag gab es 50 Pfennige Taschengeld. Mit so wenig habe ich nie wieder<br />

auskommen müssen. Eine Episode aus Wart ist mir noch gut in Erinnerung: Wenn wir<br />

nicht gerade beraten wurden, spielten wir Monopoly. Das Spiel war jedoch unvollständig. Es<br />

fehlten 10.000 DM-Scheine. Ersatzweise waren einige 1000 DM-Scheine per Kugelschreiber<br />

mit einer zusätzlichen Null aufgewertet worden. Ich hatte einen kleinen Jungen neben mir,<br />

der saß halb unter dem Tisch. Immer wenn ich einen Tausenderschein bekam, reichte ich ihn<br />

unauffällig nach unten und dieser Junge machte mit dem Kugelschreiber einen Zehntausender<br />

daraus. Ich habe haushoch gewonnen! Offensichtlich hatte ich die Prinzipien der kapitalistischen<br />

Wirtschaftsordnung schnell begriffen.<br />

In Tübingen konnte ich erst einmal bei meiner Schwester im Gästezimmer unterkommen. Es<br />

war nämlich noch eine Hürde zu überwinden, bevor ich mit dem Theologiestudium beginnen<br />

konnte: Mein Ost-Abitur berechtigte nicht zum Studium. Es musste erst durch eine Ergänzungsprüfung<br />

aufgewertet werden. Das hieß: noch mal für ein halbes Jahr zur Schule gehen.<br />

Dass ich schon vier Semester an einer Ingenieurschule studiert hatte, half mir nichts. Nach<br />

Meinung der Kultusministerkonferenz besaß ich noch nicht die richtige, westliche Reife. Das<br />

war insofern zutreffend, als sich die Lehrpläne im Osten deutlich von denen im Westen unterschieden.<br />

Zwar waren wir in den naturwissenschaftlichen Fächern besser als unsere Kollegen<br />

im Westen, aber in Deutsch, Geschichte und Erdkunde sah es finster aus. Anstelle von Camus<br />

und Sartre hatten wir Ernst Becher und Heinrich Mann durchgenommen, neuere Geschichte<br />

hatte sich auf die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung beschränkt, und den ehemaligen<br />

deutschen Ostgebieten wurde in der DDR nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil als Bulgarien<br />

oder Rumänien. Nun war Nachsitzen angesagt.<br />

Meine Schwester und ihre Familie haben mir sehr geholfen, mich in der neuen westlichen<br />

Welt zurechtzufinden. Ich durfte <strong>bis</strong> zum Kursbeginn bei ihnen wohnen, wurde bekocht und<br />

bekam die Wäsche gewaschen. Dabei lernte ich nun auch meinen Schwager besser kennen.<br />

Rudi Pfau war ein sehr unterhaltsamer Mensch. Schon als Kind hatte er mich damit beeindruckt,<br />

dass er mit den Ohren wackeln konnte. Aber er konnte noch viel mehr, nämlich Klavier<br />

spielen und viele Menschen unterhalten. Irgendeinen Spaß hatte er immer auf Lager. Daneben<br />

hatte er aber auch eine ausgeprägte zwanghafte Seite, wie ich sie nie wieder bei einem<br />

anderen Menschen erlebt habe. Eine Scheibe Brot musste genau 8 mm dick sein und wenn<br />

sein Sohn Eike sie zu dick oder zu dünn schnitt (7 oder 9 Millimeter), gab es einen heftigen<br />

Rüffel und die Scheibe musste neu geschnitten werden.<br />

Vor dem Weihnachtsfest zog sich Rudi für mehrere Tage zurück, um ungestört den Weihnachtsbaum<br />

zu schmücken. Mit einer Pinzette legte er jeweils einen Lamettastreifen hinter jedes<br />

Nadelpaar. Das Ergebnis war phantastisch: ein total versilberter Baum - mit roten Kugeln.<br />

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Rudi hatte kein leichtes Leben. Weil er in der NSDAP war, durfte er in der DDR nicht weiter<br />

als Lehrer arbeiten. Er ging mit seiner Familie in den Westen und schlug sich als Buchhalter<br />

durch. Erst nach vielen Jahren gelang es ihm, wieder in den Schuldienst zu kommen. Nun<br />

war er an einer Schule in Tübingen und machte aus seiner zwanghaften Art eine Tugend: die<br />

ganzen Schulferien über bosselte er an den Raumverteilungsplänen. Das war - ohne Computer<br />

- eine Heidenarbeit und er war dafür genau der richtige Mann.<br />

Mit meiner Schwester führte Rudi eine bühnenreife Streitehe. Die beiden fanden immer wieder<br />

etwas, worin sie sich nicht einig waren. Bekanntlich sind solche Ehen äußerst dauerhaft,<br />

weil beide Partner einander ständig brauchen. So haben sie es lange miteinander ausgehalten<br />

<strong>bis</strong> Rudi – viele Jahre später - auf eine zu ihm passende Weise zu Tode kam. Er verursachte<br />

einen Verkehrsunfall, sagte noch schnell der Polizei und dem Abschleppdienst Bescheid und<br />

fiel dann tot um. Dass ihm, dem so korrekten Menschen, einmal etwas außer Kontrolle geraten<br />

konnte (die Angst des zwanghaften Charakters vor dem Chaos!) muss ihm geradezu den<br />

Boden unter den Füßen weggezogen haben - eine Deutung, der auch meine Schwester zustimmte.<br />

2.3. Nachsitzen<br />

Der nächste Kurs zur Vorbereitung auf die Ergänzungsprüfung sollte im Oktober beginnen.<br />

Es blieben also noch ein paar Monate Zeit, um meine Finanzen aufzubessern. Zunächst half<br />

ich beim Zusammenbau eines Fahrstuhls. Die Unikliniken wurden erweitert. Es waren herrliche,<br />

sonnige Spätsommertage. In den Arbeitspausen lag ich auf den Streuobstwiesen zwischen<br />

den neuen Klinikgebäuden, schob mir eine Zwetschge nach der anderen in den Mund<br />

und war rundum zufrieden. Bis hierher war alles gutgegangen!<br />

Als der Aufzug fertig war, fand ich eine Stelle bei einer Fertighausfirma. Die war auf Barakken<br />

für NATO-Flugplätze spezialisiert. Kaum war ich da, gab es einen Betriebsausflug zu einer<br />

Baustelle in der Nähe von Verdun. Das war meine erste Begegnung mit den Schlachtfeldern<br />

des ersten Weltkrieges. Zehntausende von Grabkreuzen, alle in Reih und Glied ausgerichtet<br />

- von dieser Seite des Krieges war in den Erzählungen meines Vaters nicht die Rede<br />

gewesen.<br />

Im Oktober 1958 begann der Vorbereitungskurs für die Ergänzungsprüfung. Der Unterricht<br />

fand in einem Wohnheim der Arbeiterwohlfahrt in Tübingen statt, untergebracht waren wir<br />

weit draußen vor der Stadt, auf dem Einsiedel. Jedes Schulkind in Tübingen kennt diesen Ort.<br />

Hier residierte einst Graf Eberhard. Aus dem heiligen Lande hatte dieser überaus beliebte Regent<br />

("Eberhard, der mit dem Barte, Württembergs geliebter Herr...”) einen Weißdornstrauch<br />

mitgebracht. Immer wenn dieser Weißdorn blüht, bekommen die Tübinger Kinder schulfrei<br />

und pilgern hinauf zum Einsiedel. Wir dagegen schliefen dort oben und pilgerten hinunter in<br />

die Stadt, um uns beschulen zu lassen. Pilgern ist nicht ganz der passende Ausdruck. Ein<br />

klappriger Bus holte uns ab. Bald besaß ich sogar ein eigenes Fahrzeug, natürlich noch kein<br />

Auto, sondern ein Fahrrad mit Hilfsmotor. Mit dem tuckelte ich an den freien Wochenenden<br />

im Schwarzwald herum.<br />

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Warum es in unserem Kurs ständig mündliche und schriftliche Noten gab, wenn doch hinterher<br />

bei der Suche nach einem Studienplatz die Noten des DDR-Abiturs galten, wusste niemand.<br />

Jedenfalls haben wir uns nicht unnötig angestrengt. In jedem Fach eine Vier zu haben,<br />

reichte völlig. Leicht schockiert war ich von unseren Lehrern, zumeist pensionierte Studienräte,<br />

die sich noch etwas zu ihrer Pension dazuverdienten. Es waren unbelehrbare Nazis darunter,<br />

die aus ihren Ansichten kein Hehl machten. So etwas hatte es in der DDR nicht gegeben.<br />

Im April 1959 bestand ich die Ergänzungsprüfung. Nun konnte das Studium losgehen, aber<br />

wo? Die theologischen Hochburgen waren zu jener Zeit Heidelberg, Marburg, Göttingen und<br />

Tübingen. Ich hätte also gleich am Ort bleiben können, aber es kam anders. Die Arbeiterwohlfahrt,<br />

die unseren Ergänzungskurs ausgerichtet hatte, machte in Bonn ein Studentenwohnheim<br />

auf und bot uns preiswerte Heimplätze an. Also: Auf nach Bonn!<br />

2.4 In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein<br />

Im Sommersemester 1959 schrieb ich mich an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität<br />

als Theologiestudent ein. Bonn war damals eher eine Kleinstadt als eine Großstadt und<br />

der Titel "Hauptstadt" mutete eher wie ein Witz an. Die Bahnlinie teilte die Stadt in zwei<br />

Hälften. Kam ein Zug, sorgten die Schranken jedes mal für ein Verkehrschaos. Ein geflügeltes<br />

Wort brachte es auf den Punkt: Entweder du <strong>bis</strong>t müde, oder es regnet oder die Schranken<br />

"sin erunne". Damit war das Wichtigste über Bonn gesagt.<br />

Dem Bonner Klima schrieb man eine mumifizierende Wirkung zu, was schon immer Pensionäre<br />

anlockte. Diese dröge Pensionärsstadt war 1949 völlig unerwartet zur Hauptstadt erhoben<br />

worden und als Folge davon ergoss sich ein bürokratischer und diplomatischer Zuckerguss<br />

über die Stadt, der gar nicht zu ihr passte und von den Alteingesessenen mit Befremden<br />

zur Kenntnis genommen wurde. Was war nur aus ihrem kleinen, gemütlichen Städtchen geworden?<br />

Es gab Staatsbesuche und Empfänge, Polizeieskorten lotsten wichtige Menschen zur<br />

Villa Hammerschmidt und zum Kanzleramt. Tausende von Bundesbeamten bauten sich in<br />

den umliegenden Dörfern ihre Häuschen und die Mitarbeiter fremder Botschaften parkten<br />

kreuz und quer auf den Bürgersteigen - dank Immunität von der Polizei unbehelligt.<br />

Bonn platzte aus allen Nähten und hätte eigentlich völlig umgebaut werden müssen. Aber das<br />

wollte man damals noch nicht. Bonn sollte ein Provisorium bleiben, um zu dokumentieren,<br />

dass man noch immer auf die Einheit Deutschlands hoffte. Der große Modernisierungsschub<br />

(Abgeordnetenhochhaus, Kanzlerbungalow, neuer Plenarsaal, Museumsmeile usw.) all das<br />

kam erst sehr viel später, als man sich mit der deutschen Teilung endgültig abgefunden hatte<br />

und sich in Bonn auf Dauer einrichtete.<br />

Die Uni residierte, wie auch heute noch, im Schloss und die Universitätsgottesdienste fanden<br />

in der integrierten Schlosskirche statt. Vermutlich gab es auch in Bonn Professoren, die der<br />

Universität Ruhm und Ehre eingebracht hatten, aus meiner Bonner Zeit sind mir keine erinnerlich,<br />

schon gar nicht Theologen. Wahrscheinlich wussten die meisten Deutschen damals<br />

nicht einmal, dass es in Bonn eine Universität gibt.<br />

Das Studentenwohnheim der AWO lag in Bad Godesberg, damals noch eine selbständige<br />

Stadt, eine Art nobler Vorort von Bonn. Mit der Straßenbahn kam man schnell von einem Ort<br />

46


zum anderen. Außerdem hatte ich bald ein Moped (grasgrün Marke NSU Quickly). Damit<br />

knatterte ich über die B9, die sog. Diplomatenrennbahn, zur Uni und wieder zurück.<br />

Mit dem Lastenausgleichs-Stipendium kam ich so einigermaßen über die Runden. Es waren<br />

zwar nur 180,-- Mark, aber Mieten und Lebenshaltung waren billig. Außerdem konnte ich in<br />

den Semesterferien dazuverdienen. Diese Erfahrungen in der Arbeitswelt waren allerdings ernüchternd.<br />

Einmal fand ich eine Stelle in der Papierverarbeitung. Frühstücksbeutel sollten<br />

zusammengetragen und mit einer Banderole versehen werden. Keine besonders schwierige<br />

Aufgabe. Am Band arbeiteten Männer und Frauen nebeneinander, die Männer bekamen jedoch<br />

für die gleiche Arbeit einen höheren Lohn. Das fand ich ungerecht und sagte das auch<br />

laut und deutlich. Daraufhin wurde ich zum Chef zitiert, der mir eine Standpauke hielt: Da<br />

habe er nun so einem armen Studenten helfen wollen und was tut dieser undankbare Mensch?<br />

Er wiegelt die Belegschaft auf und verbreitet kommunistische Parolen! Hinaus mit ihm, nie<br />

wieder soll er seinen Fuß über diese Schwelle setzen. Die Situation war einigermaßen skurril,<br />

dann ich war ja gerade erst als politischer Flüchtling anerkannt worden, sie passte aber zum<br />

Antikommunismus der Adenauer-Ära. Georg Kreisler hat es auf eine herrliche Kurzform gebracht:<br />

"In der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein fürchtet sich der Kommunist, sollt es etwas<br />

weiter östlich sein, fürchtet sich, wer keiner ist."<br />

Übrigens hatte mich eine der benachteiligten Frauen beim Chef verpfiffen. Kaum zu glauben:<br />

Die Sklaven verteidigen ihre Ketten! Erich Fromm hat über diese “Furcht vor der Freiheit”<br />

ein lesenswertes Buch geschrieben. Befreiungsbewegungen und -theologien neigen dazu, diesen<br />

Effekt zu übersehen.<br />

Ein andermal arbeitete ich bei Coca-Cola. Hier waren die Arbeitsabläufe auf die Sekunde genau<br />

durchgeplant. Alle 20 Minuten wurde der Arbeitsplatz gewechselt, erst 20 Minuten Flaschen<br />

in eine Spülmaschine setzen, die so schnell lief, dass man kaum nachkam, dann 20 Minuten<br />

"Erholung" beim Aussortieren nicht vollständig gefüllter Flaschen. Hier wurde wirklich<br />

das Letzte aus den Menschen herausgeholt. Es gab viele Unfälle, weil man bei dem hohen<br />

Tempo nicht nachschauen konnte, ob zerbrochene Flaschen im Kasten waren. Irgendwann<br />

griff jeder mal in Scherben und konnte froh sein, wenn er sich keine Infektion holte.Genau so<br />

hatte man uns in der DDR den Kapitalismus geschildert! Dass die Cola-Flaschen heute durch<br />

Automaten aus den Kästen gehoben werden, ist ein Fortschritt. Allerdings macht die Maschine<br />

den Menschen arbeitslos. Wie wäre es mit langsamerem Arbeiten?<br />

2.5 Im Pädagogium<br />

Nach einem Jahr ergab sich für mich eine andere Lösung. Das Päda suchte Erzieher. Das<br />

Päda - offiziell hieß es Pädagogium Bad Godesberg / Otto-Kühne-Schule - war ein öffentlich<br />

zugängliches Gymnasium mit privatem Internat. Die Internatsschüler, nur Jungen, lebten unter<br />

der Obhut von Hauseltern in alten Villen direkt neben dem monströsen Backsteinbau der<br />

Schule. In jedem dieser Internatshäuser gab es zwei "Erzieher" für die Beaufsichtigung der<br />

Schüler. Man bekam zwar nur ein Taschengeld, aber Kost und Logis waren frei. Theologiestudenten<br />

nahm man sogar besonders gern, denn es handelte sich um ein christliches Haus,<br />

mit Tischgebet und Sonntagskirchgang.<br />

47


Ich zog also aus dem Studentenwohnheim aus und wohnte fortan in einer schönen Gründerzeitvilla,<br />

oben unterm Dach. Oft sah ich Adenauer unterwegs nach Rhöndorf bei uns vorbeifahren.<br />

Er saß im Font seines schwarzen Mercedes, der heute im Bonner Haus der Geschichte<br />

zu sehen ist, und studierte Akten.<br />

Wir Erzieher mussten nachmittags die Schulaufgaben beaufsichtigen, gelegentlich Nachhilfe<br />

erteilen, abends darauf achten, dass das Licht nicht zu lange brannte und am Wochenende mit<br />

den Jungen, sofern sie nicht heim fuhren, Ausflüge in den Kottenforst und ins Siebengebirge<br />

unternehmen. Für das Studium blieb mir neben dieser Tätigkeit genügend Zeit. Vormittags<br />

waren die Jungs in der Schule und zum Vokabeln-Pauken musste ich ohnehin nicht nach<br />

Bonn fahren, das konnte ich auch in Bad Godesberg erledigen.<br />

Die Licht und Schattenseiten des Internatsbetriebes lernte ich in meiner Päda-Zeit gründlich<br />

kennen. Einerseits waren hier Kinder, deren Vater beispielsweise Landarzt in einer abgelegenen<br />

Gegend war. Die besuchten das Internat, weil sie kein Gymnasium in Reichweite hatten.<br />

Andere kamen, weil die Eltern sie los sein wollten. Wir hatten auch viele Diplomatenkinder,<br />

die waren oft schon weit in der Welt herum gekommen, manchmal waren sie maßlos<br />

verwöhnt. Am Wochenende, wenn sie heimfahren durften, kam dann ein Luxusschlitten und<br />

der Chauffeur hielt dem Diplomatensprössling die Tür auf. Eine bunte Mischung also.<br />

Schlimm war es, wenn ein Kind fürs Gymnasium nicht begabt genug war, aber die Eltern<br />

meinten: Hier bezahlen wir gutes Geld, dann muss es das Internat schaffen, unser Kind<br />

durchs Abitur zu bringen. Das gab Nachhilfestunden ohne Ende.<br />

Der Hausvater besaß die volle Erziehungsgewalt und gelegentlich bezog ein Schüler eine<br />

Tracht Prügel, wenn er nicht parierte. Heute würde das die Polizei und den Kinderschutzbund<br />

auf den Plan rufen, damals regte sich niemand darüber auf, sollte es doch zum Besten des<br />

Kindes dienen, gemäß dem Leitsatz des Pädagogiums: “Lex suprema salus liberorum” (Das<br />

Wohl der Kinder ist unser oberster Grundsatz).<br />

In einem Haus voller heranwachsender Jungen, ließ sich die Sexualität natürlich nicht ganz<br />

verbannen, auch wenn das die Leitung in christlich-prüder Weise gern getan hätte. Da hatten<br />

wir Erzieher es schwer, zwischen der Solidarität mit unseren "Zöglingen" und der Loyalität<br />

gegenüber dem Arbeitgeber. Ein Kollege aus dem Nachbarhaus wurde fristlos entlassen, weil<br />

er einem Schüler auf dessen Nachfrage hin erklärt hatte, was ein Kondom ist. So war das, damals<br />

in den Zeiten vor Oswald Kolle!<br />

2.6 Wie es in Leipzig weiterging<br />

Als ich in den Westen "abhaute", war mir klar, dass ich meine Eltern wahrscheinlich nie mehr<br />

wiedersehen würde. Aber es kam anders. Im Sommer 1959, ein Jahr nach meinem Weggang,<br />

trafen wir uns in Westberlin. Um nicht durch die DDR fahren zu müssen, war ich von Hannover<br />

aus nach Berlin geflogen. Meine Eltern kamen mit dem Zug dorthin. Vor dem U-Bahnhof<br />

im Hansaviertel fielen wir uns in die Arme. Gleich darauf ging mein Vater zur Toilette und<br />

kam mit einem Packen Papiere wieder, die er mir in den Hand drückte. Er hatte die Originale<br />

aller meiner Zeugnisse unter seinem Hemd in den Westen geschmuggelt. Ein großartiges Zeichen<br />

seiner väterlichen Liebe. Bis dahin besaß ich nur Fotokopien, die immer etwas misstrauisch<br />

beäugt wurden, wenn ich sie irgendwo vorlegte.<br />

48


Ein halbes Jahr später, im Februar 1960, ist mein Vater in Leipzig gestorben. Als Todesursache<br />

war eine Lungenentzündung angegeben, man hätte aber ebenso gut Altersschwäche sagen<br />

können. Er hatte viel erlebt mit seinen 82 Jahren, zwei Weltkriege hatte er überstanden, mehrfach<br />

hatte er alle seine Ersparnisse verloren, zweimal war er verheiratet, zuletzt war er einfach<br />

ausgelaugt. Leider hat er nicht mehr miterleben können, wie ich - sein einziger Sohn -<br />

das Studium gut zu Ende brachte und sogar einen Doktortitel erwarb. Er wäre stolz auf mich<br />

gewesen. Ich überlegte, ob ich zur Beerdigung fahren sollte, traute mich aber nicht. Ich fürchtete,<br />

dass sie mich “einkassieren” würden.<br />

Für meine Mutter, begann nun ein neuer Lebensabschnitt. Eigentlich war sie in Leipzig nie<br />

so richtig angewachsen, warum also nicht wieder dorthin zurückgehen, von wo sie gekommen<br />

war, in ihr Heimatdorf Helmlingen. Die DDR hatte gegen die Ausreise nichts einzuwenden,<br />

im Gegenteil, jeder Rentner, der in den Westen ging, entlastete die staatliche Rentenkasse.<br />

Als Witwe eines deutschen Postbeamten konnte meine Mutter im Westen Hinterbliebenenversorgung<br />

beanspruchen. Das war nicht viel, aber sie konnte davon leben. Später hat sie<br />

sogar zusammen mit ihrem Bruder ein Haus gebaut.<br />

Vor der Ausreise waren einige bürokratische Hürden zu überwinden. Man musste lange Umzugslisten<br />

erstellen und Eigentumsnachweise beibringen. Schließlich sollte bei so einem Umzug<br />

nichts in den Westen "geschmuggelt" werden. Schnell noch ein Service aus Meißner Porzellan<br />

anschaffen, ging also nicht. Ansonsten verlief alles ganz problemlos. Möbel und Hausrat<br />

kamen in einen Güterwagen, der wurde verplompt und rollte gen Westen. Dort wartete bereits<br />

meine Mutter, um nachzuschauen, ob nichts verlorengegangen war. Sie war bei ihrem<br />

Bruder untergekommen. Dessen Frau war gestorben und der arme Mann musste sich mit vier<br />

gerade flügge werdenden Töchtern herumschlagen. Nun übernahm meine Mutter das Kommando.<br />

Auch für mich entstand eine neue Situation: ich hatte wieder ein zu Hause. Dort konnte, sollte,<br />

musste ich mich gelegentlich blicken lassen. Das war immer eine zweischneidige Angelegenheit.<br />

Ich wurde verwöhnt, bekam mein Lieblingsessen gekocht, die Wäsche gewaschen<br />

und durfte noch jede Menge selbst eingemachte Marmelade mitnehmen. Andererseits fanden<br />

die alten Besorgnisse meiner Mutter neue Nahrung. Aus mir war immer noch nichts Rechtes<br />

geworden und wer weiß, ob das jemals der Fall sein würde. Meist ging drei Tage lang alles<br />

gut, dann bekamen wir uns wieder "in die Wolle" und ich reiste ab.<br />

Manches lief nicht ganz so einfach wie meine Mutter es sich gedacht hatte. Die vier Töchter,<br />

denen sie die Mutter ersetzen sollte, wuchsen ihr rasch über den Kopf und die dörfliche Umwelt<br />

unterschied sich deutlich vom städtischen Leben in Leipzig. Obwohl meine Mutter hart<br />

zu arbeiten gewohnt war, nahm sie sich sonntags die Freiheit, im Liegestuhl ein Buch zu lesen.<br />

Das kam auf dem Dorf nicht so gut an. Sie war jedoch in ihrer Sippe gut aufgehoben und<br />

sie verstand auch den Dialekt ihrer Heimat. Warum das Nachbardorf Memprechtshofen<br />

"Memmezeffe" genannt wird und eine Plastiktüte schlicht "Guck" heißt, werde ich nie begreifen.<br />

49


2.7 Fremde Sprache - schwere Sprache<br />

Bevor das Studium richtig losgehen konnte, musste ich mich erst einmal mit den alten Sprachen<br />

befassen. Großes Latinum, Graecum und Hebraicum wurden beim Theologiestudium<br />

vorausgesetzt. Die Uni war immer noch der Meinung, dass ein künftiger Theologe ein humanistisches<br />

Gymnasium besucht hat und folglich die drei alten Sprachen schon mitbringt. Inzwischen<br />

gab es aber immer weniger humanistische und dafür mehr naturwissenschaftlich<br />

oder neusprachlich ausgerichtete Gymnasien. Folglich hatten immer weniger Studienanfänger<br />

ihre Sprachscheine in der Tasche. Das kümmerte die Uni jedoch wenig, sie bot zwar ein paar<br />

Nachholkurse an, aber die Prüfung war Sache des Schulkollegiums beim nächsten Regierungspräsidenten.<br />

Dort musste man als Externer die schulische Sprachprüfung nachholen.<br />

Mit den Anforderungen des Studiums war das überhaupt nicht koordiniert. Man musste klassisches<br />

Griechisch pauken, obwohl das Neue Testament gar nicht in klassischem Griechisch<br />

geschrieben ist. Auch halfen einem die Reden Ciceros nicht weiter, wenn im Studium Kirchenlatein<br />

zu übersetzen war. Nur beim Hebräischen passte beides zusammen, da gab es nun<br />

mal nur das Alte Testament zu übersetzen.<br />

Das tägliche Leben hatte sich in der Nachkriegszeit deutlich verändert, aber die Universitäten<br />

hatten einfach so weitergemacht, wie sie es seit Humboldt gewohnt waren - ein Reformstau,<br />

an den sich damals noch niemand heranwagte. Erst die 68er machten daraus ein Thema: "Unter<br />

den Talaren, Muff von tausend Jahren!"<br />

Dass die Sprachprüfungen für mich eine schwierige Hürde würden, hatte ich mir schon gedacht.<br />

Dass es so schwierig würde, hat mich überrascht. Ich bin nicht sonderlich sprachbegabt,<br />

hätte vielleicht an Konversation Gefallen gefunden, aber hier ging es um tote Sprachen,<br />

ums reine Übersetzen. Dass man das Gelernte hinterher gleich wieder vergessen konnte, weil<br />

es ja nur um den Schein ging, trug auch nicht gerade zur Motivation bei. Aber: es führte kein<br />

andrer Weg zum Pfarrberuf, also musste ich mich durchbeißen. Im Frühjahr 1960 meldete ich<br />

mich zum Graecum - und fiel prompt durch. Na gut, dachte ich, dann lässt Du das Griechisch<br />

erst mal liegen und machst das große Latinum (das kleine hatte ich schon, weil es Teil der Ergänzungsprüfung<br />

war). Das Latinum ging gut. Aber nun wieder Griechisch, ein zweiter Versuch<br />

- wieder durchgefallen. Jetzt wurde die Sache ernst, denn ich hatte nur noch einen letzten<br />

Versuch.<br />

Mir kamen erhebliche Zweifel. Sollte ich das Theologiestudium sausen lassen? Vielleicht hatte<br />

ich mir doch zuviel vorgenommen? Aber was war die Alternative? Wieder an die Reprofotografie<br />

anknüpfen? Mein ganzer Lebensplan schien zusammenzustürzen. In meiner Ratlosigkeit<br />

wandte ich mich an meinen Freund aus Leipziger Zeiten, Peter Weber. Peter war ebenfalls<br />

in den Westen gegangen aber der Drucktechnik treu geblieben. Er konnte mir auch nur<br />

wenig Hoffnung machen, noch einmal umzusteigen. Allerdings verhalf er mir doch zu einer<br />

neuen Perspektive. Peters Vater war aus den Zeiten der Bekennenden Kirche mit Pastor<br />

Niemöller befreundet. Niemöller war jetzt Kirchenpräsident in Hessen-Nassau. Ihm schrieb<br />

Peters Vater einen Brief: es gäbe da in Bonn einen jungen Mann, der wolle gerne Pfarrer<br />

werden, käme aber mit dem Studium nicht so recht voran, ob man da nicht etwas tun könne.<br />

Kurz darauf erhielt ich eine Einladung ins Landeskirchenamt nach Darmstadt. Das Gespräch<br />

verlief sehr erfreulich. Natürlich müsse ich jetzt schnell die Sprachprüfungen hinter mich<br />

bringen, aber ich könne ja nach Mainz gehen, dort sei zumindest das Hebraicum kein Problem,<br />

weil man gut vorbereitet würde. Wenn ich bereit sei, später in Hessen-Nassau Pfarrer zu<br />

50


werden, könnte ich im kirchlichen Wohnheim wohnen und hätte da auch gleich das richtige<br />

Lernumfeld. Wenn mein Stipendium ausgehe - es war auf ein rasches Studium zugeschnitten<br />

- würde man mir auch finanziell weiterhelfen.<br />

Damals waren die evangelischen Landeskirchen, anders als heute, in Personalnot. Der Pfarrerstand<br />

war überaltert, man brauchte dringend Nachwuchs. Da es den Kirchen finanziell gut<br />

ging - die Kirchensteuereinnahmen wuchsen von Jahr zu Jahr - ließ man gern etwas springen,<br />

um künftige Theologen in den eigenen Hafen zu lotsen. So kam ich zum Sommersemester<br />

1961 nach Mainz ins evangelische Studentenwohnheim "Jochen Klepper Haus“, direkt neben<br />

der Uni. Die Rheinpfalz von Bingen <strong>bis</strong> Worms gehört zwar politisch nicht zu Hessen, sondern<br />

zu Rheinland-Pfalz, kirchlich aber zu Hessen-Nassau. Ich befand mich also bereits auf<br />

dem Gebiet meiner künftigen Landeskirche.<br />

2.8 Meenz bleibt Meenz<br />

Mainz war es ähnlich ergangen wie Bonn. Über eine eher verschlafene Stadt war nach dem<br />

Krieg eine neue Zeit hereingebrochen. Man war zwar nicht gleich Bundeshauptstadt, sondern<br />

nur Landeshauptstadt geworden, aber immerhin. An der "Großen Bleiche", wo früher die<br />

Wäsche zum Bleichen ausgelegt wurde, wuchsen jetzt Regierungsgebäude in die Höhe. Es<br />

gab sogar ein "Ministerium für Reblausbekämpfung und Wiederaufbau", was die Frage nahe<br />

legte, mit welch fürchterlichen Waffen man die armen Rebläuse zu bekämpfen gedachte.<br />

Neben den alten Gassen mit ihren Weinstuben entstanden - wie überall in Deutschland - "moderne"<br />

Betonkästen. Draußen vor der Stadt, in einer ehemaligen Kaserne, gab es jetzt sogar<br />

eine Universität und die Weinbauern der umliegenden Dörfer konnten überflüssige Kammern<br />

an Studenten vermieten.<br />

Berühmt war der Mainzer Bürgermeister Stein, kurz OB Stein genannt. Angeblich war er früher<br />

Milchhändler gewesen. Über OB Stein und seinen Bildungsstand kursierten zahlreiche<br />

Witze. Ein Beispiel: Schiller ist gestorben und klopft bei Petrus an die Himmelstür. Petrus:<br />

"Schiller? Das kann jeder behaupten, sagen Sie mal ein paar Zeilen aus der Glocke auf!"<br />

Schiller besteht die Prüfung und darf rein. Danach klopft Goethe, muss etwas aus dem Faust<br />

aufsagen und wird ebenfalls eingelassen. Eine Weile später steht wieder einer vor der Tür:<br />

"Ich bin der OB Stein aus Meenz". Auch ihm stellt Petrus eine Testfrage: "Wer war Hans Carossa?"<br />

Stein selbstbewusst: "Ein deutscher Kaiser, der hat im Schnee in Italien Buße getan."<br />

Darauf Petrus: "Kommen Sie rein, das kann nur der OB Stein sein.” Soweit zum geistigen<br />

Klima in der neugebackenen Universitätsstadt. In einer Rede zum 17. Juni verstieg sich Stein<br />

zu dem Satz "Mainz hat ein ähnliches Schicksal zu tragen wie Berlin!" Gemeint war, dass<br />

die Amerikaner den Mainzern ihre rechtsrheinischen Vororte weggenommen und Wiesbaden<br />

zugeschlagen hatten. Das haben ihnen die Mainzer nie verziehen. Stein hatte durchaus Volkes<br />

Stimme wiedergegeben, nur der Vergleich mit Berlin lag völlig daneben und entsprechend<br />

fiel die Presse über ihn her.<br />

Ja und dann gab in Mainz noch den Karneval, damals noch nicht so stark kommerzialisiert<br />

wie heute. Wenn Ernst Neger sein "heilernes Gäns´che" sang oder Margit Sponheimer ihr<br />

"Gell, du hast mich gelle gern" trällerte, waren die Mainzer selig.<br />

51


Der Umzug von Bonn nach Mainz brachte mich tatsächlich neu in Schwung. Zwar hatte ich<br />

das Graecum immer noch nicht in der Tasche, aber das Hebraicum schaffte ich im ersten Anlauf.<br />

Zu verdanken hatte ich dies einem Mainzer Unicum, dem Professor Rapp. Rapp war ein<br />

Sprachgenie, hatte schon während seines Studiums einen unbekannten Äthiopischen Dialekt<br />

entdeckt und sammelte seitdem Sprachen wie andere Leute Bierdeckel oder Briefmarken.<br />

Mehr als 20 beherrschte er schon - Dialekte nicht mitgerechnet - und jedes Jahr kam eine<br />

neue hinzu. Uns Studenten verriet er, wie man das macht: einfach ein Karl-May-Buch (Karl<br />

May wurde in fast alle Sprachen übersetzt) und eine Grammatik in die Ferien mitnehmen und<br />

am Ende kann man wieder eine Sprache mehr! Der Mann war wirklich ein Phänomen. Die<br />

Basler Mission schickte ihn mehrmals nach Westafrika um dort für Völker, die noch keine<br />

Schriftsprache besaßen, eine zu entwickeln.<br />

In Mainz lehrte Rapp Altes Testament, hielt Hebräisch-Kurse und nahm am Schluss auch<br />

selbst die Prüfung ab. Der Mann hatte noch eine weitere Begabung: er konnte sich hunderte<br />

von Witzen merken. Wenn es regnete ließ er die Vorlesung sein und erzählte eine Dreiviertelstunde<br />

lang Regenschirm-Witze. Einen habe ich mir gemerkt: Es hat geregnet und der zerstreute<br />

Professor kommt völlig durchnässt nach Hause. “Warum hast Du denn keinen Schirm<br />

mitgenommen?” fragt seine Frau. “Ich habe ja einen mitgenommen, aber ich habe ihn irgendwo<br />

liegen gelassen.” “Und wo hast du ihn liegen gelassen?”, will die Frau wissen. “Daran<br />

kann ich mich nicht erinnern.” Die Frau: “Kannst du dich denn wenigstens erinnern, wann du<br />

gemerkt hast, dass er nicht mehr da ist?” Der zerstreute Professor: “Gemerkt habe ich es, als<br />

ich ihn zumachen wollte, weil es aufhörte zu regnen.”<br />

So locker wie bei Rapp ging es im Studium nur selten zu. Kein Wunder dass bei ihm das Hebräisch-Lernen<br />

leicht fiel. Im Dezember 1961 habe ich dann, beim letzten Versuch, auch das<br />

Graecum bestanden und war nun frei für das eigentliche Studium. Zwar konnte man sich die<br />

Lehrveranstaltungen frei aussuchen, doch bot sich ein systematisches Vorgehen an. Zunächst<br />

die Einleitungswissenschaften, also Hintergrund, Aufbau und Inhalt der einzelnen biblischen<br />

Schriften. Dazu Einzelthemen der Kirchengeschichte z.B. die Reformationszeit. Später dann<br />

die sog. Systematische Theologie unterteilt in Dogmatik und Ethik. Zuletzt die "Praktische<br />

Theologie", also Predigt, Unterricht und Seelsorge.<br />

2.9 Im Bann der historisch-kritischen Methode<br />

Zuerst einmal ging es darum, das wissenschaftliche Arbeiten im Blick auf biblische Texte zu<br />

erlernen. Anders als aus ich es aus der Kirchengemeinde gewohnt war, hieß "wissenschaftlich":<br />

möglichst unvoreingenommen an die Texte heranzugehen. In der Gemeinde gab man<br />

diesen Texten immer schon einen Vertrauensvorschuss. Die Bibel galt als "Wort Gottes". Diese<br />

Autorität wurde ihr zugeschrieben, schon bevor man die erste Seite aufschlug. Wissenschaftlich<br />

arbeiten hieß dagegen: Es gibt eine Menge antiker Bücher, die Bibel ist nur eins<br />

davon. Wenn ihr eine besondere Autorität zukommt, dann muss sie sich diese Autorität sozusagen<br />

erst verdienen. Konkret: Die Forderung "liebet eure Feinde" ist nicht darum zu beherzigen,<br />

weil sie in der Bibel steht, oder weil Jesus das gesagt hat, sondern weil sie uns<br />

überzeugt, einleuchtet, sich bewährt oder auf eine andere Weise unser Herz gewinnt. Man<br />

kann die biblischen Texte durchaus "Wort Gottes" nennen, aber nur wenn sie sich als solches<br />

erwiesen haben. Diese Sichtweise, die sog. historisch-kritische Methode, war für mich neu.<br />

Ich hatte <strong>bis</strong> dahin einem naiven Biblizismus gehuldigt. Aber die neue Sichtweise überzeugte<br />

und kam auch meiner naturwissenschaftlich ausgerichteten Schulbildung entgegen.<br />

52


In Mainz wurde die historisch-kritische Methode von Herbert Braun, einem Bultmannschüler<br />

vertreten. Braun war, ähnlich wie Rapp, ein Original. Er war klein und rundlich gebaut, ein<br />

echter Pykniker, bei dem jede Hose unweigerlich nach unten rutschen musste. Er half sich<br />

mit Hosenträgern. Damit diese nicht auffielen - Braun pflegte hemdsärmelig zu dozieren -<br />

hatte er sich eine besondere Konstruktion ausgedacht. In seine Hemden waren vier Schlitze<br />

eingearbeitet. Vorn wurde der Hosenträger an der Hose angeklammert, verschwand dann in<br />

seinem Schlitz, wanderte unter dem Hemd entlang, kam durch einen zweiten Schlitz an der<br />

Rückseite wieder zum Vorschein und wurde an der Hose befestigt. Genial! Herbert Braun<br />

lehrte Neues Testament. Er war ein vorzüglicher Kenner der antiken Literatur und der Umwelt<br />

des Neuen Testamentes. Sogar die gerade erst entdeckten Schriftrollen von Qumran hatte<br />

er schon darauf hin abgeklopft, ob Jesus vielleicht der Jüdischen Essener-Sekte angehörte.<br />

Braun brachte unser <strong>bis</strong>heriges Weltbild ziemlich durcheinander. Da hatten wir gedacht, Jesus<br />

sei als einziger Mensch vom heiligen Geist gezeugt und von einer Jungfrau geboren. Stimmt<br />

nicht, hat man alles von Alexander dem Großen und von Römischen Kaisern auch schon erzählt.<br />

Kranke heilen, Dämonen austreiben, übers Wasser laufen - antike Wundermänner<br />

machten das mit Links. Auferstehung und Himmelfahrt gabs im alten Ägypten und bei Apollonius<br />

von Tyana auch schon. Braun zitierte jeweils zahlreiche Fundstellen. Da standen wir<br />

nun und der <strong>bis</strong>herige "Glaube" zerrann uns zwischen den Fingern. Braun ist deswegen oft<br />

angegriffen worden und die Mainzer Uni war bei frommen Leuten nicht gut angesehen. Dabei<br />

ging es ihm um intellektuelle Redlichkeit! Wenn Wundergeschichten antikes Allgemeingut<br />

sind, darf man nicht so tun, als habe Jesus als einziger Mensch Wunder vollbracht.<br />

Aber was bleibt dann überhaupt von der Einzigartigkeit Jesu noch übrig? Brauns Antwort<br />

war: Seine Art, mit anderen - mit Verrätern, Sündern, Außenseitern - umzugehen. Und dass er<br />

sich für seine Überzeugung kreuzigen ließ - das taten die anderen Gottes- und Wundermänner<br />

nicht. Auch der jüdische Messias leidet nicht. Man musste also die Blickrichtung umkehren.<br />

Nicht die (für uns) wunderhaften Ereignisse waren das Besondere an Jesus, sondern dass diese<br />

Ereignisse ausgerechnet diesem Mann, dem Freund der Sünder und Zöllner, zugeschrieben<br />

wurden. Das leuchtete ein und hat mich, auch wenn ich mich nicht gleich als Braunianer bezeichnen<br />

würde, nachhaltig geprägt.<br />

Überlegungen, wie Braun sie anstellte, waren damals revolutionär. Heute sind sie längst Allgemeingut.<br />

Hinter die historisch-kritische Forschung kann man nicht mehr zurück. Jedenfalls<br />

nicht im Rahmen wissenschaftlicher Theologie. In der Gemeindefrömmigkeit und in der Predigtpraxis<br />

herrscht mitunter noch eine unbekümmerte Naivität.<br />

Später sind weitere Zugänge zu biblischen Texten eröffnet worden, an die während meines<br />

Studiums noch niemand dachte, beispielsweise die sozialgeschichtliche und die feministische<br />

Interpretation biblischer Texte.<br />

2.10 Das Mainzer Dreigestirn<br />

Neben Braun wirkten in Mainz noch zwei weitere Professoren, die in die gleiche Richtung arbeiteten:<br />

Manfred Mezger und Gerd Otto. Beide waren für die Praktische Theologie zuständig<br />

und zogen ebenfalls viele Studenten in ihren Bann. Mezger mit der "Gabe der Rede",<br />

Otto indem er moderne Kunst, zeitgenössische Literatur und psychoanalytische Erkenntnisse<br />

53


in seine Vorlesungen einbezog. Bei Otto konnte man lernen, dass christlicher Glaube und<br />

Modernität sich nicht ausschlossen.<br />

Da Mezger, Braun und Otto sich persönlich gut verstanden, gern einen Wein miteinander<br />

tranken, bildeten sie eine Art "Mainzer Dreigestirn". Sie hielten auch gemeinsame Lehrveranstaltungen<br />

ab, die berühmten "Sozietäten". Der damalige Assistent von Otto, Johannes<br />

Schreiber, ging später als Professor für Praktische Theologie nach Bochum und wurde mein<br />

Doktorvater. So gesehen bin ich, wenn man so will, ein Vertreter der “Mainzer Schule“. Schade<br />

war, dass diesem Dreigestirn nicht noch ein vierter "Star" im Bereich Systematische Theologie<br />

beigesellt war. Da war Mainz schlecht besetzt, Pannenberg ging nach München und hatte<br />

ohnehin eine andere Richtung. Meine Lehrer in Dogmatik und Ethik musste ich mir in Büchern<br />

suchen. Mit Karl Barth, der eine ganze Theologengeneration geprägt hat, konnte ich<br />

wenig anfangen. Seine Kulturkritik - Kultur und jede Art von Religion sind für Barth Versuche<br />

des Menschen, sich selbst zu erlösen - passten nicht zu mir. Dagegen habe ich begeistert<br />

Paul Tillich gelesen. Bei ihm ist es genau umgekehrt: Kultur, Religion, Kunst, Wissenschaft<br />

u.s.w. sind Versuche, sich Gott anzunähern. Das kam mir mehr entgegen, schließlich hatte ich<br />

selbst einen Hang zu künstlerischer Betätigung.<br />

Von Tillich habe ich gelernt, nicht darüber zu streiten, ob es Gott gibt oder ob es ihn nicht<br />

gibt. Gott ist nicht ein Ding wie eine Büroklammer oder ein Radiergummi, den es gibt oder<br />

auch nicht geben könnte. Gott ist vielmehr der Grund dafür, dass es überhaupt etwas gibt und<br />

nicht nichts. Dass Tillich seine Wurzeln im religiösen Sozialismus hat, kam mir ebenfalls entgegen.<br />

Ich fand das, was sie in der DDR versuchten, eine gerechte Gesellschaftsordnung aufzubauen,<br />

ein erstrebenswertes Ziel - nur die Mittel um dieses Ziel zu erreichen taugten offenbar<br />

nichts.<br />

2.11 Im Jochen-Klepper-Haus<br />

Das Leben im Wohnheim bewahrte davor, in einer abgelegenen Studenten"bude" in Trübsinn<br />

zu versinken. Es war immer jemand da, mit dem man etwas unternehmen konnte, Tischtennis<br />

spielen, ins Kino gehen, mal schnell mit dem Motorroller durch den Taunus düsen und vieles<br />

mehr. Es gab Heimfeste, bei denen <strong>bis</strong> zum Tagesanbruch gezecht wurde. Gegen Mitternacht<br />

brachte jeder seine Tanzpartnerin nach Hause, danach trafen wir uns zur Männerrunde, leerten<br />

alle angebrochenen Schnapsflaschen, krochen in unsere Betten und wachten völlig verkatert<br />

irgendwann im Laufe des Tages wieder auf.<br />

Unser Heim war ein kirchliches Haus, es gab also (schlecht besuchte) Andachten und es wurde<br />

auf Anstand geachtet. Damenbesuch nur <strong>bis</strong> 22 Uhr! Wehe wenn danach noch erotisches<br />

Gekicher oder eine quietschende Matratze zu hören war. Wir befanden uns immer noch in der<br />

prüden Nachkriegszeit, vor der großen Aufklärungswelle. Selbstverständlich waren wir ein<br />

reines Männerheim. Wer mit seiner Liebsten zusammenleben wollte, musste sehen, wie er in<br />

der Stadt einen progressiven Vermieter fand, der sich über den Kuppeleiparagrafen hinwegsetzte.<br />

Nach diesem Paragrafen war es strafbar, einem unverheirateten Paar und dessen unkeuschem<br />

Treiben Unterschlupf zu gewähren. Nur einige wenige Studenten waren damals<br />

verheiratet und der Wunsch nach einem Uni-Kindergarten hätte verständnisloses Kopfschütteln<br />

verursacht. Die jungen Leute sollten studieren - und keine anderen Sachen im Kopf haben.<br />

Dass es auch noch andere Körperteile gibt, wurde schlichtweg übergangen. Es galt das<br />

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Leitbild: der junge Mann soll sich erst einmal in der Welt umschauen, sich "die Hörner abstoßen"<br />

und etwas ordentliches lernen. Wenn er dann über einen Beruf und über ein ausreichendes<br />

Einkommen verfügt, dann erst ist es Zeit, an Ehe und Familie zu denken. Das Studium<br />

war also eine Zeit flüchtiger Verbindungen, den "Partner fürs Leben" suchte man/Mann<br />

sich später. Natürlich gab es Ausnahmen von dieser Regel. Vor allem aber gab es einen erheblichen<br />

Triebstau, der sich dann in den 68ern Bahn brach und das Bürgertum verschreckte.<br />

2.12 Die Reise nach Jerusalem<br />

In den Sommerferien 1962 gönnte ich mir eine Reise nach Israel. Das Studentenwerk bot ein<br />

Workcamp an. Ein paar Wochen im Kibbuz arbeiten, am Ende dann eine Rundreise durchs<br />

ganze Land. Am 13. August 1962, genau ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer, ging die<br />

Reise los. Zunächst in einem Sammeltransport nach München, dann weiter mit der Bahn nach<br />

Athen. Drei Tage waren wir unterwegs. Mehrfach blieb der Zug auf freier Strecke für ein<br />

Stündchen stehen, man konnte zum nächsten Dorf laufen und Wassermelonen kaufen. Dann<br />

ein Pfiff, die Leute kamen gemächlich zurück und der Zug setzte sich wieder in Bewegung,<br />

langsam, damit auch die letzten noch aufsteigen konnten. So tuckelten wir durch ganz Jugoslawien.<br />

Die Augustsonne heizte die Waggons mächtig auf. Metallteile ließen sich am Schluss<br />

kaum noch anfassen.<br />

In Athen verblüffte uns der mickrige Bahnhof. Weiter gings zum Flughafen. Wir bestiegen<br />

eine alte Dakota und brummten in niedriger Höhe Richtung Tel Aviv. An der Tragfläche,<br />

gleich neben meinem Fenster, hüpfte eine Schraube in ihrem ausgeleierten Gewinde auf und<br />

ab. Beim Rückflug mit der gleichen Maschine war sie dann ganz verschwunden. Damals war<br />

eine Flugreise noch etwas abenteuerlicher als heute.<br />

Unser Kibbuz - Nachal Oz - lag in der Nähe des Gazastreifens, kurz vor dem Auftauchen der<br />

ersten Kamele, also da, wo aus dem Ackerland langsam Wüste wird. Die Kibbuznicks hatten<br />

aus dem öden Gelände eine blühende Landschaft gemacht. Kartoffeln, Gurken, Paprika - alles<br />

wuchs hier, dank künstlicher Bewässerung. Natürlich konnte man nicht in jede Ackerfurche<br />

eine Wasserleitung legen, die Felder reichten ja <strong>bis</strong> zum Horizont. Die Rohre mussten<br />

also immer wieder abgebaut und ein paar Reihe weiter neu verlegt werden. Das war eine<br />

dankbare Aufgabe für die Studenten aus Deutschland. Man konnte nichts falsch machen,<br />

musste aber immer vor den kleinen Flugzeugen mit dem Insektenspray auf der Hut sein. Die<br />

Piloten machten sich einen Spaß daraus, uns über den Acker zu scheuchen. Sie flogen absichtlich<br />

so tief, dass wir uns bäuchlings in die Pampe werfen mussten. Solche Szenen kennt<br />

man aus Kriegsfilmen: Tiefflieger! Überhaupt ging es hier, in der Nähe der Grenze, wie im<br />

Kriegsfilm zu. Die jungen Männer im Kibbuz brüsteten sich mit ihren Heldentaten, mit denen<br />

sie im letzten Krieg die Palästinenser das Fürchten gelehrt hatten. Manchmal waren sie auch<br />

nachts unterwegs, um “drüben” etwas anzustellen.<br />

Gleich neben unserem Kibbuz lag der Gazastreifen, also die Grenze zu Ägypten. Sie zog sich<br />

unauffällig über die Äcker und war mit Feldsteinen markiert. Norwegische Blauhelmsoldaten<br />

bewachten sie. Mal schauen, was passiert, wenn man ein paar Schritte über die Grenzlinie<br />

macht: Alarm im nächsten UNO-Camp. Ein Jeep kommt angebrummt. Inzwischen ist man<br />

wieder einige Schritte zurück auf die israelische Seite gegangen und kann sich nun in aller<br />

Ruhe ansehen, wie sich die Soldaten auf der anderen Seite mit ihren Maschinenpistolen dro-<br />

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hend aufbauen. Nachdem sie eine Weile so gestanden haben, steigen sie wieder in ihren Jeep<br />

und brausen davon. Nun tritt man wieder über die Grenzsteine, Alarm im Camp... Man hätte<br />

dieses "Spiel" ewig fortsetzen können. Ich habe keine Ahnung, ob die Soldaten derartige<br />

"Späße" als Veräppelung oder als willkommene Abwechslung empfanden. In ihren Wohncontainern<br />

wurden sie erbarmungslos von der Sonne gebraten. Der Bierkonsum war offenbar ihre<br />

einzige Abwechslung und die Grenzsteine hatten sie schon über viele hundert Meter durch<br />

leere Bierflaschen ersetzt. Nichts gegen Blauhelm-Einsätze, nur hat der Krieg in dieser verrückten<br />

Welt eben auch solche skurrilen Seiten - Szenen wie aus einem Woody-Allen- Film.<br />

Nach drei oder vier Wochen im Kibbuz wollten uns die Kibbuznicks noch eine Woche lang<br />

ihr Land zeigen. Auf einem LKW hatten sie Sitzbänke montiert und los gings, zunächst an<br />

der Küste entlang <strong>bis</strong> hinauf zur Libanesischen Grenze, dann über Nazareth zum See Genezareth<br />

und durch die Wüste hinunter <strong>bis</strong> nach Eilath am Roten Meer. Die Wüste hatte ich mir<br />

immer leicht gewellt vorgestellt, mit Sanddünen <strong>bis</strong> zum Horizont. Am Toten Meer und auf<br />

dem Weg nach Eilath erlebte ich etwas völlig anderes, nämlich Felswüste. Mal führte die<br />

Straße in endlosen Serpentinen eine Felswand hinauf, mal schlängelte sie sich tief in eine<br />

Schlucht hinunter. Oft lagen unten Lkw-Wracks, die die Kurve nicht gekriegt hatten. Am eindruckvollsten<br />

fand ich jedoch eine Bierreklame, mitten in der Wüste. Ein fotorealistisches,<br />

meterhohes Bierglas aus Holz oder Pappe stand da. Das Glas war leicht beschlagen und außen<br />

lief ein Tropfen herunter. Wahnsinn!<br />

In Eilath, damals noch kein mondäner Badeort, sondern eine Barackenstadt, staunten wir<br />

über die bunten Fische an den Korallenriffen. Dann ging es, als krönender Abschluss der<br />

Rundreise nach Jerusalem. Ich war enttäuscht. Diese Stadt hatte ich mir viel erhabener vorgestellt.<br />

Touristenrummel um die heiligen Stätten, überall ein unendlicher Andenkenkitsch - gegenüber<br />

dem himmlischen Jerusalem sah das irdische doch ziemlich bescheiden aus.<br />

In der Altstadt erlebte ich, wie einige Frauen hemmungslos zu weinen begannen, als sie uns<br />

Deutsch sprechen hörten. Ihre Familien waren im KZ umgebracht worden. Für mich war das<br />

eine wichtige Lektion: Wenn ich als Deutscher nach Israel komme, habe ich immer die deutsche<br />

Geschichte mit dabei. Helmut Kohls Spruch von der "Gnade der späten Geburt" greift<br />

einfach zu kurz. Ich bin zwar an der Hitlerzeit nicht mitschuldig in Sinne von "verursacht haben",<br />

aber ich trage die Schuld meiner Eltern mit mir herum. Diese Zusammenhänge sollten<br />

mich Jahrzehnte später unter dem Stichwort "Familienrekonstruktion" noch weiter beschäftigen.<br />

Insgesamt war mein Eindruck vom heiligen Land überwiegend positiv. Ich war froh nun einmal<br />

alles mit eigenen Augen gesehen zu haben und konnte mir die Umwelt Jesu jetzt viel<br />

besser vorstellen. Die gewaltige Leistung der Israelis beim Urbarmachen des Landes beeindruckte<br />

mich. Bedenklich fand ich die Militarisierung des Landes. Überall in den Kinos liefen<br />

Militärfilme. Abstoßend fand ich den Andenkenrummel und die Penetranz christlicher Judenmission,<br />

z.B. ein Plakat in einem Missionsladen: “Wir schenken jedem Juden ein Neues<br />

Testament, wenn er sich verpflichtet, täglich darin zu lesen.” Die Arroganz gegenüber den Palästinensern<br />

- heute offenbar ein Grundprinzip israelischer Politik - ist mir damals nicht aufgefallen.<br />

Vielleicht war sie noch nicht so ausgeprägt oder ich hatte eine Pro-Israel-Brille auf.<br />

Nachdem uns der Miniflieger wieder in Athen abgesetzt hatte, habe ich zusammen mit einem<br />

Reisegefährten noch eine Woche Griechenland drangehängt. Mit dem Zug fuhren wir auf den<br />

Pellopones, nach Patras. Unterwegs hatte ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben<br />

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einen black out. In Eleusis, dem Zentrum der antiken Mysterienkulte, mussten wir auf einen<br />

Anschlusszug warten und fingen an Retsina zu trinken. Die Sonne brannte vom Himmel, der<br />

Zug ließ auf sich warten... An dieser Stelle setzt meine Erinnerung aus und ich finde mich in<br />

einem Hotelbett in Patras wieder. Zwischen Eleusis und Patras klafft eine Lücke, die ich<br />

schon damals nicht zu schließen vermochte - ein eleusinisches Mysterium.<br />

In Patras passierte dann noch eine peinliche Geschichte. In unserem Hotelzimmer brach der<br />

Wasserhahn ab und das Wasser ergoss sich in dickem Strahl ins Zimmer. Wir rannten zur Rezeption,<br />

fanden aber nur eine taubstumme Frau. Eine Weile versuchten wir noch, ihr mit Händen<br />

und Füßen die Katastrophe zu schildern. Sie begriff überhaupt nichts. Da packten wir unsere<br />

Sachen, schlichen zum Bahnhof und reisten ab. Ich schäme mich immer noch ein wenig<br />

für diesen Abgang, hoffe aber, dass der Schaden inzwischen behoben wurde.<br />

Zurück in Mainz zehrte ich noch lange von den Reiseeindrücken, zeigte überall meine Dias<br />

und war zu einem richtigen Israel-Fan geworden. Aus meinem Zimmer tönten Kibbuz-Lieder<br />

und als ich den Rasen hinter dem Wohnheim mähen sollte, mähte ich zuerst einen Davidstern<br />

und machte dann vor dem Weitermähen eine lange Pause. Den Stern konnten man noch wochenlang<br />

erkennen. Die ara<strong>bis</strong>chen Studenten im Wohnheim fanden den Anblick gar nicht<br />

lustig.<br />

Bald musste ich mich nach einem anderen Quartier umschauen. Man durfte nur eine bestimmte<br />

Zahl von Semestern im Heim bleiben. In Mainz-Kostheim fand ich für den Rest des<br />

Studiums Unterkunft bei einer freundlichen Familie, die alle bei Opel in Rüsselsheim arbeiteten<br />

und mich wie einen eigenen Sohn behandelten.<br />

2.13 Auch das längste Studium geht einmal zu Ende<br />

So langsam musste ich ans Examen denken. Schluss also mit dem lustigen Studentenleben -<br />

jetzt wird für die Prüfung gepaukt! Der Umzug nach Kostheim kam da gerade recht. Ein<br />

Wohnheim bietet doch zu viele Ablenkungsmöglichkeiten.<br />

Das Examen machte man bei der Landeskirche in deren Dienst man treten wollte. Daneben<br />

gab es noch das sog. Fakultätsexamen, entsprechend den Universitätsabschlüssen in anderen<br />

Studiengängen. Aber was hätte man als “Diplomtheologe” schon anfangen können. Für uns<br />

Theologen gab - und gibt es <strong>bis</strong> heute - eigentlich nur einen Arbeitsmarkt: die Kirchen.<br />

Wer Pfarrer werden wollte, machte am Ende des Studiums ein erstes kirchliches Examen und<br />

wurde Vikar. Der Vikar, eine Art Pfarrer-Lehrling (nicht zu verwechseln mit dem wesentlich<br />

höher angesiedelten Vikar in der kath. Kirche), entsprach dem Referendar in staatlichen Ausbildungsgängen.<br />

Das Vikariat verbrachte man teilweise in einer Gemeinde, teilweise im Predigerseminar.<br />

Anschließend kam das zweite kirchliche Examen, danach war man Hilfsprediger.<br />

Das entsprach dem Assessor im Staatsdienst. Als Hilfsprediger war man fertig ausgebildeter<br />

Pfarrer, durfte auch schon eine Stelle verwalten, konnte aber - vergleichbar einem "Beamten<br />

z.A." - noch nicht Stelleninhaber sein. Erst mit der Berufung auf eine feste Stelle war<br />

man Pfarrer auf Lebenszeit.<br />

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Nach dem Studium war also noch ein Stück Ausbildungsweg zu bewältigen. Diese Etappe<br />

war jedoch viel stärker verschult, als das Studium. Man wurde gleichsam in einen Zug gesetzt<br />

und konnte im Fahrplan nachlesen, wann man wo ankommt. Für mich war klar, dass ich<br />

bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) einsteigen würde. Von ihr hatte<br />

ich ein Stipendium erhalten und mich an sie gebunden.<br />

Zunächst musste das erste theologische Examen geschafft werden. Dafür tat ich mich mit einem<br />

Freund und Studienkollegen, Paul-Martin Clotz, zusammen. Zu zweit konnte man sich<br />

gegenseitig den Prüfungsstoff besser abfragen. Unklar war allerdings, was in der mündlichen<br />

und schriftlichen Prüfung gefragt würde. Die Kandidaten hatten ja an unterschiedlichen Universitäten<br />

studiert und das Landeskirchenamt konnte nicht wissen, was jeder einzelne dort gelernt<br />

hat.<br />

Mit Paul Martin entwickelte ich ein Verfahren, das ich zur Nachahmung empfehle. Wir lasen<br />

einfach das "Evangelische Kirchenlexikon", drei dicke Bände mit insgesamt rund 5300 Seiten,<br />

einmal von vorn <strong>bis</strong> hinten durch. Weil die einzelnen Fachartikel durch Querverweise<br />

verbunden sind, ergab sich von selbst der Effekt, dass wichtige Themen wie die Reformation<br />

häufiger in den Blick kamen, als beispielsweise die Geschichte des Fronleichnamsfestes. Ein<br />

Semester lang trafen wir uns fast täglich, fragten uns gegenseitig ab und waren danach zuversichtlich,<br />

dass uns zu allen nur erdenklichen Prüfungsfragen etwas einfallen würde. Und so<br />

lief es auch. Vielleicht könnte man sich mit dieser Methode das ganze Studium ersparen.<br />

Nun war ich endlich mit dem Studium fertig. Dreizehn Semester, einschließlich des Examenssemesters<br />

hatte ich gebraucht, davon fünf für die Sprachen. Viele Kollegen haben es in<br />

kürzerer Zeit geschafft. Noch heute plagt mich gelegentlich ein Alptraum, in dem ich die<br />

Sprachprüfungen oder das komplette Examen wiederholen soll. Schweißgebadet erwache ich<br />

und bin erleichtert: Das habe ich ein für allemal hinter mir!<br />

Meine Mutter war nun auch etwas sicherer dass es mit mir ein gutes Ende nehmen würde.<br />

Zum Examen schenkte sie mir ein Auto und zwar eine "Ente", also den Citroen 2 CV. Der<br />

kostete damals ganze 3999,-- DM. Bevor ich bei der EKHN anfangen konnte, blieb noch<br />

eine Weile Zeit. Die nutzte ich für eine Griechenland-Reise mit meinem neuen Auto. Zusammen<br />

mit zwei Studienfreunden ging die Fahrt wieder auf den Pellopones. Mir fallen immer<br />

noch typische Reisebilder ein. Beispielsweise ein weiter Strand mit blauem Himmel und einer<br />

einsamen Musikbox direkt am Meer. Aus diesem Gerät ertönt griechische Musik, sehr<br />

laut, aber in die Landschaft passend. Immer wenn die Platte abgelaufen ist, kommt ein Mann<br />

mit einem rostigen Draht, fummelt im Münzschlitz herum und das Ding läuft weiter. Eine<br />

Stimmung wie bei Alexis-Sorbas! Das einzigartige Zusammenspiel von Landschaft, Sonne<br />

und Musik verbinde ich seitdem mit Griechenland. Es hat mich noch oft in dieses Land gelockt.<br />

2.14 Im Predigerseminar<br />

Im September 1965 sollte ich bei der Hessischen Kirche anfangen. Die Hessen unterhielten<br />

damals zwei Predigerseminare, eins in Friedberg und eins in Herborn. Ich wurde letzterem<br />

zugewiesen. Bevor ich nach Herborn reiste, war noch ein mehrwöchiges Schulvikariat abzuleisten.<br />

Als Pfarrer mussten wir auch Religionsunterricht erteilen können, hatten aber von<br />

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Schulunterricht keine Ahnung. Die fehlende pädagogische Ausbildung sollte nun in einer Art<br />

Schnellwäsche nachgeholt werden. Man wurde einem Lehrer zugewiesen und durfte mit ihm<br />

zur Schule marschieren, am Ende des Schulvikariats auch mal eine eigene Stunde halten. Ich<br />

landete bei Hans Nixdorff in Hofheim am Taunus, wurde von der Familie freundlich aufgenommen<br />

und durfte bei ihnen zu Hause unterm Dach wohnen. Wir verstanden uns gut und<br />

noch heute schicken wir uns regelmäßig Neujahrsgrüße. Nixdorff war als Soldat bei der Marine<br />

gewesen. Auf der Klassenfahrt weckte er die Jungs im Kommandoton: "Erhebet eure<br />

müden Leiber, am Kai steht eine Horde nackter Weiber!"<br />

Nach dem Schulvikariat, es wird Anfang Oktober gewesen sein, musste ich mich in Herborn<br />

"einschiffen". Herborn liegt im Dillkreis "weitab vom Schuss". Die Autobahn (Sauerlandlinie)<br />

war noch im Bau und so bummelte ich mit meiner Ente von Wetzlar aus nordwärts, immer<br />

die Dill entlang, <strong>bis</strong> in meine neue Heimat. Das Predigerseminar war im Schloss untergebracht.<br />

In dieser düsteren Anlage mit ihren dicken Mauern sollten wir - wie einst Luther auf<br />

der Wartburg - für ein halbes Jahr wohnen, dann ein Gemeindepraktikum absolvieren, danach<br />

wieder ins Predigerseminar zurückkehren und das Erlebte reflektieren.<br />

Für uns war es wie die Rückkehr in die Schulzeit. Wir hatten jahrelang als freie Menschen<br />

gelebt, nun gab es wieder einen vorgeschriebenen Tageslauf, internatsmäßige Unterbringung<br />

und Lernen per Frontalunterricht. Bei den Mahlzeiten hatten wir artig hinter unseren Stühlen<br />

zu stehen und zu warten <strong>bis</strong> die Hausdame, eine Diakonisse, das Tischgebet (immer dieses<br />

einfallslose: "Komm Herr Jesu, sei unser Gast...") zu Ende gesprochen hatte. Erst dann durften<br />

wir zum Besteck greifen. Wenn man Erwachsene wie Kinder behandelt, reagieren sie wie<br />

Kinder. Wir schockierten unsere Diakonisse, indem wir uns nach dem "Amen" an den Händen<br />

fassten und einmal rund um den Tisch hopsten.<br />

Unsere Dozenten - sie durften sich einer alten Tradition zufolge "Professor" nennen - hatten<br />

es schwer mit uns. Wir nahmen sie nicht ernst und sie wussten nicht, wie sie mit solchen<br />

Spätpubertierenden umgehen sollten. Die meisten waren ältere Herren und hatten ein traditionelles<br />

Pfarrerbild vor Augen: Der Pfarrer als Hirte, die Gemeinde als Herde. Eine positive<br />

Ausnahme gab es: Dieter Stoodt. Er hatte gerade einen Herzinfarkt hinter sich und erzählte<br />

von seinem Kampf ums Überleben: "Die einen rieten mir zu beten. Die andern rieten mir, autogenes<br />

Training zu machen. Da habe ich immer abwechselnd gebetet und autogenes Training<br />

gemacht.” Es war eine Umbruchszeit. Die modernen Sozialwissenschaften warteten vor der<br />

Kirchentür und wollten eingelassen werden.<br />

2.15 Verliebt, verlobt, verheiratet<br />

Auch im Privaten kam für mich ein gewichtiger Umbruch: ich lernte <strong>Erika</strong> Steiner, meine<br />

spätere Frau, kennen. Wir waren uns schon am Ende meines Studiums einmal in Bad Nauheim<br />

über den Weg gelaufen. Aber damals hatte ich ihr weiter keine Beachtung geschenkt.<br />

Ich war noch in eine andere recht konfliktreiche Beziehung verstrickt. Nun war diese Beziehung<br />

zu Ende, ich erinnerte mich an <strong>Erika</strong> und nahm den Faden wieder auf. Ein halbes Jahr<br />

später haben wir geheiratet.<br />

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Ach <strong>Erika</strong>, dich hat mir der Himmel genau im richtigen Moment geschickt. Ich war schon<br />

ziemlich resigniert und zweifelte, ob ich überhaupt in der Lage bin, auf Dauer mit einer Frau<br />

zurechtzukommen. Aber mit Dir ging es und geht es immer noch. Dabei war es nicht die große<br />

Liebe, wie sie in Schlagern und Kitschromanen beschrieben wird, eher ein Gefühl von<br />

sich vertrauen können und gut aufgehoben sein. Wir sind recht unterschiedliche Charaktere.<br />

Du eher wissbegierig, immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen, ich eher am Gewohnten<br />

klebend. Du kontaktfreudig auf andere zugehend, ich eher eigenbrötlerisch und selbstgenügsam.<br />

Du eher austeilend und großherzig, ich eher ängstlich mit einem großen Bedürfnis nach<br />

Sicherheit. Also eine Beziehung nach dem Muster "Gegensätze ziehen sich an", anstelle von<br />

"gleich und gleich gesellt sich gern." Fast 40 Jahre sind wir jetzt zusammen. Bei allen "Aufs<br />

und Abs", die wir erlebten, habe ich nie daran gezweifelt, damals die richtige Wahl getroffen<br />

zu haben.<br />

<strong>Erika</strong> kam aus einem ganz anderen Milieu als ich. Ihr Vater war Schlosser bei der Frankfurter<br />

Straßenbahn. Leider habe ihn nicht mehr kennen gelernt, er starb kurz bevor mir <strong>Erika</strong> "über<br />

den Weg lief". Noch ein Unterschied: Ich bin ein Einzelkind und musste nie mit Geschwistern<br />

teilen. Dass <strong>Erika</strong> ganz selbstverständlich meine Pullover anzog, war für mich anfangs<br />

recht ungewohnt und das “mein” und “dein” spielt zwischen uns auch jetzt noch eine große<br />

Rolle.<br />

<strong>Erika</strong> war es ergangen wie vielen anderen Mädchen in jener Zeit. Trotz guter Schulnoten<br />

konnte sie nicht Abitur machen und studieren, weil das Geld dafür nicht reichte. In Arbeiterfamilien<br />

schickte man, wenn überhaupt, den Sohn zur Uni. <strong>Erika</strong>s Bruder hatte Theologie studiert<br />

und war dabei, Pfarrer zu werden. Zufällig war er sogar im gleichen Ausbildungskurs in<br />

Herborn. Das haben wir aber erst festgestellt als <strong>Erika</strong> und ich uns bereits kannten.<br />

<strong>Erika</strong> hatte das bestmögliche aus ihrer Situation gemacht. Um den Eltern nicht auf der Tasche<br />

zu liegen, ging sie früh aus dem Haus, wurde zunächst Postangestellte, danach Kinderkrankenschwester.<br />

Nach einigen Jahren an der Freiburger Uniklinik, fing sie noch mal etwas<br />

ganz anderes an und machte am Burckhardthaus in Gelnhausen die Ausbildung zur Gemeindehelferin.<br />

Als wir uns kennen lernten hatte sie gerade ihre erste eigene Stelle in Bad Nauheim<br />

übernommen. Die ideale Pfarrfrau!<br />

Der Weg ins Pfarrhaus machte jedoch erst noch einen Schlenker. Ursache war ein Brief, den<br />

ich im Frühjahr 1966 aus Bochum erhielt. Johannes Schreiber, der frühere Assistent von Gert<br />

Otto, war dort Professor geworden und fragte, ob ich bei ihm als "wissenschaftliche Hilfskraft"<br />

arbeiten und nebenbei promovieren wolle. Das ergab nun eine ganz neue, reizvolle Perspektive.<br />

Die Frage war nur, was <strong>Erika</strong> und was die Hessische Kirche dazu sagen würden.<br />

<strong>Erika</strong> war schnell einverstanden, mit mir nach Bochum zu gehen. Am besten würden wir vorher<br />

heiraten und im Ruhrgebiet gleich mit einem gemeinsamen Hausstand anfangen. Die<br />

Hessische Kirche stellte sich jedoch quer. Klar, man habe auch schon anderen die Promotion<br />

ermöglicht, ich wolle ja auch wieder zurückkehren - aber so einfach aus dem laufenden Kurs<br />

heraus weggehen, das geht nicht! Im Moment werde wirklich jeder gebraucht.<br />

Dass mir etwas verweigert wird, was man anderen ohne weiteres zugebilligt hatte, ärgerte<br />

mich. Kurzentschlossen schrieb ich, wenn ich anders nicht nach Bochum käme, sollte man<br />

mich eben ganz aus dem Dienst entlassen. Prompt kam die Antwort, man habe mich gestrichen,<br />

wünsche mir für den weiteren Lebensweg Gottes Segen und möchte nun aber gleich<br />

mein Stipendium zurück haben. Ich schaute in den Darlehnsvertrag, da stand nur "Rückzah-<br />

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lung nach dem zweiten Examen". Das zweite Examen wollte ich nach der Rückkehr aus Bochum<br />

weiterhin machen - also weigerte ich mich zu zahlen. Die Kirche gab nach, aber als ich<br />

später meine Laufbahn in Hessen fortsetzen wollte, gab es Ärger. Ich sei im Unfrieden geschieden,<br />

nun wollten sie mich nicht mehr haben. Ich musste mir eine andere Kirche suchen,<br />

aber das hatte Zeit. Erst einmal war ich an keine Landeskirche mehr angebunden. Das ersparte<br />

<strong>Erika</strong> den Besuch im Landeskirchenamt, um sich bei Tee und Keksen als künftige Pfarrfrau<br />

begutachten zu lassen. Das war damals noch üblich und entsprach dem deutschen Beamtenrecht.<br />

Beamte durften ohne Zustimmung ihres Dienstherrn nicht heiraten.<br />

2.16 Im Ruhrgebiet<br />

In Bochum fand ich anstelle der Uni eine riesige Baustelle vor. Das Projekt Ruhr-Universität<br />

war Teil eines gigantischen Planes, der aus einer einseitig von Kohle und Stahl geprägten<br />

Landschaft eine vielfältige, moderne Industrie- und Kulturlandschaft machen sollte. Im ganzen<br />

Ruhrgebiet mit etwa 8 Millionen Einwohnern gab es lediglich einige Fachhochschulen,<br />

aber noch keine Universität. Nun wuchs auf den Ruhrhöhen im Süden von Bochum ein gewaltiger<br />

Gebäudekomplex in die Höhe, die Ruhr-Universität. An jedem Tag wurde dort eine<br />

Million DM verbaut! Das Ergebnis ist eindrucksvoll aber nicht gerade schön, brutale Betonarchitektur<br />

ohne jede Leichtigkeit und ohne jeden Schnörkel.<br />

Als hinkam war etwa die Hälfte der Uni-Gebäude fertig, darunter auch das Gebäude für die<br />

evangelische Theologie. Jeder neue Professor bekam für seinen Fachbereich (wenn ich mich<br />

richtig erinnere) 20.000,-- DM, um damit eine Seminarbibliothek aufzubauen. Dieses Geld<br />

auszugeben, sollte meine Hauptaufgabe werden. Gar nicht so einfach, denn so viele Veröffentlichungen<br />

gibt es im Bereich Praktische Theologie nun auch wieder nicht. Als ich alles<br />

Ereichbare angeschafft hatte, war immer noch Geld übrig. Meine Rettung war das "Zentralantiquariat<br />

der DDR". Die verkauften schöne alte Schmöker, beispielsweise dicke Folianten<br />

mit Barockpredigten, zu gesalzenen Preisen. Auf diese Weise habe ich dann doch der DDR<br />

wieder einiges zukommen lassen, was sie einst in mich investiert hatte.<br />

Zunächst besorgte ich mir in Witten-Annen ein Studentenzimmer. Im Sommer sollte dann<br />

<strong>Erika</strong> nachkommen und wir würden für sie eine Arbeitsstelle mit Dienstwohnung suchen. An<br />

den Wochenenden fuhr ich mit meiner Ente zu <strong>Erika</strong> nach Bad Nauheim, was jedes Mal eine<br />

kleine Weltreise war. Die Autobahn hatte noch große Lücken, man zockelte die meiste Zeit<br />

gemächlich über die Dörfer und freute sich, wenn kein Schützenumzug dazwischen kam.<br />

Am 24. Juni 1966 genau ein halbes Jahr nach Weihnachten, haben wir geheiratet. Es war eine<br />

Feier im kleinen Kreis. Nicht einmal meine Mutter war dabei. Sie war in dieser Zeit schlecht<br />

auf uns zu sprechen. Die rasche Heirat konnte nur darauf hindeuten, dass bei uns ein Kind<br />

unterwegs war. "Das ganze Dorf redet über Euch" schrieb sie empört. Es war aber kein Kind<br />

unterwegs, wir hatten lediglich so viel um die Ohren, dass wir uns die große Hochzeitsfeier<br />

mit allen Angehörigen <strong>bis</strong> zur kirchlichen Trauung im Herbst aufsparen wollten.<br />

Am Morgen vor der standesamtlichen Trauung wollte <strong>Erika</strong> eigentlich noch eine Religionsstunde<br />

halten. Nur mit Mühe ließ sie sich davon überzeugen, dass man für die eigene Hochzeit<br />

Urlaub bekommen kann. So eine positive Einstellung zum Beruf findet man selten!<br />

61


Bei der Trauung sorgte der Standesbeamte für Heiterkeit. Sein Lieblingsthema war die "amerikanische<br />

Seuche", womit er nicht etwa eine gefährliche Geschlechtskrankheit, sondern die<br />

Tendenz, sich bald wieder scheiden zu lassen, meinte. Unser Trauzeuge, Klaus Fedler, kannte<br />

den Mann und hatte uns darauf vorbereitet. Als er nun mit seiner eindringlichen Warnung anhob,<br />

breitete sich allgemeine Heiterkeit aus. Vermutlich hat der Mann noch lange gerätselt,<br />

warum seine Zuhörer bei so einem ernsten Thema lachen mussten.<br />

Wir waren nun verheiratet und ich durfte jetzt sogar in <strong>Erika</strong>s Dienstwohnung übernachten.<br />

Vorher hatte es der zuständige Pfarrer verboten, nicht etwa dass er selbst etwas dagegen habe,<br />

aber "wegen der Optik" gehe es nun einmal nicht. Mir ist dieses “sich hinter anderen Verstecken”<br />

bei Kirchenleuten noch öfters begegnet.<br />

Verheiratet zu sein, erleichterte die Suche nach einer neuen Stelle für <strong>Erika</strong> samt Wohnung erheblich.<br />

Unverheiratet in einem kirchlichen Gebäude zusammenleben, undenkbar! (Noch<br />

heute setzen viele Landeskirchen Pfarrer, die so etwas versuchen, unter Druck und erzwingen<br />

die Heirat). Wir fanden für <strong>Erika</strong> eine Stelle in Herne. Sie sollte in mehreren Gemeindebezirken<br />

Jugendarbeit machen. Im Gemeindehaus, einem Altbau an der Bochumer Straße, bekamen<br />

wir eine kleine Wohnung. Eine unserer ersten Aufgaben war es, diese Wohnung einzurichten.<br />

Geld hatten wir kaum, es reichte gerade für ein paar einfache Möbel. Aber wir waren<br />

zufrieden mit diesem einfachen "Nest" und es kam ja auch immer wieder etwas neues hinzu.<br />

Ich bekam von der Uni 600,-- DM im Monat, <strong>Erika</strong> verdiente so um die 1400,-- DM. Für den<br />

Anfang reichte das gut. Schwieriger war es, unseren Lebensstil aneinander anzupassen. Einmal<br />

habe ich die Polizei angerufen, weil <strong>Erika</strong> von einer ihrer Gruppenstunden nicht heimkam<br />

und ich fürchtete, ihr sei ein Unfall zugestoßen. Sie hatte sich aber nur mit ihren Leuten<br />

"verquatscht" - verständlich, <strong>bis</strong> vor kurzem hatte ja auch niemand zu Hause auf sie gewartet.<br />

Warum sollte sie sich nicht Zeit lassen? - Ich finde übrigens, dass solche scheinbaren "Kleinigkeiten"<br />

das Zusammenleben als Paar viel mehr belasten, als man erwartet. Der unterschiedliche<br />

Umgang mit Zahnpastatuben wäre ein weiteres Beispiel.<br />

2.17 Die Doktorarbeit<br />

Neben meiner Hauptaufgabe, Geld für Bücher auszugeben, sollte ich mich um meine Dissertation<br />

kümmern. Zunächst musste ein geeignetes Thema gefunden werden. Ich wollte es<br />

möglichst zeitnah haben und entschied mich für ein Thema aus dem Grenzbereich zwischen<br />

Theologie, Psychologie und Soziologie. Seit einigen Jahren machte ein gewisser Werner<br />

Heukelbach von sich reden. Er kam aus dem freikirchlichen Bereich, hatte eine Bekehrung<br />

erlebt und versuchte nun, möglichst viele Menschen "zu Jesus zu bringen". Dabei nutzte er<br />

geschickt moderne Kommunikationsmittel, ließ Handzettel verteilen, verschenkte Broschüren,<br />

kaufte Sendezeit im Rundfunk, setzte Flugzeuge mit Werbebannern ein und sammelte<br />

erhebliche Geldbeträge für sein Missionswerk. Sein Slogan "Gerade Du brauchst Jesus" war<br />

bekannt wie eine Waschmittel-Werbung. Diesen Werner Heukelbach wollte ich mir genauer<br />

anschauen. "Naive Frömmigkeit der Gegenwart - Eine kritische Untersuchung der Schriften<br />

Werner Heukelbachs" lautete dann der Titel meiner Arbeit.<br />

Rückblickend finde ich es nicht ganz fair, diesem einfachen Menschen mit wissenschaftlichen<br />

Methoden auf den Leib zu rücken. Die Art, wie er mit der Bibel umging, war natürlich<br />

aus wissenschaftlicher Sicht einfach unmöglich. Andrerseits: Heukelbach vertritt eine Form<br />

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von Frömmigkeit, wie sie in Gemeinden gar nicht so selten ist und von der Zeltmission <strong>bis</strong><br />

zur amerikanischen Irak-Politik immer noch Konjunktur hat. So ein Frömmigkeitstyp muss<br />

sich natürlich kritisch untersuchen lassen, z.B. im Blick auf die Frage, was diese Frömmigkeit<br />

für ihre Anhänger leistet. Über weitere Einzelheiten will ich mich hier nicht auslassen.<br />

Die Arbeit steht in den Universitätsbibliotheken und ist über Fernleihe und übers Internet erreichbar.<br />

Neben der wissenschaftlichen Leistung hatte meine Arbeit einen persönlichen Aspekt. So<br />

eine naive Frömmigkeit hatte ich als Heranwachsender selbst vertreten. Billy Graham war<br />

eine Zeit lang mein Idol und die Jugendarbeit unserer Gemeinde war erwecklich geprägt. Wie<br />

stark mir die Sache unter die Haut ging, zeigte sich in meinen Träumen. Darin drohten mir<br />

die Frommen mit der hintersten Hölle und ganze Busladungen von Heukelbach-Anhängern<br />

drängten sich vor unserer Haustür, um mich zu beschimpfen.<br />

2.18 Zurück zu Mutter Kirche<br />

Nach zwei Jahren war meine Arbeit fast fertig, nur ins Reine geschrieben musste sie noch<br />

werden. Es wurde Zeit, mich um meine Rückkehr in den kirchlichen Dienst zu kümmern. Die<br />

Hessen wollten mich nicht mehr haben, aber weil damals alle Landeskirchen nach Pfarrern<br />

suchten, war das nicht so schlimm. Im Rheinland war man gern bereit, mich aufzunehmen,<br />

sogar zu besonders günstigen Bedingungen. Ins Predigerseminar brauchte ich gar nicht mehr,<br />

die Vikarszeit konnte verkürzt werden und meine Dissertation wurde als Hausarbeit im zweiten<br />

theologischen Examen anerkannt.<br />

Ein Einsatzort für das Vikariat war rasch gefunden. In Essen-Heisingen hatte einer der beiden<br />

Pfarrer einen Herzinfarkt erlitten, sein Kollege brauchte Unterstützung. So kam ich als Vikar<br />

zu Georg Terpitz. Mit ihm als Mentor (damals hieß es noch "Vikarsvater") hatte ich es gut getroffen.<br />

Terpitz war das, was man damals einen "modernen Pfarrer" nannte. Er war nüchternpraktisch<br />

veranlagt, ganz ohne pastorales Gehabe. Mit ihm habe ich mich schnell angefreundet<br />

und es wurde bald eine Freundschaft von Familie zu Familie daraus. <strong>Erika</strong> wurde Patin<br />

bei seinem Sohn Julian. Wir teilten das Interesse an einer zeitgemäßen Kirche, befreit vom<br />

Staub der Jahrhunderte. Als wir zum ersten Mal durch die Gemeinde fuhren, zitierte Georg<br />

schmunzelnd die Ausbildungsordnung: "Der Vikar begleitet den Pfarrer auf seinem Gang<br />

durch die Gemeinde." Nein, wir gingen nicht, wir fuhren mit dem Auto. Aber in der Ausbildungsordnung<br />

gab es eben noch keine Autos.<br />

Außerdem war die Gemeinde ausgedehnt, sowohl was ihre Fläche, als auch was die soziale<br />

Schichtung anlangt. Unten am Baldeney-See gab es Zechenhäuser mit richtigen Bergarbeitern.<br />

Oben am Stadtwald lebten die Superreichen, die ohne Namensschild an der Einfahrt<br />

auskamen. So unterschiedliche Menschen in einer Gemeinde zusammen zu halten, war eigentlich<br />

ein Ding der Unmöglichkeit. Georg Terpitz hat diesen Spagat trotzdem mit einigem<br />

Erfolg versucht.<br />

In Heisingen musste ich sofort "ins kalte Wasser springen." Gottesdienste, Taufen, Trauungen,<br />

Beerdigungen, kirchlicher Unterricht und seelsorgerliche Gespräche - was ein Pfarrer<br />

eben so zu tun hat. Außer den Gottesdiensten machte ich alles zum ersten Mal. Es war eine<br />

schöne und spannende "Lehrzeit", in der ich vieles ausprobieren konnte. Wir wohnten in ei-<br />

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ner kleinen, aber ausreichenden Etagenwohnung. <strong>Erika</strong> hatte eine Stelle an der evg. Familienbildungsstätte<br />

gefunden. Dort arbeitete sie im Kleinkindbereich. Das war eine ideale Verbindung<br />

zwischen ihrem Lehrberuf Kinderkrankenschwester und ihrer zweiten Ausbildung als<br />

Gemeindehelferin. Wahrscheinlich haben wir uns damals beide sehr in den Beruf "hinein gekniet",<br />

jedenfalls erinnere ich mich an keinerlei Freizeitaktivitäten, außer Spaziergängen im<br />

Stadtwald und kurzen Urlaubsfahrten nach Holland ans Meer.<br />

Neben der Gemeindearbeit musste ich mich auch noch auf die mündliche Doktorprüfung, das<br />

sog. Rigorosum, und auf das zweite kirchliche Examen vorbereiten. Das Rigorosum sah ich<br />

mit Schrecken auf mich zukommen, galt es doch wieder einmal altsprachliche Texte zu übersetzen<br />

und ich hatte doch so sehr gehofft, dies nie mehr tun zu müssen. Es ging aber alles gut<br />

und im Februar 1969 wurde aus mir ein "Herr Doktor". Welche Gründe mich letztlich zu dieser<br />

Anstrengung bewogen haben, ist mir nicht ganz klar. Mit Sicherheit wollte ich mir selbst,<br />

aber auch meiner Mutter, beweisen dass ich zu solch einer Leistung fähig bin. Besondere Vorteile<br />

hatte ich nicht davon, vor allem keine finanziellen. Alle Pfarrer werden gleich bezahlt,<br />

ob sie nun einen Doktortitel besitzen oder nicht. Nur einen klitzekleinen Vorteil hat die Sache:<br />

Man wird bei Verkehrskontrollen und bei manchen anderen Gelegenheiten freundlicher<br />

behandelt. Deswegen habe ich mir den Doktortitel in den Ausweis schreiben lassen.<br />

Kaum war das Thema Doktorhut abgeschlossen, nahte im September das zweite Examen. Da<br />

ich jetzt zur Evangelischen Kirche im Rheinland gehörte, war es in Düsseldorf abzulegen.<br />

Das Rheinische Landeskirchenamt befand sich damals noch in der Inselstraße neben dem<br />

Hofgarten, in dem sich allerhand "lichtscheue Gestalten" herumtrieben. Einmal wollte mir jemand<br />

dort im Toilettenhäuschen eine Pistole verkaufen. Ich habe dieses Angebot jedoch ausgeschlagen<br />

und mich weiter auf die „Waffen des Geistes“ verlassen.<br />

Zu den schriftlichen Arbeiten reiste ich mit einer Schreibmaschine an. Schon damals war<br />

meine Handschrift schwer zu lesen. Ich hatte gehört, dass unleserliche Arbeiten zurückgegeben<br />

wurden, mit der Maschine abgetippt und neu eingereicht werden mussten. Dann war es<br />

doch wohl einfacher, gleich mit der Maschine zu schreiben. Diese Überlegung löste bei den<br />

Prüfern einige Verwirrung aus. So etwas hatte es noch nicht gegeben, das musste erst geklärt<br />

werden, allerdings mit positivem Ergebnis. Seitdem dürfen Examensarbeiten im Rheinland<br />

mit der Maschine (heute vielleicht sogar mit dem Laptop?) geschrieben werden. Ich hoffe<br />

sehr, dass dieser von mir ausgelöste "Modernisierungsschub" in den Annalen der Rheinischen<br />

Kirche ausreichend gewürdigt wird.<br />

Ansonsten ging alles klar. Ich war mit meiner Ausbildung am Ende und durfte jetzt im sog.<br />

Hilfsdienst eine eigene Gemeinde b.z.w. einen Gemeindebezirk übernehmen.<br />

Die Rheinische Kirche erstreckt sich von der Holländischen Grenze <strong>bis</strong> hinunter nach Saarbrücken.<br />

Dazwischen gab es eine große Auswahl an Stellen. Ich wollte jedoch möglichst im<br />

Essener Süden bleiben, schon damit <strong>Erika</strong> weiter an der Essener Familienbildungsstätte arbeiten<br />

konnte. Auch dieser Wunsch konnte erfüllt werden. In Horst-Eiberg entstand gerade<br />

ein großes Neubaugebiet, das Bergmannsfeld. Mehr als 8000 Menschen sollten hier angesiedelt<br />

werden, das ergab einen eigenen Pfarrbezirk. Die neue Pfarrstelle war gerade eingerichtet<br />

worden. Solange ich noch im Hilfsdienst war, könnte ich sie verwalten und mich dann zum<br />

Stelleninhaber wählen lassen. Eine reizvolle Aufgabe! Ich sagte ohne langes Zögern zu.<br />

64


Am 1.Oktober 1969 konnte ich im zweiten Pfarrbezirk der “Evangelischen Kirchengemeinde<br />

Horst-Eiberg zu Essen-Steele” anfangen. Mein Ziel, Pfarrer zu werden, hatte ich erreicht. Der<br />

Weg von der Reprokamera zur Kanzel war zu Ende. Mit allen Verzögerungen, Pausen und<br />

Umwegen habe ich zehn Jahre für diesen Weg gebraucht.<br />

Ich war jetzt 31 Jahre alt.<br />

Ich hatte ein langes Studium und die anschließende kirchliche Ausbildung absolviert.<br />

Ich hatte mich in der Hessischen Landeskirche angesiedelt und sie gegen meine ursprüngliche<br />

Absicht wieder verlassen. Eine Reihe von Freunden sind mir dabei leider verloren<br />

gegangen. Ich hatte in den universitären Bereich hinein geschaut und dabei keine Lust entwickelt,<br />

dort weiter Karriere zu machen.<br />

Ich hatte eine Frau gefunden, die zu mir passte, die mich unterstützte und im Blick auf die<br />

Gemeinde manches besser konnte, als ich selbst.<br />

Jetzt war es höchste Zeit, die Ärmel aufzukrempeln und mit der Gemeindearbeit so richtig<br />

loszulegen.<br />

65


Gemeinde<br />

zwischen Plattenbauten<br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> 1969 <strong>bis</strong> 1976<br />

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3.1 Auf Kohle gebaut<br />

Einer alten Lesebuchgeschichte * zufolge wurde der Ruhrbergbau im Mittelalter durch einen<br />

Hirtenjungen begründet. Der Junge machte auf den Hügeln nördlich der Ruhr ein Feuerchen<br />

und als er es löschen wollte, brannten die Steine weiter. Eine schöne Geschichte, an der zumindest<br />

dies wahr ist: Die Kohle liegt schräg in der Erde. Auf den Ruhrhöhen liegt sie dicht<br />

unter der Oberfläche und man kann sie im Tagebau fördern. In meiner neuen Gemeinde war<br />

das anschaulich zu sehen. Die Gemeinde lag auf den Ruhrhöhen und in den Baugruben für<br />

die neuen Hochhäuser sah man deutlich die dunklen Bänder der Kohlenflöze. Man hätte die<br />

Kohle mit Leiter und Eimer heraufholen können. Zehn Kilometer weiter westlich, in Essen-<br />

Heisingen, wo ich als Vikar tätig war, hatte man das tatsächlich gemacht. Dort holten sich die<br />

Leute während des Krieges ihre Kohle unter dem Vorwand, einen Luftschutzkeller zu bauen,<br />

aus dem Garten hinterm Haus.<br />

Im Bergmannsfeld konnte niemand mit der Kohle etwas anfangen. Die Zeit der Kohleöfen<br />

war vorbei. Die neue Siedlung wurde komplett mit Nachtstrom beheizt. Kohle war hier kein<br />

Segen, im Gegenteil, sie stellte eine Gefahr dar. In dieser Gegend war in vergangenen Jahrhunderten<br />

oberflächennaher Bergbau betrieben worden, niemand wusste genau, wo die alten<br />

Stollen liegen. Deshalb musste das Gelände, bevor man darauf bauen konnte, mit einem Netz<br />

von Probebohrungen überzogen werden - eine teure Angelegenheit. Später, als die Neubauten<br />

fertig waren, stellte unsere Siedlungsgesellschaft, die „Neue Heimat“, auf sämtliche Grünflächen<br />

zwischen den Häusern „Betreten verboten!“- Schilder. Nicht weil man etwas gegen<br />

spielende Kinder gehabt hätte, sondern um keinen Schadenersatz leisten zu müssen, falls einmal<br />

ein Kind von einem Tagesbruch verschluckt werden sollte.<br />

Natürlich hätte man lieber auf soliderem Untergrund gebaut, aber innerhalb der Stadtgrenzen<br />

von Essen gab es kaum noch freie Flächen, auf die man ein Neubaugebiet für 8000 Menschen<br />

hätte setzen können. Damals, in den 70er-Jahren, hatten alle deutschen Städte das gleiche<br />

Problem: Man brauchte viele neue Wohnungen. Junge Paare mit kleinen Kindern (wir befinden<br />

uns noch vor dem Pillenknick!) wollten nicht länger bei den Eltern leben und suchten<br />

eine eigene Wohnung. Die Zahl der Scheidungen nahm zu, was den Bedarf an Wohnungen<br />

weiter vergrößerte. Außerdem waren viele Innenstädte sanierungsreif und die „Planungsverdrängten“<br />

benötigten ebenfalls neue Wohnungen. Also errichtete man überall „auf der grünen<br />

Wiese“ Neubaugebiete und ganze Trabantenstädte. Die Neue Vahr in Bremen, das Märkische<br />

Viertel in Berlin und das Bijlmermeer bei Amsterdam sind in die Architekturgeschichte<br />

eingegangen. Gegen diese berühmten, teilweise auch berüchtigten Anlagen (das Bijlmermeer<br />

ist mit über 100 000 Einwohnern eine eigene Großstadt!) nahm sich unsere Siedlung<br />

eher bescheiden aus. Sie hatte übrigens, trotz der Nähe zur Kohle, ihren Namen nicht vom<br />

Kumpel, sondern einfach vom Bauern Bergmann, dem die Felder auf denen man baute, gehört<br />

hatten. Andere Neubaugebiete in Essen hießen Isinger Feld, Hörster Feld u.s.w.<br />

Als ich ins Bergmannsfeld kam war etwa ein Drittel der Häuser halbwegs fertig. Der Rest des<br />

Geländes glich einer Mondlandschaft. Eine Baugrube reihte sich an die andere. Baustraßen<br />

durchzogen kreuz und quer das Gelände. Mittendrin befand sich die Fabrik für die Platten,<br />

aus denen die Häuser zusammengesetzt wurden. Tieflader brachten sie zu den einzelnen Baustellen.<br />

Es waren die gleichen Plattenbauten, wie sie auch in der DDR hochgezogen wurden.<br />

Aus einigen wenigen Grundelementen konnte man ein halbes Dutzend unterschiedlicher<br />

Wohnungsgrundrisse bauen. Auch die Punkthochhäuser wurden aus diesen Fertigteilen mit<br />

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ihrer typischen Waschbeton-Außenseite zusammengesetzt. Die Wände waren relativ dünn,<br />

dafür aber aus hochverdichtetem Beton. Ein Schrecken für jeden Heimwerker! Wer in diese<br />

Platten Dübellöcher bohren wollte, brauchte nicht nur eine kräftige Bohrmaschine, sondern<br />

auch für jedes zweite Loch einen neuen Bohrer. Die Dinger glühten sofort durch.<br />

Die meisten Straße und Gehwege mussten erst noch gebaut werden. Auch Läden und eine<br />

Gaststätte existierten zunächst nur auf dem Papier und von einem Gemeindezentrum waren<br />

wir noch weit entfernt. Im Winter und bei Regenwetter verwandelte sich die ganze Siedlung<br />

in eine einzige Pampe. Kinder die vom Spielen zurück in die Wohnung kamen, wurden erst<br />

einmal unter die Dusche gestellt. Die Menschen im Bergmannsfeld waren bunt zusammengewürfelt.<br />

Anders als im benachbarten Stadtteil Horst, der „natürlich gewachsen“ war, kannte<br />

hier keiner seine Nachbarn. Die neuen Wohnungen waren vorzugsweise für kinderreiche und<br />

sozial schwache Familien gedacht. Das bescherte uns einen gewaltigen Kinderreichtum. Den<br />

Rekord hielt ein Haus, in dessen acht Wohnungen 52 Kinder mit ihren Eltern lebten. <strong>Erika</strong><br />

gab in der Grundschule mitten in der Siedlung Religionsunterricht. Als sie die Geschichte<br />

von Josef und seinen vielen Brüdern behandelte, fanden die Schüler das völlig normal. Durch<br />

ihren Unterricht war <strong>Erika</strong> in der Siedlung schnell bekannt und wenn sie durch die Straßen<br />

ging, riefen die Kinder aus allen Richtungen „Frau Rooch, Frau Rooch“. Mich hingegen<br />

kannte zunächst niemand. Einmal hörte ich wie ein Kind zum anderen sagte: „Da geht der<br />

Mann von Frau <strong>Roch</strong>.“ Als ob ich ein Anhängsel meiner Frau wäre. Natürlich weiß ich, dass<br />

es Frauen oft umgekehrt geht und sie als Anhängsel ihres Mannes behandelt werden. Aber es<br />

ist doch ein Unterschied, ob man es „weiß“ oder ob man/Mann es am eigenen Leibe erfährt.<br />

Einen Fehlgriff hatte die Stadt Essen getan, als sie die Straßen im Bergmannsfeld nach Philosophen<br />

benannte. Die schlichten Bewohner dieser Gegend kamen in große Nöte, wenn sie<br />

ihre Adresse schreiben sollten. Spinoza schrieben viele mit zwei „n“ (Spinner!), Schopenhauer<br />

mit zwei „p“ (Schoppen!), und bei Nietzsche kamen sie vollends ins Schleudern. Da hätte<br />

die Stadt mit „Tulpenweg“ und „Rosenstraße“ manches erleichtern können.<br />

Im Bergmannsfeld war immer etwas los, es wurde nie langweilig. Polizei und Feuerwehr hatten<br />

alle Hände voll zu tun, weil gerade wieder eine Tür aufgebrochen oder in einem Keller<br />

gezündelt worden war. Die Heranwachsenden, die man beim Bau von Spielplätzen vergessen<br />

hatte, hockten nachts auf den Klettergeräten für die Kleinen und ließen ihre Radios „volle<br />

Pulle“ laufen. Ein durch und durch lebendiger Stadtteil also, mit den besten Aussichten zum<br />

sozialen Brennpunkt zu werden. Einen solchen Brennpunkt hatten wir schon, die städtische<br />

Notunterkunft am Sachsenring, ebenfalls in meinem Bezirk. Das waren Schlichtwohnungen,<br />

in denen man Familien unterbrachte, die anderswo nicht mehr unterzubringen waren. Der<br />

Sachsenring war eine kleine Welt für sich, mit eigenen Spielregeln.<br />

Und das Maß voll zu machen, lag oberhalb des Bergmannsfeldes noch eine Fabrik, die tierische<br />

Fette verarbeitete und - vor allem an heißen Sommertagen - einen widerlichem Gestank<br />

verbreitete. Einige Jahre später wurde sie endlich stillgelegt. Da hatte ich mir eine Gegend<br />

ausgesucht, in der es allerhand zu tun gab und wo die übliche, an einer bürgerlichen Mittelschicht<br />

orientierte Gemeindearbeit wenig ausrichten konnte.<br />

68


3.2 Gemeinde muss erst werden<br />

Wenn ich hier von meiner Gemeinde spreche, ist das nicht ganz korrekt. Es handelte sich um<br />

einen von zwei Pfarrbezirken der einen Gemeinde „Horst-Eiberg zu Essen-Steele“. Der erste<br />

Bezirk lag oben im Ortsteil Horst und wurde von meinem Kollegen Kurt Künhaupt betreut.<br />

Dort sah es wie überall im Ruhrgebiet aus: Mehrfamilienhäuser aus der Gründerzeit, Eckkneipen,<br />

einzeln stehende Häuser aus der Zeit zwischen den Kriegen und Neubauten aus der<br />

Nachkriegszeit in einer bunten Mischung. Würde man einen Quadratkilometer Steele gegen<br />

einen Quadratkilometer Wanne-Eickel austauschen – der Tausch würde niemandem auffallen.<br />

Erst wenn man eine Weile hier wohnt, nimmt man die feinen Unterschiede wahr und es kann<br />

so etwas wie ein Heimatgefühl entstehen.<br />

Als auf den Äckern nördlich von Horst das Bergmannsfeld entstand, gliederte man es als neuen,<br />

zweiten Bezirk an die bestehende Gemeinde an - eine konfliktträchtige Lösung, denn beide<br />

Bezirke passten schlecht zusammen. Vor allem aber hatten die neu Zugezogenen überhaupt<br />

keine Anbindung an den alten Ortsteil. Dass dort drüben auf dem nächsten Hügel eine<br />

Kirche stand, nun ja, eine Kirche gab es in jedem Dorf, aber dass diese Kirche ihre Kirche<br />

und der dortige Friedhof ihr Friedhof sein sollte, das war nun wirklich nicht einzusehen. Man<br />

kam auch nur schwer hin. Eine Bahnlinie trennte beide Ortsteile voneinander. Um zu Fuß<br />

nach Horst zu kommen, musste man zum nächsten Bahnübergang laufen, warten <strong>bis</strong> die<br />

Schranke sich öffnete und dann noch einen steilen Hang hinaufkraxeln. Niemand konnte den<br />

Bergmannsfeldern erklären, was sie dort oben verloren hatten.<br />

<strong>Erika</strong> und ich wohnten in einer Vierzimmerwohnung im Erdgeschoss eines viergeschossigen<br />

Plattenbaus. Das Zimmer neben der Eingangstür war mein „Amtszimmer“. Ein besonderes<br />

Wartezimmer gab es, obwohl eigentlich vorgeschrieben, nicht. Wollten mehrere Leute etwas<br />

Persönliches mit mir besprechen, musste der zweite eben noch einen kleinen Spaziergang<br />

machen. Ich fand das in Ordnung denn es war mir wichtig, als Pfarrer nicht anders zu leben,<br />

als „meine Leute“. Ein großes Pfarrhaus, wie es Kollege Künhaupt oben in Horst bewohnte,<br />

hier zwischen den Plattenbauten, hätte meiner Vorstellung von Solidarität widersprochen<br />

(und war zum Glück auch nie geplant).<br />

Übrigens war ich nicht der erste Kirchenmann in Bergmannsfeld. Vor mir gab es schon einen<br />

Vikar, Siegfried Essen, der eigentlich zum Pfarrer in der neuen Siedlung ausersehen war.<br />

Aber er hatte es mit dem Gemeindeleitung, dem Presbyterium, verdorben, indem er sozialistisches<br />

Gedankengut verbreitete und rote Socken zum Talar trug. In einer von CDU-Leuten<br />

regierten Gemeinde reichte das, um ihm den Laufpass zu geben. Offiziell wurde es damit begründet,<br />

dass er zum Predigen eine zu leise Stimme habe, also für den Pfarrberuf nicht geeignet<br />

sei. Da sie ihm das schriftlich gegeben hatten, erstritt er sich vor Gericht ein Stipendium<br />

für ein Zweitstudium, wurde Psychologe und ist heute, wie ich hörte, ein renommierter Therapeut.<br />

Siegfried wohnte noch etliche Jahre in der Gemeinde, zwei Etagen über uns. Wir haben<br />

uns rasch angefreundet, was natürlich von der Gemeindeleitung nicht so gern gesehen<br />

wurde. Unvergesslich sind mir seine suggestiven Sprüche für die Kinder in unserer Notunterkunft.<br />

Er hatte ein Programm für lernbehinderte Kinder entwickelt, mit dem sie sich selbst in<br />

Richtung Schulerfolg trainieren konnten. Wenn sie mit den Schularbeiten begannen, sagten<br />

sie halblaut vor sich hin: „Ich bin gescheit, ich nehm mir Zeit“. Wenn sie sich verrechnet hatten,<br />

hieß es „Fehler passieren, noch mal probieren!“<br />

69


Mein Vorgänger hatte schon einen kleinen Kreis von kirchlich Interessierten gesammelt. Daraus<br />

wurde dann der Gemeindeaufbaukreis (GAK). In dieser Gruppe überlegten wir, wie die<br />

Gemeindearbeit im Bergmannsfeld aussehen konnte, wo wir Vorbilder für unsere Arbeit fanden<br />

und wie wir unsere Ideen im Presbyterium durchsetzen wollten.<br />

Weil die Menschen im Bergmannsfeld einander kaum kannten, fingen wir mit einem Nachbarschaftsprojekt<br />

an. Auf einer Liste konnte man angeben, was man braucht (Babysitter, Hilfe<br />

beim Ausfüllen von Anträgen usw.) und was man bereit war, für andere zu tun. Durch diese<br />

„Aktion gute Nachbarschaft“ machten wir uns als Kirchengemeinde rasch bekannt und beliebt<br />

und stießen immer wieder auf Menschen, die sich bei weiteren Aktionen (z.B. bei einer<br />

Schularbeitenhilfe) aktivieren ließen. Die Aktion lief über viele Jahre und war eine gute Basis<br />

für alles, was später an Gemeindearbeit in meinem Bezirk gewachsen ist.<br />

Bald wurde unsere Nachbarschaftsaktion durch ein Netz von „Kontaktleuten“ gestützt. Diese<br />

Kontaktleute machten Hausbesuche, überbrachten zum Geburtstag einen Gruß der Gemeinde,<br />

verteilten die Gemeindebriefe und gaben meinen Mitarbeiterinnen und mir Bescheid, wenn<br />

irgendwo Not am Mann bzw an der Frau war. Für die Organisationsarbeit, für Besuche und<br />

Gruppen stand mir bald eine Gemeindehelferin, zuerst Frau Chan, dann Frau Kollhoff, zuletzt<br />

Frau Ahting, zur Seite. Später ließ sich sogar noch eine zweite Mitarbeiterin finanzieren. Für<br />

diese Stelle konnte ich Barbara Scholz gewinnen. Sie hatte mit <strong>Erika</strong> am Burckhardthaus die<br />

Ausbildung zur Gemeindehelferin gemacht und danach noch eine Zusatzausbildung als Gemeinwesenarbeiterin<br />

absolviert. Gemeinwesenarbeit war damals noch ein weithin unbekannter,<br />

neuer Zweig der Sozialarbeit. Ich konnte viel von meiner neuen Mitarbeiterin lernen. Traditionellerweise<br />

war (und ist) Kirche stark auf Einzelpersonen ausgerichtet. Einzelne werden<br />

getauft und konfirmiert, Einzelne kommen zum Glauben (oder auch nicht), Einzelne landen<br />

später im Himmel oder in der Hölle. Aber was bedeutet Kirche für ein Gemeinwesen? Diese<br />

Frage wurde für mich zum Kernpunkt meiner Arbeit. Wenn man einem Stadtteil nicht anmerkt,<br />

dass dort Christen leben, kann man so viele Gottesdienste oder Bibelstunden abhalten<br />

wie man will, es hilft den Menschen nicht weiter. Hier im Bergmannsfeld hieß die Aufgabe:<br />

Kirche muss dazu beitragen, dass aus einer Waschbeton-Wüste ein bewohnbarer Stadtteil<br />

wird.<br />

Die Frage nach den spirituellen Wurzel unserer Arbeit haben wir damals kaum gestellt. Die<br />

Aufgaben lagen so klar auf der Hand, dass wir über Begründungen nicht weiter nachgedacht<br />

haben. Beispielsweise wurden an einer bestimmten Straßenecke immer wieder Kinder angefahren,<br />

weil parkende Autos den Blick verstellten. Klar, dass wir da Unterschriften für einen<br />

Überweg und eine Ampel gesammelt haben und zwar in schöner Eintracht mit den Leuten<br />

von der DKP. Oder die Neue Heimat setzte plötzlich viele Familien wegen Mietrückständen<br />

auf die Straße. Auch da musste sofort etwas getan werden: Unterschriften sammeln, Leserbriefe<br />

schreiben usw. In einer Notlage tut man, was einem vor die Hand kommt, ohne lange<br />

nach biblischen oder theologischen Begründungen zu fragen.<br />

Mit unserem auf die Nachbarschaft bezogenen Ansatz hatten wir einen kräftigen Rückhalt in<br />

der Bevölkerung. Auch Menschen, die von der Kirche wenig hielten, sagten: Ihr tut wenigstens<br />

etwas für uns! Von der Stadt und der Neuen Heimat fühlte man sich eher im Stich gelassen.<br />

Es gab viele stürmisch verlaufende Bürgerversammlungen mit erregten Debatten und<br />

Forderungen an die Kommunalpolitiker: Baut endlich Kindergärten! Wo bleibt das versprochene<br />

Einkaufszentrum? Wann hört der Gestank der Fettfabrik auf?<br />

70


Das Verhältnis zur Katholischen Gemeinde war unproblematisch, aber auch nicht sonderlich<br />

eng. Die Katholiken ließen sich nicht so gern in die Karten gucken und gingen auch nicht so<br />

stark in die Öffentlichkeit wie wir. Die Folge war, dass eine Reihe von ihnen lieber in der<br />

evangelischen Gemeinde mitmachten. Manchmal gab es auch schwierige Wechselwirkungen.<br />

Weil die Plätze in den Kindergärten nicht ausreichten, wollten wir in den evangelischen Kindergarten<br />

alle Kinder, ohne Rücksicht auf Konfession und Kirchenzugehörigkeit, aufnehmen<br />

und nur nach der Bedürftigkeit schauen. Die Katholiken nahmen vorzugsweise katholische<br />

Kinder, andere nur im Ausnahmefällen. Also mussten wir notgedrungen den evangelischen<br />

Kindern ebenfalls einen Vorrang einräumen, sonst hätten die katholischen einen Vorteil gehabt.<br />

So eine Siedlung ist ein geschlossenes System, darin kann keiner völlig frei agieren.<br />

Was der eine tut, schränkt die Handlungsmöglichkeiten der anderen ein. Man kann die unterschiedlichen<br />

Konzepte gut an den beiden Gemeinde-Zentren, die jetzt im Bergmannsfeld stehen,<br />

ablesen. Die Katholiken bauten sich eine Art Burg, ganz nach innen ausgerichtet und mit<br />

großen Toren gegen die Außenwelt abschließbar. Wir Evangelischen bauten ein offenes Haus<br />

mit viel Platz für geselliges Leben um einen als Forum verstandenen Versammlungsraum herum.<br />

3.3 Die Brücke<br />

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg eine Gemeinde zu werden, war die Anmietung einer Dreizimmerwohnung<br />

in einem Hochhaus am Philosophenweg. Dieses provisorische Gemeindezentrum<br />

nannten wir „Die Brücke“. In der Brücke war bald an jedem Tag der Woche von früh<br />

<strong>bis</strong> spät etwas los. Kinderbetreuung, Seniorenclub, Brücken-Cafe, Kinderkleidertausch, Gemeindeaufbaukreis,<br />

Sprechstunden von mir und meinen Mitarbeiterinnen und und und - die<br />

Räume waren ständig ausgebucht.<br />

Neben dem Gemeindeaufbau hatte ich natürlich noch die ganz normalen pastoralen Aufgaben<br />

zu erledigen: Gottesdienste halten, Kinder taufen, Paare trauen, Verstorbene beerdigen und<br />

Konfirmanden unterrichten. Auch dabei war manches anders als im ersten Bezirk. Weil im<br />

Bergmannsfeld so viele junge Familien wohnten, gab es dort kaum Trauungen. Die Kinder<br />

waren noch nicht im heiratsfähigen Alter. Auch Bestattungen waren selten, dafür waren es<br />

meist „Sonderfälle“. In meinem Bezirk starb man nicht an Altersschwäche sondern durch Unfall<br />

oder Selbstmord. Konfirmanden hatte ich in großen Zahl, an die hundert pro Jahrgang.<br />

Zwei Nachmittage pro Woche war ich ausschließlich mit kirchlichem Unterricht beschäftigt,<br />

jeweils drei Gruppen hintereinander. Die Konfirmationen erledigte ich dann in zwei Gottesdiensten<br />

am gleichen Sonntag. Die normalen Sonntagsgottesdienste hielt ich im Wechsel mit<br />

meinen Kollegen an den drei zu Essen-Steele gehörenden Predigtstätten. Dieser Ringtausch<br />

hat uns Pfarrer sehr entlastet.In der Zionskirche, oben im ersten Bezirk – der gemeinsamen<br />

Predigtstätte für mich und meinen Kollegen Künhaupt – predigte ich nur ungern. In dem<br />

großen Kirchenraum saßen meist nur einige wenige Gemeindeglieder und die auch noch in<br />

den hinteren Bänken. Sie zu erreichen war nicht nur ein theologisches sondern vor allem ein<br />

akustisches Problem. Ganz anders bei Beerdigungen. In einer Trauerhalle ist der Abstand<br />

zwischen Pfarrer und Gemeinde kleiner, man fühlt sich wie in einem Zimmertheater. Außerdem<br />

gibt es ein gemeinsames Thema: Einer von uns ist gestorben. Was löst sein Tod aus? Wie<br />

soll es jetzt weitergehen? Solche Trauergottesdienste waren mir immer am liebsten. Weil ich<br />

mich kurz und knapp ausdrückte und nicht herumsalbaderte, kam ich gut an.<br />

71


Oft musste ich auch zur anderen Friedhöfen irgendwo in der Stadt oder zum Krematorium<br />

fahren, denn manche Verstorbenen wurden dort bestattet, wo sie vor ihrem Umzug ins Bergmannsfeld<br />

gewohnt hatten. Im Krematorium freute man sich, wenn ich wieder einmal auftauchte.<br />

Weil meine Kollegen meist zu lange redeten, war das Krematorium oft dem Zeitplan<br />

hinterher. Da kam ich mit meinen kurzen Ansprachen gerade recht um die verlorene Zeit wieder<br />

einzuholen.<br />

Im Bergmannsfeld gab es noch keine eigene Predigtstelle. Es gab ja auch noch keine Kirche<br />

und kein Gemeindezentrum. Wir haben es mit Gesprächsgottesdiensten in angemieteten<br />

Schulräumen versucht, aber die wollten nicht so richtig laufen. Schulräume machen Erwachsene<br />

wieder zu Schülern! Die Leute hoben die Hand, wenn sie etwas sagen wollten.<br />

Sehr oft bekam ich mit Notfällen zu tun. Jemand konnte die Miete nicht bezahlen, kam mit<br />

dem Partner oder mit den Kindern nicht klar, trank zu viel usw. Nun kamen sie zur mir mit<br />

der Vorstellung: Die Kirche hat doch Geld genug, sie muss mir helfen. Bei mir war aber auch<br />

nichts zu holen. Natürlich hatte die Kirche viel Geld, aber sie hatte kein Geld übrig. Im Gegenteil,<br />

wir hätten gern noch jemanden für die Jugendarbeit eingestellt, konnten aber keinen<br />

weiteren Mitarbeiter finanzieren. An Hilfesuchende konnte ich zwar Lebensmittelgutscheine<br />

austeilen, aber das war nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem<br />

hätten die Ratsuchenden ihren gesamten Lebensstil umkrempeln müssen, um dauerhaft aus<br />

ihren Problemen herauszukommen. Da wäre professionelle Krisenintervention und Schuldnerberatung<br />

nötig gewesen. Diese Instrumentarien heutiger Sozialarbeit steckten aber damals<br />

noch in den Anfängen. Ich tat was ich konnte, aber das war angesichts der Fülle von Problemen<br />

recht unzureichend.<br />

Hinzu kam noch die Notunterkunft, die ja auch in meinem Bezirk lag. In diese mir fremde<br />

Welt bin ich nie so richtig eingetaucht. Ich war in einem anderen Milieu aufgewachsen und<br />

musste mir immer einen Ruck geben, wenn ich im „Sachsenring“ zu tun hatte. (Die Bezeichnung<br />

„Sachsenring“ wurde für die Notunterkunft gebraucht, auch wenn in der gleichnamigen<br />

Straße auch noch andere Menschen wohnten). Im „Sachsenring“ waren die Hausflure verdreckt,<br />

Kinder lungerten herum, überall roch es nach Kohlsuppe und es war laut, sehr laut:<br />

Türen wurden zugeknallt, Babys plärrten, Mütter brüllten ihre Kinder an „Halt die Fresse,<br />

oder du fängst eine!“ Ja, ich wusste, dass die Menschen durch unglückliche Umstände dorthin<br />

gekommen waren. Ich wurde auch immer freundlich behandelt und bekam als „Herr Pfarrer“<br />

einen Stuhl angeboten. Aber wenn kurz zuvor ein Kind auf den Stuhl gekotzt hatte und<br />

dieser nur notdürftig abgewischt war, fiel es mir schwer, darauf Platz zu nehmen. Am liebsten<br />

hätte ich die Flucht ergriffen.<br />

Die Kinder aus dem „Sachsenring“ kamen auch zur mir in den Konfirmandenunterricht.<br />

Wenn aber im Fernsehen „Fury“ oder „Flipper“ lief, blieben sie weg. Mit diesen vermenschlichten<br />

Fernsehtieren konnte mein Unterricht, auch wenn er pädagogisch auf dem neuesten<br />

Stand war, nicht konkurrieren.<br />

Für den Sachsenring haben wir dann eine gute Lösung gefunden. Die evangelische Familienbildungsstätte,<br />

begann dort mit sozialer Gruppenarbeit und machte das so erfolgreich, dass<br />

sie dafür den Hermine-Albers-Preis bekam.<br />

72


3.4 Höhepunkte<br />

Wie in jeder Gemeinde gab es bei uns neben dem Gemeindealltag eine Reihe von Besonderheiten<br />

und Höhepunkten, die uns auszeichneten und auf die wir besonders stolz waren.<br />

Jeweils einmal im Monat kochten wir in der Brücke am Sonntag ein einfaches Mittagessen.<br />

Es kamen <strong>bis</strong> zu 40 Gäste. Weil nicht alle auf einmal in die Wohnung passten, mussten sie in<br />

mehreren Schichten essen. Bezahlt wurde nach Selbsteinschätzung. Der Überschuss ging an<br />

„Brot für die Welt“. Wir fanden immer wieder Menschen, die bereit waren, beim nächsten<br />

Mal den Einkauf, das Kochen und das Spülen zu übernehmen. In gewisser Weise erfüllte dieses<br />

gemeinsame Essen die Funktion des Gottesdienstes.<br />

Ein weiterer Höhepunkt waren die großen Jugendfreizeiten, die wir zusammen mit dem Essener<br />

Jugendreferat in Lugano durchführten. Untergebracht waren wir in der „Casa Coray“. Es<br />

war ein schlichtes Haus, eine Art Landschulheim, unmittelbar am See. Der Besitzer hatte in<br />

der Schweizer Landschulbewegung eine wichtige Rolle gespielt und die Casa war ein leicht<br />

verkommenes Relikt aus den großen Zeiten dieser Bewegung. Der Alte Coray lebte noch<br />

oben unterm Dach und manchmal schlurfte er nachts durch die Gänge und rief „Wer bin<br />

ich?“ - „Wer bin ich?“ Das war ein wenig gruselig, aber die ganze Umgebung dort hatte ohnehin<br />

etwas Übersinnliches. Wir lebten unter Palmen. Es war südländisch warm. Die hohe<br />

Luftfeuchtigkeit ließ alle Konturen unscharf erscheinen. Manchmal meinte man in einer anderen<br />

Wirklichkeit zu sein und einige Zentimeter über dem Boden zu schweben.<br />

In diese völlig andere Welt fuhren wir mit jeweils 180 jungen Leuten aus dem Ruhrgebiet,<br />

viele davon aus dem Bergmannsfeld, zum Teil auch aus anderen problematischen Stadtteilen.<br />

Manche flippten in dieser ungewohnten Umgebung völlig aus, wozu natürlich auch der Rotwein<br />

seinen Teil beitrug. Mehrfach mussten wir Teilnehmer bei der Polizei abholen, weil sie<br />

beim Ladendiebstahl erwischt worden waren. Dass einige in die Villa einer Filmschauspielerin<br />

eingebrochen waren - um kostenlos nach Hause zu telefonieren! - erfuhren wir zum Glück<br />

erst auf der Rückreise. Es war ständig etwas los, aber wir waren auch gut vorbereitet, hatten<br />

18 Betreuer dabei, darunter zwei Psychologen, dazu noch jede Menge Material zum Malen,<br />

Basteln und Theaterspielen. Den jungen Leuten wurde ordentlich etwas geboten und sie<br />

schwärmten noch lange danach von Lugano. Zwei Mal bin ich mitgefahren, mehrmals ist<br />

auch Frau Scholz dabei gewesen. Hinterher waren wir jedes Mal völlig urlaubsreif, aber es<br />

war auch „das Größte“, was man sich damals denken konnte.<br />

Eine weitere Besonderheit waren unsere Kontakte in die Niederlande. Wir waren öfters im<br />

Bildungszentrum „Oud Poolgeest“ in der Nähe von Leiden zu Gast. Umgekehrt kamen Mitarbeiter<br />

von dort nach Essen. Die Niederländer waren damals den Deutschen in Sachen Psychologie<br />

und Sozialarbeit weit voraus, vor allem, wenn es um kreative Arbeitsformen – Malen,<br />

Tanzen, Körperarbeit – ging. Sie probierten einfach alles aus, was ihnen so einfiel. Einmal<br />

bekamen zwei Mädchen, die mit ihren Eltern dabei waren, (ich weiß nicht mehr aus welchem<br />

Grund) Angst, die Eltern könnten sterben. „Dann lasst uns doch einfach mal spielen,<br />

wie die Eltern beerdigt werden“, sagten unsere Freunde. Sie haben das tatsächlich gemacht<br />

und die Kindern möglicherweise nachhaltig traumatisiert. Aber so war das, Grenzen wurden<br />

einfach übersprungen. Mal schauen, was dabei herauskommt!<br />

73


Einmal hatten wir mit den Holländern einen großen Jugendgottesdienst zum Erntedankfest<br />

vorbereitet. Unsere jungen Leute hatten Leinwände mit Bildern und Sprüchen bemalt. Die<br />

sollten am Sonntag in unserer Kirche, oben in Horst, aufgehängt werden. Bei der Generalprobe<br />

am Samstag erschien unser Kirchmeister, um sich die Sache kritisch anzuschauen. Er war<br />

dermaßen schockiert, dass er noch am Abend das Presbyterium zusammentrommelte und der<br />

Gottesdienst am Folgetag nicht stattfinden durfte.<br />

Es ergaben sich viele interessante Kontakte in die Niederlande. Oft machte ich dort auch mit<br />

<strong>Erika</strong> und später mit ihr und Dominik Urlaub, meist in Bergen (in der Nähe von Alkmaar).<br />

Dort konnte man stundenlang am Strand oder in dem breiten Dünengürtel wandern, mit dem<br />

Rad am Wasser entlang flitsen oder in einem der gemütlichen, alten Gasthäuser einkehren.<br />

Ich kaufte mir ein Reihe niederländische Krimis und konnte die Sprache bald recht flott lesen.<br />

Das Sprechen habe ich allerdings nie gelernt.<br />

Auch in Amsterdam bin ich - mit und ohne <strong>Erika</strong> - öfters gewesen. Ich erinnere mich noch<br />

lebhaft an eine nächtliche Tour durch Amsterdamer Klöster. Sie waren in großen alten Villen<br />

untergebracht und es ging dort zu wie in studentischen Wohngemeinschaften. Obwohl es allesamt<br />

Männerklöster waren, hielten sich dort - wie einst um Jesus - eine Menge attraktiver<br />

Frauen auf. Damals bereiteten die holländischen Katholiken dem Papst manchen Kummer.<br />

Sie waren ökumenisch und weltoffen eingestellt. Besonders die Texte des Jesuiten Huub<br />

Oosterhuis haben mich sehr angesprochen, weil sie sprachlich und theologisch anspruchsvoll<br />

und zugleich schlicht sind. Ich habe diese liturgischen Texte oft in meinen Gottesdiensten<br />

verwendet. Schön, dass inzwischen einige in unser neues Gesangbuch übernommen wurden.<br />

In der Trabantenstadt Bijlmermeer südlich von Amsterdam lernte ich den reformierten Pfarrer<br />

kennen und freundete mich mit ihm an. Mehr als hunderttausend Menschen wohnten dort,<br />

alle in völlig gleichen wabenförmig gewinkelten Hochhauszeilen. Das war schon eine etwas<br />

andere Größenordnung als unser überschaubares Bergmannsfeld! Leider bekam mein Kollege<br />

kurz darauf eine Hochhausphobie und musste sich eine neue Stelle weit weg vom Bijlmermeer<br />

suchen. Die Reformierten machten im Bijlmermeer eine auf Hauskreisen aufbauende<br />

Gemeindearbeit, von der wir uns einiges abgucken konnten. Deshalb bin ich auch einmal mit<br />

meinem Gemeindeaufbaukreis hingefahren. Bei dieser Gelegenheit schauten wir uns auch die<br />

Arbeit von „Oudezijd 100“ an, einer christlichen Kommunität mitten im Bordellviertel vom<br />

Amsterdam. Ungewöhnlich und anregend, wie so manches, was die Niederländer machten. In<br />

Holland hatten sie damals, also vor über 30 Jahren, schon reichlich Erfahrungen mit dem<br />

Rückgang der Mitgliederzahlen, dem Verkauf von Kirchengebäuden und einem stark abnehmenden<br />

kirchlichen Einfluss in der Öffentlichkeit - alles Themen die heute bei uns aktuell<br />

werden.<br />

Aus einer Elterninitiative „Kindergärten ins Bergmannsfeld“ entstand der „Hangwimpel“,<br />

eine Tageseinrichtung, die sich an den damals in Mode gekommenen Kinderläden orientierte.<br />

Er lag in oben Horst, wurde aber vom Bergmannsfeld aus mit Kindern beschickt. Der Hangwimpel<br />

bildete den Grundstock für unseren späteren Kindergarten im Bergmannsfeld.<br />

Mit Familien aus dem Bergmannsfeld fuhr ich zu meiner ersten Familienfreizeit nach Wemding<br />

in Bayern, noch nicht ahnend, dass ich viele Jahre später ein Fachbuch über Familienfreizeiten<br />

schreiben würde.<br />

74


Wir machten auch erste Erfahrungen mit gruppendynamisch ausgerichteten Fortbildungen für<br />

die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Bezirkes. Zweimal sind wir ins Kloster Walberberg<br />

gefahren, wo wir unter Leitung von Ingvild Odendahl Sensitivity-Übungen und Kooperationsspiele<br />

ausprobierten. Das war damals alles noch neu, spannend und beängstigend zugleich.<br />

3.4 In Horst ist die Welt noch in Ordnung<br />

Im ersten Bezirk, oben in Horst, sah die Gemeindearbeit völlig anders aus als im Bergmannsfeld.<br />

Dort hatte sich eine durch und durch konventionelle Gemeinde etabliert. Es gab einen<br />

Kirchenchor, die Frauen gingen zur Frauenhilfe, die Männer in den Männerkreis und in den<br />

Jugendräumen traf sich die nächste Generation zum Tischtennis und zum Kickern. Zu Pfarrers<br />

Geburtstag marschierten die Kinder aus dem Kindergarten auf, um meinem Kollegen ein<br />

Ständchen zu bringen und um Gedichte aufzusagen.<br />

In Horst hatten einige ältere Presbyter und ihre Frauen das Sagen, allen voran der Kirchmeister.<br />

Er regierte die Gemeinde als wäre sie eine Unterabteilung seines Tischlerbetriebes. Bei<br />

Projekten, die er gut fand, war die Finanzierung kein Problem, erschien ihm etwas verdächtig,<br />

vor allem wenn es nach Sozialismus roch, war dafür kein Geld vorhanden. Wollte die<br />

Horster Frauenhilfe einen Ausflug unternehmen, ging die Finanzierung problemlos über die<br />

Bühne. Wollte Frau Scholz mit Frauen aus dem Bergmannsfeld wegfahren, stellte man sofort<br />

die Frage, ob diese Frauen überhaupt zur Gemeinde gehören und ob sie sonntags in die Kirche<br />

gehen.<br />

Um jede Kleinigkeit mussten die Bergmannsfelder kämpfen. Weil sie in der Gemeindeleitung,<br />

also im Presbyterium, in der Minderheit waren, hatten sie bei diesen Auseinandersetzungen<br />

schlechte Karten. Die Alteingesessenen verteidigten ihre Machtposition mit allem<br />

Mitteln und gingen dabei <strong>bis</strong> an die Grenze des Erlaubten. Die Kirchenordnung sieht vor,<br />

dass vor Entscheidungen Gründe und Gegengründe in offener Debatte abgewogen werden<br />

und dass bei Beschlüssen Einmütigkeit anzustreben ist. In Horst lief das anders. Kam ein Antrag<br />

aus dem Bergmannsfeld auf den Tisch, redete man zwar eine Weile darüber, aber dann<br />

sagte der Kirchmeister: „Ich glaube, wir können jetzt abstimmen.“ Da zeigte sich dann, dass<br />

sich die Horster Mehrheit schon vor der Sitzung abgesprochen hatte. Keine Chance für die<br />

Bergmannsfelder!<br />

Ich muss zugeben, dass mich diese Auseinandersetzungen nicht nur belasteten, sondern auch<br />

reizten. Gestritten habe ich mich schon immer gern, vor allem wenn es geistreich und mit<br />

Witz geschah. Einmal hat das Presbyterium meinem Kollegen einen elektrischen Antrieb für<br />

den Rollladen in seinem Wohnzimmer bewilligt. Da beantragte ich, auch in meinem Wohnzimmer<br />

einen solchen Antrieb zu installieren. Beinahe wäre es beschlossen worden. Aber<br />

dann ist doch einigen aufgefallen, dass es bei mir (wie im ganzen Bergmannsfeld) gar keine<br />

Rollläden gab.<br />

Ich war damals jung und unerfahren. Wenn es um „meine Leute“ ging, fühlte ich mich<br />

schnell im Recht. Das machte es für Presbyter, die zu vermitteln versuchten, nicht gerade einfach.<br />

Von meinem Pfarrkollegen im ersten Bezirk war wenig Unterstützung zu erwarten.Der<br />

Mann hatte längst resigniert. Am Anfang, sah es so aus, als könnte ich als jüngerer Kollege<br />

75


ihn ein wenig mitreißen. Einmal haben wir sogar zusammen einen Gottesdienst im Stile der<br />

Kölner Politischen Nachtgebete veranstaltet. Als sich aber die Konflikte zwischen den Bezirken<br />

zuspitzten, zog er sich wieder auf sich selbst zurück und zuletzt weigerte er sich sogar,<br />

die wöchentlichen Dienstbesprechungen mit mir fortzusetzen. Dieser Kollege hatte es nicht<br />

leicht, er war stark sehbehindert. Die Bibel oder seine Aufzeichnungen musste er sich unmittelbar<br />

vors Gesicht halten um darin lesen zu können. Wahrscheinlich hat diese Behinderung<br />

seine Tendenz zum Rückzug verstärkt. Als „Kampfgenosse“ fiel er jedenfalls aus und ich ärgerte<br />

mich auch zunehmend über ihn. An seiner Arbeit ließ sich mindestens genau soviel aussetzen<br />

wie an meiner, aber während ich ständig der Kritik des Presbyteriums ausgesetzt war,<br />

saß er schön im Trockenen und ließ mich im Regen stehen. Es war sicher kein Zufall, dass er<br />

sich der Theologie von Karl Barth verschrieben hatte. Seine Kirche war eine Predigthalle.<br />

Am Sonntagvormittag erscholl dort „Gottes Wort“, verkündet von Pfarrer Künhaupt und den<br />

Menschen blieb nichts als die gläubige Annahme. Gemütliche Clubräume, Sitzgruppen zum<br />

Gespräch, passende Räume für Unterricht und Erwachsenenbildung gab es in diesem Zentrum<br />

nicht. Es ging um Hören und Gehorchen, nicht um Kontakt, Erfahrungsaustausch und<br />

die Suche nach Lebenskonzepten.<br />

Außen war die Kirche mit einem hässlichen Mosaik geschmückt: ein Hirte mit seinen Schafen,<br />

dazu riesige Dornen, von denen monströse Blutstropfen herabfallen, fast schon eklig und<br />

auf keinen Fall einladend.<br />

1972 kam es zum „großen Knall“. Das Presbyterium weigerte sich, den Arbeitsvertrag für<br />

Frau Scholz, unsere Gemeinwesenarbeiterin, zu verlängern. Aber da hatten sie die Rechnung<br />

ohne die Bergmannsfelder gemacht. Die ließen auf eigene Kosten knallgelbe Plakate mit<br />

dem Satz „Frau Scholz muss bleiben“ drucken und hängten sie überall im Bergmannsfeld in<br />

die Fenster. Die ganze Siedlung sah gelb aus. Außerdem demonstrierten sie mit Spruchbändern<br />

(„Ist Beten wichtiger als Helfen?“) bei der Tagung der Kreissynode. Das Presbyterium<br />

zog den Beschluss zurück, Frau Scholz konnte bleiben und ihre Arbeit fortsetzen. Die Bergmannsfelder<br />

erhielten sogar ein größeres Mitspracherecht. Zwar hatte das Presbyterium weiterhin<br />

das letzte Wort, aber in Zukunft sollte der Gemeindeaufbaukreis wenigstens angehört<br />

werden, wenn es um das Bergmannsfeld ging. Ein Teilerfolg – immerhin!<br />

Im Untergrund grummelte es natürlich weiter und es blieb auch einiges an meiner Person<br />

hängen. Ich hatte zwar mit dem „Aufstand“ direkt nichts zu tun, denn ich war in der heißen<br />

Phase gerade im ebenfalls heißen Afrika, aber irgendein Rädelsführer musste ja hinter solchen<br />

für die Kirche ungewohnten Aktionen stecken, wahrscheinlich doch wieder der Pfarrer,<br />

mit dem man schon soviel Ärger gehabt hatte.<br />

3.5 Wir reisen nach Afrika und bekommen ein Kind<br />

Am Anfang unsrer Ehe, als meine berufliche Zukunft noch ganz ungewiss war, wollten wir<br />

noch keine Kinder. <strong>Erika</strong> nahm die Pille. Jetzt, wo ich ein wohlbestallter Pfarrer war, hätten<br />

wir gern Kinder gehabt, aber wir bekamen keine. Woran das lag, hat nie ein Arzt herausgefunden.<br />

Sie schüttelten nur den Kopf und empfahlen, einen weiteren Spezialisten aufzusuchen.<br />

Rückblickend bin ich froh, damals nicht diesen Weg eingeschlagen zu haben. Statt dessen<br />

entschieden wir uns für eine Adoption. Das würde nicht nur uns, sondern auch einem<br />

kleinen Kind, das sonst ohne Eltern aufwachsen müsste, weiterhelfen.<br />

76


In den 70er Jahren war es wesentlich leichter als heute, ein neugeborenes Kind zu adoptieren.<br />

Es waren lediglich einige bürokratische Hürden zu überwinden, um eine Adoptionsberechtigung<br />

zu erhalten. Unter anderem kam eine Fürsorgerin ins Haus und schaute ob in der Wohnung<br />

alles ordentlich aufgeräumt ist. Als wir unser Einkommen offen legten, sagte sie im<br />

Blick auf <strong>Erika</strong>s Anteil nur: "Das fällt ja dann weg!“ So waren damals die Zeiten. Berufstätige<br />

Frauen waren die Ausnahme. Lange Zeit brauchten Frauen sogar noch die Zustimmung ihres<br />

Mannes, wenn sie arbeiten wollten! Wir fanden Gnade vor den Augen des Jugendamtes,<br />

bekamen den erforderlichen Schein und konnten damit auf Kindersuche gehen.<br />

Zuvor gönnten wir uns aber noch eine große Reise. Unsere Freunde Elke und Ludwig Sasse<br />

waren mit drei kleinen Kindern, eins davon mein Patenkind, als Entwicklungshelfer nach<br />

Tanzania gegangen. Sie lebten am Hang des Kilimanjaro. Dort wollten wir sie besuchen. Wir<br />

buchten zwei Wochen Badeaufenthalt in Mombasa, eine Woche am Anfang, die andere am<br />

Ende unseres Aufenthaltes und hatten dazwischen vier Wochen Zeit, um „Afrika pur“ zu erleben.<br />

Ludwig war als Bauingenieur bei der dortigen Lutherischen Kirche beschäftigt, hauptsächlich<br />

um alte Missionskrankenhäuser aufzumöbeln. Mit ihm konnten wir zu verschiedenen<br />

Baustellen, weitab von den üblichen Touristenrouten, fahren. Natürlich waren wir auch in<br />

der Serengeti und in anderen Tierparks. („Park“ erweckt den Eindruck von klein und übersichtlich,<br />

die Serengeti ist etwa so groß wie Bayern!). In der Serengeti haben wir eine Nacht<br />

im Zelt verbracht. Diese Nacht zählt zu den unruhigsten meines Lebens. Kurz vorher waren<br />

wir Löwen begegnet und draußen vor dem Zelt herrschte in der Dunkelheit ein lautes Gemaunze,<br />

Geknurre und Gejaule - wie soll man da in Ruhe schlafen? In einem anderen Tierpark<br />

kam uns ein Löwe hinterher gespurtet. Er hatte sich über uns geärgert und ich sah ihn<br />

schon mit der Pranke durch die Heckscheibe des Autos langen. Erstaunlich, wie langsam<br />

manchmal ein Auto beschleunigt, obwohl man doch Vollgas gibt!<br />

Der Höhepunkt der Reise war ein nächtliches Fest, mit stundenlangem Trommeln, mit Gnu<br />

auf dem Teller und Vollmond über dem Kilimanjaro. So etwas erlebt man nicht alle Tage.<br />

Später habe ich mich darüber geärgert, dass ich nicht oben auf dem Gipfel war. Beinahe ein<br />

Sechstausender und ich lebe vier Wochen an seinem Hang und kraxle nicht hinauf. Wenn ich<br />

eine Liste der Versäumnisse meines Lebens aufstellen sollte, käme dieses an die erste Stelle.<br />

Ein Abstecher führte uns in den Süden Kenias zum Tana-River. Eine Gegend, wie man sie<br />

von den Plakaten der Hilfsorganisationen kennt: ein paar armselige Hütten inmitten einer ausgetrockneten<br />

Landschaft. Wenn wir in einem Dorf ankamen, holte unser Anführer, ein deutscher<br />

Missionar, als erstes seine Trompete hervor und ließ „Ein feste Burg ist unser Gott!“ ertönen.<br />

Das wirkte, wie so manches andere Stück „Deutschland in Afrika“, recht deplaziert,<br />

aber er verstand es als seine persönliche Erkennungsmelodie. Die Menschen hörten es und<br />

kamen von dem Äckern zum Gottesdienst und zur Bibelstunde. Der Dorfälteste versammelte<br />

die Kinder um sich und erzählte wie im Jahre 1912 die ersten Missionare aus Deutschland in<br />

ihr Dorf kamen. „Das hier“ - sagte er und zeigte dabei auf uns - „das sind die Enkel jener<br />

Missionare, die uns damals den Glauben an Jesus brachten“. Zum Abschied haben sie für uns<br />

ein paar Münzen gesammelt. Davon sollten wir uns im nächsten größeren Ort eine Cola kaufen.<br />

Wir haben dieses Geschenk voller Dankbarkeit und Rührung angenommen und ich habe<br />

später oft davon erzählt. Wie anders würde es in der Welt aussehen, wenn die reichen Länder<br />

im gleichem Maße von ihrem Reichtum abgeben würden, wie die Armen in diesem Beispiel<br />

den Reichen geschenkt haben!<br />

77


Die letzte Urlaubswoche machten wir es uns wieder im Hotel „Two fishes“ bei Mombasa bequem.<br />

Da saß ich nun beim Mittagessen unter Palmen am Indischen Ozean. Plötzlich stupst<br />

mich <strong>Erika</strong> an: „Was machst Du denn da?“ Geistesabwesend tunkte ich einen Hühnerschenkel<br />

in mein volles Bierglas. Ich hatte an meinen Kirchmeister in der fernen Heimat gedacht.<br />

Ein schönes Beispiel für eine „back home“ Situation: Nach fünf Wochen Urlaub war ich damals<br />

so in die afrikanische Umwelt eingetaucht, dass es mir ziemlich gleichgültig war, ob es<br />

Europa überhaupt noch gibt. Jetzt erfolgte schlagartig das Umschalten in Richtung: Zurück<br />

nach Hause.<br />

Als wir wieder daheim waren, riefen uns Marlies und Günter Schmidt aus der Nähe von Köln<br />

an. Sie kannten eine schwangere 17-Jährige, der sie versprochen hatten, nach passenden Adoptiveltern<br />

für ihr Kind Ausschau zu halten. Wir fuhren hin und fanden uns sofort sympathisch.<br />

Schmidts hatten die gleichen Schallplatten (Süverkrüp, Degenhard...) im Regal und<br />

die gleichen Bücher (Grass, Böll...) wie wir auf dem Bücherbord. Rasch war klar: wir würden<br />

das Kind von Agnes Siedlatzek nach der Geburt zu uns nehmen. Es sollte auch gleich den<br />

von uns gewünschten Namen „Dominik“ bekommen.<br />

Am 8. Oktober 1972 wurde Dominik geboren, eine Woche später holten wir ihn im Dortmunder<br />

Klinikum ab. Mit Freunden und Bekannten feierten wir ein Fest, so als wäre uns selbst<br />

ein Kind geboren worden. Wenn andere zu bedenken gaben, wir wüssten doch gar nicht, welche<br />

negativen Eigenschaften ein adoptiertes Kind von seinen leiblichen Eltern geerbt hat,<br />

wischte ich das mit leichter Hand weg. „Jedenfalls hat Dominik keine von meinen schlechten<br />

Eigenschaften geerbt!“ Das war ziemlich naiv, entsprach aber dem damaligen Stand der Wissenschaft.<br />

Auch Fachleute meinten damals, wenn ein Kind gut bei Adoptiveltern untergebracht<br />

sei, könne man die leiblichen Eltern vergessen. Vom Jugendamt gab es außer Hinweisen<br />

zur Säuglingspflege keine Hilfestellung für frischgeborene Adoptiveltern. Weder wurde<br />

der Kinderwunsch thematisiert, noch dachte man über die systemischen Zusammenhänge<br />

zwischen Ursprungs- und Adoptivfamilie nach. Da hat sich in den folgenden Jahrzehnten sehr<br />

viel verändert. Es gab übrigens auch kein Mutterschaftsgeld, weil die Adoptivmutter sich ja<br />

nicht von den Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt erholen muss. Dass es eine<br />

Menge Stress mit sich bringt, wenn plötzlich ein Neugeborenes in der Familie auftaucht, war<br />

kein Thema.<br />

Nun hatten wir endlich ein eigenes Kind! <strong>Erika</strong> war glücklich, denn sie hatte sich immer Kinder<br />

gewünscht. Bei mir war der Kinderwunsch nicht so ausgeprägt. Ich hatte meinen alten eigenen<br />

Vater vor Augen und war mir unsicher, ob ich ein guter Vater sein könne. Aber: es ging<br />

wunderbar und da das Stillen bei Adoptiveltern wegfällt, konnten wir uns beide ziemlich<br />

gleichberechtigt unserem Kind zuwenden. Dass <strong>Erika</strong> weiter zur Arbeit gehen würde, war<br />

klar. Außerdem fanden wir bald eine Kinderfrau für Dominik. Wenn <strong>Erika</strong> zur Familienbildungsstätte<br />

fahren musste, kam Frau Voßnacke, kümmerte sich um Dominik und hielt auch<br />

noch unsere Wohnung sauber. Das Zusammensein mit Dominik machte ihr soviel Spaß, dass<br />

sie ganz gegen ihre Absicht, selbst noch einmal schwanger wurde. Das hat sie so überrascht,<br />

dass sie ihre Schwangerschaft erst bemerkte, als sie schon im fünften Monat war.<br />

Das eigene Kind stellte uns auf die gleiche Stufe mit den vielen jungen Familien um uns herum.<br />

Wir konnten nun auch einen Kinderwagen durch die Siedlung schieben und auf den Bänken<br />

neben dem Spielplatz sitzen, während die Kinder auf den Spielgeräten herumturnten. Das<br />

gab völlig neue Kontaktmöglichkeiten. Mit Siegfried Essen und seiner Frau, die auch ein<br />

kleines Kind hatten, gründeten wir eine Kochgemeinschaft. Von Tag zu Tag wechselnd koch-<br />

78


ten und spülten wir füreinander - eine große Erleichterung für vielbeschäftigte Eltern. Man<br />

konnte sich einfach an den gedeckten Tisch setzen, bekam etwas Leckeres vorgesetzt (wer<br />

wollte sich schon vor den anderen blamieren?), erhielt nach dem Essen noch eine Tasse Kaffee<br />

und konnte sich gleich darauf wieder an die Arbeit machen – jedenfalls an jedem zweiten<br />

Tag.<br />

Dominik entwickelte sich prächtig. Als eins der ersten Kinder kam er in den Genuss des „Prager-Eltern-Kind-Programmes“<br />

(PEKiP), das gerade von der Essener Familienbildungsstätte<br />

aufgegriffen wurde und für <strong>Erika</strong> zum Lebensinhalt werden sollte. Unermüdlich hangelte sich<br />

dieses quicklebendige Kind am Klettergerüst herum und es dauert viele Jahre <strong>bis</strong> wir auch die<br />

Schattenseiten dieser Quirligkeit kennen lernten. Zunächst freuten wir uns riesig, so ein lebendiges,<br />

Kind zu haben.<br />

3.6 Man lernt nie aus<br />

Dass ich mit meinem Kenntnissen und Fertigkeiten aus Studium und Predigerseminar in meiner<br />

Arbeit nicht weit kommen würde, war schon bald klar. Ich musste noch viel hinzu lernen<br />

und oft auch improvisieren. Für den Gemeindeaufbau in einem Neubaugebiet gab es kein<br />

Lehrbuch, es war ja alles noch in der Entwicklung begriffen. Wichtig war deshalb der Austausch<br />

mit Kollegen in vergleichbarer Lage. Das waren die ersten Pfarrerfortbildungen, die<br />

ich besuchte.<br />

Von 1970 <strong>bis</strong> 1972 machte ich eine Langzeitfortbildung in Seelsorge. Es gab damals unter<br />

jungen Pfarrern die Tendenz, die Kirche wieder zu verlassen und in einen Beratungsberuf zu<br />

gehen. Dort konnte man sein Ziel, anderen zu helfen, mit effektiveren Mittel – z.B. mit Hilfe<br />

der Psychotherapie - verfolgen, ohne sich um verstaubte kirchliche Strukturen kümmern zu<br />

müssen. Eine solche Fluchtbewegung konnte der Kirche, die ihre Pfarrer dringend selber<br />

brauchte, nicht recht sein. Also entwickelte man eine „Fortbildung in seelsorgerlicher Praxis“<br />

(FSP) um die Pfarrer in der Kirche zu halten. FSP war an die Ausbildung der Ehe- und Lebensberater<br />

angelehnt. Ein Jahr Selbsterfahrungsgruppe, ein Jahr Balintgruppe, dazu eine<br />

Reihe von Kurswochen im Zentralinstitut in Berlin. Ich hatte Glück, wurde angenommen und<br />

fuhr nun zwei Jahre lang etwa alle drei Wochen jeweils für einen halben Tag zur Ausbildungsgruppe<br />

bei Frauke Krukenberg und Siegfried Keil nach Düsseldorf.<br />

Anfangs tat ich mich mit dieser Gruppenarbeit schwer. Von mir selbst, meinen Erfahrungen<br />

und Empfindungen zu reden, war recht ungewohnt. Zu Hause war mir beigebracht worden,<br />

was „man“ tut oder nicht tut. Sich selbst in der Vordergrund zu stellen, galt als ungehörig. So<br />

etwas machten nur Angeber. Ein gebildeter Mensch handelte nach dem Motto: Mehr sein als<br />

scheinen. Aber nun kam aus Amerika die Welle der Gruppendynamik und der Selbsterfahrung<br />

herüber. Jetzt musste „man“ von sich selbst sprechen, um nicht als Außenseiter zu gelten.<br />

Hinzu kam die antiautoritäre Bewegung: Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung war<br />

die Devise. Begeistert lasen wir vom „Kinderladen rote Freiheit“ und die Schriften von A.S.-<br />

Neill (Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung) standen in jedem Bücherregal.<br />

Manches wurde damals übertrieben und ließ sich leicht im Witz verulken (Fragt ein Kind im<br />

Kinderladen: „Müssen wir heute wieder machen, was wir wollen?“). Im Kern war es aber<br />

eine längst fällige Abkehr von einer Erziehung, die einseitig auf Anpassung und Gehorsam<br />

ausgerichtet war, hin zum ernst nehmen der Kinder und ihrer Interessen. Es war auch nicht<br />

zufällig, dass diese Bewegung gerade aus den USA zu uns kam. Die fortschrittlichen Sozial-<br />

79


wissenschaften waren (genau wie die moderne Kunst) vor Hitlerdeutschland in die USA geflüchtet<br />

und kehrten jetzt aus dem Exil zurück.<br />

Ich habe in jener Zeit einiges an „Lehrgeld“ zahlen müssen. Einmal machte ich mit Konfirmanden<br />

eine sogenannte Vertrauensübung. Ein Konfirmand sollte mit geschlossenen Augen<br />

möglichst schnell auf die gegenüberliegende Wand zugehen. Dort stand ein anderer Konfirmand<br />

um ihn, bevor er die Wand berührte, sanft aufzufangen. Der Junge läuft los - sein Kumpel<br />

lässt ihn voll gegen die Wand knallen. Die beiden hatten, was ich nicht wusste, von früher<br />

her noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Ich weiß nicht mehr ob die blutige Nase noch<br />

ein Nachspiel im Presbyterium hatte, denkbar wäre es schon: Pfarrer missbraucht Konfirmanden<br />

als Versuchskaninchen! Unchristliches Experiment nimmt blutiges Ende!!<br />

Nach Abschluss der FSP-Fortbildung wollte ich in diese Richtung weiterlernen und stieß dabei<br />

auf die „Themenzentrierte Interaktion“ (TZI). Das ist eine gruppenpädagogische Methode,<br />

bei der die Interessen des Einzelnen, die Beziehungen in der Gruppe und das jeweilige<br />

Thema (zB der Inhalt und das Lernziel einer Unterrichtsstunde) gleich wichtig genommen<br />

werden. Begründet wurde diese Methodik von Ruth Cohn, einer Psychoanalytikerin. Sie hatte<br />

in therapeutischen Gruppen beobachtet, dass die Beachtung aller drei Faktoren einen lebendigen<br />

Gruppenprozess in Gang setzt und übertrug dies auf andere Gruppen. Im Laufe der Jahre<br />

wurde die Methodik immer weiter verfeinert. Heute ist die TZI ein Standardverfahren, das<br />

überall da angezeigt ist, wo in Gruppen gearbeitet wird (Schule, soziale Gruppenarbeit, therapeutische<br />

Gruppen, Organisationsentwicklung und vieles mehr).<br />

Die TZI-Ausbildung ist als mehrjährige, berufsbegleitende Fortbildung - mehr als 700 Stunden<br />

- angelegt. Es gibt Pflicht- und Wahlkurse und man muss ein Jahr lang mit anderen Ausbildungskandidaten<br />

an einer lokalen sog. Peer-Gruppe teilnehmen. Es gibt internationale<br />

Kontakte, eine Zeitschrift, Tagungen, Kongresse u.s.w. – genau wie bei anderen Gruppen-<br />

oder Therapieverfahren. Damals steckte die Organisation noch in den Kinderschuhen. In<br />

Nordrhein-Westfalen gab es aber schon ein „Nest“ von TZI-Leuten. 1976 haben wir dann unseren<br />

„W.I.L.L. im Rheinland e.V.“ gegründet (W.I.L.L. steht für „Werkstatt-Institut für Lebendiges<br />

Lernen“). Ich gehöre zu den Gründungsmitgliedern und habe lange die Organisationskommission<br />

geleitet. Die Themenzentrierte Interaktion zieht sich von da an wie der bekannte<br />

rote Faden durch mein Leben.<br />

3.7 Auf der Suche nach einer neuen Aufgabe<br />

Als es im Presbyterium wieder einmal hoch herging, kam mein Vorgesetzter, der Superintendent,<br />

um zu vermitteln. Hinterher nahm er mich beiseite und fragte, ob ich mir das denn noch<br />

weiter antun wolle. Es gäbe ja auch noch andere Gemeinden. Den Hinweis auf einen möglichen<br />

Stellenwechsel habe ich damals strickt zurückgewiesen. Mittendrin die Sachen hinzuwerfen<br />

kam überhaupt nicht in Frage. Das hätte mir zu sehr nach Kneifen ausgesehen. Wenn<br />

ich gehen würde, dann erst wenn im Bergmannsfeld alles einigermaßen fertig ist und ich meinem<br />

Nachfolger eine vorzeigbare Gemeindearbeit übergeben kann. So habe ich es dann auch<br />

gehalten.<br />

Die Frage war, ob ich mich nach einer Stelle in einer anderen Kirchengemeinde oder nach einer<br />

ganz anderen Aufgabe umschauen sollte. Pfarrstellen gab es ja nicht nur in Gemeinden,<br />

sondern auch im Krankenhaus, in der Schule, im Gefängnis und bei zahlreichen anderen sog.-<br />

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Sonderaufgaben. Auch hatte ich mich durch meine Fortbildungen auf Beratung und Gruppenarbeit<br />

spezialisiert und stand dem üblichen „all in one“- Pfarramt ohnehin skeptisch gegenüber.<br />

Hinzu kam, dass meine Mutter immer älter wurde und die Fahrt nach Helmlingen stets<br />

eine kleine Weltreise war. Sollten wir vielleicht doch weiter nach Süden gehen?<br />

Übrigens hatte sich die Beziehung zu meiner Mutter seit wir ein eigenes Kind hatten, deutlich<br />

verbessert. Diese Beobachtung habe ich auch in anderen Familien gemacht: Wenn die alten<br />

Eltern sich in der Großelternrolle einrichten, tritt ihre Eltern-Rolle in den Hintergrund. Das<br />

macht es für die erwachsenen Kinder leichter.<br />

Leider ist meine Mutter 1975 nach kurzer Krankheit gestorben. 72 Jahre ist sie alt geworden.<br />

Ich hatte sie noch kurz vorher im Krankenhaus besucht. Nichts deutete auf ein nahes Ende<br />

hin. Nach ihrem Tod fand man unter dem Bett alle die Medikamente, die sie hätte nehmen<br />

sollen. Sie hatte nicht mehr gewollt und eine solche Entscheidung gegen ein möglicherweise<br />

langes Siechtum muss man respektieren. Auf dem Friedhof in ihrem Heimatdorf Helmlingen<br />

haben wir sie beerdigt. Die Asche meines Vaters kam in das gleiche Grab.<br />

Ich bin damals viel herumgereist und habe die unterschiedlichsten Bewerbungssituationen<br />

kennen gelernt. Manchmal wussten sie schon, dass sie einen anderen nehmen würden, und<br />

machten nur eine pro-forma-Ausschreibung. Da wurde bereits bei den Fahrtkosten zum Vorstellungsgespräch<br />

geknausert. Manchmal war die Wohnung zu mickrig (wir wollten noch ein<br />

zweites Kind) oder sie musste erst noch gebaut werden. Einmal wurde ich gleich zu Beginn<br />

des Gespräches gefragt, ob meine Ehe in Ordnung ist. Die Gemeinde hatte schon drei Pfarrer<br />

durch Scheidung verloren. Scheidung war (und ist) für Pfarrer ein heikles Thema. Solange<br />

sich niemand beschwerte, konnte man - vielleicht - seine Stelle behalten. Gab es Ärger oder<br />

der Scheidungsgrund wohnte gar in der gleichen Gemeinde, hieß das meist: anderswo neu anfangen.<br />

Im Blick auf eine drohende Scheidung konnte ich mein Gegenüber beruhigen – sie<br />

haben sich trotzdem für einen anderen Kandidaten entschieden (und sind hoffentlich nicht<br />

zum vierten Mal enttäuscht worden).<br />

Natürlich waren meine Chancen eine neue Stelle zu finden schon deswegen gering, weil mir<br />

kein guter Ruf vorausging. Wenn ein Pfarrer sich um eine neue Stelle bewirbt, hört man sich<br />

beim Presbyterium seiner <strong>bis</strong>herigen Gemeinde um. Heißt es dort „Mit dem hatten wir<br />

Ärger“, stehen die Chancen von vorneherein schlecht.<br />

Ein besonderes Erlebnis hatte ich nach einem Vorstellungsgespräch in Koblenz. Bei mir in<br />

Essen erschienen zwei unauffällig gekleidete Herren und wollten wissen, warum ich in Koblenz<br />

einige Fotos gemacht habe. Das hatte ich getan, um <strong>Erika</strong>, die zu Hause geblieben war,<br />

ihre mögliche neue Heimat zeigen zu können. Die Herren waren vom Geheimdienst und auf<br />

meine Frage, warum denn wegen ein paar ganz normalen Fotos so ein Aufwand getrieben<br />

würde, reagierten sie erstaunt: „Aber wir machen doch den ganzen Tag nichts anderes!“<br />

Meine Suche nach einer neuen Stelle zog sich in die Länge. Da ich im Presbyterium angekündigt<br />

hatte, dass ich mich nach etwas anderem umschaue, musste nun bald etwas geschehen.<br />

Gerade hatte ich mich in Hochdahl, einer Trabantenstadt von Düsseldorf, beworben, da<br />

tauchte unvermutet eine ganz neue Lösung auf: In Koblenz suchten sie einen Schulpfarrer<br />

und erinnerten sich an meine vergebliche Bewerbung um eine Gemeindestelle. Sollte ich<br />

noch einmal zur Schule gehen? Warum eigentlich nicht. Unterricht ist schließlich auch eine<br />

Form von Gruppenarbeit und bei den TZI-Leuten gab es, neben den Beratern und Therapeu-<br />

81


ten, eine starke Abteilung von Lehrern. Beim Bewerbungsgespräch stelle sich dann heraus,<br />

dass es nur um ein halbe Stelle in der Schule ging, die zweite Hälfte war eine Studentenpfarrstelle.<br />

Das versprach eine interessante Kombination zu werden und ich sagte zu.<br />

Nach den Sommerferien 1976 konnte ich in Koblenz anfangen. Wir mussten Abschied nehmen<br />

von den Menschen im Bergmannsfeld, von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, von<br />

den Plattenbauten und der Notunterkunft, von unserer Kinderfrau, von der Familienbildungsstätte<br />

und allem anderen, was uns im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen war. Viele Bergmannsfelder,<br />

mit denen ich zunächst nur beruflich zu tun hatte, waren im Laufe der Zeit zu<br />

Freunden geworden. Kein leichter Abschied, aber es war an der Zeit. Zum Abschluss feierten<br />

wir in unserem neu gebauten Bürgerhaus noch ein großen Fest, dann stand der Möbelwagen<br />

vor der Tür.<br />

3.8 Sieben Jahre Bergmannsfeld – eine Bilanz<br />

In den knapp sieben Jahren, die ich im Bergmannsfeld verbrachte, hatte sich dort vieles verändert.<br />

Zwar brauchten die Bäume noch Zeit zum Wachsen, aber die Siedlung war fertiggestellt.<br />

Es kamen keine neuen Häuser mehr hinzu. Mittendrin gab es ein Ladenzentrum und<br />

eine Gaststätte, es gab Schulen, einen großen Bauspielplatz und mehrere Kindergärten. Direkt<br />

neben der Siedlung waren Tennisplätze und ein Schwimmzentrum entstanden und im Bergmannsbusch<br />

war das erste Bürgerhaus Nordrhein-Westfalens gebaut worden. Für das Bürgerhaus<br />

hatten wir einen Förderverein gegründet und ich war herumgefahren, um mir vergleichbare<br />

Einrichtungen, zB in Nürnberg-Langwasser, anzuschauen. Der Architekt erwies sich als<br />

sehr kooperativ, viele Wünsche von uns künftigen Benutzern hat er berücksichtigt.<br />

Der erste Bauabschnitt unseres Gemeindezentrums, ein Kindergarten mit Ganztagsgruppe<br />

war bereits fertig. Er war aus einer Elterninitiative hervorgegangen und die Eltern wurden,<br />

was damals noch ungewohnt war, kräftig in den Betrieb einbezogen. Die gesamten Außenanlagen<br />

hatten sie in Arbeitseinsätzen selbst gestaltet. Der zweite Bauabschnitt - Gemeindesaal,<br />

Gruppenräume, Wohnungen - war fertig geplant, bald sollte mit dem Bau begonnen werden.<br />

Drüben in Horst war inzwischen ein weiteres Neubaugebiet im Bau: Das Hörster Feld. Man<br />

hatte aus den Erfahrungen des Bergmannsfeldes gelernt und setzte zwischen Wohnblocks<br />

Einfamilienhäuser. Das versprach eine größere soziale Spannweite der künftigen Bewohner.<br />

Ein eigenes Gemeindezentrum war geplant, eine neue Pfarrstelle bewilligt. Die Gemeinde<br />

musste sich zum zweiten Mal auf einen Umstellungsprozess einlassen und man konnte nur<br />

hoffen, dass dabei die Erfahrungen aus dem Bergmannsfeld berücksichtigt würden.<br />

Das Gemeindeleben im Bergmannsfeld hatte sich aus bescheidenen Anfängen zu einem umfangreichen<br />

Angebot entwickelt. Neben dem Gemeindeaufbaukreis und den Kontaktleuten<br />

gab es einen Miniclub für 3 <strong>bis</strong> 4-Jährige, eine Kinderbetreuung („Mutter hat frei“), es gab<br />

den „Kinderparkplatz“ (für Kinder, die im Kindergarten nicht unterkamen), eine Jungschar,<br />

zwei Flötengruppen, einen Jugendclub, die Schularbeitenhilfe, einen Ökumenischen Gesprächskreis,<br />

das Brücken-Cafe, den Seniorenclub, das „Brot für die Welt-Essen“, dazu in unregelmäßigen<br />

Abständen: Kinderkleidertausch, Gesprächsgottesdienste, Stadtranderholung,<br />

Agape-Feiern und Besinnungswochenenden. Jetzt fehlte nur noch, dass alle diese Aktivitäten<br />

ein „Dach über dem Kopf“ bekamen. Unser provisorisches Zentrum, die Brücke, platzte aus<br />

allen Nähten.<br />

82


Für mich war die Zeit im Bergmannsfeld eine sehr gefüllte Zeit. In der Gemeinde gab es von<br />

früh <strong>bis</strong> spät genug zu tun. So nebenbei habe ich auch noch zwei Vikare ausgebildet, am Predigerseminar<br />

Gesprächsgruppen geleitet, mich um die Öffentlichkeitsarbeit des Kirchenkreises<br />

gekümmert und viel Zeit in Fortbildungen investiert. Wie viele andere Berufsanfänger<br />

identifizierte ich mich voll mit meinem Beruf und fand daneben allenfalls noch Zeit für die<br />

Familie. Ich gönnte mir keinen Ausgleich, trieb keinen Sport und hatte auch sonst keine Hobbys.<br />

So eine Lebensweise endet leicht im „burn out“. Einmal schickte mich der Arzt zur Kur,<br />

aber das bringt auch nicht viel, wenn man hinterher genauso weiterlebt wie vorher.<br />

Der Gegenwind, der mir aus Richtung Presbyterium ins Gesicht blies, zwang zur Profilierung,<br />

oft auch zum Widerspruch. Vielleicht wäre der Gemeinde mit einem älteren, erfahreneren<br />

und auf Ausgleich bedachten Pfarrer besser gedient gewesen. So aber hatten sie einen<br />

jungen, der Auseinandersetzungen eher suchte als vermied. Schade war, dass damals für Gemeinden<br />

in Umbruchsituationen noch keine Beratungsmöglichkeiten zur Verfügung standen.<br />

Heute ließe sich ein solcher Prozess mit Gemeindeberatung und Supervision hilfreich begleiten.<br />

Ich bin später viele Jahre lang als Supervisor tätig gewesen und habe dabei manche Gemeindesituation<br />

kennen gelernt, die mich ans Bergmannsfeld erinnerte. Kirche ist eben doch<br />

ein sehr menschliches Unternehmen und oft weit entfernt von dem, was am Sonntag in idealisierender<br />

Weise gepredigt wird.<br />

Man wird unsere Auseinandersetzungen sicher auch im Rahmen größerer Zusammenhänge<br />

sehen müssen. In der Jahren nach 1968 geriet in Deutschland manches ins Wanken, was <strong>bis</strong><br />

dahin als unumstößlich gegolten hatte. Ein Generationswechsel stand an. In Berlin und anderen<br />

Städten liefen die Studenten „Ho-Ho-HoChi-Minh“ skandierend durch die Straßen. Fensterscheiben<br />

wurden eingeworfen und Autos in Brand gesteckt. Es war ein pubertäres Aufbegehren<br />

gegen das sogenannte Establishment. Unser „Establishment“ waren die alteingesessenen<br />

Mitglieder des Presbyteriums und während man anderswo das Informationsmonopol der<br />

Springerpresse bekämpfte, wehrten wir uns gegen die Bevormundung aus dem ersten Gemeindebezirk.<br />

Heute erinnert im Bergmannsfeld nur noch wenig an die Anfangszeiten. Die damals neu gepflanzten<br />

Bäume sind groß geworden und verdecken mit ihrem Grün die Plattenbauten. Viele<br />

meiner damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind weggezogen, einige sind bereits gestorben.<br />

Nach einer Phase des Niederganges, in der die Siedlung zum Slum zu werden drohte,<br />

ist in den letzten Jahren wieder neu investiert worden. Neue Haustüren, anstelle der alten mit<br />

ihrer abgeblätterten Farbe, neue Briefkästen, anstelle der alten aufgebogenen - das Bergmannsfeld<br />

sieht wieder etwas schmucker aus. Mein Sorgenkind, die Notunterkunft, ist sogar<br />

teilweise abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden.<br />

Mitten im Bergmannsfeld steht das evangelische Gemeindezentrum, das ich seinerzeit mitgeplant<br />

habe. Es ist nach wie vor von Leben erfüllt und bietet zahlreichen Gruppen und Kreisen<br />

ein Zuhause. Unser damaliger Versuch, eine lebendige Gemeinde zu schaffen, die in ihrem<br />

Umfeld wirksam wird, hat positive Auswirkungen <strong>bis</strong> heute.<br />

Mein direkter Amtsnachfolger hat recht deutlich eine spirituelle Komponente ins Gemeindeleben<br />

eingebracht. Diese Seite hatte ich vernachlässigt. Ich war nun einmal kein „frommer“<br />

Pfarrer, sondern eher ein Gemeindeorganisator. Sogar einen kleinen Kirchturm hat er an das<br />

Zentrum anbauen lassen - eine Idee, auf die ich nie gekommen wäre.<br />

83


An diesem Teil der Gemeindegeschichte war ich nicht mehr beteiligt. Ins Bergmannsfeld kam<br />

ich immer seltener und wenn, dann nur zu privaten Besuchen. Mit meinen Nachfolgern gab<br />

es keinerlei Kontakte. Erst im Jahr 2004 wurde ich wieder offiziell eingeladen. Man feierte<br />

das 25-jährige Bestehen des Gemeindezentrums. Bei diesem Fest traf ich auch einige der „alten<br />

Kämpfer“ und es ging uns wie Soldaten beim Veteranentreffen mit dem früheren Gegner.<br />

Es ist alles lange her, man ist älter geworden, das stimmt einen milder!<br />

2005 war dann eine Ausstellung meiner Cartoons im Gemeindezentrum – ein versöhnliches<br />

Ende einer langen Geschichte, mit Verletzungen auf beiden Seiten, die nun endlich in Frieden<br />

ruhen sollen.<br />

84


Zehn bunte Jahre<br />

an Rhein und Mosel<br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> 1976 <strong>bis</strong> 1986<br />

85


4.1 Koblenz - Stadt an Rhein und Mosel<br />

In Koblenz, unserer neuen Heimat, war vieles anders, als wir es vom Ruhrgebiet her gewohnt<br />

waren. Die Stadt war deutlich kleiner als Essen, hatte aber mit dem Schloss, mit den Alleen<br />

und Straßencafes einen gewissen "französischen" Charme. Das kam nicht von ungefähr, mit<br />

Franzosen hatten die Koblenzer schon oft zu tun gehabt. Wer in Koblenz geboren ist, darf<br />

sich “Schängel” nennen. Das kommt von Jean und geht auf französische Flüchtlinge aus der<br />

Zeit der Hugenottenkriege zurück. Unter Napoleon war Koblenz Hauptstadt eines französischen<br />

Departements - auch davon ist einiges hängen geblieben. Und schließlich: Koblenz<br />

wurde bei Kriegsende von den Franzosen besetzt und pflegt <strong>bis</strong> heute zahlreiche Partnerschaften<br />

über die Grenze hinweg in Richtung Westen. Als Dominik in die Schule kam, lernte<br />

er vom ersten Tag an Französisch und bald darauf fuhr er zum ersten Schüleraustausch in unsere<br />

Partnerstadt Nevers.<br />

Auch das Wetter war in Koblenz anders, sonniger und gleichbleibender. Die für das Ruhrgebiet<br />

so typische "graue Soße", die von Oktober <strong>bis</strong> April anhaltende Verwandlung der Sonne<br />

in eine mehr oder weniger helle Scheibe hinter grauen Wolkenschleiern, die gab es hier nicht.<br />

Viele Gebäude in Koblenz stammen noch aus dem Mittelalter. Während sich im Ruhrgebiet<br />

jede gotische oder romanische Kirche bei genauerem Hinsehen als neugotisch oder neuromanisch<br />

entpuppt, also aus dem 19. Jahrhundert stammt, ist in Koblenz (fast) alles "echt". Dafür<br />

ist aber auch so mancher Hinterhof schmuddelig, manches Gebäude renovierungsbedürftig.<br />

Diese Mischung von schön, alt und leicht verwahrlost trifft man überall an Rhein und Mosel,<br />

meist ergänzt durch moderne Verwaltungs- oder Sparkassengebäude, die in die Landschaft<br />

passen “wie die Faust aufs Auge”.<br />

Koblenz ist eine Beamtenstadt, richtige Arbeiter gibt es dort kaum, Kumpel schon gar nicht.<br />

Der alles bestimmende Faktor war zu jener Zeit, also vor dem Schrumpfen der Bundeswehr,<br />

das Militär. In Koblenz befand sich die größte Garnison der Bundesrepublik. Außerdem beherbergte<br />

die Stadt noch ein gutes Dutzend weiterer wichtiger militärischer Einrichtungen,<br />

angefangen vom Bundeswehr-Zentralkrankenhaus über die Schule für Innere Führung und<br />

das für die Militärmedizin zuständige Rodenwald-Institut <strong>bis</strong> hin zum Militärhistorischen<br />

Museum. Selbst die Hundestaffel der Bundeswehr war in Koblenz zu Hause. Hinzu kam noch<br />

das Beschaffungsamt, in dem viele tausend Menschen damit beschäftigt sind, alles was der<br />

Soldat in Kriegs- und Friedenszeiten braucht, vom automatischen Schnellfeuergewehr <strong>bis</strong><br />

zum Zahnstocher, auszuwählen und anzuschaffen.<br />

Hoch über der Stadt, gegenüber dem Zusammenfluss von Rhein und Mosel, thront die Festung<br />

Ehrenbreitstein, Europas zweitgrößtes Festungsbauwerk (nach Gibraltar). Jahrhundertelang<br />

hat man die Festung umgebaut und erweitert. Als sie endlich fertig wurde, war sie auch<br />

schon überholt. Der Feind ließ sich nicht mehr durch Festungen aufhalten, die Flugzeuge flogen<br />

einfach darüber hinweg. Ein lehrreiches Beispiel dafür, wohin Rüstung führen kann.<br />

Auch sonst steht in Koblenz noch manches alte Militärbauwerk herum und oft auch der<br />

Stadtplanung im Wege.<br />

Obwohl wir nicht mehr in Kaiser Wilhelms Zeiten lebten, war das Militär immer noch so eine<br />

Art "Staat im Staate", eine für Zivilisten nur sehr begrenzt zugängliche Eigenwelt. Das habe<br />

ich in Koblenz oft erfahren, am unangenehmsten bei folgendem Erlebnis: Ich ging mit Chris-<br />

86


tine, einer Freundin, nachts oberhalb von Metternich spazieren. Dort gibt es einen Reiterhof.<br />

Offenbar hatte sich ein benachbarter Bauer darüber geärgert, dass die Reiter durch seine<br />

Streuobstwiesen galoppierten. Um ihnen das zu verleiden, hatte er zwischen die Stämme der<br />

Bäume Stacheldraht gespannt. Damit hatte ich bei unserem Spaziergang natürlich nicht gerechnet.<br />

Es war stockdunkel und ich rammte mir den Stacheldraht genau unters linke Auge.<br />

Die Sache sah gar nicht gut aus. Christine lud mich in ihr Auto und fuhr mich zum nahegelegenen<br />

Bundeswehrkrankenhaus. Die erste Frage dort war: "Sind sie Zivilist?" Das war ich<br />

nicht und da allenfalls eine Gefahr für mein Auge, nicht aber für mein Leben bestand, mussten<br />

wir zum Städtischen Krankenhaus weiterfahren.<br />

Landschaftlich gesehen liegt Koblenz in einer reizvollen Umgebung. In welche Richtung<br />

man auch wandert, es gibt immer wieder Neues zu entdecken: das Rheintal und das Moseltal<br />

mit seinen Weindörfern, die Eifel mit dem Laacher See, Burg Eltz und den diversen Maaren.<br />

Das Kannebäcker-Land und das Lahntal, der Taunus und der Hunsrück liegen ebenfalls vor<br />

der Haustür. Überall gibt es Schlösser, Burgen, schnuckelige Dörfer und große Wälder. Wir<br />

waren begeistert und wussten sofort: fünf Jahre wird es mindestens dauern, <strong>bis</strong> wir unsere<br />

neue Umgebung wenigstens einigermaßen kennen.<br />

Kirchlich gesehen gehört Koblenz noch zur Rheinischen Kirche. Eine Zeit lang war dort sogar<br />

der Sitz der Rheinischen Kirchenleitung, die sich heute in Düsseldorf befindet. Das war<br />

gar nicht so verkehrt, denn die Rheinische Kirche erstreckt sich noch weit nach Süden und<br />

Südwesten, <strong>bis</strong> ins Saarland. Koblenz liegt fast genau in der Mitte. Politisch gesehen befindet<br />

man sich nicht mehr in Nordrhein-Westfalen sondern in Rheinland Pfalz und vieles ist hier<br />

anders geregelt z.B. das Schulwesen und die Erwachsenenbildung. In diesen für meine Arbeit<br />

wichtigen Bereichen musste ich umlernen und mich an neue Spielregeln gewöhnen.<br />

4.2 Wohnen auf der Karthause<br />

Eine Wohnung fanden wir oben auf der Karthause, im Zwickel zwischen Rhein und Mosel.<br />

Aus der Innenstadt führt die Hunsrückhöhenstraße auf eine Hochfläche, auf der früher ein<br />

Karthäuserkloster stand - daher der Name “Karthause” - und dann hinauf in Richtung Emmelshausen<br />

und weiter <strong>bis</strong> zum fernen Hermeskeil. Hier oben auf der Karthause hatte man<br />

nach dem Krieg Reihenhäuser für Beamte errichtet. In so einem Reihenhaus sollten wir nun<br />

für die nächsten zehn Jahre wohnen. Es war ein kleines Haus mit dem üblichen, handtuchförmigen<br />

Garten dahinter und dem Blick auf die nächste Reihenhauszeile. Nichts Besonderes,<br />

aber gemessen an den Essener Plattenbauten und unseren vier Zimmern dort, erschien es uns<br />

wie der reinste Luxus. Endlich Platz, Platz, Platz! Sogar eine eigene Garage besaßen wir<br />

jetzt. Dominik konnte im Garten herumbuddeln und Straßen für seine Matchbox-Autos bauen.<br />

Wundervoll - warum waren wir nicht schon eher in so eine Gegend gezogen?<br />

Noch etwas war anders als in Essen. Dort war immer etwas los, auch nachts. Polizei und Feuerwehr,<br />

lärmende Jugendliche und Betrunkene sorgten für Unruhe. Hier dagegen ließen die<br />

Menschen bei Anbruch der Dunkelheit die Rollläden herunter, eine Weile sah man durch die<br />

Ritzen noch bläuliches Fernsehgeflimmere, dann trat eine himmlische Ruhe ein. Nur das Tuckern<br />

der Schiffe und die Geräusche der Züge hörte man nachts auf der Karthause überdeutlich,<br />

weil das Rheintal wie ein Schalltrichter wirkt.<br />

87


In dieser paradiesischen Gegend sollte ich nun als Pfarrer tätig sein, genau genommen als<br />

zwei halbe Pfarrer, denn ich war Inhaber von zwei halben Stellen, die nichts miteinander zu<br />

tun hatten. Mit einer halben Stelle war ich Schulpfarrer am “Gymnasium auf der Karthause”<br />

mit der zweiten halben Stelle Studentenpfarrer für die Studierenden der beiden Koblenzer<br />

Hochschulen, der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule (heute Universität) und der<br />

Fachhochschule.<br />

4.3 Ein Pfarrer geht zur Schule<br />

Als "Schulpfarrer" war ich eine Art Leiharbeiter. Weil es nicht genug Religionslehrer gab,<br />

lieh sich der Staat von der Kirche Pfarrer aus und setzte sie als Religionslehrer ein. Die Kirche<br />

zahlte weiter das Pfarrersgehalt, das Lehrergehalt ging an das Landeskirchenamt. Mehr<br />

oder weniger verband sich auf kirchlicher Seite mit dieser Konstruktion auch die Vorstellung<br />

einer "Schulgemeinde", für welche der Schulpfarrer als Seelsorger zuständig ist und für deren<br />

“geistliches Leben" - insbesondere die Schulgottesdienste - er sorgen soll. Für einen Teil der<br />

Lehrerschaft war dies allerdings eine unerträgliche Vorstellung. Sie wollten beides getrennt<br />

halten, hier die staatliche Schule, dort die Kirche mit ihren religiösen Angeboten. Insofern<br />

wurden Schulpfarrer von ihren Lehrerkollegen immer kritisch beäugt, ob sie nicht zu stark<br />

kirchliche Interessen in die Schule einbringen.<br />

Ein Grundproblem steckt natürlich schon in der Frage, was der Religionsunterricht in der<br />

Schule zu suchen hat. Entweder gehört er zum Bildungsauftrag der Schule, weil Religion<br />

zum Leben gehört und die Schule “fit for live” machen will. Dann müsste er von schulischen<br />

Kräften erteilt und wie jedes andere Fach behandelt werden. Oder er gehört zum Bildungsauftrag<br />

der Kirche, dann sollte sie ihn in eigenen Räumen mit eigenen Lehrkräften erteilen.<br />

Beide Konzepte sind bei uns gemischt. Der Religionsunterricht ist einerseits normales Schulfach<br />

mit versetzungsrelevanten Noten, andrerseits ein Bekenntnisfach von dem man sich aus<br />

Gewissensgründen abmelden kann. Für abgemeldete Schüler gab es in Rheinland Pfalz eine<br />

gute Lösung. Anders als in anderen Bundesländern bekamen sie nicht frei, sondern mussten<br />

zum Ethikunterricht. Den ungeliebten "Eckstunden" konnte man also nicht durch Abmelden<br />

entgehen. Wer Pech hatte, fand sich sogar beim gleichen Lehrer und manchmal sogar beim<br />

selben Thema wieder, denn manche Lehrer erteilten Religion und Ethik. In Religion behandelten<br />

sie die zehn Gebote, in Ethik "Rechtsordnungen der Menschheit - die zehn Gebote".<br />

Meine Schule, das “Gymnasium auf der Karthause" war ein schlichter, funktionaler Neubau<br />

mit viel Sichtbeton. Die hellgrauen Wandflächen luden zum Sprayen ein. “Ihr wollt unser<br />

Bestes, aber ihr bekommt es nicht!" war lange Zeit an der Schulfassade zu lesen. Die Schule<br />

war notwendig geworden, weil durch die rege Bautätigkeit auf der Karthause immer mehr<br />

junge Familien dorthin zogen, für deren Sprösslinge die alten Traditionsgymnasien in der Innenstadt<br />

zu weit abgelegen waren.<br />

Wenn so eine Schule neu aufmacht, braucht sie auch Schüler aus älteren Jahrgängen, also<br />

mussten die anderen Gymnasien Schüler abgeben. Das waren natürlich nicht die fleißigen<br />

und begabten, sondern eher die Problemfälle. Folglich hatten wir auf der Karthause eine bunte<br />

Mischung. Unser Gymnasium war zudem sehr groß, eins der größten in Rheinland-Pfalz.<br />

1800 Schüler und über 100 Lehrkräfte wuselten in den verschiedenen Gebäudeteilen herum.<br />

Da konnte man leicht den Überblick verlieren. Schulbetrieb erwies sich unter diesen Voraus-<br />

88


setzungen vor allem als organisatorische Aufgabe. Wenn morgens am Ende der ersten Stunde<br />

endlich in jedem Klassenraum ein Lehrer eingetroffen war, rieb man sich in den Direktionsräumen<br />

zufrieden die Hände: der Tag war gelaufen! Ich kann mich nicht erinnern, dass in den<br />

Konferenzen jemals eine pädagogische Frage erörtert worden wäre. Es ging immer nur um<br />

Organisatorisches, jedenfalls in den Gesamtkonferenzen. In den Fachkonferenzen sah es<br />

schon anders aus. Für den einzelnen Lehrer hatte das einen großen Vorteil: War die Klassenzimmertüre<br />

zu, konnte man seinen Unterricht gestalten wie man wollte, ohne das sich jemand<br />

dafür interessierte.<br />

Bezeichnend für die Rolle der Pädagogik an unserer Schule ist auch die folgende Episode: In<br />

Rheinland-Pfalz wird die gymnasiale Oberstufe hochtrabend "Mainzer Studienstufe" genannt.<br />

In den letzten drei Jahren des Gymnasiums soll schon ein universitärer Studienbetrieb stattfinden.<br />

Die Schüler können Kurse auswählen und die Größe der Lerngruppen ist begrenzt.<br />

Bei mir hatten sich ein paar Schüler zu viel angemeldet. Ich ging zum Oberstufendirektor und<br />

wollte dass der Kurs, wie vorgeschrieben, geteilt wird. Das lehnte er mit folgender Begründung<br />

ab: “Sie haben es doch selbst in der Hand, ihren Unterricht so zu gestalten, dass nicht so<br />

viele Schüler daran teilnehmen wollen."<br />

In der ganzen Schule gab es keinen einzigen Raum, in den alle Schüler und Schüler hineingepasst<br />

hätten. Vollversammlungen fanden auf dem Hof statt und wer etwas sagen wollte,<br />

musste ein Megaphon benutzen. Auch in das Lehrerzimmer passten längst nicht alle Lehrkräfte.<br />

Erst ein geplanter zweiter Bauabschnitt versprach Besserung.<br />

Ein großer Vorteil des Faches Religion liegt in der Freiheit der Themenwahl. Zwar gibt es einen<br />

Lehrplan, aber man kann je nach Interesse der Klasse (und des Lehrers) bei einem Thema<br />

kürzer, bei einem anderen länger verweilen und wenn spontan ein neues Thema auftaucht,<br />

bleibt genug Raum, um darauf einzugehen. Andere Fächer geben einen viel strengeren Ablauf<br />

vor. Wenn z.B. eine Klasse in Englisch der Parallelklasse hinterherhinkt, rebellieren schnell<br />

die Eltern aus Sorge, ihr Kind gerate ins Hintertreffen. In "Reli" konnten wir uns Zeit lassen!<br />

Das führte leicht zu der Meinung, es werde in diesem Fach nicht ernsthaft gearbeitet und wer<br />

sich gerade mal ein wenig beteiligt, erhalte automatisch die berühmte "Zwei in Religion". Bei<br />

mir war das nicht so. Gegen Ende meiner Tätigkeit habe ich mich sogar damit unbeliebt gemacht,<br />

dass ich zwei Schüler durchs Abitur fallen lies. Natürlich sind sie nicht in Religion<br />

durchgefallen, sondern weil ihr Notendurchschnitt insgesamt nicht reichte. Sie hatten sich allerdings<br />

verrechnet, als sie hofften, in Religion eine gute Note zu bekommen, ohne etwas dafür<br />

zu tun müssen. Ihre Eltern sind dann - glaube ich - noch <strong>bis</strong> vor das Verwaltungsgericht<br />

gegangen, um die Sache anzufechten. Für unsere Schule war so ein Vorgehen nicht ungewöhnlich.<br />

Viele Väter waren Verwaltungsjuristen und prozessierten wegen der geringsten<br />

Kleinigkeit. Wurfgeschwindigkeit und Flugrichtung eines Schneeballs, der in der Pause einen<br />

anderen Schüler getroffen hatte, beschäftigten mehrere Lehrerkonferenzen und Gerichtsinstanzen.<br />

Wollte man im Unterricht etwas Neues probieren, sagte der Direktor nur: “Machen<br />

sie was sie wollen, aber passen Sie auf, dass kein Verfahren daraus wird.”<br />

Ich nahm meinen Unterricht ernst. In meinen zehn Koblenzer Jahren bin ich kein einziges<br />

Mal unvorbereitet zum Unterricht gekommen. An die 4000 handschriftliche Unterrichtsentwürfe<br />

hatte ich am Ende meiner zehn Schuljahre beisammen. Aus meiner TZI Ausbildung<br />

wusste ich, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zu einem Thema braucht. Deshalb versuchte<br />

ich immer, verschiedene Wege zu eröffnen. Wenn also beispielsweise die Reformation<br />

behandelt wurde, konnten die einen nachforschen, ob Luther seine 95 Thesen wirklich an die<br />

89


Schlosstür zu Wittenberg angeschlagen hat oder ob es sich dabei um eine Legende handelt.<br />

Andere konnten die Thesen auf ein Plakat schreiben, andere konnten Rollenspiele entwickeln,<br />

in denen die Wittenberger ihre Meinung über die Thesen äußerten. Wieder andere<br />

konnten neue Thesen entwickeln, die sie heute an Plakatwände hängen möchten. Diese Vielfalt<br />

und das Einbeziehen kreativer Elemente waren eine Art Markenzeichen meines Unterricht<br />

und kamen gut an. Ich versuchte auch immer spielerische Elemente in den Unterricht<br />

einzubeziehen. In den letzten zehn Minuten meiner Stunden wurde oft nur noch gespielt.<br />

Dazu hatte ich eine Sammlung geeigneter Gruppenspiele zusammengetragen und später auch<br />

in einer Broschüre veröffentlicht.<br />

Probleme bereitete mir der Umgang mit pubertierenden Schülern. Ich kam aus der Erwachsenenbildung<br />

und war gewohnt, selbstverantwortliche Personen vor mir zu haben. Aber hier<br />

hatte ich Menschen vor mir, die ihre Persönlichkeit noch suchten und Lehrer als Vater-Ersatz<br />

(miss)brauchten, um sich an ihnen abzuarbeiten. Auch neigte ich eher zu einem antiautoritären<br />

Stil und musste erst lernen, Grenzen zu setzen. Zudem kam in meinen Stunden mancher<br />

Frust zu Tage, der sich in vorangegangenen Stunden aufgestaut hatte. In einer Schule hängt<br />

nun einmal (wie in jedem System) alles mit allem zusammen. Nach einer Stunde bei einem<br />

Lehrer, der viel Druck macht, muss der nachfolgende Kollege aufpassen, dass ihm nicht alles<br />

aus dem Ruder läuft. Anfangs habe ich den Schülern übel genommen, dass sie nicht honorierten,<br />

wieviel Mühe ich mir mit ihnen gab. Sie reagierten mit dem Hinweis, es sei doch mein<br />

Problem, wenn ich nicht härter durchgreife. Da liegt die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte.<br />

Natürlich hatten auch andere Kollegen Mühe mit dieser Altersgruppe. Einer weigerte sich sogar<br />

in den Klassen 8 <strong>bis</strong> 10 zu unterrichten, Begründung: “Ich arbeite nicht gegen Hormone!"<br />

Weil er ein älterer Herr war, nahm man auf ihn Rücksicht. Von den genannten Schwierigkeiten<br />

abgesehen, ging ich gern zur Schule und war mit viel Einsatz bei der Sache. Ich hatte mir<br />

diese Tätigkeit selbst gewählt und wollte ein guter Lehrer sein.<br />

Beinahe hätte mein Lehrerdasein ein vorzeitiges Ende gefunden, weil mir ein schwerwiegender<br />

Fehler unterlief. Es war die Zeit der RAF, Arbeitgeberpräsident Schleyer war ermordet<br />

worden und meine Schüler diskutierten heftig, ob man für Terroristen aus der Baader-Meinhof-Gruppe<br />

die Todesstrafe einführen solle. Fein, dachte ich, dann können die Schüler doch<br />

gleich mal eine Umfrage starten, wer jetzt die Todesstrafe wieder einführen will und wie die<br />

Leute das begründen. Das bekamen einige Eltern in den falschen Hals und plötzlich stand ich<br />

als Unterstützer von Terroristen da. Nichts lag mir ferner, als die Aktionen von Andreas Baader<br />

oder Gudrun Ennslin gut zu heißen, aber die Eltern ließen nicht locker. Da hatten sie doch<br />

tatsächlich einen richtigen "Sympathisanten" aufgestöbert, ausgerechnet an ihrer Schule und<br />

noch dazu ein Pfarrer - schlimm!<br />

Dass die Sache damals keine weiteren Kreise zog, verdanke ich unserem Direktor. Der nahm<br />

mich beiseite und sagte nur: "Ihre pädagogische Absicht leuchtet mir ein, aber passen Sie<br />

besser auf, wenn sie wieder so eine Idee in die Tat umsetzen wollen!" Damit war die Sache<br />

für ihn erledigt. Die Eltern moserten noch eine Weile herum, gaben dann aber auch Ruhe. An<br />

dieser Stelle merkte ich, wie unsicher (ganz abgesehen von der strafrechtlichen Seite) meine<br />

Position an der Schule war. Der Gestellungsvertrag zwischen Kirche und Schule konnte ohne<br />

Angabe von Gründen zum Ende jedes Schuljahres aufgelöst werden. Mich schützte kein Beamtenrecht<br />

und kein Arbeitsgericht hätte mir geholfen. Da hatte ich nochmal Glück gehabt.<br />

90


4.4 Das Huhn auf der Rolltreppe - Erfahrungen als Studentenpfarrer<br />

Studentengemeinden haben in Deutschland noch keine lange Tradition. Das liegt am organisatorischen<br />

Aufbau der Großkirchen, dem Ortsgemeindeprinzip. Jeder Christ gehört automatisch<br />

zu der Gemeinde, in der er seinen Wohnsitz hat. Dort ist er eingebunden, dort findet er<br />

einen Pfarrer als Ansprechpartner. Studierende sind in diesem System nicht vorgesehen. Zu<br />

ihren Herkunftsgemeinden haben sie kaum noch Kontakt, schließlich verbringen sie die meiste<br />

Zeit am Studienort, zu den Ortsgemeinden am Studienort haben sie aber auch nur selten<br />

einen Bezug, weil das studentische Milieu nach außen abgeschlossen ist. Solange nur wenige<br />

junge Leute studierten, konnte dieses Problem vernachlässigt werden. Außerdem gab es<br />

christliche Studentenverbindungen wie die DCSV. Als aber dann die modernen Massenuniversitäten<br />

entstanden, musste man die Studenten anders in die Kirche einbinden. Man<br />

schickte Studentenpfarrer an die wichtigsten Hochschulen. Dietrich Bonhoeffer war einer der<br />

ersten, im Berlin der 30er Jahre. Nach dem Krieg versuchte man, möglichst alle Hochschulorte<br />

zu versorgen. An kleinen Standorten bekam ein örtlicher Gemeindepfarrer den Zusatzauftrag,<br />

sich um die Studentengemeinde zu kümmern. An großen Universitäts- und Hochschulorten,<br />

wie Bonn, Köln oder Aachen gab es bald mehrere Studentenpfarrer und eigene<br />

Gemeindezentren für die Studierenden, oft verbunden mit einem kirchlichen Wohnheim.<br />

Auch in Koblenz mit seinen vielleicht 3000 Studierenden hatte sich zunächst ein Gemeindepfarrer<br />

um die Studenten gekümmert, aber seit meinem Vorgänger - Johannes Metzdorf - gab<br />

es dafür eine halbe Studentenpfarrstelle. Sie war von Anfang an mit einer halben Schulpfarrstelle<br />

gekoppelt, keine schlechte Lösung, denn manche Angebote der ESG wurden auch von<br />

Abiturienten genutzt.<br />

Koblenz beherbergte zwei Hochschulen, einmal die Fachhochschule, zum anderen die Erziehungswissenschaftliche<br />

Hochschule (EWH). Die Fachhochschule lag auf der Karthause neben<br />

dem sog. Löwentor, einer alten Koblenzer Festungsanlage. Diese Hochschule war aus einer<br />

höheren Fachschule für Maschinenbau hervorgegangen. Im Laufe der Zeit hatte man immer<br />

neue Fachrichtungen angegliedert, von der Elektrotechnik <strong>bis</strong> zur Sozialarbeit, Betriebswirtschaft<br />

und Architektur - ein bunter Strauß an Studienmöglichkeiten mit immer nur ein<br />

paar Dutzend Studenten pro Fach und Jahrgang. Studiert wurde in Pavillons, wie sie auch auf<br />

vielen Schulhöfen stehen. Ein Neubau war schon damals dringend nötig (ist aber erst vor einigen<br />

Jahren errichtet worden). Hinter diesen Pavillons steht das Evangelische Studentenwohnheim,<br />

das zum Mittelpunkt meiner Arbeit wurde.<br />

Die EWH lag unten am Rhein. Sie war Teil der "Erziehungswissenschaftlichen Hochschule<br />

Rheinland-Pfalz“, deren zweite, größere Hälfte sich ein paar hundert Kilometer entfernt in<br />

Landau befand. Die Verwaltung beider Teile lag ziemlich genau in der Mitte, nämlich in<br />

Mainz. An der EWH wurden Lehrer ausgebildet, in Koblenz mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik.<br />

Dass die beiden Koblenzer Hochschulen weit auseinander lagen, war für die Studentengemeinde<br />

ungünstig. Wo sollte die Gemeindearbeit stattfinden, oben auf der Karthause<br />

oder unten am Rhein? Die katholische Hochschulgemeinde (KHG) hatte sich an beiden Orten<br />

eingerichtet, saß neben der EWH in einer herrschaftlichen Villa und betrieb außerdem neben<br />

der Fachhochschule den Inso-Club (INSO für "Ingenieurwissenschaften und Sozialwissenschaften”).<br />

91


Unsere evangelische Studentengemeinde (ESG) war schlechter dran. Sie verfügte lediglich<br />

über einen ungemütlichen Kellerraum im evangelischen Studentenwohnheim. Man saß dort<br />

wie in einer finsteren Höhle, von der Decke hingen Heizungsrohre herab und muffig roch es<br />

auch. Mein Vorgänger war damit zufrieden gewesen, während ich mich sehr darum bemühte,<br />

einladendere Räume zu finden. Es dauerte ein paar Jahre <strong>bis</strong> wir eine gute Lösung gefunden<br />

hatten. Als sich die Ortsgemeinde auf der Karthause ein neues Zentrum baute, konnten wir<br />

dort über den Gemeinderäumen eine Wohnung anmieten. Die war hell und freundlich und wir<br />

durften die darunter liegenden Gemeinderäume mitbenutzen. Leider lag die Wohnung für die<br />

Studierenden ziemlich weit abseits. Der große Durchbruch kam erst einige Jahre später. Im<br />

Studentenwohnheim unmittelbar neben der Fachhochschule wurde eine große Wohnung frei.<br />

Endlich hatte ich genug Platz für die Gruppenarbeit und für meine Sprechstunden. Die ESG<br />

ist <strong>bis</strong> heute in diesen Räumen zu Hause. Unser neues Domizil nannten wir “Die Arche”, das<br />

Semesterprogramm hieß fortan “Archeopteryx”.<br />

In der Studentengemeinde läuft manches anders als in einer Ortsgemeinde. Weil viele Studenten<br />

am Wochenende wegfahren, gibt es keinen Sonntagsgottesdienst. Taufen, Trauungen<br />

und Beerdigungen sind höchst selten. Der Schwerpunkt der Gemeindearbeit liegt ganz auf<br />

Beratung, Bildung und Geselligkeit. Für die Koblenzer Studenten bot ich neben meinen<br />

Sprechstunden offene Abende, Seminare und Workshops an, gelegentlich auch Studienfahrten.<br />

Bei meinem TZI-Hintergrund lag es nahe, einen Schwerpunkt auf Gruppenpädagogik<br />

und Selbsterfahrung zu legen. Noch immer bin ich stolz darauf, schon damals - als dies noch<br />

ganz unüblich war - eine Männergruppe angeboten zu haben. Zu den Veranstaltungen kam<br />

noch eine Menge Verwaltungsarbeit. Ich konnte nicht auf ein Gemeindeamt zurückgreifen,<br />

sondern musste jede Buchung selbst erledigen, Inventarlisten führen und vieles mehr. Außerdem<br />

war ich für Studenten, die ein kirchliches Stipendium bekamen, zuständig, musste Gutachten<br />

schreiben und darauf achten, dass sie mit dem Studium voran kamen. Im Beirat des<br />

Studentenwohnheims saß ich auch.<br />

Bei meinen Angeboten ließ sich nie voraussagen, ob viele Teilnehmer kommen oder ob ich<br />

am Abend ganz alleine dasitzen würde. Das lag weniger an den angebotenen Themen als an<br />

der Lebenssituation der Studierenden. An einer Fachhochschule ist das Studium sehr verschult.<br />

Die Studenten müssen pünktlich ihre Scheine machen, Projekte bearbeiten und Prüfungen<br />

absolvieren. Mit einem relativ freien Studentenleben, wie ich es aus der eigenen Studienzeit<br />

kannte, hatte das wenig zu tun. Sie steckten den ganzen Tag über in Vorlesungen und<br />

Seminaren, mussten danach noch Literatur durcharbeiten oder Konstruktionszeichnungen anfertigen.<br />

Irgendwann am Abend reicht es dann und sie suchten sich ein paar Kumpel, um zu<br />

schauen, wo noch "etwas los” ist. Da hatten Bildungsveranstaltungen wenig Chancen, auch<br />

wenn es natürlich immer ein paar wirklich Interessierte gab. Solche Veranstaltungen aufs Wochenende<br />

zu legen, war auch keine Lösung. Viele Koblenzer Studenten kamen aus dem<br />

Hunsrück oder aus der Eifel. Sie fuhren am Wochenende nach Hause, um sich bei Muttern<br />

richtig satt zu essen, die Freundin zu treffen oder die Wäsche abzugeben.<br />

Deutlich besser lief es mit den offenen Abenden, an denen in unseren Räumen eine Art Clubbetrieb<br />

stattfand. Man konnte einfach mal reinschauen, eine Weile bleiben und dann weiterziehen.<br />

Ich hatte viele Schallplatten und Brettspiele angeschafft. So gab es immer die Möglichkeit,<br />

eine Partie Awari oder Reversi zu spielen oder einfach nur herum zu hängen und<br />

Musik zu hören. Mit dem Pfarrer kam man bei dieser Gelegenheit ganz zwanglos ins Gespräch.<br />

92


Großveranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Filmabende und Auslandsfahrten überließ ich<br />

ganz der katholischen Hochschulgemeinde. Im Vergleich zur ESG waren die Katholiken viel<br />

besser ausgestattet, sowohl was die Räumlichkeiten als auch was das Personal anlangt. Als<br />

Gegenstück zum halben evangelischen Studentenpfarrer hatten sie einen ganzen Priester,<br />

dazu als “zweiten Mann” noch einen Diplomtheologen, außerdem noch drei Zivildienstleistende<br />

und zwei Frauen im Büro. Geld war bei den katholischen Brüdern immer genug da. So<br />

ausgestattet fiel es ihnen leicht, an jedem Abend zwei interessante Veranstaltungen anzubieten.<br />

Es war völlig unmöglich, dem ein gleichwertiges evangelisches Angebot entgegenzusetzen,<br />

statt dessen habe ich mir lieber einige Nischen gesucht, die sie noch nicht besetzt hatten<br />

und im übrigen möglichst viel mit ihnen zusammengearbeitet. Da ich mich mit meinem katholischen<br />

Kollegen - Günter Reinert - gut verstand, war das kein Problem. Sogar ein gemeinsames<br />

Programmheft hatten wir, einen Eine-Welt-Laden betrieben wir ebenfalls gemeinsam<br />

und die Semestergottesdienste waren ohnehin ökumenisch. Mit diesen Semestergottesdiensten<br />

- einer am Semesteranfang, einer am Ende - gaben wir uns immer besondere Mühe.<br />

Stets war eine spektakuläre Aktion eingebaut. Einmal haben wir auf dem Altar Zettel mit unseren<br />

aufgeschriebenen “Sünden” verbrannt. Vielleicht waren besonders schlimme Sünden<br />

dabei, jedenfalls entwickelten die brennenden Zettel eine solche Hitze, dass beinahe die ganze<br />

Altardekoration in Flammen aufgegangen wäre. Ein andermal pflanzten wir neben der<br />

Christuskirche einen Baum, um gegen die Abholzung der Tropenwälder zu protestieren. Am<br />

nächsten Tag ließ ihn die Stadt wieder ausbuddeln.<br />

Später hat mich oft verblüfft, wie wenig Ökumene in Ortsgemeinden praktiziert wird. Im Bereich<br />

der Hochschulen war ökumenische Zusammenarbeit etwas Selbstverständliches. Ich<br />

habe in Koblenz zB viel öfters an katholischen Eucharistiefeiern teilgenommen als am evangelischen<br />

Abendmahl.<br />

Für die unterschiedliche Ausstattung der katholischen und der evangelischen Gemeinde gab<br />

es einen einfachen Grund. Bei uns geht die Kirchensteuer an die Ortsgemeinden. Gesamtkirchliche<br />

Aufgaben, wie die Studentenarbeit, werden über eine Umlage finanziert. Das Geld<br />

für die Studenten muss den Gemeinden also abgerungen werden. Ihnen ist aber die eigene<br />

Orgel oder der eigene Kindergarten wichtiger, als die Studierenden an irgendwelchen fernen<br />

Hochschulen, die man nur als randalierende Demonstranten aus dem Fernsehen kennt. Bei<br />

den Katholiken sieht die Sache anders aus. Die Kirchensteuer geht an das Bistum. Ein kluger<br />

Bischof sagt sich: Wer studiert, sitzt später fast immer in einer wichtigen Position. Wenn er<br />

während des Studiums einen positiven Eindruck von der katholischen Kirche bekommen hat,<br />

kann uns das langfristig nur nützen. So sah es jedenfalls der für Koblenz zuständige Bischof<br />

in Trier und folglich war für die Studenten immer Geld da. Studentenpfarrer sind in beiden<br />

Kirchen sehr unterschiedlich angesehen. Für Katholiken vertritt der Studentenpfarrer die Position<br />

der Kirche gegenüber den künftigen Akademikern. Da schickt man die besten Leute<br />

hin. Oft ist das Studentenpfarramt die erste Stufe auf dem Weg zum Weih<strong>bis</strong>chof. In unserer<br />

evangelischen Kirche gelten Studentenpfarrer eher als Außenseiter und linke Vögel.<br />

Es gibt noch einen wichtigen Unterschied zwischen Studenten- und Ortsgemeinde. An der<br />

Hochschule ist es viel schwerer, Mitarbeiter zu gewinnen. Kaum sind sie in die Gemeindearbeit<br />

hineingewachsen, müssen sie sich aufs Examen oder eine Zwischenprüfung vorbereiten.<br />

Diese Problematik ist sehr treffend in einem geflügelten Wort festgehalten: Der Studentenpfarrer<br />

gleicht einen Huhn, das versucht, auf einer Rolltreppe ein Ei zu legen.<br />

93


4.5 Kirche und Studenten - ein angespanntes Verhältnis<br />

Bei den regelmäßigen Treffen der Studentenpfarrer mit dem zuständigen Dezernenten des<br />

Landeskirchenamtes wurde mir schnell klar, wie groß die Kluft zwischen etablierter Kirche<br />

und dem studentischen Milieu war. Der Mann mühte sich redlich, kam sogar jugendlich-dynamisch<br />

mit dem Motorrad angebraust, wurde aber wie der Vertreter einer feindlichen Macht<br />

behandelt.<br />

Die Studentengemeinden und ihre Pfarrer lagen damals voll im Trend der studentischen Protestbewegung.<br />

Ich erinnere mich an keine einzige Konferenz, in der wir nicht Unterschriften<br />

gegen irgendetwas, das uns nicht passte, gesammelt haben. Als ESG-ler stand man von vornherein<br />

auf der richtigen Seite im Kampf gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Wenn schon<br />

Theologie, dann Befreiungstheologie! Nach dem Erfolg der Revolution in Nicaragua, so die<br />

allgemeine Meinung, würden nun bald die Militärdiktaturen in Lateinamerika und überall auf<br />

der Welt zusammenbrechen. Auch in Deutschland würde "das Volk" seine Sache selbst in die<br />

Hand nehmen. Den Vogel schoss mein Kollege Zielke (damals in Essen, später in Aachen)<br />

ab. Als Franz Josef Strauß der Militärjunta in Argentinien einen Besuch abstattete, ging Zielke<br />

zur Polizei und zeigte Strauß “wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" an.<br />

Viele Kollegen haben ihn für seinen Mut bewundert.<br />

Aus heutiger Sicht mögen solche Aktionen und die dahinter stehende Selbstüberschätzung<br />

seltsam wirken, sie hatten aber einen verständlichen Hintergrund. Einmal war damals wirklich<br />

eine Zeit des Aufbruchs und kühner politischer Hoffnungen. Nicaragua war zu einem<br />

Symbol geworden! Zudem waren meine Kollegen an den großen Hochschulstandorten viel<br />

stärker in politische Zusammenhänge einbezogen als die meisten Ortsgemeinden. In Köln,<br />

Bonn oder Aachen lebten etliche tausend Studenten aus Krisengebieten: Palästinenser, Iraner,<br />

Kurden, Chilenen, Philippinos usw. Sie wollten nicht nur in Deutschland etwas lernen, sondern<br />

auch in ihrer Heimat etwas verändern. Wenn ein Studentenpfarrer mit Ausländern zu tun<br />

hatte, bekam er es folglich immer mit aktuellen und brisanten weltpolitischen Fragen zu tun.<br />

Er konnte auch schnell in die Grauzone zwischen legaler Gewaltanwendung (Stichwort: Befreiungskampf)<br />

und Terrorismus geraten.<br />

Immer wieder haben wir im Kollegenkreis darüber gestritten, ob man zur Durchsetzung politischer<br />

Ziele Gewalt gebrauchen darf. Grundsätzlich natürlich nicht, da waren wir uns einig,<br />

aber wenn auf andere Weise nichts zu ändern ist? Wenn die Regierenden das Volk ausbeuten<br />

(wie auf den Philippinen), wenn eine Militärjunta Andersdenkende in Konzentrationslager<br />

sperrt (wie in Chile) oder wenn eine Minderheit der Mehrheit die Menschenrechte vorenthält<br />

(wie in Südafrika) ist es dann nicht erlaubt, vielleicht sogar geboten, einen Umsturz zu organisieren?<br />

Unser von den Nazis ermordeter Kollege Dietrich Bonhoeffer hat es jedenfalls so<br />

gesehen.<br />

Mit meinem Interesse an Beratung und Gruppenpädagogik war ich unter meinen stets auf politischen<br />

Kampf ausgerichteten Kollegen eine Ausnahme. Da fragte doch einer tatsächlich,<br />

warum sie sich so aufopfernd für andere einsetzen, ob dahinter vielleicht ein "Helfersyndrom"<br />

steckt. Und wie es mit der Gruppendynamik unter den Kollegen bestellt sei, warum da<br />

immer die gleichen Personen große Worte schwingen. Was sollte das denn nun wieder? Wollte<br />

der Mann die Weltrevolution aufhalten? Für solche bürgerliche Selbstbespiegelung hatte<br />

man nun wirklich keine Zeit. Ich bin von meinen Kollegen durchweg freundlich, aber manch-<br />

94


mal auch etwas mitleidig behandelt worden. Ein Außenseiter blieb ich immer. Es war die<br />

Umkehrung der Situation in meiner Essener Gemeinde: dort war ich zu politisch, hier nicht<br />

politisch genug.<br />

Erst als meine Koblenzer Zeit zu Ende ging, setzte in den Studentengemeinden ein Wandel<br />

ein. Statt nach außen zu blicken, begann man nun, stärker nach innen zu schauen. Auf einmal<br />

tauchten Selbsterfahrung, Spiritualität ja sogar Esoterik in den ESG-Programmen auf. Vielleicht<br />

war ich ja der Zeit um eine Nasenlänge voraus gewesen.<br />

Bei meiner Suche nach Arbeitsfeldern, die noch nicht von der KHG abgedeckt waren, stieß<br />

ich auf die Kunst. Zusammen mit dem Maler und Lehrerkollegen Hanns Lansch entwickelte<br />

ich die “Karthäuser Kunsttage”. Einmal pro Semester sorgten wir mehrere Tage lang für Ausstellungen,<br />

Konzerte, Tanztheater und Performances. Dafür nutzten wir das neue evangelische<br />

Gemeindezentrum auf der Karthause. Für Koblenzer Verhältnisse, wo im Stadttheater<br />

die Moderne bei "Maske in Blau” aufhörte, waren unsere Kunsttage ein avantgardistisches<br />

Ereignis. Indische Saiteninstrumente und japanische Flöten, das “Tanztheater Regenbogen”<br />

und ausgefallene Skulpturen in einem ganz normalen Gemeindezentrum - das hatte es zuvor<br />

noch nicht gegeben.<br />

Leider nahmen unsere Kunsttage ein plötzliches Ende. Zum Thema "Stühle" hatte ein Künstler<br />

einen Stuhl aufgebaut, auf dem ein kleiner Scheißhaufen lag, natürlich kein echter, sondern<br />

ein Plastikgebilde aus dem Geschäft für Scherzartikel. Das wäre vielleicht gerade noch<br />

als zeitgenössische Kunst durchgegangen, aber dass er sein Objekt auch noch "heiliger Stuhl"<br />

nannte, war denn doch zu viel. In der Presse gingen die Wogen hoch und wir wurden mit unseren<br />

Kunsttagen aus dem Gemeindezentrum verbannt. Ärgerlich war, dass keine Auseinandersetzung<br />

um die Grenzen von Kunst stattfand. Die Gemeinde zog sich einfach darauf zurück,<br />

so ein Objekt sei aus Rücksicht auf Katholiken nicht tragbar. Da unsere Projekte der<br />

Gemeinde schon vorher ein Dorn im Auge waren - es hatte bereits Streit wegen einer Aktzeichnung<br />

gegeben - waren sie wohl einfach froh, uns endlich loszuwerden. Ich fand es schade,<br />

fühlte mich auch ein wenig schuldig, denn ich hätte das Unheil kommen sehen müssen,<br />

hatte aber die Auswahl der Objekte meinem Kollegen überlassen. So endeten die Karthäuser<br />

Kunsttage abrupt mit einem Eklat. Aber es hatte Spaß gemacht und ich hatte auch einiges<br />

über Kulturmanagement gelernt.<br />

4.6 Innere Führung und andere Nebentätigkeiten<br />

Zur Arbeit an der Schule und mit den Studenten kam für mich noch eine Reihe zusätzlicher<br />

Aufgaben. Dazu gehörte der Religionsunterricht an einer Berufsaufbauschule. Dort versuchten<br />

junge Leute nach der Berufsausbildung auf dem sog. zweiten Bildungsweg noch die<br />

Hochschulreife zu erlangen. Dafür mussten sie sich mächtig ins Zeug legen und viele gaben<br />

nach kurzer Zeit wieder auf. Anstatt sie nach Kräften zu unterstützen, war die Schulleitung<br />

der Ansicht, dass hier ohnehin jeder Zweite fehl am Platze ist. Die Stimmung an der Schule<br />

war entsprechend. Der Religionsunterricht brachte für die Schüler eine angenehme Pause in<br />

den Leistungsstress. Wir diskutierten über Abtreibung und Sterbehilfe, über Dritte-Welt und<br />

Kernenergie und alles, was sonst noch im öffentlichen Gespräch war.<br />

95


Regelmäßig war ich bei der Bundeswehr zu Gast. Die Schule für Innere Führung wollte mit<br />

einem Vertreter der kirchlichen Friedensbewegung über Rüstungsfragen diskutieren. Auch<br />

wenn dabei nicht viel herausgekommen ist, bin ich immer gerne hingegangen. Die jungen Offiziere<br />

dort waren keine platten Militaristen, sie kannten sich aus, hatten studiert und entsprechend<br />

war das Niveau unserer Streitgespräche. Manchmal redeten wir allerdings auch völlig<br />

aneinander vorbei. Wenn draußen vor dem Fenster wieder einmal Panzer vorbeirasselten,<br />

sagte ich gern: "Da sehen Sie: Wenn erst einmal Panzer rollen, kann man sich nicht mehr verstehen!"<br />

Das war natürlich symbolisch gemeint, aber meine nüchtern denkenden Gesprächspartner<br />

erklärten mir, warum Panzer so laut sind, dass man dickere Fensterscheiben einbauen<br />

könne und so weiter. -<br />

In der Schule für Innere Führung machte ich noch eine andere fast schon amüsante Erfahrung.<br />

Es gab dort eine große Toilettenanlage und ich stand oft mit pinkelnden Offizieren in<br />

einer Reihe. Das war immer eine seltsam-peinliche Situation: Soll man seine Nachbarn grüßen,<br />

darf mit ihnen ein Gespräch anfangen oder muss man besser so tun, als wären sie gar<br />

nicht vorhanden? Für diese Situation hatte ich eine simple Lösung. Die Urinale waren sehr<br />

tief angebracht und ich sagte halblaut vor mich hin: "Früher waren die Menschen kleiner als<br />

heute." Dieses Thema wurde sofort aufgegriffen: Jawoll, ein riesiges Problem sei das. Die<br />

Jungs würden immer größer, passten nicht in die Panzer, auch in den U-Booten würde es<br />

eng... Die Sache funktionierte immer. So habe ich durch meine Tätigkeit an der Inneren Führung<br />

zwar nicht die ganze Bundeswehr in Richtung Friedensbewegung umgepolt, aber doch<br />

einigen Führungskräften eine gewisse Erleichterung verschafft.<br />

4.7 Wenn der Russe hinterm Busche lauert<br />

Vom Kirchenkreis bekam ich den Auftrag, Kriegsdienstverweigerer (KDV) zu beraten. Damals<br />

musste fast jeder, der bei der Musterung für tauglich befunden wurde, zum Bund. Nun<br />

gibt es zwar in unserer Verfassung den Grundsatz, dass niemand gegen sein Gewissen zum<br />

Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf, aber wie stellt man fest, ob das Gewissen<br />

oder die Bequemlichkeit jemanden dazu bringt, den Wehrdienst zu verweigern? Damals<br />

lud man die Verweigerer vor eine Prüfungskommission beim Kreiswehrersatzamt. Dort fand<br />

eine Art kleine Gerichtsverhandlung statt, der Verweigerer wurde ausgiebig befragt, dann zog<br />

sich die Kommission zur Beratung zurück und verkündete danach ihr "Urteil". Das lautete<br />

entweder "NN ist berechtigt, den Wehrdienst mit der Waffe zu verweigern", dann musste er<br />

zum Zivildienst, oder er war nicht berechtigt, dann musste er zum Bund oder konnte sein<br />

Glück nochmal vor dem Verwaltungsgericht versuchen.<br />

In ihre Verhandlung konnten sich die Verweigerer einen kirchlichen Beistand mitnehmen und<br />

so bin ich fast zehn Jahre lang immer wieder ins Kreiswehrersatzamt gepilgert - mit mäßigem<br />

Erfolg. Manche Verhandlungen verliefen fair. In anderen herrschte reine Willkür und ich kam<br />

oft empört nach Hause. Ein KDV hatte als Heranwachsender erlebt, wie ein Freund beim<br />

Spielen mit Benzin verunglückte und bei lebendigem Leibe verbrannte. Als er davon erzählte<br />

und darauf zu sprechen kam, dass so etwas ja auch im Krieg geschieht, zitterte er am ganzen<br />

Leib. Ergebnis: Nicht anerkannt! Ein anderer erzählte, dass er gerne Hausmusik macht. Der<br />

Vorsitzende war begeistert: Ja die Hausmusik, die sollte wirklich mehr gepflegt werden. Ergebnis:<br />

Anerkannt! Gelegentlich versuchten sie, die jungen Leute mit Fangfragen herein zu<br />

legen. Selbst die berüchtigte Frage mit dem Russen im Stadtpark wurde immer mal wieder<br />

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hervorgeholt: "Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit ihrer Freundin im Stadtpark spazieren.<br />

Plötzlich springt ein Russe aus dem Gebüsch, zückt seine Kalaschnikow und will ihre Freundin<br />

vergewaltigen. Nun haben sie aber zufällig selbst ein Waffe dabei. Würden sie auf den<br />

Russen schießen?” Die Frage war nicht nur dämlich (Russen sind triebhafte Untermenschen,<br />

Deutsche haben beim Spaziergang eine Waffe dabei), sie war auch hinterhältig. Man verlor<br />

nämlich auf jeden Fall. Sagte man "ich werde nicht schießen", erwies man sich als unglaubwürdig,<br />

weil angeblich jeder Mensch in dieser Situation zur Waffe greift. Sagte man "ich<br />

werde schießen", war das Gewissen offenbar doch nicht gegen den Waffengebrauch. Die einzige<br />

richtige Antwort lautete deshalb: "Ich kann nicht beschwören, dass in so einer Situation<br />

bei mir vielleicht doch eine Sicherung durchbrennt und ich - ganz gegen mein Gewissen! -<br />

im Affekt!! zur Waffe greife. Aber ich bin mir sicher, dass mein Gewissen!!! danach <strong>bis</strong> zu<br />

meinem Lebensende schwer belastet sein wird." Es gab also doch einen Ausweg, nur wie soll<br />

ein unbedarfter Mensch darauf kommen. Viele Verweigerer waren schlichte Menschen und<br />

verweigerten aus naiven, aber durchaus echten, nicht vorgetäuschten Gründen, beispielsweise<br />

mit dem Argument "Jesus hätte auch kein Gewehr in die Hand genommen." Man hat uns Beratern<br />

damals oft vorgeworfen, dass wir unsere Schützlinge für die Verhandlung regelrecht<br />

trainieren. Ich finde: wenn Menschen derartig trickreich über den Tisch gezogen werden, haben<br />

sie ein Recht darauf, über diese Tricks aufgeklärt zu werden.<br />

4.8 Vom Drachenbau, vom Segeln und anderen Vergnügen<br />

Eins hatte ich mir beim Umzug nach Koblenz fest vorgenommen: ich wollte nicht wieder <strong>bis</strong><br />

über beide Ohren im Beruf versinken und allenfalls noch für die Familie Zeit haben. Zum<br />

Glück machte es die neue Tätigkeit leichter, diesen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Während<br />

ein Gemeindepfarrer nie so richtig zum Ende kommt, es gibt ja immer noch ein Dutzend Sachen,<br />

die man auch noch anpacken müsste, waren meine Aufgaben begrenzt. In der Schule<br />

musste ich 12 Stunden, also die halbe Stundenzahl ableisten. Da kamen natürlich noch die<br />

Unterrichtsvorbereitung, die Korrekturen von Klassenarbeiten, Konferenzen und Elternabende<br />

hinzu, aber es war ein begrenzter Auftrag. Ich musste auch nur an jedem zweiten Tag zur<br />

Schule gehen. Abends war ich für die Studenten da, natürlich auch nicht an jedem Abend. Für<br />

private Interessen blieb dabei schon noch einige Zeit übrig und ich entdeckte bald ein wundervolles<br />

Hobby: den Drachenbau.<br />

In meiner Kindheit hatte mich einmal ein Nachbar mitgenommen zum Drachensteigen auf<br />

dem Acker draußen vor der Stadt. Seitdem hatte ich nicht mehr damit zu tun gehabt. Jetzt entdeckte<br />

ich, dass es Bücher mit Bauanleitungen und Fachgeschäfte mit passendem Bastelmaterial<br />

gibt. Ich begann, Drachen zu bauen, erst einfache Modelle, später immer kompliziertere.<br />

Auf der Karthause weht fast immer ein leichter Wind und wenn ich die Schule hinter<br />

mich gebracht und zu Mittag gegessen hatte, zog es mich auf die nahe gelegene Drachenwiese.<br />

Meist war noch Wilhelm Klein dabei, ein Aktionskünstler, den ich auch schon für Veranstaltungen<br />

der Studentengemeinde engagiert hatte. Wilhelm lebte, ähnlich wie Spitzwegs<br />

"Armer Poet", in einem kleinen Kämmerchen und schlug sich mehr schlecht als recht durchs<br />

Leben. Dabei war er ein begabter Künstler. Eine Performance von ihm ist mir noch in lebhafter<br />

Erinnerung. Er hatte sich als Schamane verkleidet und schob zu magischer Musik eine<br />

Menge Teelichter mit einem Stock auf dem Boden hin und her. Die Aktion fand im Foyer unseres<br />

Studentenwohnheimes statt und war einfach phantastisch. Wilhelm hatte "ein Händchen"<br />

für Klänge und Materialien. Auf der Drachenwiese ließen wir die seltsamsten Dinge<br />

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zum Himmel steigen, beispielsweise eine große hauchdünne Folie, die unter einem Drachen<br />

hängend im Licht der untergehenden Sonne magisch glänzte. Einmal bekam ich Ärger mit<br />

der Polizei, weil ich einen Drachen aus goldbedampfter Folie nachts über dem Studentenwohnheim<br />

schweben ließ. Sie waren aber freundlich und sagten nur, ich solle das Ding runter<br />

holen, es gefährde den Flugverkehr.<br />

Zum Drachenbau gesellte sich als zweite Leidenschaft das Segeln. Unser Freund Bernd<br />

Schatz hatte ein Boot auf dem Laacher See. Bernd war Lehrer wie ich und nach dem Schulstress<br />

zog es ihn hinaus zu seinem Boot. Es machte ihm Spaß, mir das Segeln beizubringen.<br />

Ich musste mir immer erst einen Ruck geben, denn ich bin ein schlechter Schwimmer und<br />

hatte immer Angst davor, zu kentern. Mit der Zeit wurde ich jedoch mutiger, schaffte mir<br />

ebenfalls ein Boot an und nutzte einen unserer Urlaube, um den Segelschein zu machen. Leider<br />

geriet ich bei der praktischen Prüfung an einen Prüfer von der stahlharten Sorte, ein Mann<br />

mit so einem Luis-Trenker-Blick, der jeden Fehler mit einem “Wo haben Sie denn das gelernt?"<br />

kommentierte. Ich fiel durch, durfte den praktischen Teil aber später in Koblenz wiederholen.<br />

Statt der sanften Brise, die mich im Urlaub umweht hatte, fand die Nachprüfung bei<br />

Sturm auf der Mosel statt. Aber ich hatte Glück, der Prüfer war freundlicher. Nun hatte ich<br />

den begehrten Segelschein in der Tasche und war bereit für weitere Abenteuer.<br />

Der Laacher See ist ein herrliches Segelrevier, fast kreisrund, man findet also immer einen<br />

passenden Kurs, egal aus welcher Richtung der Wind weht, anders als bei den schlauchförmigen<br />

Talsperren, die ich später im Sauerland kennen lernte. Auf denen muss man stundenlang<br />

kreuzen um ans andere Ende zu kommen. Hat man Pech, dreht unterdessen der Wind<br />

und die Rückfahrt wird noch einmal genauso anstrengend wie die Hinreise. Allerdings hat der<br />

Laacher See auch seine Mucken, er liegt in einem Vulkankrater. Manchmal herrscht darin absolute<br />

Flaute, aber wenn im Sommer ein Gewitter aufzieht, kann es gefährliche Böen geben,<br />

die urplötzlich über den Kraterrand wirbeln. Da bin ich einige Male in “Seenot” geraten.<br />

4.9 Wiedersehen mit Tanzania<br />

Ein Höhepunkt meiner Koblenzer Jahre war die zweite Tanzania-Reise im Jahre 1980. Sie<br />

wurde vom Ev. Erwachsenenbildungswerk organisiert und war als entwicklungspolitische<br />

Studienreise gedacht. Wer mitreisen wollte, musste vorher eine lange Reihe von Vorbereitungsseminaren<br />

absolvieren: Über entwicklungspolitische Fragen, über den afrikanischen Sozialismus,<br />

über die Kolonialgeschichte Ostafrikas und vieles mehr. Fast anderthalb Jahre dauerte<br />

diese Vorbereitungsphase, <strong>bis</strong> wir am 7. Juli 1980 endlich aufbrechen konnten. Bernd<br />

Schatz, Christine Holzing und Rosa Sing aus meinem Freundeskreis waren mit dabei. Ich<br />

konnte mich also gut aufgehoben fühlen, was mir auch wichtig war, denn diese Reise ging -<br />

im Unterschied zur ersten 1972 mit <strong>Erika</strong> - in abgelegene Regionen. Es gab sogar das Gerücht,<br />

Pest und Cholera würden auf uns warten. Beinahe hätten wir deswegen die Reise abgesagt.<br />

Von Brüssel aus flogen wir nach Daressalam. Unterwegs, bei einer Zwischenlandung in Bujumbura,<br />

erlebten wir ein schönes Beispiel für afrikanischen Erfindungsreichtum. Weil die<br />

Maschine betankt werden sollte, mussten wir aussteigen. Beim Verlassen des Flugzeuges<br />

wollte uns jemand ein Papier in die Hand drücken. Viele hielten das für Safari-Werbung und<br />

verzichteten dankend. Als wir später wieder ins Flugzeug wollten, stellte sich heraus, dass es<br />

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Bordkarten gewesen waren. Ein Uniformierter wollte sie kontrollieren, nur: manche Passagiere<br />

hatten keine. Der Mann fand eine geniale Lösung. Wenn jemand eine Karte vorzeigen<br />

konnte, wurde sie streng kontrolliert, hatte jemand keine, durfte er auch so hinein. Man beachte:<br />

Es wurden nicht einfach unterschiedslos alle eingelassen, sondern es wurde jeder in<br />

seiner spezifischen Situation ernst genommen.<br />

Zunächst verbrachten wir ein paar Tage in Daressalam, dann fuhren wir in die neue Hauptstadt<br />

Dodoma, mitten im Land. Dort teilte sich die Gruppe auf, ein Teil fuhr in den Südwesten,<br />

ein Teil in den Nordwesten <strong>bis</strong> hinter den Victoria-See. Die dritte Abteilung, zu der wir<br />

Koblenzer gehörten, blieb in der Zentralregion. Das war eine ziemlich trostlose Gegend,<br />

meist flache Steppe voller Gestrüpp und Dornen, gelegentlich auch gebirgig (der bekannte<br />

“ostafrikanische Grabenbruch”). Ohne Jeep kam man da kaum voran. Zum Glück stellte uns<br />

der Bischof einen zur Verfügung. Diese Reise war ja - ganz anders als die erste Reise - eine<br />

Kirchenreise. Christen besuchten Christen. Wir wurden überall als Delegation aus dem fernen<br />

Deutschland willkommen geheißen und wo das Essen knapp war, schlachtete man sogar die<br />

letzte Ziege für uns. Es war wirklich eine Hungergegend, die wir uns ausgesucht hatten. Unsere<br />

Kollegen hinter dem Viktoria-See hatten zwar eine drei Tage längere Anreise, aber ihnen<br />

wuchsen die Bananen und die Mangos in den Mund. Wir dagegen mussten manchmal mit einer<br />

Hand voll Reis auskommen - nicht schlimm, wenn man Vitamintabletten im Rucksack<br />

und das Rückflugticket in der Tasche hat, aber schlimm für die Einheimischen. Tanzania ist<br />

eins der ärmsten Länder der Erde. Jedes dritte Kind stirbt bevor es sechs Jahre alt ist.<br />

Manchmal waren uns die endlosen Empfänge lästig. Als Deutscher ist man nicht an Gottesdienste,<br />

die drei <strong>bis</strong> vier Stunden dauern (manchmal mehrfach am gleichen Tag), gewöhnt.<br />

Einmal wurden uns sogar die Namen aller Getauften vorgelesen, von 1912 als die ersten<br />

Missionare ins Land kamen, <strong>bis</strong> heute. Wir murrten, konnten uns aber nicht entziehen.<br />

Manchmal wurden uns auch schwierige Fragen gestellt. Warum wir in Deutschland so wenig<br />

Kinder bekommen, obwohl wir doch viel mehr Geld haben als die Menschen in Afrika. Und<br />

ob es bei uns tatsächlich Männer gibt, die so verrückt sind, dass sie bei der Geburt ihres Kindes<br />

dabei sein wollen. - Am Schluss kamen alle drei Reisegruppen in Daressalam wieder zusammen<br />

um Erfahrungen auszutauschen. Dann flogen wir wieder heim in unser armes, reiches<br />

Deutschland.<br />

Unsere Reise hatte noch ein spannendes “Nachspiel“. Wir hatten uns verpflichtet, einen Gegenbesuch<br />

zu organisieren. Zehn Afrikaner aus den Regionen, die wir besucht hatten, sollten<br />

nach Deutschland kommen. Da sie die Reise nicht bezahlen konnten, wollten/mussten wir<br />

selbst für die Kosten aufkommen. Dafür sammelten wir überall da, wo wir von unserer Reise<br />

berichteten und unsere Dias zeigten. Wir waren uns einig, dass wir den afrikanischen Gästen<br />

unser Land so zeigen wollten, dass sie neben den Vorteilen auch die Nachteile unserer Lebensweise<br />

kennen lernen. Wer zu Hause auf dem Dorf lebte, sollte auch hier auf dem Dorf<br />

wohnen und sehen wie hart beispielsweise die Arbeit im Weinberg ist. Den Blick auf den<br />

Rhein verbanden wir mit einem Besuch im Wasserwerk, um zu zeigen, welcher Aufwand getrieben<br />

werden muss, um aus der verdreckten Brühe wieder Trinkwasser zu machen. Nach<br />

der Fahrt über die Autobahn gab es einen Besuch in der Unfallabteilung des Krankenhauses.<br />

Es wurde ein tolles Bildungsprojekt.<br />

Außerdem sammelten wir Geld für Wasserpumpen. In der Zentralregion Tanzanias ist Wasser<br />

das Problem Nummer eins. Es ist zwar unterirdisch vorhanden, aber wie bekommt man es<br />

nach oben? Australische Entwicklungshelfer hatten begonnen, windbetriebene Wasserpum-<br />

99


pen aufzustellen. Wenn möglichst viele Dörfer so eine Pumpe bekommen, sind die Leute aus<br />

dem Gröbsten heraus. In den Folgejahren haben wir deshalb eine Reihe solcher Pumpen finanziert.<br />

Mein Beitrag zu diesem Projekt war “Karibu”, ein afrikanisches Geduldspiel, das<br />

ich in großer Stückzahl aus Holzspateln und Kronenkorken produzierte. Für 5,-- DM zugunsten<br />

unseres Projektes war es zu haben. Auf dem Hamburger Kirchentag war ich sogar mit einem<br />

eigenen Bauchladen unterwegs.<br />

Die Auswirkungen unserer Tanzania-Reise waren noch über viele Jahre zu spüren. Immer<br />

wenn ich daran dachte, dass sich so weit entfernt Menschen an mich erinnern und im Gottesdienst<br />

für mich beten, wurde mir ganz warm ums Herz.<br />

4.10 Familie, Freunde und Gefährten<br />

<strong>Erika</strong> fand bald wieder eine Tätigkeit in der Familienbildung, natürlich im Kleinkindbereich.<br />

Da es in Koblenz keine evangelische Familienbildungsstätte gab, arbeitete sie an der katholischen,<br />

allerdings nur auf Honorarbasis. Eine feste Stelle hat sie nach dem Weggang aus Essen<br />

nie wieder besessen. Zum zentralen Lebensinhalt wurde für <strong>Erika</strong> das Prager-Eltern-Kind-<br />

Programm (PEKiP). Sie kannte es aus der Familienbildungsstätte in Essen. In unserer Koblenzer<br />

Zeit nahm PEKiP einen ungeahnten Aufschwung. <strong>Erika</strong> bekam alle Hände voll zu tun.<br />

Sie betreute zahlreiche Aus- und Fortbildungsgruppen und saß immer wieder mit Kolleginnen<br />

zusammen, um das Konzept methodisch und didaktisch weiterzuentwickeln, damals noch<br />

ganz ohne einen Verein und eine Geschäftsstelle im Hintergrund. Außerdem hatte <strong>Erika</strong> inzwischen<br />

ebenfalls mit einer TZI-Ausbildung begonnen und absolvierte auch noch das “Fernstudium<br />

Evangelische Erwachsenenbildung“. So waren wir beide oft zu Fortbildungsseminaren<br />

unterwegs. Wenn es sich einrichten ließ, verbanden wir die Fortbildung mit unserem Urlaub,<br />

fuhren mit Dominik auf einen Bauernhof und machten von dort aus - jede/r eine Woche<br />

lang - einen Abstecher zu einem Tagungshaus. Schon lange waren wir uns einig, dass man<br />

auch Urlaub voneinander braucht. Meist fuhr ich einmal pro Jahr für eine Woche allein ans<br />

Meer und im Sommerurlaub bekam jeder von uns “einen Tag für sich”. Einmal - wir waren<br />

auf einem Bauernhof in der Nähe von Salzburg - bin ich an so einem Tag von früh <strong>bis</strong> spät in<br />

den Alpen herumgefahren. Als ich am Abend zurückkam, erntete ich böse Blicke von den anderen<br />

Feriengästen. Als ich erklärte, dass ich auch mal Abstand von der Familie brauche, empörte<br />

sich ein Mann aus dem Ruhrgebiet: “Wer so denkt, sollte nicht heiraten!” Seine Frau<br />

sagte dagegen leise: “Mir täte das auch mal gut.”<br />

Ein besonderer Höhepunkt in meinem TZI-Werdegang war ein Lehrerkurs an der École d´<br />

Humanité in der Schweiz. Dort lehrte Ruth Cohn Didaktik und ich bin heute noch stolz darauf,<br />

damals an dieser berühmten Schule eine Unterrichtsstunde gehalten zu haben, nicht über<br />

ein religiöses Thema, sondern eine Einführung in die Thermodynamik.<br />

1979 kam Dominik in die Schule. Als er die ersten Vorübungen fürs Schreiben machen sollte,<br />

zeigte sich, dass er keine kleinen Kringel zustande bringt. Der Arzt diagnostizierte MCD (minicerebrale<br />

Dysfunktion, heute spricht man von ADS oder ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom).<br />

Das war eine unangenehme Überraschung, denn der Arzt schockte uns auch<br />

gleich mit dem Hinweis, dass solche Kinder nur in seltenen Fällen den Hauptschulabschluss<br />

schaffen. Es handelt sich um eine Störung im Gehirn. MCD-Kinder werden von Reizen überflutet,<br />

können sie aber nicht genug filtern und Wichtiges vom Unwichtigen trennen - ähnlich<br />

100


wie bei einem Hörgerät, das alle Nebengeräusche mitverstärkt. Die Folge ist eine ständige<br />

Unruhe. Solche Kinder sind zappelig und nur bedingt für die Schule geeignet. Nachträglich<br />

fiel uns auf, dass Dominik nie Puzzles zusammengesetzt oder andere "Feinarbeiten" gemacht<br />

hat. Er hatte immer nur die Grobmotorik benutzt, konnte schon früh schwimmen und wenn er<br />

mit 6 Jahren vom 5-Meter-Brett sprang, blieben andere Badebesucher stehen, um ihm zuzuschauen.<br />

Die Nachricht ein behindertes, in seinen Möglichkeiten eingeschränktes Kind zu<br />

haben, mussten wir erst einmal verdauen. Wir ahnten, dass uns schwierige Jahre bevorstehen.<br />

Die Überlegung, noch ein zweites Kind zu adoptieren, konnten wir unter diesen Umständen<br />

vergessen.<br />

Natürlich wollten wir alle Fördermöglichkeiten für Dominik ausschöpfen, aber da gab es<br />

nicht viel. MCD wurde gerade erst entdeckt und war noch kaum erforscht. Die Lehrer in der<br />

Schule hatten auch noch nichts davon gehört und reagierten nach dem Motto: “Das Kind soll<br />

sich eben mehr anstrengen.” Es strengte sich aber schon sehr an und wenn es mit viel Mühe<br />

einen krakeligen Buchstaben zu Papier brachte, war das eine tolle Leistung! Die große<br />

Schwierigkeit für <strong>Erika</strong> und mich war, einzuschätzen, was man von Dominik verlangen kann<br />

und was ihn überfordert. An dieser Aufgabe haben wir uns in den Folgejahren abgestrampelt,<br />

manchmal <strong>bis</strong> an die Grenze unserer Möglichkeiten.<br />

Heute ist Dominik längst erwachsen. Den Hauptschulabschluss hat er leider nicht geschafft.<br />

Zwei Versuche, eine Lehre zu absolvieren, scheiterten an der Berufsschule. Aber: er hat auch<br />

ohne Schulabschluss eine Stelle in einem Stahlwerk gefunden, kann gut für sich sorgen und<br />

ist mit seinem Leben einigermaßen zufrieden. Bis dahin war es ein langer Weg, von dem wir<br />

damals in Koblenz nur andeutungsweise ahnten, was auf uns zukommt.<br />

In Koblenz waren wir von einem großen Freundeskreis umgeben, meist Leute mit Kindern in<br />

Dominiks Alter. Mit ihnen gingen wir wandern und fuhren auf dem Schlauchboot in Etappen<br />

die Lahn herunter. Das schöne neue Hallenbad in Lahnstein lockte und ebenso das Kurbad<br />

oben auf der Lahnhöhe. In unserem Keller hatten wir eine Sauna einbauen lassen. Dort<br />

schwitzten wir mit unseren Freunden, wobei sich Dominik gern einen Spaß daraus machte,<br />

mal schnell als Nackedei ums Viereck zu flitzen und die Fußgänger zu schockieren. <strong>Erika</strong><br />

spielte in einer Theatergruppe der Volkshochschule und engagierte sich bei den SPD-Frauen<br />

(ASF). Auch auf diesem Wege vergrößerte sich unser Freundeskreis.<br />

Wenn wir zusammen mit anderen etwas unternahmen, waren meist Christine Holzing sowie<br />

Bernd und Bärbel Schatz dabei. Mit Bärbel verband mich das Interesse an der Gruppenpädagogik<br />

und der TZI. Wir sind oft zusammen zu Fortbildungen gefahren, einmal sogar ins weit<br />

entfernte Iserlohn. Es könnte sein, dass der Raum, in dem ich damals übernachtete, später in<br />

der Iserlohner Zeit mein Büro wurde, denn die Gästehäuser hat man bald darauf zu Büroräumen<br />

umgebaut.<br />

Zweimal fuhren wir mit einer großen Gruppe von Freunden und Bekannten in den Urlaub,<br />

einmal auf die Insel Elba, einmal nach Dänemark. Vor Elba erlebte ich mit Bernd Schatz den<br />

schlimmsten Segeltörn meines Lebens. Erst paddelten wir stundenlang in einer Flaute herum,<br />

dann brach ein Sturm los und wir hatten Mühe, das Land nicht aus den Augen zu verlieren.<br />

Ich dachte schon, nie mehr festen Boden unter die Füße zu bekommen, aber Bernd erwies<br />

sich als erfahrener, ruhiger Segler. Er brachte mich heil wieder an Land.<br />

101


In Dänemark hatten wir uns mit 40 Personen in einer Feriensiedlung eingemietet und daraus<br />

"unser Dorf" gemacht. Leider ist mir erst nachträglich eingefallen, dass man daraus gut eine<br />

Familienfreizeit mit staatlichen Zuschüssen hätte machen können.<br />

Eine "geistige Heimat” fanden wir in der "Ökumenischen Initiative Eine Welt" (kurz "Ö - I"<br />

genannt), einer Bewegung, die sich um einen alternativen Lebensstil bemüht. Es gab eine Art<br />

Manifest mit den Grundsätzen und überall in (West)Deutschland lokale Gruppen. Die Koblenzer<br />

Gruppe traf sich ein- <strong>bis</strong> zweimal im Monat, reihum in den Wohnungen, um gemeinsam<br />

zu essen und anschließend zu diskutieren. Manchmal arbeiteten wir ein Buch durch oder<br />

gingen zusammen in eine Veranstaltung. Die Gruppe lebte davon, das sich alle in der Zielsetzung<br />

"anders leben" einig, im Blick auf die Konsequenzen jedoch uneinig waren. Auto oder<br />

Fahrradfahren, Big Mäc oder Körner essen, Geld bei der Deutschen Bank oder bei der Ökumenischen<br />

Entwicklungsgenossenschaft anlegen, über solche Fragen konnte man sich prächtig<br />

in die Wolle geraten, manchmal <strong>bis</strong> weit nach Mitternacht.<br />

Am Montagnachmittag traf man sich mit vielen Gleichgesinnten zum "Schweigen für den<br />

Frieden" auf dem Plan, einem Platz in der Innenstadt. Heute, nach dem Ende der DDR und<br />

der Sowjetunion, ist nur noch schwer vorstellbar, wie stark uns damals die Friedensfrage,<br />

festgemacht am Thema “Nachrüstung”, bewegt hat. Ost und West standen sich wie zwei zornige<br />

Nashörner gegenüber, bereit den anderen platt zu machen, wäre da nicht ein kleines Problem<br />

gewesen: Beim atomaren Schlagabtausch gibt es keine Sieger. Wer als erster anfängt,<br />

verliert als zweiter. Die Welt stand damals mehrfach am Rand eines Atomkrieges. Mit unseren<br />

jungen Familien waren wir in besonderer Weise betroffen. Sollte all die Mühe, die wir<br />

uns mit unseren Kindern gaben, für die Katz gewesen sein, nur weil ein Politiker in Moskau<br />

oder Washington auf den falschen Knopf drückte? Das wollten wir verhindern und in einer<br />

Stadt die vom Militär bestimmt war, war es uns ganz besonders wichtig, unsere Meinung öffentlich<br />

zu zeigen. Natürlich sind wir auch nach Bonn zu den Großdemonstrationen gefahren.<br />

Die Friedensbewegung spaltete die Koblenzer in zwei Lager: Hier die Friedensbewegten, da<br />

die Leute von der Bundeswehr. Besonders schwierig war es für die vielen tausend Mitarbeiter<br />

des Bundeswehr-Beschaffungsamtes. Mancher hätte sich gern mit in unseren Schweigekreis<br />

gestellt, was aber, wenn der Vorgesetzte davon erfährt? Die Leute befanden sich in einer<br />

Zwickmühle. Sie hatten Technik studiert und waren zum Bund gegangen, weil es dort sichere<br />

Arbeitsplätze gab. Aber jetzt kamen sie in den Geruch, auf der falschen Seite zu stehen. Ein<br />

Freund hat uns jahrelang erzählt, er sei ausschließlich mit der Beschaffung von Lastwagen<br />

beschäftigt, mit Rüstung habe das nichts zu tun. Eines Tages rückte er dann aber doch damit<br />

heraus: Naja, eine Vorrichtung um ein Maschinengewehr zu befestigen, hätten die Lastwagen<br />

schon.<br />

Bei meinen Schülern fand ich oft eine unkritische Begeisterung für militärische Technik.<br />

Kein Wunder, ihre Väter arbeiteten in diesem Bereich und die Bundeswehr verstand es sehr<br />

geschickt, mit Technik für sich zu werben. Viele meiner Schüler hatten zu Hause Plakate mit<br />

Düsenjägern, Panzern und U-Booten über dem Bett hängen. Nie werde ich die folgende Szene<br />

vergessen: Wir hatten darüber gesprochen, wie viele Millionen ein neues Kampfflugzeug<br />

kostet (gerade wurde vom Starfighter auf Phantom umgestellt), wir hatten ausgerechnet, wieviel<br />

Menschen in den Entwicklungsländern davon satt werden könnten, da meldet sich ein<br />

Schüler und sagt: "Eine Phantom kann aber auch in Baumwipfelhöhe fliegen." Beim Wort<br />

Baumwipfelhöhe strahlten seine Augen, während ich ihn fassungslos anstarrte. Da hatte ich<br />

mich wieder einmal vergeblich abgemüht.<br />

102


In unserem Freundeskreis haben wir auch eine Sache ausgebrütet, die in Koblenz für Furore<br />

sorgte und uns viel Vergnügen bereitete, die Aktion “Schlumpf aufs Eck”. Die Koblenzer<br />

wollten gern ihren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben, das riesige Reiterstandbild, das <strong>bis</strong><br />

zum Kriegsende am Deutschen Eck stand. Seitdem war der Sockel leer. Nun hatte ein Koblenzer<br />

Großverleger Geld gespendet und das Standbild sollte wiedererstehen. Die offiziellen<br />

Vertreter der Stadt waren begeistert. Diese Attraktion würde Scharen von Touristen in die<br />

Stadt locken. Wir waren sauer. Erstens hätte man das Geld für bessere Zwecke ausgeben können,<br />

zweitens war dieser Kaiser ein berüchtigter Anti-Demokrat. Aber was kann man tun gegen<br />

einen Kaiser, der beabsichtigt auf einem gewaltigen Schlachtross in die Stadt einzureiten?<br />

Wir dachten: Man muss das Ganze lächerlich machen. Wenn schon eine Kolossalfigur<br />

am deutschen Eck, dann - billiger und zeitgemäßer - ein Schlumpf. Diese weißbemützten<br />

Blaulinge waren gerade sehr in Mode, überall konnte man “Das Lied der Schlümpfe” hören.<br />

Wir ließen 7000 Flugblätter drucken und sammelten Unterschriften für unsere Idee “Wilhelm<br />

weg - Schlumpf aufs Eck!” Es gab einen riesigen Wirbel, die Illustrierte Stern brachte einen<br />

Artikel über unsere Initiative, die Stiftung für staatsbürgerliche Mitverantwortung lobte uns<br />

und das Thema war tatsächlich für einige Jahre vom Tisch. Leider war es nur ein Aufschub,<br />

heute steht der alte Kaiser wieder da, wo ihn die konservative Mehrheit der Koblenzer hinhaben<br />

wollte, am “Deutschen Eck”.<br />

Auch Dominik hat in Koblenz schnell Anschluss gefunden. Kaum waren wir eingezogen, da<br />

entdeckten wir im Nachbargarten ein Bübchen, das von der Größe her gut zu Dominik passte,<br />

Rüdiger. Mit “Rüdi” war Dominik über viele Jahre hin befreundet. Die beiden erinnerten<br />

stark an “Max und Moritz”. Nicht alle ihre Streiche fanden unseren Beifall. Einmal haben sie<br />

sogar auf dem Dach unseres Autos einen Indianertanz aufgeführt und dabei bleibende Eindrücke<br />

hinterlassen. Rüdis Vater war Straßenbaudirektor, er war beim Umbau des Nürburgringes<br />

beteiligt und kannte dort Hinz und Kunz. Gern nahm er Dominik mit auf die Rennstrecke<br />

und ins Fahrerlager, später auch zum Wintersport in die Alpen.Leider zog Rüdiger, weil<br />

seine Eltern sich trennten, nach Mayen und die Jungenfreundschaft mit Dominik war zu<br />

Ende.<br />

4.11 In Koblenz schien immer die Sonne<br />

Aufs Ganze gesehen waren die Koblenzer Jahre eine herrliche Zeit. Ich fühlte mich vital wie<br />

nie zuvor, hatte Erfolg im Beruf, genoss das Leben mit <strong>Erika</strong> und Dominik, war in ein Netz<br />

von Gleichgesinnten eingebunden. Was will man mehr? So gut war es mir noch nie gegangen.<br />

Kein Wunder, dass in meiner Erinnerung in Koblenz immer die Sonne scheint (was sie<br />

natürlich in Wirklichkeit nicht tat).<br />

Leider gab es ein “Haar in der Suppe": ich bekam Ärger mit meinem Dienstvorgesetzten,<br />

dem Superintendenten Warnecke. Sein Kirchenkreis war der zweitgrößte in der Rheinischen<br />

Kirche und reichte von Adenau <strong>bis</strong> Bingerbrück. Da war immer irgendwo eine Pfarrstelle unbesetzt<br />

oder ein Kollege erkrankt und man brauchte einen Vertreter für den Gottesdienst.<br />

Warnecke meinte, dass der Schul- und Studentenpfarrer für solche Vertretungen hervorragend<br />

geeignet ist, weil er ja am Sonntag nicht Schule halten muss. Immer wieder rief er an, um<br />

mich auf entlegene Dörfer zu schicken. Das bedeutete <strong>bis</strong> zu zwei Stunden Anfahrt, dann der<br />

Gottesdienst in einer schwach gefüllten Kirche, danach die lange Rückfahrt. Ich wehrte mich<br />

und sagte, dass ich das Wochenende für die Familie, für Korrekturen und zur Unterrichtsvorbereitung<br />

brauche. Das überzeugte ihn aber nicht. "Am Sonntag gehen Sie doch ohnehin zur<br />

103


Kirche. Da können Sie doch auch eine alte Predigt mitnehmen und diese halten." Als ich entgegnete,<br />

dass ich keineswegs an jedem Sonntag in die Kirche gehe, war es ganz aus. Das<br />

passte nicht zu seinem Pfarrerbild. Auch mein Kompromissvorschlag, regelmäßig einmal im<br />

Monat eine Vertretung zu übernehmen, brachte uns nicht weiter. Am liebsten hätte er mich<br />

aus seinem Kirchenkreis verbannt.<br />

Gelegentlich habe ich ganz gern eine Vertretung übernommen. Die Gottesdienste am heiligen<br />

Abend in Oberdiebach-Manubach sind mir immer noch in guter Erinnerung. In einem abgelegenen<br />

Seitental des Rheins, fand ich eine große, mittelalterliche Kirche vor, festlich erleuchtet<br />

und voller weihnachtlich gestimmter Menschen, die alle auf mich und die Botschaft von<br />

der Menschenfreundlichkeit Gottes warteten. Auf der Heimfahrt konnte ich dann richtig Gas<br />

geben, kein Mensch war an diesem Abend auf der Straße. Den Rhein entlang brauste ich vorbei<br />

an erleuchteten Weihnachtsbäumen und angestrahlten Burgen und kam in bester Stimmung<br />

wieder in Koblenz an, wo die Bescherung auf mich wartete. Ein Festtag für alle Sinne!<br />

An einem solchen Weihnachtsabend kam Katze Nena in unsere Familie. Dominik hatte vorher<br />

schon mit Meerschweinchen Plusteback und zwei Hasen erste Erfahrungen in der Haustierhaltung<br />

gemacht. Nun hielten wir ihn für alt genug, für eine Katze zu sorgen. <strong>Erika</strong> hatte<br />

das kleine Wollbällchen am Nachmittag des heiligen Abends auf einem Bauernhof abgeholt,<br />

nun schlief das Tierchen in einer Kiste unterm Weihnachtsbaum. Es war bei uns üblich, die<br />

Geschenke schon vor der Bescherung auszubreiten, man durfte die Päckchen schon mal abtasten<br />

und raten, was drin ist. Nur öffnen durfte man sie nicht. Unser Kätzlein hielt ganz still<br />

und Dominik machte große Augen, als er am Abend den Karton aufmachte: "Da ist ja eine<br />

Katze drin!" Am nächsten Tag passierte noch ein furchtbares Unglück. Jemand hatte die Tür<br />

zum Garten offengelassen und Nena war und blieb verschwunden. Die ganze Weihnachtsstimmung<br />

war dahin, wir hätten heulen können. Aber wer kommt da plötzlich ausgeschlafen<br />

und hungrig die Treppe herunter? Unsere Nena. Fast siebzehn Jahre lang hat sie unser Leben<br />

begleitet, zwei Umzüge hat sie mitgemacht, hat uns oftmals den Bauch gewärmt, gelegentlich<br />

auch an Sesseln und Tapeten bleibende Spuren hinterlassen, sich mit Katern herumgetrieben<br />

und uns Mäuse vor die Tür gelegt. Ich vermisse sie immer noch und wenn irgendwo ein<br />

schwarzes Tuch oder ein kleines dunkles Kissen herumliegt, überfällt mich manchmal der<br />

Gedanke: Da <strong>bis</strong>t Du ja wieder, wo hast du nur die ganze Zeit gesteckt?<br />

Mehr als aufgewogen wurde der Ärger mit dem Superintendenten durch die enge Freundschaft<br />

zu unserem Schulreferenten Gustav-Adolf Böttcher, genannt “Düdi”. Der Schulreferent<br />

ist der Schulbeauftragte des Kirchenkreises. Er soll den Kontakt zwischen Kirche und<br />

Religionslehrern pflegen. Düdi wohnte gleich nebenan und wir haben oft mit ihm und seiner<br />

Frau bei einem Glas Wein über Gott und die Welt gesprochen. Leider ist er kurz nach unserem<br />

Wegzug aus Koblenz ganz überraschend gestorben.<br />

Eine ähnlich anregende Freundschaft verband uns mit Renate und Dietrich Röllinghoff, er<br />

Leiter der Volkshochschule, sie Ärztin und Vorsitzende der Koblenzer “pro familia”. Auch<br />

mit dem Leiter der Koblenzer Beratungsstelle waren wir befreundet. Als Renate den Vorsitz<br />

der “pro familia” abgeben wollte, hätte ich mich gern um diese ehrenamtliche Aufgabe beworben,<br />

aber mein Superintendent legte sich quer. In kirchlichen Kreisen wurde die “pro familia”<br />

wegen ihrer liberalen Einstellung zur Abtreibung heftig angefeindet. Ein Pfarrer an der<br />

Spitze, das war in Koblenz undenkbar, auch wenn es in Saarbrücken dafür schon ein Vorbild<br />

gab.<br />

104


Mit allen unseren Freunden und Freundinnen feierten wir gern und oft. Ein Höhepunkt war<br />

die Enthüllung eines Bildes, das Hanns Lansch für unser Wohnzimmer gemalt hatte. Es war<br />

eine besondere Erfahrung, mit diesem großformatigen, abstrakten Bild zu leben. Normalerweise<br />

begegnen einem solche Bilder nur im Museum und man hat nur einen flüchtigen Eindruck<br />

davon. Ein Bild an der Wohnzimmerwand ist etwas ganz anderes. Es sieht zu jeder Tages-<br />

und zu jeder Jahreszeit anders aus. Man entdeckt auch immer neue Einzelheiten darauf.<br />

“Unser Bild” war in den Farben schwarz-rot-gold gehalten und dem ermordeten italienischen<br />

Politiker Aldo Moro gewidmet.<br />

4.12 Abschied von Koblenz<br />

Wenn es in Koblenz so schön war, stellt sich die Frage, warum wir wieder weggezogen sind.<br />

Der Hauptgrund war: ich brauchte eine neue Herausforderung. Wenn man zehn Jahre lang<br />

unterrichtet, kommen einem nicht mehr viele neue Ideen. Ein bestimmtes Thema behandelt<br />

man nicht anders als im vergangenen Jahr und auch die Abiturprüfung verläuft nicht anders,<br />

als die letzte und die vorletzte. Der Ärger mit meinem Superintendenten ermutigte auch nicht<br />

gerade zum Bleiben. Außerdem rückte langsam mein fünfzigster Geburtstag heran, eine Marke<br />

<strong>bis</strong> zu der man als Pfarrer entweder zum letzten Mal die Stelle wechselt - oder es ganz<br />

bleiben lässt. Also begann ich, mich nach etwas anderem umzusehen. In eine Gemeinde hätte<br />

ich natürlich immer gehen können, aber ich war dem normalen Gemeindeleben ziemlich entwachsen.<br />

Was aber dann? Für Sonderaufgaben im Bildungsbereich wie beispielsweise die<br />

Leitung einer Akademie oder eines Tagungshauses, war ich mit TZI und Rollenspiel gut vorgebildet,<br />

aber solche Stellen gab es im Süden der Rheinischen Kirche kaum.<br />

Überraschend tauchte dann eine interessante Möglichkeit auf. Nach dem Abschluss meiner<br />

TZI-Ausbildung (1979) hatte ich lange überlegt, auf welchem Gebiet ich mich weiter fortbilden<br />

soll. Etwas körpernäher als TZI sollte es sein, aber auch nicht gleich Massage oder Bioenergetik.<br />

Schließlich stieß ich auf das Pädagogische Rollenspiel, wie es von Jan Tillmann<br />

und Hella Pörtner angeboten wurde. Im Herbst 1985 begann ich die mehrjährige Ausbildung<br />

zum Rollenspielleiter. Dabei lernte ich meinen Kollegen Klaus Rudolf kennen. Er hatte gerade<br />

aus der Westfälischen Kirche zum Erwachsenenbildungswerk der Rheinischen Kirche gewechselt<br />

und erzählte, dass sie in Westfalen keinen Nachfolger für ihn finden.<br />

Nach Westfalen? Womöglich wieder ins Ruhrgebiet?? Niemals! - Oder vielleicht doch? Ansehen<br />

konnte ich mir die Sache ja mal. Es war wirklich eine interessante Aufgabe, die in Westfalen<br />

wartete: für die Familienbildung in der gesamten Landeskirche zuständig sein. Der<br />

Dienstsitz war in Iserlohn, das Büro gleich neben der Evangelischen Akademie mit der Möglichkeit,<br />

im Park von "Haus Ortlohn" zu lustwandeln und die vorzügliche Küche der Akademie<br />

zu genießen - nicht schlecht! Iserlohn liegt auch nicht mitten im Ruhrgebiet, sondern an<br />

seinem Rand und schmückt sich mit der Bezeichnung "Waldstadt". Ich war hin und her gerissen<br />

zwischen dieser verlockenden Möglichkeit und Koblenz, wo ich mich gut eingewöhnt<br />

hatte und nach zehn Jahren langsam wusste “wie der Hase läuft“. Bewerben kannst du dich ja<br />

mal, dachte ich, der Ausgang ist ohnehin recht ungewiss, vielleicht finden sie ja doch noch<br />

einen geeigneten Westfalen. Damals waren die Grenzen zwischen den Landeskirchen schon<br />

ziemlich dicht, bei Stellenbesetzungen nahm man zuerst eigene Leute und nur wenn sich<br />

nach mehreren Anläufen niemand fand, jemanden aus einer anderen Landeskirche, schließlich<br />

musste man den Neuzugang <strong>bis</strong> zum Lebensende bezahlen.<br />

105


<strong>Erika</strong> war von meinen Plänen nicht gerade begeistert. Auch ihr war Koblenz ans Herz gewachsen.<br />

Aber wenn sie mich in Westfalen nehmen würden, käme sie mit. Das sei dann aber<br />

wirklich der letzte Umzug, den sie meiner Karriere zuliebe mitmache. Und so kam es. Ich<br />

bewarb mich beim Landeskirchenamt in Bielefeld, wurde genommen und unsere Zeit an<br />

Rhein und Mosel ging zu Ende.<br />

In der Schule gab es einen unauffälligen Abschied. An so einem großen Schulsystem waren<br />

ständig Lehrer zu verabschieden oder zu begrüßen. Manche Kollegen waren etwas neidisch<br />

auf mich. “Du hast es gut, kannst Dir einfach eine andere Aufgabe suchen. Wir müssen <strong>bis</strong><br />

zur Pensionierung weitermachen.”<br />

In der ESG ließ sich der Abschied gut mit dem Sommerfest verbinden. Wir feierten <strong>bis</strong> lange<br />

in die Nacht hinein von Dirk Juchem auf dem Saxophon begleitet. Im Freundeskreis gab es<br />

viele kleine und große Abschiede. Manche Freundschaften aus der Koblenzer Zeit sind uns<br />

<strong>bis</strong> heute erhalten geblieben.<br />

106


Neue Heimat Iserlohn<br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> 1986 <strong>bis</strong> 2001<br />

107


5.1 Von Koblenz nach Iserlohn<br />

Im April 1986 hatte die Westfälische Kirchenleitung mich auf die landeskirchliche Pfarrstelle<br />

für Familienbildung berufen. Im August sollte ich anfangen. Da blieb nicht viel Zeit für die<br />

Umzugsvorbereitungen, zumal die Zeit vor den Sommerferien in der Schule wegen der anstehenden<br />

Zeugnisse immer eine "dicke Zeit" ist. Der Umzug war ohnehin nicht vor September<br />

zu bewerkstelligen. Wir mussten erst noch eine Wohnung in Iserlohn finden. Dabei hatten wir<br />

Glück und fanden ein schönes Reihenhaus. Die Kirche war bereit, das Haus zu kaufen und an<br />

uns zu vermieten. Es war etwas komfortabler als unser Reihenhaus in Koblenz. Mehr als 180<br />

Quadratmeter warteten auf uns und wollten eingerichtet werden. Sogar einen Kamin besaßen<br />

wir jetzt, und auf unseren drei Balkonen ging die Sonne nicht unter. Wir konnten auf der Ostseite<br />

in der Morgensonne frühstücken, uns den Tag über auf der Westseite bräunen lassen und<br />

am Abend, wieder auf der Ostseite, den Sonnenuntergang genießen - natürlich nur bei schönem<br />

Wetter. Sauerland ist Schauerland!<br />

Aber so weit war es noch nicht. Am 1. August packte ich erst einmal die wichtigsten Sachen<br />

ins Auto, fuhr nach Iserlohn, bezog ein Gästezimmer in der Evangelischen Akademie und sah<br />

meine Familie nur noch an den Wochenenden.<br />

Iserlohn liegt südöstlich von Dortmund in der Randzone des Ruhrgebietes - eine recht attraktive<br />

Lage, denn auf der einen Seite hat man das Ruhrgebiet mit seinen vielfältigen kulturellen<br />

Angeboten und seinen Einkaufsmöglichkeiten direkt vor der Haustür, auf der anderen Seite,<br />

im „Land der tausend Berge“ gibt es Ausflugsmöglichkeiten ohne Ende. Wer möchte, kann<br />

im Wald <strong>bis</strong> nach Frankfurt laufen. Iserlohn hat dank zahlreicher Eingemeindungen zwar beinahe<br />

100 000 Einwohner, ist aber eher eine Kleinstadt als eine Großstadt. Das Schützenfest<br />

bildet den Höhepunkt des Jahres. Da mussten wir uns etwas umgewöhnen.<br />

Der Wechsel vom Rheinland nach Westfalen war nicht weiter problematisch. Zwar werden<br />

Rheinländer und Westfalen oft als gegensätzlich beschrieben, der Rheinländer als lebenslustig,<br />

der Westfale eher als stur und dröge, im täglichen Leben verwischen sich die Unterschiede,<br />

jedenfalls in städtischen Regionen. Rheinische und Westfälische Kirche unterscheiden<br />

sich nur geringfügig. Sie sind gleich aufgebaut und es gilt das gleiche Kirchenrecht. Allerdings<br />

kam mir die Westfälische Kirche manchmal etwas patriarchalischer vor, so eine Art<br />

"Kirche nach Gutsherrenart". Ein Beispiel erlebte ich gleich an meinem ersten Arbeitstag. Da<br />

wollte ich mich einfach an meinen Schreibtisch setzten, wurde aber ins Landeskirchenamt<br />

nach Bielefeld beordert. So einfach gehe das nicht, zunächst müsse mir die Berufungsurkunde<br />

ausgehändigt werden. Also fuhr ich mit dem Zug (2 Stunden) nach Bielefeld, bekam die<br />

Urkunde vom Vizepräsidenten des Westfälischen Kirche zunächst vorgelesen und dann in die<br />

Hand gedrückt. Dann wieder zwei Stunden Rückfahrt, und nun durfte ich loslegen. Mir hätte<br />

es völlig gereicht, wenn man mir die Urkunde per Einschreiben zugeschickt hätte. Aber man<br />

kann natürlich auch sagen: Die Westfalen haben ein Gefühl für Stil.<br />

Das Packen für den Umzug musste ich zum größten Teil <strong>Erika</strong> überlassen. Wir fanden eine<br />

sehr praktische Lösung, den Komplettumzug. „Sie fahren in den Urlaub und wenn Sie zurückkommen,<br />

steht in der neuen Wohnung alles am vertrauten Platz!“ Mit diesem Slogan<br />

warb eine Koblenzer Spedition. Das kam uns gerade recht. Ganz so einfach wie versprochen<br />

war es natürlich nicht, denn die neue Wohnung sah ja anders aus als die alte. Sie haben aber<br />

tatsächlich jede Schranktür aufgemacht und mit einer Polaroidkamera festgehalten, welches<br />

108


Glas und welches Figürchen an welcher Stelle steht. In Iserlohn haben sie dann alles genauso<br />

wieder eingeräumt.<br />

Während ich mich in die neue Arbeit stürzte, tat sich <strong>Erika</strong> mit dem Eingewöhnen schwer.<br />

Kein Wunder, hatte sie doch in Koblenz alles, was ihr wichtig war, zurückgelassen und hier<br />

(noch) nichts Neues dafür gewonnen. Sie fand aber eine geradezu geniale Lösung für dieses<br />

Problem. Sie lief zu Fuß von Koblenz nach Iserlohn!<br />

Im vorletzten Jahrhundert gab es zwischen Berlin und Koblenz eine optische Telegrafenverbindung.<br />

Man hatte jeweils in Sichtweite auf den Bergen Signalmasten aufgestellt. Die sahen<br />

so ähnlich wie Bahnsignale aus, hatten aber ein paar Arme mehr. Damit konnte der König in<br />

Berlin seinen Soldaten auf der Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz Befehle zukommen lassen.<br />

Das war damals ein großer Fortschritt, denn eine Nachricht war, von Mast zu Mast weitergegeben,<br />

in 20 Minuten am Ziel. Vorher hatte ein Reiter dafür mehrere Tage gebraucht.<br />

Nur bei Nebel ließ sich die neue Technologie nicht verwenden. Die Telegrafenstrecke führte<br />

über Iserlohn, und wenn sich die Flügel oben am Mast bewegten, sagten die Iserlohner: "Der<br />

König rudert mit den Armen!" Entlang dieser alten Signalstrecke wanderte nun <strong>Erika</strong> von<br />

Koblenz nach Iserlohn und siehe da: Als sie dort eintraf, war ihre Seele ebenfalls am neuen<br />

Wohnort angekommen.<br />

5.2 Arbeit in der Arbeitsstelle<br />

Stärker als in Koblenz, wo ich eher als „Einzelkämpfer“ agiert hatte, war ich jetzt in eine Institution<br />

eingebunden, musste mich mit anderen absprechen und lernen, im Team zu arbeiten.<br />

Meine Stelle gehörte zur "Arbeitsstelle für Erwachsenen- und Familienbildung". Dort gab es<br />

neben meiner eigenen Pfarrstelle noch die Stelle des Landeskirchlichen Pfarrers für Erwachsenenbildung.<br />

Dazu kam ein kleiner Bürobetrieb mit zwei, später drei Verwaltungsangestellten<br />

und einem Zivildienstleistenden. Nach einigen Jahren bekamen wir noch eine Diplompädagogin<br />

dazu. Die Leitung der Arbeitsstelle wechselte von Jahr zu Jahr zwischen meinem<br />

Kollegen von der Erwachsenenbildung und mir. Untergebracht war die Arbeitsstelle in einem<br />

Bürogebäude unmittelbar neben dem landeskirchlichen Tagungshaus („Haus Ortlohn“) in<br />

Iserlohn. Grob gerechnet, gab es für mich drei Aufgabenfelder: die pädagogischen Angebote<br />

der Arbeitsstelle, vor allem das Fernstudium; meine eigenen Projekte im Bereich Familienbildung<br />

und die Mitwirkung in zahlreichen Gremien.<br />

a. Das “Fernstudium Evangelische Erwachsenenbildung”<br />

Die Hauptaufgabe der Arbeitsstelle bestand darin, die pädagogischen Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter in den Gemeinden und Kirchenkreisen zu unterstützen. Als hilfreiches Instrumentarium<br />

hatte sich dabei das "Fernstudium Evangelische Erwachsenenbildung" erwiesen, ein<br />

Kursprogramm zur Aus- und Fortbildung von haupt- und (überwiegend) ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen.<br />

Die gingen meist mit viel Begeisterung an die Arbeit, hatten aber nicht gelernt,<br />

mit Gruppen umzugehen. Da übernahm beispielsweise jemand in einer Kirchengemeinde die<br />

Leitung einer Frauengruppe oder aus einem lockeren Treff von Müttern mit ihren Kindern<br />

wurde ein Gesprächskreis. Aber wie leitet man/frau so eine Gruppe? Im Fernstudium wurde<br />

vermittelt, wie man Themen formuliert, wie man mit schwierigen Teilnehmern umgeht, wie<br />

man nicht nur mit dem Kopf, sondern mit allen Sinnen lernt. Die Bezeichnung Fernstudium<br />

109


war allerdings etwas hoch gegriffen, es ging ja nicht um einen akademischen Abschluss, sondern<br />

um eine solide, praxisbezogene Grundausbildung in Sachen Erwachsenenbildung. Der<br />

Grundkurs des Fernstudiums dauerte ca. zwei Jahre. Wer wollte, konnte danach noch zwei<br />

Jahre Aufbaukurs in Familienbildung, Seniorenbildung oder politischer Bildung dranhängen.<br />

Die Teilnehmenden trafen sich zu Studienzirkeln in ihrer Heimatregion und zu sog. “Direktkursen”<br />

in einem Tagungshaus, irgendwo in Westfalen. Am Ende der Fortbildung musste eine<br />

schriftliche Arbeit vorgelegt werden. Da wir für jeden Kursdurchgang <strong>bis</strong> zu 100 Leute aufnahmen,<br />

war das Fernstudium eine aufwändige Angelegenheit. Allein schon die Organisation<br />

der Kurse hielt unser Büro in Atem. Es mussten aber auch ständig Lehrpläne verändert, neue<br />

Materialien gesichtet und die laufende Kurs ausgewertet werden. Für die Leitung der Kurse<br />

hatte sich die Arbeitsstelle ein eigenes Lehrkollegium herangezogen, die Tutoren. Diese Tutoren<br />

- meist waren es Tutorinnen - leiteten die Studienzirkel und die Kurse und sahen auch die<br />

Abschlussarbeiten durch. Natürlich mussten auch sie ständig weitergebildet werden.<br />

Unsere etwa zwei Dutzend Tutorinnen waren sehr gut qualifiziert, hatten selbst das Fernstudium<br />

absolviert, viele besaßen außerdem eine gruppenpädagogische Zusatzausbildung, meist<br />

Rollenspiel oder TZI. Die Tutorenschaft bildete sozusagen die “Kerntruppe” der Arbeitsstelle,<br />

ohne sie lief gar nichts. Die Tutorinnen waren sich ihrer Bedeutung durchaus bewusst, und<br />

mein Kollege kam oft ins Schwitzen, wenn sie sich widerborstig zeigten. Er war zwar auf<br />

dem Papier der Leiter des Fernstudiums, aber was tun, wenn sich die Leute nicht leiten lassen<br />

wollen, weil Leitung zu sehr nach Herrschaft riecht? Ein wenig wehte im Fernstudium noch<br />

der Geist der antiautoritären Bewegung. Auch die Romantik der Anfangsjahre machte uns zu<br />

schaffen - ein Problem vieler Organisationen. In der Gründungsphase braucht man wenig<br />

Strukturen, alle kennen sich, vertrauen sich und ziehen am gleichen Strang. Später, wenn das<br />

Unternehmen gewachsen ist und eine neue Generation von Mitwirkenden nachwächst,<br />

braucht man andere Umgangsformen. Ein solcher Umstellungsprozess war im Fernstudium<br />

gerade im Gange. Ich kam voll hinein in die Phase der Gärungen und Klärungen.<br />

Zum Fernstudium kamen unter der Überschrift “Mitarbeiterfortbildung” noch zahlreiche weitere,<br />

weniger umfangreiche Angebote der Arbeitsstelle.<br />

b. eigene Projekte<br />

Eine zweite “Säule” meiner Arbeit waren eigene Projekte im Bereich Familienbildung. Eins<br />

fand ich schon vor, als ich nach Westfalen kam. Alle Kirchengemeinden sollten zu einem<br />

Wettbewerb “Familienfreundliche Gemeinde" eingeladen werden. Sie sollten Projekte beschreiben,<br />

die sie selbst durchgeführt hatten und als nachahmenswert empfanden. Dafür gab<br />

es Preise, und alle Beteiligten durften sich ein Schild "Familien willkommen!" an die Kirche<br />

oder ans Gemeindezentrum schrauben. Mein Vorgänger hatte schon erste Vorbereitungen getroffen,<br />

aber nach seinem Weggang ruhte das Projekt in der Schublade. Schon bei meiner Berufung<br />

hatte man mir bedeutet: "Da können Sie zeigen, was Sie können". Der Unterton<br />

"...und wir können sehen, ob wir uns den richtigen Mann geholt haben", war nicht zu überhören.<br />

Der Wettbewerb erwies sich tatsächlich als günstiger Einstieg für mich. Ich konnte kaum<br />

etwas falsch machen. Zwar meldeten sich zunächst nur einige wenige Gemeinden, aber eine<br />

Nachwerbung brachte dann doch den gewünschten Erfolg. Wir bekamen eine bunte Fülle von<br />

Projektbeschreibungen zusammen, angefangen vom Familienfrühstück am Sonntagmorgen<br />

vor dem Gottesdienst über Kontakte zwischen Seniorenclub und Kindergarten <strong>bis</strong> zur Bilderbuchausleihe<br />

während des Gottesdienstes. Den Abschluss des Wettbewerbs bildete ein großes<br />

Familienfest im Park von Haus Ortlohn. Danach war noch eine Dokumentation zu erstellen,<br />

110


damit andere Gemeinden die eingeschickten Projekte übernehmen konnten. Meine erste größere<br />

Aufgabe hatte ich erledigt. Aus dem Landeskirchenamt kamen anerkennende Worte. Offenbar<br />

hatte man sich den richtigen Mann geholt.<br />

c. Sitzungen, Sitzungen, Sitzungen<br />

Etwa ein Drittel meiner Arbeitszeit brauchte ich für Sitzungen und Besprechungen. Insgesamt<br />

waren es gut zwei Dutzend Gremien, in denen ein Platz für mich reserviert war. Manche dieser<br />

Gremien tagten nur einmal im Jahr, wie die Bundeskonferenz der Familienbildungsstätten,<br />

andere kamen jede Woche zusammen. Die Sitzungs“kultur“ habe ich in den folgenden<br />

Jahren gründlich kennengelernt und war immer wieder überrascht, wie wenig effektiv sie ist.<br />

Oft wurden die Sitzungen miserabel geleitet. Man kam "vom Hölzchen aufs Stöckchen" und<br />

fing immer wieder bei Adam und Eva an, obwohl alles in Ausschüssen schon mehrfach<br />

durchgekaut worden war. Rivalitäten wurden hinter Sachfragen versteckt abgehandelt, und<br />

über allem lag nur allzu oft der Dunst nichtssagender theologischer Phrasen. Da war ich mit<br />

meinem gruppenpädagogischen Hintergrund einfach Besseres gewohnt.<br />

Ein Wunder war es freilich nicht. Kirchenleute haben nur selten das Leiten gelernt. Nicht einmal<br />

für die oberste Etage gibt es so etwas wie eine Führungsakademie. Wozu auch - der heilige<br />

Geist weht bekanntlich, wo er will! Da gibt es nichts zu lernen und Fortbildung erscheint<br />

als reine Zeitverschwendung. Natürlich fand ich unter meinen Kollegen auch so manchen genialen<br />

Kopf und charismatischen Führer, aber es gab eben auch Typen, wie sie Elias Canetti<br />

so treffend als "Gottprotz“ beschrieben hat. „Der Gottprotz muss sich nie fragen, was richtig<br />

ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine<br />

Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott<br />

unterschreibt es. Er findet Sätze, die er braucht, er fände sie im Schlafe. Um Widersprüche<br />

braucht er sich nicht zu bekümmern, sie kommen ihm zustatten. Er überschlägt, was ihm<br />

nicht von Nutzen ist und bleibt bei einem unbestreitbaren Satze hängen. Den nimmt er für<br />

ewige Zeiten in sich auf, <strong>bis</strong> er mit seiner Hilfe erreicht hat, was er wollte. Doch dann, wenn<br />

das Leben weitergeht, findet er einen anderen. ... Der Gottprotz ist ein schöner Mann, mit<br />

Stimme und Mähne.“<br />

Eine alte Leidenschaft habe ich in langweiligen Sitzungen wiederentdeckt und weiterentwickelt:<br />

das Zeichnen. Unendlich viele Ränder von Sitzungsprotokollen habe ich vollgekritzelt.<br />

Später ist daraus eine ernsthafte Beschäftigung, das Cartoon-Zeichnen, geworden.<br />

5.3 Turbulenzen<br />

Fast vier Jahre lang lief in der Arbeitsstelle alles sehr erfreulich. Wir konnten unsere Angebote<br />

weiter ausbauen und erreichten sogar, dass unsere Tutorinnen nicht mehr ehrenamtlich arbeiten<br />

mussten, sondern ein bescheidenes Honorar erhielten. Dann trat eine unvorhergesehene<br />

Unterbrechung ein. Mein Kollege, Christoph Meier, verließ die westfälische Kirche. Er<br />

war aus Bayern nach Westfalen gekommen und als sich eine Aufstiegschance an der Akademie<br />

in Tutzing bot, griff er zu. Nun stand das Fernstudium ohne Leiter da und es war auch<br />

keine Frage, wer den freigewordenen Platz ausfüllen durfte, <strong>bis</strong> sich ein Nachfolger gefunden<br />

hat. Zum Glück hatte ich mich von Anfang an als Stellvertreter betätigt, war also gut in<br />

der Materie drin. Nur: ich war mit dieser Vertretungsaufgabe voll ausgelastet und konnte kei-<br />

111


ne eigenen Projekte mehr beginnen. Nun muss aber eine Arbeitsstelle immer wieder auf sich<br />

aufmerksam machen, es muss etwas in der Zeitung stehen, eine neue Veröffentlichung muss<br />

erscheinen, eine erfolgreiche Tagung durchgeführt werden usw. Bleiben solche wichtigen<br />

“Lebenszeichen” aus, heißt es schnell: "Gibt es die überhaupt noch?" Von da <strong>bis</strong> zum "Brauchen<br />

wir die eigentlich?" ist es nur ein kurzer Weg. Eine schwierige Zeit, deren Ende ich<br />

sehnlichst herbeiwünschte!<br />

Die Suche nach einem Nachfolger gestaltete sich schwerer als erwartet. Die wirklich guten<br />

Leute, möglichst mit Doppelstudium (Theologie und Pädagogik) standen nicht gerade auf der<br />

Straße herum. Einige Interessenten hatten wenig Ahnung von Erwachsenenbildung, andere<br />

gefielen der Kirchenleitung nicht. Die Sache zog sich in die Länge.<br />

Dann kam es auch noch zu einem Eklat. Obwohl sich die gesamte Tutorenschaft gegen eine<br />

bestimmte Bewerberin ausgesprochen hatte, wurde sie von der Kirchenleitung gewählt. Unsere<br />

Tutoren gingen auf die Barrikaden. Sie statteten der Frau einen Besuch ab und überzeugten<br />

sie, dass es besser sei, die Stelle nicht anzutreten. Oje, auf diese Weise gegen einen Beschluss<br />

der Kirchenleitung anzugehen, das gehört sich nicht! Nun schien die Bielefelder Sonne<br />

weniger freundlich auf die Arbeitsstelle, und auch ich bekam einen Teil des Ärgers ab.<br />

Zwar hatten mich die Tutoren klugerweise nicht in ihre Pläne eingeweiht, aber es hieß eben<br />

doch, ich hätte meine Leute "nicht im Griff". In solchen Kategorien zu denken, lag mir völlig<br />

fern. In der Erwachsenenbildung geht es um Verstehen, Überzeugen und Anerkennen, aber<br />

nicht darum, andere "im Griff" zu haben. Kirchenjuristen sehen das offenbar anders.<br />

Es dauerte noch eine ganze Weile, <strong>bis</strong> wir eine geeignete Nachfolgerin für Christoph Meier<br />

gefunden hatten und ich mich endlich wieder meinen eigentlichen Aufgaben widmen konnte:<br />

Maria Barutzky-Jürgens. Mit ihr habe ich eine Reihe von Jahren zusammengearbeitet, <strong>bis</strong> sie<br />

als Kirchenrätin nach Bielefeld ging. Die Beziehung zu ihr war kühler als zu Christoph, mit<br />

dem mich eine richtige Freundschaft verband. Aber sie verstand etwas von der Sache, war<br />

ausgebildete Supervisorin und - was das wichtigste ist - die Zusammenarbeit mit ihr war loyal,<br />

ohne Tricks und Intrigen. Dass wir es nie <strong>bis</strong> zum "Du" gebracht haben, war zu verschmerzen.<br />

Auf Maria Barutzky-Jürgens folgte Antje Rösner, mit ihr war die Verbindung wieder<br />

etwas enger.<br />

5.4 Miteinander wachsen – ein Projekt für Eltern-Kind-Gruppen<br />

Fast zwei Jahre hatte ich durch die unglückliche Konstellation in der Arbeitsstelle verloren.<br />

Nun konnte endlich wieder ein größeres Projekt in Angriff genommen werden. In fast allen<br />

Kirchengemeinden gibt es Eltern-Kind-Gruppen (Krabbelgruppen, Miniclubs, wie auch immer<br />

sich solche Angebote für Kinder <strong>bis</strong> zu drei Jahren nennen). Diese Gruppen werden<br />

meist ehrenamtlich geleitet, mit viel Einsatz oft aber auch mit wenig Kompetenz. Selbst Sozialpädagoginnen<br />

wissen meist nur wenig über Bedürfnisse von Kleinkindern und über die Entwicklungsphasen<br />

in den ersten Lebensjahren. Sie versuchen beispielsweise, mit den Kindern<br />

zu basteln, obwohl die Kinder noch keine Schere halten können. Für diese Gruppen musste<br />

unbedingt etwas getan werden.<br />

Mir schwebte eine Art abgespecktes Fernstudium vor. Zum Glück hatte ich völlig freie Hand<br />

und genug Geld, um diesen Plan in die Tat umzusetzen. Ich suchte mir eine Projektgruppe<br />

aus fachkundigen Frauen und Männern zusammen. Fast zwei Jahre lang diskutierten wir,<br />

112


schrieben Texte, probierten Spiel- und Bewegungsanregungen. 1995 war "Miteinander wachsen<br />

in der Eltern-Kind-Gruppe" fertig für einen ersten Probedurchgang. Es besteht aus einzelnen<br />

Kursbausteinen, die sich je nach Bedarf unterschiedlich zusammensetzen lassen. Außerdem<br />

schulten wir Mitarbeiterinnen für den Umgang mit diesem Programm. Es sollte sich<br />

durch ein Schneeballsystem über Westfalen ausbreiten. Das ist leider nicht in dem Maße gelungen,<br />

wie wir uns das vorgestellt hatten. In manchen Regionen wurde es gut angenommen,<br />

in anderen entschied man sich für andere Modelle. Aber es war ein gutes Produkt und kam<br />

genau zur richtigen Zeit.<br />

5.5 Die Vertreibung aus dem Paradies<br />

Leider zogen am Horizont neue Wolken auf. Die Westfälische Kirche ordnete ihre Einrichtungen<br />

um. In Dortmund hatte sie ein Bürogebäude gekauft, dort sollten in einem “Haus Landeskirchlicher<br />

Dienste” zentrale Einrichtungen untergebracht werden. Auch unsere Arbeitsstelle<br />

stand zur Diskussion. Wir wehrten uns so gut wir konnten, verwiesen darauf, dass es in<br />

Dortmund keine Übernachtungsmöglichkeiten für unsere Kursteilnehmer gibt. Man hörte uns<br />

geduldig zu, aber wenn es um Macht und Einfluss geht, sind Argumente nur begrenzt wirksam.<br />

Wir mussten umziehen. Mit der engen Nachbarschaft zum Tagungshaus war es vorbei.<br />

Wir glichen fortan einer Schule, bei der Verwaltung und Klassenräume 40 km auseinander<br />

liegen. Keine sehr praktische Lösung.<br />

Für mich war die Entscheidung mehr als unglücklich. Schließlich war ich wegen der günstigen<br />

Arbeitsbedingungen in Iserlohn, vor allem wegen der Nähe zur Akademie, nach Westfalen<br />

gegangen. Auch war mir Haus Ortlohn inzwischen richtig ans Herz gewachsen. Wir hatten<br />

es gerade für viel Geld völlig umgebaut. Da ich in der Umbauzeit Vorsitzender des Leitungsgremiums<br />

war, war es noch stärker als vorher "mein Haus" geworden. In Zukunft in der<br />

Innenstadt von Dortmund arbeiten zu sollen, empfand ich - auch wenn sich rechtlich nichts<br />

gegen den Beschluss der Kirchenleitung sagen ließ - als einen Vertragsbruch. So hatten wir<br />

nicht gewettet! Die Fahrt zum neuen Arbeitsplatz erwies sich zudem als äußerst umständlich.<br />

Erst 20 Minuten zu Fuß <strong>bis</strong> zum Iserlohner Bahnhof, dann 50 Minuten Bahnfahrt, dann noch<br />

20 Minuten Fußmarsch quer durch die Dortmunder Innenstadt <strong>bis</strong> zu unserem neuen Domizil<br />

am Junggesellenweg. Mit allen Wartezeiten ergab das fast vier Stunden vertane Lebenszeit<br />

pro Arbeitstag. Nein, so hatte ich mir das nicht vorgestellt! Dass ich mir auch reine Heimarbeitstage<br />

einrichten konnte und manche Termine direkt von Iserlohn aus zu erreichen waren,<br />

machte die Sache nur unwesentlich besser.<br />

Es kam aber noch schlimmer. Kaum hatten wir die neuen Räume bezogen, liefen wir mit dicken<br />

Hängebacken wie die Hamster herum. Die neuen Räume dünsteten Formaldehyd aus.<br />

Wir flohen zurück nach Iserlohn. Weil die meisten Umzugskartons unausgepackt in Dortmund<br />

zurückbleiben mussten, begann eine chaotische Zeit. Wir konnten nur einen Notbetrieb<br />

aufrechterhalten, suchten ständig nach Unterlagen - und das bei laufendem Fernstudium.<br />

Mittlerweile bemühten sich Spezialfirmen um die Entgiftung unserer neuen Räume. Nach ein<br />

paar Monaten gab es endlich Entwarnung. Wir zogen zum zweiten Mal nach Dortmund und<br />

hofften, nun endlich wieder ungestört arbeiten zu können.<br />

Angesichts solcher frustrierender Erfahrungen, will ich die positiven Seiten meiner Arbeit<br />

nicht unterschlagen. Es machte einfach Spaß, in der Arbeitsstelle zu arbeiten. Auch in den<br />

113


schwierigen Zeiten hielten die Mitarbeiter phantastisch zusammen. Der Arbeitsstil war kollegial<br />

und nur selten von Rivalitäten behindert. Vor allem mit den Tutorinnen und Tutoren kam<br />

ich gut klar. Ich genoss es, zusammen mit anderen Projekte zu entwickeln. In einer Gruppe zu<br />

arbeiten, in der sich alle gegenseitig schätzen, wo jeder seine Kompetenzen einbringen kann<br />

und wo Kritik weiterführend geäußert wird, - das machte wirklich Freude und wog die<br />

Schwierigkeiten, von denen ich berichtet habe, mehr als auf.<br />

Oft waren unsere Projekte mit einer abschließenden Veröffentlichung verbunden. Da konnte<br />

ich meine Erfahrungen aus dem grafischen Gewerbe gut einbringen. Außerdem hatte der<br />

Computer bei uns Einzug gehalten. Ich stürzte mich auf die neue Technik und ihre Möglichkeiten.<br />

Bald kaufte ich mir für zu Hause den ersten eigenen PC - den berühmten Commodore<br />

64. Von diesen ersten Anfängen ging es dann immer weiter. Heute stehen gleich mehrere, natürlich<br />

modernere PCs neben meinem Arbeitsplatz, und ich kann mir ein Leben ohne ihre Unterstützung<br />

kaum noch vorstellen.<br />

5.6 Und die eigene Familie?<br />

Ein Pfarrer für Familienbildung sollte eigentlich eine richtige Bilderbuchfamilie vorweisen<br />

können: Eine immer freundliche Ehefrau, die ihm den Rücken frei hält und ein Herz für Notleidende<br />

aller Art hat, dazu zwei oder drei süße Kinderchen, aus denen später Theologen oder<br />

doch wenigstens Fachärzte werden. Mit einer solchen Familie konnte ich leider nicht dienen.<br />

Kinder bekamen wir keine, und unser Adoptivsohn Dominik zeigte wenig Neigung, Karriere<br />

zu machen. Wenn Kollegen voller Stolz von ihren erfolgreichen Sprösslingen berichteten,<br />

wurden <strong>Erika</strong> und ich immer ganz still. Mit seiner Behinderung (ADHS) tat Dominik sich in<br />

der Schule schwer. Oft haben wir uns gefragt, ob es für ihn nicht besser gewesen wäre, wenn<br />

wir in Koblenz geblieben wären. Rheinland-Pfalz bemühte sich, die Hauptschule durch kleine<br />

Klassen und gute Lehrer aufzuwerten. In Iserlohn sah die Sache anders aus. Kinder aus acht<br />

Nationen tobten in Dominiks Klasse herum, und die Lehrer waren froh, wenn das Mobiliar<br />

nicht angezündet wurde. Zum Schluss ging Dominik nur noch mit Springerstiefeln und<br />

Schmetterlingsmesser bewaffnet hin.<br />

Je stärker ihn die Fluten der Pubertät erfassten, um so unzugänglicher wurde er für uns. Mit<br />

16 suchte er sich eine Art Ersatzfamilie, schlichte Menschen, die nach dem Motto lebten: viele<br />

Kinder, viele Tiere, viel Alkohol. <strong>Erika</strong> und mir standen die Haare zu Berge. Als wir nicht<br />

mehr weiter wussten, gingen wir zur Erziehungsberatung. Die verlief nach der Devise: Das<br />

Problem ist nicht das Kind, das Problem sind die Eltern, denen das Verhalten ihres Kindes so<br />

viel ausmacht. Immerhin hat uns die Beratung klargemacht, dass wir nur begrenzt für unser<br />

Kind verantwortlich sind und dass wir vor lauter Sorge um seine Zukunft nicht das eigene<br />

Leben vergessen dürfen.<br />

Dominik verließ die Hauptschule ohne Abschluss, machte ein Berufsfindungsjahr, versuchte<br />

eine Lehre als Koch - es war alles nicht das Richtige. Auch die Bundeswehr hatte er bald<br />

über. Seine anfängliche Begeisterung für alles Militärische hatten sie ihm schnell ausgetrieben.<br />

Enttäuscht erzählte er: “Wenn Du eine Frage hast, lassen sie dich so lange um den Kasernenblock<br />

laufen, <strong>bis</strong> du diese Frage nicht mehr hast.” Nach meinen positiven Erfahrungen<br />

mit der Inneren Führung hatte ich mir das etwas anders vorgestellt. Jedenfalls kam Dominik<br />

zurück und war von aller militärischen Begeisterung geheilt..<br />

114


Die Frage der Berufswahl blieb weiter offen. Dominik versuchte zum zweiten Mal eine Ausbildung<br />

zum Koch, brach auch diese Lehre ab und landete schließlich als Küchenhelfer in<br />

Haus Ortlohn. Als wir erfuhren, dass bei ihm Heroin im Spiel war, wussten wir auch nicht<br />

mehr weiter. Zu allem Überfluss wurden wir auch noch Großeltern. Eine junge Frau aus dem<br />

Berufsfindungsjahr behauptete, Dominik sei der Vater ihres Kindes. Plötzlich hatten wir ein<br />

Baby und eine völlig überforderte Mutter im Haus. Das konnte nicht gut gehen. Dominik zog<br />

sich immer weiter aus seiner Vaterrolle zurück. Vielleicht hatte er "den richtigen Riecher".<br />

Die Sache mit der Vaterschaft war uns gleich ein wenig spanisch vorgekommen und endete<br />

schließlich vor dem Richter. Nun bekamen wir es schriftlich: Dominik ist nicht der Vater dieses<br />

Kindes und wir sind nicht seine Großeltern. Erleichtert atmeten wir auf.<br />

Auch die Drogengeschichte nahm ein gutes Ende. Dominik ging freiwillig zum stationären<br />

Entzug. Danach suchte er sich eine Stelle in einem Kabellager. Endlich Licht am Ende des<br />

Tunnels! Sehr geholfen hat Dominik seine Fähigkeit, hart gegen sich selbst zu sein. Wenn er<br />

etwas erreichen will, kann er <strong>bis</strong> an die Grenzen seiner Möglichkeiten gehen. Das imponiert<br />

mir sehr.<br />

Vielleicht hat auch noch ein anderer Umstand dazu beigetragen, dass Dominik sich "an den<br />

eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen" konnte. Er kam wieder in Kontakt mit seiner leiblichen<br />

Mutter. Zu der Zeit ,als wir Dominik adoptierten, meinten die Fachleute, die Beziehung<br />

von adoptierten Kindern zu ihren leiblichen Eltern könne man vernachlässigen, Hauptsache<br />

das Kind ist gut untergebracht. Inzwischen sah man das ganz anders. Als ich im Rahmen einer<br />

Fortbildung bei Bert Hellinger meine Familie aufstellen sollte, beharrte Hellinger darauf,<br />

dass ich auch Dominiks leiblichen Eltern einen Platz im Raum zuweise. In diesem Moment<br />

muss es in meinem Kopf "Klick" gemacht haben, jedenfalls war ich plötzlich daran interessiert,<br />

was aus Dominiks Mutter Agnes geworden ist. Es war nicht einfach, sie zu finden. Sie<br />

war mehrfach umgezogen, ohne sich umzumelden. Dann kam mir aber doch ein Zufall zu<br />

Hilfe, und ich erfuhr ihre aktuelle Adresse. Briefe und Telefonate gingen hin und her, und<br />

schließlich konnten sich Mutter und Sohn in die Arme schließen, noch etwas zögerlich, aber<br />

doch glücklich.In der Folgezeit gab es lebhafte Kontakte zwischen den beiden, sie hatten sich<br />

viel zu erzählen. Später ist Agnes dann für einige Jahre nach Iserlohn gezogen bevor sie wieder<br />

ganz aus unserer Sichtweite verschwand. Ich denke, es war hilfreich, diese Verbindung<br />

wieder zu knüpfen. Es ist einfach nicht gut, wenn Kinder an der Stelle von Eltern nur einen<br />

weißen Fleck haben, den sie mit Phantasien füllen müssen. Offen bleibt die Frage, was aus<br />

Dominiks Vater geworden ist. Für diese Suche fühle ich mich nicht mehr zuständig, die muss<br />

er selbst in Gang bringen.<br />

Die Geschichte von der wiedergefundenen Mutter hat noch einen interessanten Nebenaspekt.<br />

Als wir Agnes zum ersten Mal zu Hause besuchten, sah es in ihrer Wohnung ungefähr so aus,<br />

wie bei den Ersatzeltern, die sich Dominik mit 16 Jahren gesucht hatte. Es roch auch so und<br />

der Hund begrüßte Dominik, als habe er immer zur Familie dazugehört. Kann es sein, dass<br />

Adoptivkinder, die nichts über ihre Herkunftsfamilie wissen, diese Familie rekonstruieren<br />

und inszenieren? Ich halte es für möglich und bin im Zusammenhang mit meiner Arbeit immer<br />

mal wieder auf dieses Phänomen gestoßen. Für Hellinger-Fans sind solche Zusammenhänge<br />

ohnehin eine Selbstverständlichkeit.<br />

115


5.7 Drachenreisen<br />

Das Vergnügen am Drachenbau hatte ich aus Koblenz nach Iserlohn mitgebracht. Es ließ sich<br />

gut mit der Familienbildung verbinden. Wenn ich eine Familienfreizeit anbot oder anderen<br />

beibrachte, wie man so etwas macht, war das Drachenbauen immer ein Programmpunkt.<br />

Drachen kamen damals groß in Mode. In vielen Städten entstanden Drachenläden. Manche<br />

hatten auch mein "Kleines gelbes Drachenbuch" im Regal. In dieser Broschüre hatte ich einfache<br />

Bauanleitungen zusammengestellt. Zusammen mit dem Heft "Zehn-Minuten-Spiele für<br />

die Schule” bildete es den Grundstock unseres Familien-Kleinverlages (oder besser: Kleinstverlages).<br />

Diesen “<strong>Verlag</strong> <strong>Erika</strong> <strong>Roch</strong>” hatten wir gegründet, weil ein Pfarrer kein Gewerbe<br />

betreiben darf. Später sind dort noch eine Reihe von Heften für Eltern von Kleinkindern erschienen.<br />

Der <strong>Verlag</strong> machte uns nicht viel Arbeit, er lief einfach so nebenbei mit. Große Gewinne<br />

brachte er uns nicht, aber doch immer so ein kleines Zusatzeinkommen.<br />

Für einen flotten Lenkdrachen konnte man vor zwanzig Jahren schon ein paar hundert Mark<br />

ausgeben. Mein Motto beim Drachenbau war diesem Trend genau entgegen gerichtet: Mehr<br />

als eine Mark muss ein Drachen nicht kosten, fliegen sollte er trotzdem gut. Also baute ich<br />

meine Drachen aus Tragetaschen und mit den Stäben aiatischer Sonnenrollos, anstelle von<br />

Spinnaker-Nylon und Glasfiberstäben, einfach, billig und ohne großen Zeitaufwand zu bauen,<br />

was natürlich auch bei Familienfreizeiten von Vorteil war.<br />

a. Ein Drachenfest in China<br />

Wenn ich ein freies Wochenende hatte, fuhr ich immer mal wieder zu einem Drachenfest, um<br />

zu schauen, was andere Drachenbauer so treiben. Außerdem wurde ich Mitglied im Drachenclub<br />

Deutschland (DCD). Der DCD organisierte Reisen zu Drachenfesten in aller Welt. Unter<br />

anderem hatte er ein Drachenfest in Weifang (China) im Angebot. Warum nicht mal nach<br />

China fahren? Allein oder mit jemandem zusammen? <strong>Erika</strong> hatte kein Interesse an Weifang.<br />

Außerdem musste sich ja auch jemand um unser Kind kümmern. Ich fand eine andere Reisebegleiterin:<br />

Else Semmer. Wir kannten uns schon viele Jahre aus Fortbildungen. Else hatte<br />

eine heimliche Liebe zu China, wollte unbedingt einmal auf der großen Mauer stehen, und als<br />

ich sie fragte, ob sie mitkomme, sagte sie "Ja, wenn <strong>Erika</strong> einverstanden ist."<br />

Else erwies sich als kluge und hilfreiche Reisebegleiterin. Ich kann mir keine Situation vorstellen,<br />

in der sie nicht ein passendes Gedicht aufsagt, meist von Bert Brecht. Auch war sie<br />

schon einmal in Japan gewesen und konnte mir den Sinn der endlosen japanischen Fernsehserien,<br />

die abends über den Fernseher flimmerten, erklären.<br />

China war damals (1987) erst am Anfang des gewaltigen Umbruchs, von dem heutige Besucher<br />

so begeistert und teilweise auch schockiert sind. Wir fanden sowohl plüschige Hotels<br />

aus der Mao-Zeit wie auch nagelneue Wolkenkratzer vor, sahen primitive Holzkarren und<br />

Züge mit eingebauten Fernsehern. China im Umbruch! Von den bekannten Touristenattraktionen<br />

haben wir nur wenig mitbekommen, erlebten weder die Zuckerhut-Berge bei Guilin,<br />

noch die Armee der Tonsoldaten, noch die Kaisergräber. Statt dessen arbeiteten wir uns von<br />

Süd nach Nord von Drachenwerkstatt zu Drachenwerkstatt vor. Überall, wo wir hinkamen,<br />

ließen wir unsere Drachen steigen, zum ersten Mal gleich nach Ankunft in Hongkong auf einem<br />

Berg mit herrlichem Blick hinunter auf die Stadt. Leider wurde der Ausblick durch eini-<br />

116


ge tote Kühe, die auf der Drachenwiese herumlagen, getrübt. Unsere Gastgeber nahmen das<br />

mit asiatischer Gelassenheit.<br />

Von Hongkong aus ging es mit dem Zug nach Kanton, dann mit dem Flugzeug nach Schanghai<br />

und in einer schier endlosen Zugfahrt in den Nordosten, in die “Drachenstadt” Weifang.<br />

Die Stadt liegt in der Provinz Shadong, südöstlich von Peking auf der Landnase, die in Richtung<br />

Korea zeigt. Je näher wir an die Stadt herankamen, um so mehr Drachen zeigten sich am<br />

Himmel, meist in Form von Vögeln oder Fischen. Bald sah der Himmel wie eine Kreuzung<br />

von Voliere und Aquarium aus.<br />

In Weifang wurden wir im Yuanfei Hotel ("Drachensteige Hotel", wir sagten: “Hotel Drachensteigenberger“)<br />

untergebracht. Es war eben erst fertig geworden, und im Speisesaal wurden<br />

noch "Mädchen vom Lande" angelernt, wie sie Bestecke anstelle von Stäbchen neben die<br />

Teller zu legen hatten. Die halbe Stadt war auf den Beinen, um die fremdländischen Gäste zu<br />

bestaunen.<br />

Am nächsten Morgen ging es dann richtig los. Hinter der deutschen Flagge zogen wir ins<br />

vollbesetzte Stadion ein. Jubel, Grußworte, Böllerschüsse, Musik, Jubel... - ein Spektakel von<br />

olympischen Dimensionen. Dass dem Festzug beim Einmarsch ein riesiger Osterhase vorangetragen<br />

wurde, erheiterte uns, war aber durchaus ernst gemeint. Wir befanden uns im "Jahr<br />

des Hasen". Nach dem offiziellen Teil durfte dann jeder noch seine mitgebrachten Drachen<br />

steigen lassen, was natürlich zu massenhaft verhedderten Leinen führte. Es war aber auch ein<br />

toller Anblick: Drachen im asiatischen Stil, also Blumen, Fische und Vögel, dazu buddhistische<br />

Heilige und hunderte japanischer Minidrachen ergänzt durch moderne westliche Schöpfungen<br />

wie Saurier und Telefonzellen, das alles flog kreuz und quer in der Luft herum.<br />

Am folgenden Tag brachten uns Busse zu den Wettbewerben in eine ausgedörrte Salzsteppe,<br />

draußen vor der Stadt. Es war ein spannendes Zusammentreffen von asiatischer Drachenbaukunst<br />

und modernem westlichem Drachenbau, auf einen Seite feinste Handwerksarbeit aus<br />

gepaltenen Bambusstäben, auf der anderen Seite feinste High-Tech-Schöpfungen. Zwischen<br />

allen diesen Meistern hatte ich natürlich keinerlei Chance, einen Preis zu erringen. Ich tröstete<br />

mich mit dem olympischen Gedanken: Hauptsache dabei gewesen!<br />

Von Weifang aus ging unsere Reise weiter nach Bejing, wo wir unsere Drachen auf dem Platz<br />

des himmlischen Friedens und vor dem Himmelstempel steigen ließen. Nur auf der Großen<br />

Mauer hatten wir Pech. Es regnete in Strömen. Niemand mochte bei diesem Wetter seine<br />

Drachen auspacken. Die letzten Stunden vor dem Rückflug verbrachte ich im Pekinger Zoo.<br />

Nach all den Erlebnissen der vorangehenden Tage war ich müde, legte mich auf einer Wiese<br />

zu einem Mittagsschläfchen nieder und erwachte von einem heftigen Stimmengewirr um<br />

mich herum, alles Eltern, die ihren Kindern die schlafende "Langnase" zeigten. So bin ich,<br />

wenn auch nur für kurze Zeit, nach den Panda-Bären die zweitgrößte Attraktion des Pekinger<br />

Zoos gewesen.<br />

Über Hongkong und London flogen wir zurück nach Düsseldorf. Es war der erste Flug auf<br />

der direkten Route über Sibirien. Bei der Hinreise hatten wir noch den Umweg über Bombay<br />

nehmen müssen. Jetzt gab es die ersten Anzeichen eines politischen Tauwetters. Die USA und<br />

die Sowjetunion, jahrzehntelang verfeindet und manchmal am Rande eines Atomkrieges, redeten<br />

plötzlich wie vernünftige Menschen miteinander. Der "Wind of change" begann zu wehen.<br />

117


Völlig ausgefüllt mit Reiseeindrücken kehrte ich zurück und bedauerte, die Rückreise nicht<br />

mit der Transsibirischen Eisenbahn gemacht zu haben. Ich hätte mehr Zeit zum "Verdauen"<br />

gebraucht. Besonders beeindruckt hat mich die selbstverständliche Würde, mit der uns die<br />

Chinesen entgegen traten. Ich hatte immer wieder den Eindruck, allenfalls ein geduldeter<br />

Gast zu sein. Als man in Deutschland noch im Bärenfell herumlief, gab es in China bereits<br />

eine hochentwickelte Kultur, Musik, Theater usw. Wir Westeuropäer waren damals die Unterentwickelten,<br />

und ein Gefühl für diese kulturelle Differenz ist vielen Chinesen anzuspüren. In<br />

Afrika hatte ich das ganz anders erlebt. Dort begegnete mir oft eine unterwürfige Haltung gegenüber<br />

Europäern.<br />

Der zweite überwältigende Eindruck war die Kraft der Farben. Hier bei uns ist alles bunt, die<br />

Farben überbieten sich gegenseitig. In China, jedenfalls im Norden, herrschen erdige Farbtöne.<br />

Vor diesem reizarmen Hintergrund springt einem eine rote Flagge oder ein gelbes Tuch<br />

förmlich ins Auge.<br />

Der dritte nachhaltige Eindruck war ein Besuch bei Mao. Einbalsamiert liegt er in seinem<br />

Mausoleum auf dem Platz des himmlischen Friedens. Stundenlang warten die Menschen in<br />

einer langen Schlange, um dann für wenige Augenblicke ehrfurchtsvoll vor dem großen Führer<br />

zu verharren. Es sind viele Greise aus entfernten Provinzen darunter, die ihrem Enkel den<br />

toten Mao zeigen. Keine Frage: Hier ruht “der letzte Kaiser von China".<br />

b. Eine Reise ans Ende der Welt<br />

Eine zweite Drachenreise führte mich 1990 ans Ende der Welt, nach Neuseeland. Die Kiwis<br />

feierten den 250. Jahrestag ihrer Staatsgründung. Zu den vielen Feierlichkeiten aus diesem<br />

Anlass gehörte auch ein mehrtägiges Drachenfest in Napier auf der Nordinsel. Die Stadt Napier<br />

ist in Europa kaum bekannt, hat jedoch schon einmal weltweit für Schlagzeilen gesorgt.<br />

1931 wurde Napier durch ein Erdbeben verwüstet und anschließend mit internationaler Hilfe<br />

wieder aufgebaut, alles im feinsten Art-Deco-Stil. Für Freunde dieser Stilrichtung ist die<br />

Stadt ein Geheimtip.<br />

Neuseeland empfängt seine Besucher recht abweisend. Nach 23 Stunden Flug - mit Unterbrechungen<br />

in Bankok und Singapur - will man eigentlich nur noch raus aus der engen Blechkiste.<br />

Aber so einfach geht das nicht. Erst einmal erscheinen Uniformierte mit der Sprühdose<br />

und nebeln das Flugzeug mit Insektengift ein. Die Passagiere husten, röcheln, ringen nach<br />

Atem, es gibt kein Erbarmen, erst müssen alle Insekten tot sein, bevor die Passagiere an die<br />

frische Luft entlassen werden. Neuseeland will seine Obstplantagen gegen Fruchtfliegen<br />

schützen, da müssen die Touristen ein paar kleine Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen.<br />

Unser Drachenfest fand in einem großen Park unmittelbar neben dem Flughafen von Napier<br />

statt. Man hatte ihn während des Festes für den Flugbetrieb gesperrt. Wir mussten aber versprechen,<br />

unsere Drachen schnell herunter zu holen, falls eine Notlandung ansteht. Das Fest<br />

verlief ähnlich wie in Weifang und wie die meisten Drachenfeste überall auf dieser Erde: Eröffnung,<br />

Schaufliegen, Wettbewerbe, Preisverleihung. Anders als in China waren hier mehr<br />

moderne High-Tech-Konstruktionen zu sehen, alle nach dem Motto: der Größte, der<br />

Schnellste, der Schönste. Einer war so gewaltig, dass man ihn an einer Baumaschine festmachen<br />

musste, sonst wäre er zusammen mit seinem Erbauer davongeflogen.<br />

118


Mit meinen Mini-Fliegern hatte ich natürlich keine Chance gegen solche Superlative, aber<br />

immerhin: Als ausgerechnet bei der Pressekonferenz der Wind völlig einschlief, blieb mein<br />

kleiner Superflieger als letzter oben. Auch ein Triumph!<br />

Für die Reise hatte ich mich mit zwei Drachenfreunden zusammengetan, Peter aus Düsseldorf<br />

und Wolfgang aus Berlin. Vor und nach dem Fest wollten wir uns noch ein wenig im<br />

Land umschauen. Logisch, wenn man schon mal da ist...<br />

Neuseeland wird zu Recht die "Schweiz in der Südsee" genannt. Es geht dort ganz und gar<br />

europäisch zu. Hat man sich erst einmal an den Linksverkehr gewöhnt, fühlt man sich bald<br />

wie zu Hause. Selbst in entlegenen Gegenden findet man überall ein sauberes Motel, eine<br />

Tankstelle oder einen Arzt. Nur das Essen ist zum Weglaufen: ein riesiges Stück Fleisch ein<br />

paar halbgare Kartoffeln, dazu noch etwas Gemüse auf dem Teller, das wars auch schon. Mc-<br />

Donalds, Kentucky Chicken und viele kleine Im<strong>bis</strong>sbuden mit Spezialitäten aus aller Herren<br />

Länder haben uns vor dem Verhungern bewahrt.<br />

Zum europäisch anmutenden Umfeld kommen die vielen exotischen Attraktionen wie Riesenfarne,<br />

rauchende Vulkane und Tümpel, in denen eine kochend heiße Brühe blubbert und<br />

gewaltig nach faulen Eiern stinkt. Viereinhalb Wochen waren viel zu kurz, um alles Sehenswerte<br />

zu bestaunen. Schließlich mussten wir ja auch noch einheimischen Drachenbauern wie<br />

Peter Lynn einen Besuch abstatten. Die Zeit reichte gerade noch zu einem Sprung auf die<br />

Südinsel, aber die Alpenlandschaft und den Kakapo, jenen Papagei, der in Eis und Schnee<br />

lebt und am liebsten Autoantennen abknickt, haben wir nicht kennen gelernt. Man müsste<br />

einfach nochmal hinfahren! Wenn es nur nicht so weit wäre.<br />

Beim stop-over in Singapur erlebten wir noch ein kleines, nicht ganz ungefährliches Abenteuer.<br />

Wir gerieten in ein eher schlichtes Hotel. Unsere Vorgänger hatten das Zimmer unter Wasser<br />

gesetzt und wir planschten <strong>bis</strong> zum Knöchel in einer undefinierbaren Brühe herum. Auf<br />

einmal gab es einen lauten Knall mit heftigem Funkenregen. Die Deckenlampe war abgestürzt<br />

und samt Zuleitung ins Wasser gefallen. Gut erholt, nahmen wir es gelassen. Wahrscheinlich<br />

war die Harmonie zwischen Yin und Yang gestört und jetzt hatte sich die Sache<br />

wieder zurechtgeruckelt.<br />

Singapur ist erfüllt von Menschengetümmel und von feuchtwarmer Hitze. Es gibt nichts, was<br />

man dort nicht zu kaufen bekäme. Sogar einen Laden mit Kuckucksuhren fanden wir, alle<br />

handgeschnitzt aus Russland, daneben Läden mit modernster Elektronik. Ich kaufte mir ein<br />

kleines Aufnahmegerät und ging auf die Jagd nach Tönen. Dieses Gerät habe ich später noch<br />

oft auf Reisen mitgenommen. Wo andere Fotos knipsten, fing ich mir akustische Erinnerungen<br />

ein. Es ist verblüffend: Wenn ich so eine Cassette laufen lasse und die Augen schließe,<br />

tauchen in meinem Kopf sofort wieder die zugehörigen Bilder auf. Ich stehe wieder an einer<br />

Straßenkreuzung in Singapur, inmitten von lärmenden Lkw, hupenden Taxis, stinkenden<br />

Bussen, knatternden Mopeds und spüre sogar die warme Luft um mich herum.<br />

119


5.8 Im wilden Westen<br />

1995 animierte mich Bernd Schatz zu einer Reise in den Südwesten der USA. Er war schon<br />

einmal dort gewesen und wollte seine Erinnerungen auffrischen. Wir flogen nach San Francisco,<br />

nahmen einen Leihwagen und zockelten über die Sierra Nevada und das Tal des Todes,<br />

wo ich natürlich einen Drachen steigen ließ, nach Las Vegas und weiter <strong>bis</strong> nach Moab, dann<br />

am Gran Canyon vorbei wieder in Richtung Küste nach San Diego und Los Angeles. Als Reiselektüre<br />

hatte ich mir das Buch "Der Strom, der bergauf fließt" mitgenommen. Es schilderte<br />

eine Fahrt von Evolutionsbiologen und Hirnforschern durch die Stromschnellen des Colorado.<br />

Während sie (im Buch) durch die tosenden Wellen geschleudert wurden, blickte ich (in<br />

reality) vom Rande der etwa 1800 Meter tiefen Schlucht auf eben diese Strudel hinab. Eine<br />

spannende Reise - und ein spannendes Buch! Der Leser erfährt (im Buch) eine Menge über<br />

die Entwicklungsgeschichte der Menschheit z.B. über die Erfindung der Tragetasche. Der<br />

Vormensch mit Tragetasche (aus Blättern und Lianen) konnte mehr Steine mitnehmen und<br />

war deshalb bei der Jagd erfolgreicher als sein Kollege ohne dieses Utensil. Ein gewaltiger<br />

Fortschritt in der Geschichte der Menschheit!<br />

Zwei Jahre später habe ich die Reise ein zweites Mal gemacht, diesmal mit Uwe Polinski. Allerdings<br />

fuhren wir in umgekehrter Richtung, von Los Angeles nach San Francisco. Am<br />

Schluss blieben uns noch ein paar Tage, um in aller Ruhe diese faszinierende Stadt zu erkunden,<br />

z.B. das Museum of Modern Art (SF-MOMA), in dem die ganze klassische Moderne<br />

von Chagall <strong>bis</strong> Picasso versammelt ist. Dann flogen wir zurück in die "alte Welt". Unser<br />

Flieger beschrieb eine große Kurve über der Stadt, wir blickten hinunter auf die Golden Gate<br />

Bridge, über die wir am Vortag zu Fuß gewandert waren (40 Minuten pro Richtung). Leb<br />

wohl Amerika, wahrscheinlich werden wir uns nicht noch einmal wiedersehen!<br />

Meine Eindrücke von "Gottes eigenem Land" waren widersprüchlich. Die Weite der Landschaft,<br />

die Hilfsbereitschaft der Menschen und das multikulturelle Durcheinander beeindruckten<br />

mich. Zurück in Deutschland, kam mir alles viel kleiner und kleinkarierter vor. Das<br />

Bemühen um die Umwelt überraschte mich. In jedem Naturpark lernen die Kinder in bester<br />

Pfadfindermanier sorgsam mit Tieren und Pflanzen umzugehen. Auf der Autobahn die linke<br />

Spur für Menschen, die nicht allein im Auto sitzen, zu reservieren, darauf muss man erst einmal<br />

kommen. Dass Raucher inzwischen systematisch verfolgt werden und im Restaurant bestenfalls<br />

einen Katzentisch neben der Toilettentür erhalten - nun ja, das Land hatte schon immer<br />

einen Sauberkeitsfimmel. Alles muss clean sein! Früher putzte man Hexen und Kommunisten<br />

weg, heute Raucher.<br />

Ungewohnt und schwer zu ertragen war für mich die große Kluft zwischen Arm und Reich.<br />

Die einen fahren unbekümmert mit ihrem Mercedes oder Porsche spazieren, während andere<br />

am Straßenrand Essensreste aus den Mülltonnen der Reichen klauben. Warum sollte man sich<br />

seines Reichtums schämen, wo es doch jeder mit etwas Anstrengung vom Tellerwäscher zum<br />

Millionär bringen kann? Erstaunlich ist, dass offenbar alle mit diesen Zuständen zufrieden<br />

sind. Niemand möchte daran grundsätzlich etwas ändern.<br />

120


5.9 Im Osten viel Neues<br />

Die Nachricht vom Fall der Mauer erreichte mich übers Autoradio auf der Rückfahrt von unserem<br />

Wohnwagen am Sorpesee. Zu Hause angekommen, machte ich gleich zwei Radios an.<br />

Das eine für den Deutschlandfunk, das zweite für Radio DDR. Wie unterschiedlich beide<br />

Sender die Lage darstellten und kommentierten, war eine spannende Sache. Schade, dass ich<br />

es nicht aufgezeichnet habe.<br />

Eine Weile später besuchte ich eine gesamtdeutsche Bildungstagung. Wir arbeiteten im<br />

Wechsel, mal Ossis und Wessis getrennt, mal beide Gruppen zusammen. Ich fühlte mich keiner<br />

dieser beiden Gruppen zugehörig. Auf mein Drängen hin wurde dann noch eine dritte<br />

Gruppe eingerichtet, für die “Wossis“, wie ich einer bin. Wir sind tatsächlich eine besondere<br />

Gruppe, die im Osten Geborenen, die später "nach drüben" gegangen sind. Das fängt schon<br />

damit an, dass wir "hüben" und "drüben" nicht eindeutig zuordnen können. Von hier aus ist<br />

der Osten “drüben”, von der alten Heimat aus ist er “hüben” und der Westen “drüben”. Viele<br />

von uns haben auch ein wenig ein schlechtes Gewissen, weil wir seinerzeit unsere Freunde<br />

und Kameraden im Stich gelassen haben.<br />

Ich hatte den Kontakt in Richtung Osten die DDR-Jahre über gehalten. Nach dem Grundlagenvertrag<br />

und der Amnestie für Flüchtlinge war ich auch immer mal wieder in Leipzig, meiner<br />

alten Heimat, oder in Ost-Berlin. Ich besuchte Freunde, brachte Bücher und Kaffee mit<br />

und wusste - wie die meisten Ost-Reisenden - nicht so recht, was ich mit dem zwangsumgetauschten<br />

Geld anfangen sollte. Die Angst, bei einem dieser Besuche festgehalten zu werden,<br />

hat mich nie ganz verlassen. Ich atmete jedes Mal auf, wenn ich die Grenze hinter mir hatte.<br />

Dazu trugen nicht nur meine Kindheitserinnerungen, sondern auch aktuelle Erfahrungen an<br />

der Grenze bei. Einmal hatte ich ein Äthiopisches Hungertuch als Mitbringsel dabei. Der<br />

Grenzer runzelte die Stirn: "Äthiopisches Hungertuch? In Äthiopien herrscht doch jetzt der<br />

Sozialismus. Wollen Sie etwa den Sozialismus beleidigen?" Ein andermal wurde ich am<br />

Bahnhof Friedrichstraße für eine Weile in eine Zelle eingesperrt. Niemand hat mir damals etwas<br />

zuleide getan, aber es war trotzdem schlimm, nicht zu wissen, wann man wieder frei<br />

kommt. Ein Glück, dass wir das hinter uns haben!<br />

Wenn ich Lust bekomme, meine alte Heimat wiederzusehen, steige ich um 10 Uhr 28 in<br />

Dortmund in den Intercity und bin um 15 Uhr 18 in Leipzig. Gern zeige ich Freunden und<br />

Bekannten “mein Leipzig“: Thomaskirche und Nikolaikirche, altes und neues Rathaus, Mädlerpassage<br />

und Specks Hof, die Galerie für Zeitgenössische Kunst und das nagelneue Museum<br />

der Bildenden Künste. In den langen Häuserzeilen der Vororte, wo kurz nach der Wende<br />

nur ab und zu ein einzelnes Haus in neuem Glanz erstrahlte, bekommen die neuen Fassaden<br />

langsam die Überhand. Wundervoll!<br />

Seit etlichen Jahren fahre ich zu den Klassentreffen meines Abiturjahrganges an der Nikolaischule.<br />

2006 konnten wir das "Goldene Abitur" feiern,, am richtigen Datum und im alten<br />

Klassenraum. Wir gehören zu einer Generation, deren Biografie entscheidend von der Spaltung<br />

Deutschlands geprägt ist. Je nachdem, ob man in der DDR blieb oder "nach drieben<br />

machte", lief das Leben in sehr unterschiedliche Richtungen. Auf diese Weise ist bei unseren<br />

Treffen die deutsche Nachkriegsgeschichte immer präsent. Dass wir offen darüber sprechen<br />

können, wie sich diese Geschichte in unseren Lebensläufen spiegelt, ist eine bewegende Sache.<br />

121


Wende gut, alles gut? Natürlich nicht, dazu gibt es zu viele Verlierer auf der östlichen Seite.<br />

Trotzdem ist mir noch niemand begegnet, der sich die Mauer zurückgewünscht hat.<br />

5.10 Überraschendes Ende und neuer beruflicher Anfang<br />

Wie alle landeskirchlichen Pfarrstellen war auch meine Stelle befristet. Nach acht Jahren<br />

musste ich entweder die Verlängerung beantragen oder mir eine andere Stelle suchen. Eine<br />

schwierige Entscheidung! Um Klarheit zu gewinnen, suchte ich mir einen Supervisor. Mit<br />

seiner Unterstützung arbeitete ich alle Vor- und Nachteile, alle möglichen Alternativen und<br />

auch meine Einstellung zum Beruf, zur Kirche und zur Religion gründlich durch. Dann ging<br />

ich zu meinen Dezernenten im Landeskirchenamt und sagte, dass ich weitermachen möchte.<br />

Dafür war ein Beschluss der Kirchenleitung nötig, aber nachdem die Dezernenten mir ihre<br />

Unterstützung zugesichert hatten, meinte ich, das könne nur noch eine Formsache sein. Mir<br />

war auch kein einziger Fall bekannt, wo die Verlängerung nicht problemlos über die Bühne<br />

gegangen war. Da hatte ich mich jedoch gründlich verrechnet. Zu meiner Überraschung beschloss<br />

die Kirchenleitung, meine Tätigkeit nicht zu verlängern. Nur einen Zuschlag von<br />

zwei Jahren wollten sie mir geben, damit ich alle laufenden Arbeiten abschließen könne. Ich<br />

war wie vor den Kopf gestoßen und eine Weile so durcheinander, dass ich einen Autounfall<br />

baute. Zum Glück ist dabei weder <strong>Erika</strong> noch mir etwas Ernsthaftes passiert, aber das Auto<br />

war hinüber, und wir brauchten ein neues.<br />

Wie es zu jenem Beschluss der Kirchenleitung gekommen ist, habe ich nie erfahren. Insider<br />

sagten: "Du musst Dir jemanden in der obersten Leitungsetage zum Feind gemacht haben."<br />

Aber wen, und wann und wie? Spielte vielleicht auch die beginnende Finanzkrise der Kirche<br />

eine Rolle und man wollte meine Stelle einsparen? Für diese Vermutung spricht, dass die<br />

Stelle nach meinem Weggang tatsächlich gestrichen wurde. Aber darüber hätte man ja offen<br />

mit mir sprechen können. So bleibt an diesem Vorgang etwas Rätselhaftes.<br />

Wie sollte es nun mit mir weitergehen? Allzu tief konnte ich nicht fallen, denn ich war Pfarrer<br />

auf Lebenszeit, muss also von meiner Kirche “versorgt” werden. Fand ich keine neue Stelle,<br />

drohte mir schlimmstenfalls der vorgezogene Ruhestand. Im Landeskirchenamt zeigte man<br />

sich zuversichtlich. "Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Bruder <strong>Roch</strong>, wir finden schon<br />

etwas Passendes für Sie. Notfalls richten wir eben einen Beschäftigungsauftrag ein." Ein solcher<br />

Auftrag fiel nicht unter den Stellenstopp, er war eine persönliche Beauftragung. Jemand<br />

sollte eine bestimmte fest umrissene Aufgabe erledigen. Dafür musste keine neue Stelle geschaffen<br />

werden.<br />

"Welchen Aufgabenbereich können Sie sich denn am ehesten vorstellen?" wurde ich gefragt.<br />

Diese Frage war leicht zu beantworten. Nach zehn Jahren in der Erwachsenen- und Familienbildung<br />

wollte ich in diesem mir vertrauten Bereich bleiben. Klar war auch: Wir wollten nicht<br />

noch einmal umziehen, denn das mussten wir am Beginn des Ruhestandes ohnehin noch einmal<br />

tun. Also gut, ein Beschäftigungsauftrag für Erwachsenen- und Familienbildung im Kirchenkreis<br />

Iserlohn sollte es werden. Das war nun wieder dem Kirchenkreis nicht recht, denn<br />

einerseits bekam er zwar einen zusätzlichen Pfarrer "geschenkt" (das Gehalt zahlte die Landeskirche),<br />

aber der Mann verursacht ja auch Sachkosten.. Dem Erwachsenenbildungswerk<br />

verdanke ich es, dass der Gordische Knoten dann doch noch durchgehauen werden konnte.<br />

Das Bildungswerk richtete für mich eine Pädagogenstelle ein. Dafür gab es staatliche Zu-<br />

122


schüsse, die meine Sachkosten abdeckten, und ich war nun für den Kirchenkreis ganz umsonst<br />

zu haben.<br />

Zum 1. Januar 1996 konnte ich in Iserlohn anfangen. Die Dortmunder Arbeitsstelle richtete<br />

mir ein großes Abschiedsfest aus und schenkte einen Rundflug, damit ich mir meine neues<br />

Tätigkeitsfeld schon einmal aus der Luft anschauen konnte. Umgekehrt organisierte ich für<br />

die Fachkollegen noch eine schöne Tagung zum Thema “Lebensraum Familie”.<br />

So hatte alles doch noch ein gutes Ende gefunden! Ein restlicher Groll darüber, wie mein Abgang<br />

aus der landeskirchlichen Ebene gelaufen war, ist mir allerdings geblieben. Ich finde:<br />

wenn jemand mit meiner Arbeit nicht zufrieden ist, soll er mir das sagen und mir Gelegenheit<br />

zur Besserung geben. Darin dürfte ein Pfarrer nicht schlechter gestellt sein als ein normaler<br />

Angestellter, für den es das Instrument der Abmahnung gibt. Jemanden ohne Begründung<br />

einfach fallen zu lassen, ist kein guter Stil, erst recht nicht, wenn der Arbeitgeber die Kirche<br />

ist.<br />

Der neue Start in Iserlohn war schwieriger als erwartet. Die Kollegen bei der Erwachsenenbildung<br />

des Kirchenkreises zeigten sich reserviert. Das war verständlich, denn da wurde ihnen<br />

jemand "von oben" verordnet. Niemand hatte mich gerufen, und es roch auch ein wenig<br />

nach Strafversetzung. Andererseits war ich eine willkommene Verstärkung.<br />

Gelernt hatte ich – neben dem Theologiestudium und vielen Jahren Praxis in der Erwachsenenbildung<br />

– eine ganze Menge. Ich war diplomierter TZI-Gruppenleiter und Rollenspielleiter,<br />

besaß eine beraterische Grundausbildung und war sowohl bei den TZI-Leuten als auch<br />

bei der Landeskirche als Supervisor anerkannt. Außerdem hatte ich neun Semester lang einen<br />

Lehrauftrag für Sozialphilosophie und Sozialethik an der Fachhochschule in Bochum wahrgenommen.<br />

In Anbetracht der Zurückhaltung, die manche Pfarrerskollegen gegenüber Fortbildungen<br />

an den Tag legen, war das sehr viel und wirkte wohl auch ein wenig abschreckend.<br />

Anfangs besaß ich noch kein eigenes Büro im Iserlohner Kreiskirchenamt, sondern arbeitete<br />

im Kellergeschoss unseres Reihenhauses. Dort schaute kaum einmal jemand vorbei, und ich<br />

hatte den Eindruck: Ob es mich gibt oder nicht gibt, ist etwa genau so bedeutsam, wie wenn<br />

in China ein Sack Reis umfällt. Das war ziemlich deprimierend, aber ich nutzte die Gelegenheit<br />

und schrieb nun endlich einmal auf, was man bei Planung und Durchführung von Familienfreizeiten<br />

alles beachten muss. In den Kursen der Arbeitsstelle und im Rahmen der Pfarrerfortbildung<br />

hatte ich das Thema oft genug traktiert. Nun sollte ein Buch daraus werden. 1998<br />

ist es unter dem Titel "Mit Familien unterwegs" im Grünewald-<strong>Verlag</strong> herausgekommen.<br />

Später bekam ich dann doch noch ein Arbeitszimmer im Kreiskirchenamt und auch das Verhältnis<br />

zu den Mitarbeitern der kreiskirchlichen Erwachsenenbildung besserte sich deutlich.<br />

Sie schätzten meine vielfältigen Erfahrungen, und ich versuchte, mich nützlich zu machen.<br />

Da mein Auftrag nur sehr allgemein beschrieben war, konnte ich selbst meine Schwerpunkte<br />

setzen. Ich entschied mich für die Fortbildung der Leiterinnen von Eltern-Kind-Gruppen und<br />

für die Unterstützung von Adoptiv- und Pflegeeltern. Außerdem stand ich für Supervisionen<br />

zur Verfügung. Es waren geradezu ideale Arbeitsbedingungen. Niemand redete mir in meine<br />

Arbeit hinein, und während überall gespart werden musste, hatte ich meinen festen Etat aus<br />

staatlichen Fördermitteln, der für kirchliche Sparbeschlüsse unantastbar war. Beneidenswert!<br />

123


5.11 Der Ruhestand rückt näher<br />

Langsam wurde es Zeit, zu überlegen, wie <strong>Erika</strong> und ich im Alter leben wollten. Sollten wir<br />

in Iserlohn bleiben oder weiter in den Süden ziehen? Sollten wir allein das Alter erwarten<br />

oder mit Freunden eine Senioren-Wohngemeinschaft bilden? Zusammen mit Gleichgesinnten<br />

haben wir diese Fragen lange hin und her gewälzt. Aber als Dominik signalisierte, dass er uns<br />

gerne in der Nähe hätte, haben wir uns doch für Iserlohn entschieden. Nur eine andere Wohnung<br />

brauchten wir noch, mit weniger Fläche, behindertengerecht oder entsprechend umzubauen,<br />

alles auf einer Etage und nicht zu weit vom Grünen entfernt. In der Iserlohner Heide,<br />

einer Trabantenstadt aus den 70er Jahren, fanden wir, was wir gesucht hatten, die oberste Etage<br />

in einem Terrassenhaus, direkt am Wald und mit der Bushaltestelle vor der Haustür. Wir<br />

kratzten alle unsere Ersparnisse zusammen und kauften die Wohnung. Im Sommer 1999 zogen<br />

wir zusammen mit Katze Nena in das neue Domizil. Vorher hatten wir monatelang aussortiert<br />

und weggeworfen, was sich im Laufe der Jahrzehnte an Überflüssigem ansammelt<br />

hatte. Alte Briefe und Sammeltassen, jede Menge Urlaubsmitbringsel und andere Rumsteherchen,<br />

Bücher aus der APO-Zeit, Cassetten, Tonbänder und Schallplatten, die schon Jahre<br />

nicht mehr abgehört worden waren und und und. Wir verkleinerten uns von 180 auf 118 Quadratmeter,<br />

da konnte die Devise nur heißen: Raus, raus, raus! Die Trennung von all dem angesammelten<br />

Krempel wirkte entlastend wie eine Fastenkur. (Was sich inzwischen wieder angesammelt<br />

hat, steht auf einem anderen Blatt). Wir waren froh, diese Arbeit und den Umzug<br />

nicht <strong>bis</strong> zum Beginn des Ruhestandes aufgeschoben zu haben.<br />

Eine andere Aufgabe stand noch vor mir: Ich musste irgendwie in Iserlohn anwachsen. Während<br />

meiner Zeit bei der Landeskirche war ich viel unterwegs. Wenn ich zu Hause war, wollte<br />

ich meine Ruhe haben. Also hatte ich kaum jemanden am Ort kennen gelernt. Das musste anders<br />

werden. Aber wie? Sollte ich in einem Chor singen? Oder mich im Heimatverein engagieren?<br />

Solange ich noch berufstätig war, schieden solche regelmäßigen Verpflichtungen aus,<br />

denn in der Erwachsenenbildung wird gearbeitet, wenn andere frei haben. Schließlich fand<br />

ich eine Aufgabe, die wie maßgeschneidert zu mir passte: das Radiomachen. Zum Rundfunk<br />

hatte ich schon als Kind gewollt, jetzt konnte mir das Bürgerradio diesen Wunsch erfüllen.<br />

Dort kann jeder Rundfunksendungen produzieren, die dann über den Lokalsender ausgestrahlt<br />

werden. Ich ließ mir eine Sendereihe "Menschen in unserer Stadt" einfallen und bin<br />

seitdem jeweils einmal im Monat auf Sendung.<br />

Daneben habe ich die Zeichnerei wiederentdeckt. Zuerst waren es mehr Kritzeleien, später<br />

wurden richtige Cartoons daraus. Man kann damit nicht zu besonderer Berühmtheit gelangen<br />

und auch kein Geld verdienen. Das bleibt den wirklichen Könnern auf diesem Gebiet vorbehalten,<br />

deren Arbeiten in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt werden. Aber es ist eine anregende<br />

Beschäftigung und man kann dabei wunderschön "Dampf ablassen", also Ärger und<br />

Frust in sozial verträglicher Weise loswerden. Zum Jahreswechsel produziere ich über viele<br />

Jahre hinweg einen Cartoonkalender, den ich an Freunde und Bekannte verschenkte. Gelegentlich<br />

gibts auch mal eine Ausstellung. Auch das Fernsehen war schon da, weniger wegen<br />

der Qualität meiner Zeichnungen, sondern weil ein zeichnender Pfarrer ähnlich wie ein jodelnder<br />

Briefträger ein seltenes Wesen ist.<br />

124


„Tiergottesdienste gibt’s inzwischen überall,<br />

aber mit Tier-Trauungen haben sie hier die Nase vorn.“<br />

“... ich muß aufhören, gleich kommt die linke Hand!“<br />

125<br />

Kostproben aus meinen<br />

Cartoon-Kalendern<br />

„Eiliger Bimbam“<br />

und „Handys hoch!“


Mit diesen beiden Interessengebieten - eins fürs Auge, eins fürs Ohr - war ich für den anstehenden<br />

Ruhestand gut gerüstet. Langweilig würde es mir jedenfalls nicht werden. Bald kam<br />

auch noch ein drittes Interessengebiet hinzu, bei dem ich meine grafischen Fähigkeiten mit<br />

der Computerleidenschaft verbinden konnte. Ich begann, Internet-Seiten zu gestalten. Darin<br />

habe ich es inzwischen zu einer gewissen Fertigkeit gebracht.<br />

Wie lange ich noch arbeiten würde, blieb zunächst noch offen. Die Westfälische Kirche hatte<br />

eine Vorruhestandsregelung eingeführt. Wer wollte, konnte ohne größere finanzielle Nachteile<br />

mit 58 Jahren aufhören. Da es mir aber bei meiner Arbeit gut ging und wir mein volles Gehalt<br />

noch brauchten, um die Wohnung abzuzahlen, machte ich erst einmal weiter. Erst als das<br />

neue Jahrtausend angebrochen war, hatte ich den Eindruck: Jetzt reichts! Zum ersten Oktober<br />

2001, kurz nach meinem 63. Geburtstag, habe ich dann den Dienst quittiert und bin nun zwar<br />

immer noch Pfarrer, aber wie es das Beamtenrecht formuliert "nicht mehr zur Dienstleistung<br />

verpflichtet".<br />

Wenn ich auf die rund 30 Jahre meiner Tätigkeit als Pfarrer zurückblicke, fällt die Bilanz<br />

überwiegend positiv aus. Es ist ein interessanter, vielseitiger Beruf und ich habe immer wieder<br />

einen Platz gefunden, an dem ich meine Fähigkeiten gut einbringen konnte. Eine pastorale<br />

Persönlichkeit (wie man sich einen Pfarrer vorstellt und wie er in Film und Fernsehen<br />

gern dargestellt wird) bin ich nie gewesen und wollte ich auch nicht sein. Ich war auch kein<br />

charismatischer Führer, sondern eher ein solider Handwerker.<br />

Ich habe in diesen 30 Jahren viel gearbeitet und musste meine Kirche oft nach außen hin vertreten<br />

und verteidigen. Das hat sie mir nicht immer gedankt.<br />

Den Pfarrberuf finde ich nach wie vor einen der schönsten Berufe, die es gibt. Wer allerdings<br />

nicht gelernt hat, sich abzugrenzen, der droht in der Fülle der Aufgaben unterzugehen. Das ist<br />

mir dank einer grundlegenden kritischen Distanz zur Kirche und zu jeder Art gefühlsbetonter<br />

Frömmigkeit, aber auch dank hilfreicher Fortbildungen, erspart geblieben.<br />

5.12 Ein Dank an <strong>Erika</strong><br />

Mein Leben wäre weniger abwechslungsreich und spannend verlaufen, hätte ich nicht <strong>Erika</strong><br />

an meiner Seite gehabt. Den mehrfachen Wechsel an einen anderen Ort, das Einarbeiten in<br />

immer neue Aufgabenbereiche, das Durchstehen von Krisen aller Art kann ich mir ohne ihre<br />

Unterstützung kaum vorstellen.<br />

Ich bin immer wieder erstaunt, wie neugierig <strong>Erika</strong> auf Unbekanntes zugeht. Beispielsweise<br />

hat sie mit 60 Jahren noch angefangen, Akkordeon zu lernen. Das wird sie nicht mehr <strong>bis</strong> zur<br />

Perfektion entwickeln können, aber für einen Auftritt in der Iserlohner Fußgängerzone könnte<br />

es noch reichen.<br />

<strong>Erika</strong> hat fast ihr ganzes Berufsleben in der Familienbildung verbracht und ist in vielen Bereichen<br />

erfahrener und qualifizierter als ich. Viel Zeit und Mühe hat sie in die Entwicklung<br />

und Verbreitung des “Prager-Eltern-Kind Programmes” (PEKiP) investiert. Aus dem kleinen<br />

PEKiP-Verein, der seinerzeit in unserem Wohnzimmer gründet wurde, ist inzwischen eine<br />

Organisation mit über 1000 Mitgliedern - alles ausgebildete PEKiP-Gruppenleiterinnen - ge-<br />

126


worden. Damit nicht genug, machte <strong>Erika</strong> nach der TZI-Ausbildung auch noch eine Ausbildung<br />

zur Supervisorin und später zur Fastenleiterin. So hatte ich für viele Bereiche meiner<br />

Arbeit eine kompetente Gesprächspartnerin im Haus. Ich schätze dieses "Tür an Tür"-arbeiten,<br />

wo man einfach mal beim anderen hereinschauen und fragen kann: "Wie findest Du diese<br />

Formulierung?” oder "Hast Du eine bessere Idee?"<br />

Genau wie ich, war <strong>Erika</strong> viel beruflich unterwegs, allerdings mit einem größeren Aktionsradius.<br />

Mit der Bahn, dem Auto und manchmal auch mit dem Flugzeug reiste sie zu ihren Kursen<br />

in Dresden, Berlin, Leipzig und in Zürich, im Odenwald-Institut auf der Tromm und an<br />

einem Dutzend anderer Orte. Manchmal haben wir uns viele Tage lang nicht gesehen. Die gemeinsamen<br />

Urlaube - sieben Mal im gleichen Hotel auf einer griechischen Insel - halfen, das<br />

Defizit an Nähe wieder auszugleichen.<br />

Meine Reisen in ferne Länder hat <strong>Erika</strong> nicht mitgemacht, statt dessen war sie ohne mich in<br />

Indonesien und in Israel. Übrigens kein schlechtes Rezept für eine dauerhafte Ehe. Wer allein<br />

etwas erlebt hat, kann dem Partner viel erzählen.<br />

Bei der Feier unserer silbernen Hochzeit (1991) sagte ein Freund, um uns als Paar zu beschreiben:<br />

“Mal sieht man sie zusammen, mal sieht man jeden für sich alleine“. Ich hoffe,<br />

dass wir noch lange in diesem Wechsel von Nähe und Distanz miteinander leben können,<br />

vielleicht in Zukunft mit etwas mehr Nähe, weil man im Alter leichter friert.<br />

127


Der sogenannte<br />

Ruhestand<br />

<strong>Biografische</strong> <strong>Notizen</strong> 2001 <strong>bis</strong> <strong>2008</strong><br />

128


6.1 Ein neuer Lebensabschnitt beginnt<br />

Am ersten Oktober 2001 wurde aus mir ein Rentner, genauer gesagt: ein Pensionär. Das ist<br />

ein kleiner Unterschied mit finanziellen Folgen. Der Pensionär bekommt ein Ruhegehalt, das<br />

er voll versteuern muss. Der Rentner braucht von seiner Rente nur den Ertragsanteil zu versteuern.<br />

Von diesem Unterschied einmal abgesehen, stehen aber beide vor der gleichen Aufgabe:<br />

die über Jahrzehnte hinweg gewohnte Strukturierung des Tages durch den Beruf fällt<br />

weg. Man hat plötzlich viel Zeit und muss sehen, wie man eine neue Struktur für die Tage,<br />

Monate und Jahre, die einem noch bleiben, findet. Bei meinen vielseitigen Interessen, machte<br />

mir das aber wenig Kopfzerbrechen. Ich würde ganz bestimmt nicht gelangweilt zu Hause<br />

herumsitzen. Wie es dann genau gelaufen ist, habe ich auf den folgenden Seiten festgehalten.<br />

An den Anfang meiner Rentnerzeit kann ich mich nur noch ungenau erinnern. Es muss ungefähr<br />

so gewesen sein: Heute klingelt der Wecker nicht, ich kann so lange im Bett bleiben, wie<br />

ich möchte. Erinnerungen an meine Kindheit werden wach. Eigentlich ist es längst Zeit um<br />

aufzustehen und zur Schule zu gehen, aber ich habe Fieber und bin krank. Zögernd hat meine<br />

Mutter sich zu einem "Heute bleibst du im Bett!“ durchgerungen. So etwas geschieht sehr<br />

selten. Meist lautet ihr Urteil "Hab dich nicht so, ab in die Schule!” Aber heute habe ich<br />

Glück gehabt - wunderbar, gleich geht’s mir etwas besser. So ähnlich erlebe ich auch die ersten<br />

Tage des sogenannten Ruhestandes. Natürlich bleibe ich nicht <strong>bis</strong> zum Mittagessen im<br />

Bett liegen, aber den Tag etwas langsamer angehen lassen, das kann ich jetzt schon. Es ist<br />

beispielsweise nicht schlimm, wenn ich den Bus in die Stadt verpasse. Da nehme ich eben<br />

den nächsten.<br />

In den ersten Wochen und Monaten dieser neuen Lebensphase gibt es noch eine Menge aufzuarbeiten.<br />

Die längst fällige Abrechnung mit der Krankenkasse wurde immer wieder aufgeschoben,<br />

auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel unerledigter Post, vor allem aber muss jetzt<br />

ausgemistet werden. Protokolle, Tagungsnotizen, Zeitungsausschnitte... das alles werde ich<br />

nie wieder brauchen. Also weg damit - oder vielleicht doch nicht? Dieser Holzschnitt von<br />

Frans Masereel würde sich wunderbar für eine Andacht eignen. Jenes Gedicht von Rose Ausländer<br />

habe ich vor Jahren entdeckt und vorsorglich kopiert. Es tut mir in der Seele weh, so<br />

etwas einfach wegzuwerfen. Wahrscheinlich spielen bei dieser Hemmung auch Erfahrungen<br />

aus der Nachkriegszeit eine Rolle. Damals hieß es: Bloß nichts wegwerfen, man weiß ja nie,<br />

wann man es noch mal brauchen kann! Als meine Mutter 1975 starb, haben wir einen ganzen<br />

Baucontainer mit Aufgehobenem weggeworfen. Brillen, kaputte Wecker, Bügeleisen... alles<br />

hatte sie vorsorglich aufgehoben. So weit sollte es bei mir nicht kommen, aber einiges ist<br />

auch nach den ersten Durchgängen doch immer noch übrig, obwohl ich es sicher nicht mehr<br />

brauche. Ausgelesene Bücher sind ein besonderes Problem. Bücher in den Müll werfen, das<br />

macht man nicht, schon gar nicht, wenn man einmal im grafischen Gewerbe gearbeitet hat.<br />

Für Bücher haben wir inzwischen eine gute Lösung gefunden. Sie kommen in einen Korb,<br />

aus dem sich jeder, der uns besucht, ein paar mitnehmen kann. Und dann gibt es ja auch noch<br />

die Möglichkeit, Texte und Bilder zu digitalisieren. Dias beispielsweise, lassen sich einscannen<br />

und nehmen danach so gut wie keinen Platz mehr weg. Schallplatten und Musikcassetten,<br />

können ebenfalls elektronisch "eingedampft" werden. Das alles kostet Zeit - und Zeit hat<br />

der Ruheständler ja - jedenfalls mehr als die "werktätige Bevölkerung".<br />

Obwohl in meinem Beruf keine abrupte Trennung von der Arbeitsstelle erfolgt, man wird ja<br />

nicht von heute auf morgen aus dem Betrieb ausgesperrt, habe ich mich an meinem Arbeits-<br />

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platz kaum noch sehen lassen. Man bringt die früheren Mitarbeiter damit nur in Schwierigkeiten.<br />

Auf der einen Seite gebietet die Höflichkeit, dem ehemaligen Kollegen, der da einfach<br />

so hereinschneit, Zeit zu widmen. Andererseits hat eigentlich jeder genug zu tun und keine<br />

Zeit zu verschenken.<br />

Als Ruhestandspfarrer wird man oft wegen Gottesdienstvertretungen angefragt. Manche älteren<br />

Kollegen übernehmen diese Aufgabe gerne. Ich habe mich damit zurückgehalten. Predigen<br />

ist weniger meine Sache und ich hatte mich deshalb nach den ersten acht Berufsjahren als<br />

Gemeindepfarrer, in denen regelmäßig Gottesdienste zu halten waren, in ganz andere Arbeitsbereiche<br />

begeben. Taufen, Trauungen und Beerdigungen hatte ich seit Jahren nicht mehr gehalten.<br />

Nun wollte ich auch im Ruhestand nicht ein ehrenamtlicher Gemeindepfarrer sein.<br />

Über den Einsatz anderer Kompetenzen hätte man reden können, aber daran war nun wieder<br />

die Kirche nicht interessiert. Im Gegenteil: Ab 65 darf man grundsätzlich nicht mehr als landeskirchlicher<br />

Supervisor tätig sein. Man greift sich an den Kopf, warum solche Fähigkeiten<br />

nicht genutzt werden, wo doch andererseits ständig Geld fehlt. Aber so ist es nun einmal.<br />

Der Umgang der Kirche mit den Fähigkeiten ihrer Mitarbeiter ist überhaupt ein trauriges Kapitel.<br />

Eine Organisation dieser Größenordnung müsste eigentlich alles daran setzen, den richtigen<br />

Mann und die richtige Frau an die richtige Stelle zu befördern - erst recht in Zeiten<br />

knapper Kassen. Aber wie sieht die Praxis aus? Personalentwicklung ist in der Kirche ein<br />

Fremdwort. Wer was besonders gut (oder besonders schlecht) kann, interessiert das Landeskirchenamt<br />

nicht. Wer welche Position besetzt, überlässt man dem freien Spiel der Kräfte.<br />

Die Ergebnisse sind entsprechend. Meist setzt sich das “Peter-Prinzip” durch. Das besagt,<br />

dass in Organisationen, in denen jeder ungehindert in eine höhere Position aufsteigen kann,<br />

am Ende alle Stellen mit ungeeigneten Leuten besetzt sind. Damit will ich nicht bestreiten,<br />

dass in der Westfälischen Kirche auch einige hervorragende Leute in leitenden Positionen sitzen.<br />

Sie sind jedoch mehr durch glückliche Umstände als durch gezielte Personalentwicklung<br />

dorthin gekommen.<br />

In der Gemeinde, in der ich wohne, habe ich noch eine Zeit lang Gottesdienstvertretungen<br />

übernommen <strong>bis</strong> dann die Sache mit der Oblate passierte. Beim Abendmahl fiel mir eine Oblate<br />

zu Boden. Was tut man in so einem Fall? Ich habe sie einfach aufgehoben und zur Seite<br />

gelegt. Im Mittelalter wäre die Sache vermutlich schlimmer ausgegangen. Wenn da eine geweihte<br />

Hostie zu Boden fiel, wurde vermutlich gleich der Kirchenbann über den ganzen Ort<br />

verhängt. Also: Kein großes Problem! Der Vorfall hatte mir aber deutlich gemacht, wie angespannt<br />

ich bei so einer Vertretung war. Ich wollte alles besonders gut machen, schlief auch in<br />

den Nächten davor schlecht. Diesen Stress musste ich mir nun wirklich nicht mehr antun und<br />

so habe ich es dann ganz gelassen. Es gibt genügend andere Möglichkeiten, wie ich öffentlich<br />

"zu Wort kommen kann", es muss nicht im Gottesdienst sein.<br />

Die Theologie habe ich damit nicht aufgegeben. Ich gehe gerne in den Bibel-Gesprächskreis<br />

hier in unserer Gemeinde in dem wir sehr offen und recht persönlich über biblische Texte<br />

sprechen. Außerdem habe ich meine eigene Theologie aufgeschrieben. Auslöser war eine Aktion,<br />

die von der Westfälischen Kirche im Jahre 2006 gestartet wurde. Aktive Kirchenleute<br />

wurden ausgeschickt um passive Mitglieder zu besuchen, sich deren Fragen und Rückmeldungen<br />

anzuhören und sie wieder näher an die Kirche heranzubringen. Da machte sich auch<br />

auf <strong>Holm</strong> <strong>Roch</strong> aus dem Sauerlande, aus der Stadt Iserlohn, mit <strong>Erika</strong>, seinem vertrauten<br />

Weibe … Auch wenn diese Aktion nicht gerade professionell gemacht und mehr ein simpler<br />

Aktivierungsversuch als ein ernsthaftes Bemühen um die sog. “Kirchenfernen” war, haben<br />

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diese Besuche mich doch nachdenklich gemacht. Wie wäre es denn, wenn wir den Spieß einmal<br />

umdrehen, wenn also nicht die Besuchten gefragt werden, was sie vom Gottesdienst, von<br />

der Bibel oder vom heiligen Geist halten, sondern wenn wir Kirchenleute darüber Auskunft<br />

geben müssen. Daraus ist eine kleine Schrift mit dem Titel "Was glauben Sie, Herr Pfarrer?"<br />

geworden. Das Heft ist allerdings nur im Freundeskreis zu haben. Noch scheue ich mich, den<br />

Text wie andere meiner Veröffentlichungen einfach ins Internet zu stellen. Meine Theologie<br />

weicht in einigen Punkten deutlich von der offiziellen Lehre meiner Kirche ab. Da möchte<br />

ich mir unnötigen Ärger ersparen.<br />

Die Arbeit an dieser Schrift hat mich gezwungen, mir über meine grundlegenden Überzeugungen<br />

klar zu werden. Welche Aussagen über Gott und die Welt würde ich unterschreiben -<br />

und welche würde ich nicht unterschreiben. Eigentlich sollte jeder Theologe sich aller paar<br />

Jahre einmal einem solchen Klärungsprozess unterziehen.<br />

Noch eine weitere Umstellung wartete auf mich. Über viele Jahre war ich, ebenso wie <strong>Erika</strong>,<br />

beruflich oft unterwegs gewesen. Diese Reisen sind jetzt weggefallen und wir sind die meiste<br />

Zeit beide in unserer Wohnung anzutreffen. Die ist mit 118 qm zwar nicht gerade klein und<br />

doch hat man den Eindruck, dass der andere "immer" im Wege ist. Wenn ich an der Kühlschrank<br />

gehe, kramt <strong>Erika</strong> auch gerade darin herum, will ich eine E-mail verschicken, ist <strong>Erika</strong><br />

auch gerade online und so weiter. Nur mit der Toilette ist es nicht so schwierig, weil es in<br />

unserer Wohnung zwei davon gibt. Aber auch da gibt es konkurrierende Interessen, weil die<br />

eine bequemer und mit Lesestoff ausgestattet ist, die andere jedoch nicht. Vielleicht liegt es ja<br />

an meiner Vergangenheit als Einzelkind, dass ich mit dem Zusammenwohnen nicht so leicht<br />

zurechtkomme. Oder es liegt den Sternen. Nach dem chinesischen Horoskop sind <strong>Erika</strong> und<br />

ich beide im Jahr des Tigers (<strong>1938</strong>) geboren. Was das Zusammenleben unter einem Dach anlangt,<br />

sagt ein Fachbuch: Zwei Tiger in einem Haus geht nicht! Es geht zwar doch, ist aber<br />

gewöhnungsbedürftig. Hilfreich ist es die Einflussbereiche genau abzugrenzen. Das Ein- und<br />

Ausräumen der Spülmaschine beispielsweise ist ganz allein meine Sache und es darf auch jeder<br />

in seinem Zimmer seine eigene Ordnung bzw Unordnung organisieren.<br />

Das Zusammenleben im Alter ist wirklich keine einfache Aufgabe und muss ganz neu eingeübt<br />

werden. Erschwert wird es durch altersbedingte Eigenheiten wie das nachlassende Hörvermögen<br />

verbunden mit schlechten Angewohnheiten. Immer wieder ertappe ich mich dabei,<br />

dass ich mit <strong>Erika</strong> spreche, obwohl sie gerade aus dem Zimmer gegangen ist. Oder ich rede<br />

mit ihr und gehe dabei selbst aus dem Raum. Vom Kopf her ist dieses Verhalten nicht zu begreifen,<br />

es ist eine Art von Unaufmerksamkeit. Kein Mensch würde sich am Telefon so verhalten.<br />

Da spricht man erst wenn die Verbindung hergestellt ist. Im direkten Kontakt redet<br />

man einfach darauf los und mit zunehmendem Alter wird das auch noch schlimmer – furchtbar!<br />

6.2 On air<br />

Mit dem Radio-Machen beim Bürgerfunk hatte ich schon in meinen letzten Berufsjahren angefangen.<br />

Dass ich dafür mehr Zeit investieren würde, sobald mir der Ruhestand dafür mehr<br />

Raum lässt, war klar. Angefangen habe ich mit der Sendereihe "Menschen in unserer Stadt".<br />

In diese Reihe stelle ich einmal im Monat einen interessanten Iserlohner oder eine interessante<br />

Iserlohnerin vor. Über 130 solche akustischen Portraits sind in den letzten elf Jahren gesen-<br />

131


det worden. Darauf bin ich richtig stolz, denn so alt werden Sendereihen im Radio selten.<br />

Meine Gesprächspartner finde ich meist indem ich Augen und Ohren offen halte und gründlich<br />

den Lokalteil der Zeitung lese. Manchmal geben mir auch andere Bürgerfunker einen<br />

Tipp: "Da weiß ich jemanden für dich!" Oft benutze ich die Sendung, um neben einem Menschen<br />

auch ein Projekt vorzustellen. Man glaubt ja gar nicht, wie viele soziale oder kulturelle<br />

Projekte es gibt. Da unterstützt eine kleine Gruppe ein Kinderkrankenhaus im Weißrussland,<br />

anderen geben eine Blindenzeitung auf Toncassetten heraus oder bemühen sich darum, die<br />

plattdeutsche Sprache wieder zu beleben. Solche Aktivitäten haben es verdient, bekannt gemacht<br />

zu werden und ich trage mit meinen Sendungen gerne dazu bei. Daneben gibt es natürlich<br />

auch originelle Einzelpersonen, wie jene Iserlohnerin die Dudelsack spielt (eine ausgesprochene<br />

Männerdomäne!) oder einen Iserlohner, der Musik macht, indem er mit Löffeln<br />

auf seinem Körper trommelt. Die einzige Gruppe, für die ich mich nicht interessiere, sind<br />

Leute, die ohnehin ständig in der Presse vorkommen, beispielsweise unser Oberbürgermeister,<br />

von dem an jedem zweiten Tag ein Foto in der Zeitung zu sehen ist.<br />

Hinter einer einstündigen Sendung steckt eine Menge Arbeit. Ich muss einen Kontakt knüpfen,<br />

einen Termin vereinbaren, das Interview führen, das "Material" bearbeiten, passende Musik<br />

aussuchen, die Moderation sprechen, alle Einzelteile zusammenfügen und auf eine CD<br />

brennen, die dann zum Sender geht. Sechs <strong>bis</strong> sieben Arbeitsstunden kommen da gut und gerne<br />

pro Sendung zusammen.<br />

Als ich anfing, wurde im Studio noch mit Tonbandmaschinen gearbeitet. Hatte sich der Interviewpartner<br />

verhaspelt oder zu oft "Äh" gesagt, musste das mit einer Art Nagelknipser aus<br />

dem Band herausgeschnitten werden. Es ging zu wie in Heinrich Bölls köstlicher Geschichte<br />

"Dr. Murkes gesammeltes Schweigen". Heute erledigt der Computer das Schneiden mit einem<br />

Mausklick. Auch die Aufnahmetechnik hat sich radikal verändert. Früher schleppten wir<br />

kiloschwere Reportageausrüstungen herum, heute genügt ein Minirecorder mit Flashspeicher,<br />

nicht größer und nicht schwerer als ein Rasierapparat.<br />

Dass die Geräte immer kleiner werden, kommt mir sehr entgegen, denn ich suche meine "Opfer"<br />

gern in ihrer Wohnung auf, anstatt sie ins Studio zu bitten. Im Studio steht so viel Technik<br />

herum, dass es manchem Besucher die Sprache verschlägt. In ihrer eigenen vier Wänden<br />

sind die Leute viel gesprächiger. Dafür muss ich (und meine Hörer) allerdings akustische<br />

Probleme in Kauf nehmen: mitten im Interview klingelt das Telefon oder (schlimmer, weil<br />

nicht mehr zu entfernen) ein Kühlschrank brummt. Unvergesslich ist mir auch ein Hund, der<br />

das Interview so lange mit Knurren und Jaulen begleitete, <strong>bis</strong> er vor die Tür gesetzt wurde,<br />

wo er lautstark weitermachte. Das sind wahre “Sternstunden” im Leben eines Radiomachers.<br />

Manchmal passt aber auch die vermeintliche Störung ganz gut zum Thema. In Iserlohn tobt<br />

gerade ein heftiger Streit um eine Skulptur, die vor dem neuen Bahnhof aufgestellt werden<br />

soll. Den meisten Iserlohner sind die Entwürfe viel zu modern. Die Zeitung druckt seitenweise<br />

empörte Leserbriefe nach dem Motto: Und so etwas soll Kunst sein! Nein, etwas Zeitgenössisches<br />

mögen die Iserlohner nicht, auch wenn es vom renommierten Toni Cragg stammt.<br />

Da soll doch lieber ein ortsansässiger Kunstschmied ein Reh, ein Wildschwein oder eine Eule<br />

vor den Bahnhof stellen. Über dieses Thema habe ich mit dem Vorsitzenden unseres Kunstvereins<br />

eine Sendung gemacht. Der polterte so richtig los wider die Kleinkariertheit und das<br />

Banausentum in unserer kleinen Stadt. Während des Gesprächs tobte draußen gerade ein heftiges<br />

Unwetter und begleitete die Ausführungen des Dr. B. mit Blitz und Donner. In der Sendung<br />

ist nun beides zu hören, die Meinung des Fachmannes und der Zorn der Götter. Herrlich!<br />

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Zu der Reihe „Menschen in unserer Stadt“ kam später noch die Reihe "Ohrwurm" hinzu. Im<br />

Radio braucht man Lückenfüller. Sollte jemand krank werden oder aus anderen Gründen seine<br />

Sendung nicht fertig bekommen, muss Ersatz im Regal liegen. (Dass einmal gar nichts<br />

gesendet wird, ist für das Radio ein unvorstellbarer Gedanke!). Interviews sind als Lückenfüller<br />

nicht geeignet, weil sie meist einen zeitlichen Bezugspunkt haben. Kurz vor Weihnachten<br />

wünscht man als Moderator allen ein frohes Fest. Diese Sendung kann dann aber nicht <strong>bis</strong><br />

Ostern aufgehoben werden. Lückenfüller müssen überall hin passen und so kam ich auf die<br />

Idee, eine Reihe mit vorgelesenen Texten zu machen. Zuerst hatte ich an moderne Literatur<br />

gedacht, aber das scheiterte am Urheberrecht. Es ist einfach zu aufwändig, mit einer Rechtsanwaltskanzlei<br />

in Zürich zu verhandeln, wenn man lediglich eine einzige Kurzgeschichte von<br />

Woody Allen vorlesen möchte. Bei Autoren die siebzig Jahre tot sind, gibt es diese Probleme<br />

nicht und so verlegte ich mich darauf, für den Ohrwurm bei älteren Autoren herumzustöbern.<br />

Richtige Perlen lassen sich da finden. Heines "Rabbi von Bacharach" beispielsweise, die verrückte<br />

Welt der Franziska von Reventlow (“Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel”)<br />

oder der schwarze Humor des Erich Mühsam (“Die Erbtanten”). Leider gab es die literarische<br />

Form der Short story im 19. Jahrhundert noch nicht. Man schrieb Romane oder Novellen,<br />

Texte die vorzulesen länger als eine Stunde dauert. Fürs Radio müssen sie gekürzt werden<br />

und da die Hörer auch einiges über den jeweiligen Autor erfahren sollten, gestaltete sich die<br />

Arbeit an den Ohrwürmern doch etwas aufwändiger, als ursprünglich gedacht. Es machte<br />

aber Spaß, weil ich selbst dabei eine Menge hinzu lernte. Siebzehn Ohrwurm-Sendungen sind<br />

es insgesamt geworden, dann setzte ein neues Mediengesetz, von dem noch die Rede sein<br />

wird, der Reihe ein abruptes Ende.<br />

Aller guten Dinge sind drei! Zu den Menschen und dem Ohrwurm kam noch eine dritte Reihe,<br />

der "Grübel-Otto". Das waren kurze satirische Beiträge für eine Magazinsendung, die viele<br />

Jahre lang immer am Mittwochabend lief. Dafür hatte ich mir einen gewissen Otto Grübel<br />

ausgedacht, einen knotterigen Alten, der ständig an lokalen Ereignissen und Gegebenheiten<br />

herummäkelt. Das hört sich dann beispielsweise so an:<br />

“Wahrscheinlich haben sie schon gelesen oder gehört, dass unsere amerikanischen Freunde<br />

in Tschechien und Polen einen Raketenschutzschild bauen wollen. Das hat folgenden Hintergrund:<br />

Weiter hinten, in einem dieser Schurkenstaaten, leben böse Menschen, die wollen unbedingt<br />

eine Atombombe bauen und wenn sie fertig ist, möchten sie die Bombe vorn an eine<br />

Rakete dranschrauben und nach Amerika schießen. Das wollen sich die Amerikaner natürlich<br />

nicht gefallen lassen und deswegen soll jetzt dieser Schutzschild aufgebaut werden.<br />

Wenn dann so eine böse Rakete aus dem Iran angeflogen kommt, wird sie vom Radar in<br />

Tschechien erfasst, aus Polen startet blitzschnell eine Anti-Raketen-Rakete und diese gute<br />

Rakete zerstört dann die böse Rakete.<br />

Soweit so gut! Jetzt gibt es da aber ein kleines Problemchen. Die Einzelteile von den beiden<br />

Raketen fallen natürlich irgendwo herunter. Vielleicht denken sie: Wenn dahinten etwas herunterfällt,<br />

dann müssen die Leute dort eben sehen, wie sie es wegräumen. So einfach ist das<br />

aber nicht. Die Dinger fallen ja nicht senkrecht vom Himmel. Raketen fliegen ziemlich weit<br />

oben und auch ziemlich schnell. Deshalb kommen die Teile ganz woanders herunter. Ich habe<br />

einmal in meinem Weltatlas nachgeschlagen und bin richtig erschrocken. Vom Iran nach<br />

Nordamerika führt die Flugbahn ziemlich genau über das nördliche Sauerland. Das heißt:<br />

Wir Iserlohner können durchaus etwas abbekommen! Und dann haben wir ein Problem. Bei<br />

den großen Raketenteilen ist das recht einfach zu lösen, da handelt es sich um Sperrmüll, den<br />

stellen wir an den Straßenrand, füllen im Rathaus eine Anforderungskarte aus und das Zeug<br />

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wird abgeholt. Bei elektronischen Bauteilen ist auch alles klar. Da gilt die Elektroschrott-Verordnung.<br />

Diese Teile müssen wir zum Bringhof bringen. Bleibt noch der Atomsprengkopf!<br />

Der ist mit Sicherheit radioaktiv, also Sondermüll hoch drei. Keine Ahnung, was man mit<br />

dem macht! Im Abfallkalender der Stadt Iserlohn steht jedenfalls nichts darüber. Da müssen<br />

wir uns wohl etwas einfallen lassen. Denken sie mal darüber nach!”<br />

An die 50 solcher Otto-Beiträge habe ich produziert und an die Kollegin vom MK-Magazin<br />

weitergegeben, die sie dann in ihre Sendung einfügte. Dann hörte die Kollegin auf und das<br />

Magazin samt Grübelotto verschwand aus dem Programm. Die schönsten Beiträge habe ich<br />

danach zu einer "Best of" - CD zusammengestellt, die es natürlich nicht im Fachhandel, sondern<br />

nur bei mir gibt. Auch eine gedruckte Fassung der schönsten Otto-Beiträge gibt es. Diese<br />

Textfassung war gar nicht so einfach herzustellen, denn im Radio habe ich nach Stichworten<br />

improvisiert und das lässt sich nicht so leicht in "Schreibe" umsetzen. Mit dem Ergebnis<br />

bin ich aber doch zufrieden. Ich habe auch noch einige Fotos hinzugefügt, damit auch Leser,<br />

die mit den hiesigen Verhältnissen nicht vertraut sind, ihren Spaß haben. So gesehen hat ein<br />

schriftliches "Produkt" auch Vorteile gegenüber einer Radiosendung.<br />

Leider ist es um die Zukunft des Bürgerradios schlecht bestellt. Radio ist Ländersache und<br />

die neue Landesregierung in Düsseldorf hat das Bürgerradio gehörig zurechtgestutzt. Die Ursachen<br />

gehen weit zurück. Das Bürgerradio ist ein Ergebnis der berühmten 68er Jahre. Damals<br />

empörten sich junge Leute gegen die herrschenden Verhältnisse, das sogenannte Establishment.<br />

Teil dieses Gärungs- und Klärungsprozesses war der Streit um den Zugang zu den<br />

Massenmedien. Die wollte man nicht einigen Großkonzernen überlassen. Das Volk oder "die<br />

Basis", wie man damals sagte, sollte sich selbst zu Wort melden, beispielsweise im Bürgerradio.<br />

Als dann einzelne Interessengruppen, allen voran den Zeitungsverleger, an den Staat herantraten<br />

und privaten Rundfunk (Lokalfunk) machen wollten, sagten die Landesregierungen<br />

in einigen Bundesländern: Einverstanden, aber ihr müsst jeden Tag ein paar Stunden Bürgerradio<br />

senden. Seitdem sitzen da zwei unterschiedliche Interessengruppen in einem Boot. Die<br />

Leute vom Lokalfunk, die mit Werbung Geld verdienen wollen, und die Bürgerfunker, die<br />

nach eigener Lust und Laune Radio machen möchten. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.<br />

Für die Lokalsender war das Bürgerradio immer eine Art "Laus im Pelz", die man lieber heute<br />

als morgen losgeworden wäre. Unter einer SPD-Regierung war das nicht durchzusetzen,<br />

als jedoch die jetzige schwarz-gelbe Koalition in Düsseldorf an die Macht kam, konnte der<br />

Bürgerfunk endlich zusammengestaucht werden. Jetzt ging es nicht mehr um Bürgerbeteiligung,<br />

sondern darum, die Wirtschaft anzukurbeln. Deshalb: Nur noch eine Stunde Bürgerradio<br />

pro Tag, keine fremdsprachigen Sendungen mehr, nur noch Themen mit Lokalbezug (also<br />

keine Ohrwürmer!) und vor allem: kein Geld mehr für die Bürgerfunker! Um sie finanziell<br />

nicht ganz sitzen zu lassen - sie müssen schließlich ihre Studios unterhalten - hat man sich<br />

eine raffinierte Koppelung einfallen lassen. Geld gibt es nur noch, wenn die Bürgerfunker mit<br />

Schulen kooperieren und mit den Kindern Medienpädagogik betreiben. Das ist etwa so, als<br />

würde man den Sportvereinen nur noch Geld zukommen lassen, wenn sie den Sportunterricht<br />

in den Schulen übernehmen. Ob das neue Finanzierungskonzept funktioniert oder ob der<br />

Bürgerfunk bald ganz ausstirbt, ist zur Zeit noch offen. Mich betrifft die Sache nicht so sehr,<br />

denn ich kann nach elf Jahren leichter aufhören, muss es irgendwann sowieso aus Altersgründen<br />

tun, aber jüngere Kolleginnen und Kollegen, die erst vor Kurzem ihr Herz ans Radiomachen<br />

verloren haben, gehen einer ungewissen Zukunft entgegen.<br />

134


Wenn man selbst Sendungen produziert, liegt es nahe, immer mal wieder rein zu hören, was<br />

die Profis zustande bringen. Bei mir hat sich daraus eine richtige Sammelleidenschaft entwickelt.<br />

Seit zwei Jahren sammle ich Hörspiele. Über 250 habe ich schon zusammengetragen<br />

und auf der Festplatte meines Computers abgelegt, darunter etliche alte “Schätzchen” aus der<br />

Nachkriegszeit. Der Deutschlandfunk und vor allem “Deutschlandradio Kultur” sind für solche<br />

Perlen eine gute Adresse. Natürlich kann man solche Fundstücke nicht archivieren ohne<br />

sie vorher angehört zu haben, wofür dann wieder ein Teil der Zeit, die man als Rentner hat,<br />

draufgeht. So sieht man mich häufig an allen möglichen Orten mit einem Knopf im Ohr einer<br />

Tonkonserve vom mp3-Player lauschend. Und Freunde und Bekannte wissen schon im Voraus,<br />

was sie von mir zum Geburtstag bekommen: Wieder eine seltene Scheibe.<br />

6.3 Ein wenig Kommunalpolitik<br />

In vielen Städten gibt es Seniorenbeiräte. Die funktionieren ähnlich wie Behinderten- und<br />

Ausländerbeiräte und sollen sicherstellen, dass die Interessen älterer Menschen ausreichend<br />

berücksichtigt werden. Seniorenbeiräte sind kein Muss. Manche Städte meinen darauf verzichten<br />

zu können (schließlich weiß der Rat der Stadt am besten, was für die Einwohner gut<br />

ist!). Andere trommeln einfach Vertreter der Wohlfahrtsverbände, Diakonie, Caritas und<br />

AWO, zusammen und nennen dieses Funktionärstreffen “Seniorenbeirat”. Hier in Iserlohn<br />

haben wir eine andere und - wie ich finde - bessere Tradition. Bei uns wird der Seniorenbeirat<br />

von der Bevölkerung gewählt. Als 2005 wieder eine Wahl anstand, dachte ich: Probieren<br />

kannst Du es ja mal. Dass ich dann einen ganze Menge Stimmen erhielt und stellvertretender<br />

Vorsitzender wurde, hat mich überrascht und gefreut. Seitdem stehen wieder Sitzungen und<br />

offizielle Termine in meinem Kalender, genau wie in der Zeit meiner Berufstätigkeit.<br />

Die Aufgaben des Seniorenbeirates sind ziemlich weit gespannt. Auf der einen Seite gibt es<br />

eine Menge "Kleinkram” zu erledigen. Beispiel: Jemand beschwert sich darüber, dass an einer<br />

Bushaltestelle keine Straßenlaterne steht. Da muss etwas geschehen. Entweder muss man<br />

die Haltestelle oder die nächste Laterne verlegen. Wenn die Busgesellschaft oder die Stadtverwaltung<br />

mitspielen, kann so ein Problem in wenigen Tagen gelöst werden. Gelegentlich<br />

dauert es aber auch Jahre. Neben solchen Einzelaufgaben gibt es auch weitreichende und entsprechend<br />

spannende Aufgaben: Wie wirkt sich der demografische Wandel auf unsere Stadt<br />

aus? Brauchen wir mehr Pflegeheime und wenn ja, wieviele? Sollte vielleicht eins mit Türkisch<br />

sprechendem Personal ausgestattet sein? Solche Fragen setzen eine Menge Fachwissen<br />

voraus und ich bin immer noch dabei, mich in die Materie einzuarbeiten.<br />

Ein Seniorenbeirat muss natürlich in Kontakt mit den älteren Mitbürgern bleiben. Dafür bieten<br />

wir Sprechstunden an und stellen unsere Arbeit in Seniorentreffs vor. In manchen Städten<br />

gibt es Seniorenzeitschriften. Das Problem dabei ist, wie sie zu den Empfängern gelangen<br />

und nicht stapelweise ungelesen in Seniorentreffs herumliegen. Hier in Iserlohn haben wir<br />

eine andere Lösung gefunden. Einmal im Monat stellt uns die lokale Tageszeitung, der Iserlohner<br />

Kreisanzeiger (IKZ), eine ganze Seite zur Verfügung. Da können wir unter der Überschrift<br />

BISS ("Bunte Iserlohner Seniorenseite") nach Herzenslust Informationen verbreiten<br />

und erreichen wesentlich mehr Menschen als mit einer speziellen Seniorenzeitschrift möglich<br />

wäre. Wir bieten eine Mischung aus Interviews, Sachbeiträgen, Tipps für das Leben im Alter,<br />

Buchbesprechungen und vielem mehr. Meist ist auch eine Glosse und ein satirischer Cartoon<br />

von mir dabei. Da ich die ganzen Berufsjahre über mit Veröffentlichungen zu tun hatte, macht<br />

135


mir die Redaktionsarbeit viel Vergnügen. Manchmal gerate ich aber auch unter Stress, wenn<br />

die nächste Ausgabe ansteht und mir immer noch keine Situation, die ich mit satirischer<br />

Übertreibung aufspießen könnte, eingefallen ist. Das kenne ich von meinem "Grübel-Otto".<br />

6.4 Mit Pinsel, Stift und Feder<br />

Von meinen Cartoons war schon die Rede. Diese Art der Zeichnerei betreibe ich nun seit vielen<br />

Jahren und finde langsam meinen eigenen Stil. Der ist recht minimalistisch. Die Einzelheiten<br />

einer Szene werden so weit reduziert <strong>bis</strong> man kaum noch etwas weglassen kann. Normalerweise<br />

zeichne ich auch nur in Schwarzweiß. Während ich früher nur am PC gearbeitet<br />

habe, nutze ich heute eine Mischung aus klassischer Handarbeit mit dem Bleistift und einem<br />

Lichtpult und der Arbeit mit einem Grafiktablett. Es hat beides seine Vorteile. Eine geschwungene<br />

Linie lässt sich mit dem Bleistift nun einmal besser ziehen als am Bildschirm,<br />

Korrekturen (typisches Problem: der Daumen sitzt auf der Zeichnung falsch herum an der<br />

Hand) sind dagegen am Bildschirm leichter, weil man nicht immer wieder von vorn anfangen<br />

muss.<br />

Neben der Zeichnerei gibt es bei mir auch noch die Abteilung “Malen”. Auch dabei habe ich<br />

einen eigenen Stil gefunden. Schon als Kind habe ich gern vorüberziehenden Wolken nachgeschaut<br />

und darin Bilder gesehen, Tiere oder Fabelwesen, Riesen oder Zwerge. Ähnlich ist es<br />

mit Holzmaserungen an der Wand oder an der Decke. Auch da gibt es eine Menge zu entdecken.<br />

Ein Astloch entpuppt sich als Gesicht oder als Silhouette eines alten Mannes, eine geriffelte<br />

Fläche zeigt ein Pferd oder einen Drachen. Dieses Prinzip der Hineindeutens von Bildern<br />

in vorgegebene Strukturen habe ich ein wenig weiterentwickelt.<br />

Knüllbild, Aquarell auf Toner (Original 16 x 24 cm)<br />

136


Am Anfang (die Kunstgeschichte wird diese Phase später die "Knüll-Phase" nennen) habe ich<br />

einfach Papier zusammengeknüllt, dann das Blatt wieder auseinander gefaltet und unter den<br />

Kopierer gelegt. Das ergibt ein unregelmäßiges Muster, das anschließend mit Aquarellfarbe<br />

ausgestaltet werden kann. Die so entstandenen Bilder haben wegen des Kopierverfahrens etwas<br />

Strenges, Holzschnittartiges, wirken expressionistisch.<br />

Später habe ich eine zweite Methode gefunden (die "Rubbel-Phase"). Ich rolle Blütenblätter<br />

auf dem Zeichenpapier hin und her. Das ergibt zartere Muster und kommt der Phantasie entgegen.<br />

Wenn man mit leichten Aquarelltönen weiterarbeitet, ergeben sich sehr reizvolle Gebilde,<br />

eine Art magischer Realismus, der zum Erzählen von Geschichten einlädt: Die alte<br />

Gräfin (links oben im Bild) lebt seit Jahren im Streit mit ihrer Nichte (rechts daneben), beide<br />

werden argwöhnisch beobachtet von Ferdinand, dem Familienfaktotum (rechts unten) und so<br />

weiter.<br />

Rubbelbild, Aquarell und gerollte Hi<strong>bis</strong>kusblätter (Original 11 x 11 cm)<br />

Leider geraten diese Bilder recht klein und ich habe noch keine Möglichkeit gefunden, sie zu<br />

vergrößern. Wenn man sie mit Hilfe eines Gitters einfach größer nachzeichnet, ist der Reiz,<br />

der sich aus dem luftigen Grundmuster und der Übermalung ergibt, dahin. Schade, denn ich<br />

würde gern mal ein richtig großes Bild malen! Das ließe sich allerdings kaum in unserer mit<br />

Bildern überfrachteten Wohnung unterbringen. Da ist es wohl besser, bei kleinen Formaten zu<br />

bleiben.<br />

137


Zum Glück lässt mir der Ruhestand viel Zeit um in Sachen Kunst einigermaßen auf dem Laufenden<br />

zu bleiben, Ausstellungen wie die “Dokumenta” und Museen zu besuchen oder mal<br />

im Tarot-Garten der Niki de Saint-Phalle vorbeizuschauen. Weil es mir hilft, Dinge, die ich<br />

eine Weile im Kopf und im Herzen bewegt habe, am Schluss zu Papier zu bringen, ist aus der<br />

Kunst-Begeisterung eine kleine Broschüre mit dem Titel "Was Kunst ist" geworden. Die Reihe<br />

solcher Privatdrucke ist damit weiter gewachsen. Den Sprung in den Buchhandel werden<br />

diese Schriften natürlich nicht schaffen, aber das sollen sie auch nicht. Es sind - wie die CDs<br />

mit meinen Sendungen - einfach Freundesgaben, kleine persönliche Geschenke, deren Reiz<br />

darin besteht, dass man sie nirgendwo kaufen kann.<br />

6.5 Abschiede<br />

<strong>Erika</strong>s und meine Eltern sind schon lange tot. Meine Halbschwester Hilda Pfau starb 2003<br />

mit 95 Jahren. Jetzt ist unsere eigene Generation dran. Jedes Jahr sind es wieder einer oder<br />

zwei aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, die uns für immer verlassen. Die einen gehen<br />

still und unauffällig, andere auf dramatische Weise, wie Hannah Lothrop, die Begründerin der<br />

Stillbewegung und Autorin zahlreicher Fachbücher. Eben waren wir noch mit ihr und ihrem<br />

Mann Rob auf den Rheinhöhen bei Bacharach gewandert, da erreicht uns die Nachricht von<br />

ihrem völlig überraschenden Tod. Der Föhn ist zu ihr in die Badewanne gefallen. Ihr Sohn,<br />

mit dem sie gerade per Handy telefonierte, hat noch einen Schrei gehört. Auch ihr Mann hört<br />

den Schrei, stürzt ins Badezimmer, kann aber nichts mehr machen - eine Szene, wie aus einem<br />

Psychothriller.<br />

Besonders nahe ist mir der Tod von Else Semmer gegangen. Seit über 20 Jahren verband uns<br />

eine vertraute Freundschaft. 1987 sind wir gemeinsam vier Wochen lang durch China gereist.<br />

Danach habe ich Else oft in Ratingen besucht, in ihrer Wohnung voll mit Büchern und Erinnerungsstücken<br />

aus aller Welt. Ihr Leben war spannend wie ein Kinofilm. 1929 in Berlin geboren,<br />

Tochter eines Industriellen, der in der Schweiz eine bürgerliche Familie und in<br />

Deutschland eine zweite Familie, bestehend aus einer Geliebten - Elses Mutter - und gemeinsamen<br />

Kindern, besaß. Um ihren Kindern den Makel einer unehelichen Geburt zu ersparen,<br />

geht Elses Mutter eine Scheinehe mit einem verarmten baltischen Adligen, der sich als Taxifahrer<br />

sein Brot verdient, ein. Auf diese Weise wird Else adlig, aber nur vorübergehend, denn<br />

später stellt sich heraus, dass der Adelstitel ihres Adoptivvaters erschwindelt ist. Nach den<br />

Wirren der Kriegs und Nachkriegszeit lernt Else in Worpswede das künstlerische Weben und<br />

knüpft Kontakte zu den führenden Leuten dieser Künstlerkolonie, insbesondere zu Walter<br />

Müller, dem Schwiegersohn von Heinrich Vogeler. Else wird Kunsterzieherin und schockt<br />

ihre bürgerliche Familie indem sie einen ausgemachten Linken heiratet, den Literaten und<br />

Theatermann Gerd Semmer. Er hat das Schneiderhandwerk gelernt, sich in der Hitlerzeit als<br />

zeitkritischer Puppenspieler unbeliebt gemacht, Theaterwissenschaft studiert und später bei<br />

Erwin Piscator als Regieassistent gearbeitet. Zwei Kinder werden den beiden geboren und<br />

immer ist das Geld knapp, denn in der Adenauerzeit gibt es wenig Raum für wirkliche oder<br />

vermeintliche Kommunisten Else begibt sich auf die Reise zu einem Lehrerkongress in Japan,<br />

bleibt aber in Sibirien hängen. Als sie in Japan ankommt, ist die Tagung schon fast vorbei.<br />

Unterwegs verliebt sie sich in einen Jugoslawischen Völkerkundler und Weltreisenden,<br />

der von der Idee besessen ist, der Weltfriede ließe sich sichern, wenn alle Menschen Esperanto<br />

lernen. Mit ihm korrespondiert Else lange (auf Esperanto, versteht sich) und es gibt nach<br />

dem Tod ihres Mannes Gerd Semmer eine Reihe geheimnisvoller Zusammenkünfte.<br />

138


Eine außergewöhnliche Frau, diese Else Semmer! Es wundert nicht, dass ihr Lebensweg von<br />

weiteren interessanten Männern gesäumt wurde, angefangen von einem indianischen Heiler<br />

<strong>bis</strong> zu einem bekannten Schriftsteller, dessen Namen ich aber nicht verrate. In vorgerücktem<br />

Alter hat Else noch angefangen, Geige zu spielen und es damit immerhin <strong>bis</strong> ins Düsseldorfer<br />

Ärzteorchester gebracht. In der Psychologie und in der Astrologie war sie bewandert, wie<br />

kaum jemand in meinem Bekanntenkreis. Else hatte die vielen Bücher in ihrer Wohnung<br />

(fast) alle gelesen und es gab kaum eine Situation, in der sie nicht ein passendes Gedicht parat<br />

hatte. So waren unsere Treffen immer voller Anregungen. Dass sie mich in ihr Leben und<br />

in dessen Geheimnisse einweihte, war für mich ein außergewöhnlicher Vertrauensbeweis. Zudem<br />

verband uns "unser Kind". Dahinter verbarg sich, allen Gerüchten zum Trotz, kein Wesen<br />

aus Fleisch und Blut, sondern ein Laptop. Den hatte ich Else als Ersatz für eine Schreibmaschine<br />

geliehen, ein altes Gerät aus der Vor-Windows-Zeit. Else schrieb damit ihre biografischen<br />

Texte, kam aber mit der modernen Technik nicht immer klar. Wenn <strong>Erika</strong> mir sagte<br />

"Else hat angerufen", wusste ich schon, wie der Satz weitergeht: "Es gibt wieder Probleme<br />

mit eurem Kind." Da war dann eine baldige Reise nach Ratingen fällig.<br />

Nun ist Else tot und es gibt keine Fahrten nach Ratingen mehr. Wenige Tage vor ihrem Ende<br />

habe ich sie noch im Krankenhaus besucht. Da war sie von ihrer fortgeschrittenen Krebserkrankung<br />

schon so entstellt, dass ich sie kaum wiedererkannt habe. Das war für mich, der ich<br />

keine Erfahrungen mit sterbenden Menschen habe, ungewohnt und irritierend. Zusammen mit<br />

Bettina, ihrer Tochter, habe ich an Elses Sterbebett leise einige Kinderlieder gesungen und so<br />

haben wir voneinander Abschied genommen.<br />

Elses Sterben hat mich im Blick auf die üblichen Vorstellungen vom Leben nach dem Tode<br />

recht nachdenklich gemacht. Da wird ja gern behauptet, Sterben sei etwa so, als würde man<br />

durch eine Tür in einen anderen Raum gehen. Aber gibt es dieses dauerhafte ICH, das so einfach<br />

den Raum wechselt, wirklich? So schön und beruhigend diese Vorstellung sein mag, die<br />

Erfahrung macht doch einige Fragezeichen dahinter. Es sieht viel eher so aus, als würde sich<br />

das ICH im Prozess des Sterbens - bei dem einen schneller, bei dem anderen langsamer - auflösen.<br />

Wer mit Demenzkranken zu tun hat, erlebt das sehr deutlich. Am Anfang des Lebens<br />

ist es übrigens umgekehrt. Da ist ja auch das ICH, das wahrnimmt und aus Sinneseindrücken<br />

eine “Welt” konstruiert, nicht mit der Geburt voll da, sondern es entwickelt sich langsam im<br />

Lauf der ersten Lebenswochen und -jahre, kommt aus einem Dämmerzustand langsam zu<br />

größerer Klarheit. Anstelle des Bildes vom Hinübergehen in andere Räume liegt mir deshalb<br />

des Bild vom Ein- und Ausblenden, vom Auftauchen und Verdämmern näher. Damit will ich<br />

niemandem die Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tode nehmen. Ich reagiere allerdings<br />

zunehmend allergisch, wenn sie allzu vollmundig vorgetragen wird oder wenn so getan wird,<br />

als bestehe der Kern des Christentums im Glauben an ein Leben nach dem Tode. Religionsgeschichtlich<br />

stimmt das nicht. In der Antike glaubten so gut wie alle Menschen an ein Jenseits.<br />

Mit dieser Botschaft konnte man, salopp gesprochen, keinen Hund hinter dem Ofen<br />

hervorlocken. Das Neue am Christentum war nicht der Jenseitsglaube, sondern der Glaube an<br />

die baldige Veränderung der Welt.<br />

Abschied nehmen müssen wir nicht nur von Menschen, sondern auch von vertrauten Orten.<br />

2007 mussten wir uns von Haus Ortlohn trennen, dem Tagungshaus, dessen besondere Atmosphäre<br />

mich 1986 nach Iserlohn gelockt hat und in dem ich so viele Tagungen und Seminare<br />

besucht und auch selbst angeboten habe. Nun fiel es der kirchlichen Finanzkrise zum Opfer.<br />

Ein Tagungshaus musste aufgegeben werden, aber welches? Das weit über Iserlohn hinaus<br />

bekannte “Haus Ortlohn” oder das weniger bekannte “Haus Villigst” in Schwerte? Lange<br />

139


wurde darum gestritten. Dass es schließlich das traditionsreiche Haus Ortlohn und nicht das<br />

weniger bekannte Haus Villigst traf, hat einen einfachen Grund: Haus Ortlohn gehört der<br />

Kirche, lässt sich also zu Geld machen, Haus Villigst ist in Erbpacht, kann also nicht einfach<br />

verkauft werden.<br />

Mir wäre es umgekehrt lieber gewesen, nicht nur wegen meiner persönlichen Bindung an<br />

Haus Ortlohn, sondern auch weil mit dem Weggang der Akademie unsere Stadt wieder eine<br />

Attraktion verloren hat. Auch war Haus Ortlohn mit seiner Vollwertküche ein positives "Aushängeschild"<br />

der Westfälischen Kirche. Aber so werden nun einmal Entscheidungen durch<br />

scheinbar nebensächliche Faktoren bestimmt.<br />

Nun wird die Arbeit der Akademie in Villigst fortgesetzt und Haus Ortlohn hat man an eine<br />

freikirchliche Gruppe aus Australien verkauft, die hier ihre Europazentrale einrichtet. Beim<br />

großen Abschlussfest waren viele der Ortlohn-Fans noch einmal beisammen und manche waren<br />

den Tränen nahe. Bevor Haus Ortlohn geschlossen wurde, hatte ich dort noch eine Ausstellung<br />

mit Arbeiten des Illustrators Herbert Holzing, dem verstorbenen Mann unserer Koblenzer<br />

Freundin Christine, organisiert, und so noch einmal eine Brücke zwischen zwei Abschnitten<br />

meines Lebens geschlagen, der Koblenzer Zeit und der Zeit unmittelbar danach, in<br />

der ich in Haus Ortlohn arbeitete und - zusammen mit Dr. Sareika - für die Kunstausstellungen<br />

verantwortlich war.<br />

Auch in der Gemeinde in der wir jetzt wohnen, ändert sich einiges. Das Geld wird knapp und<br />

es können nicht mehr alle Angebote aufrecht erhalten werden. Unseren Pfarrer müssen wir<br />

uns seit Kurzem mit der Nachbargemeinde teilen. Eins unserer Gemeindezentren musste geschlossen<br />

werden. Das zweite bleibt uns vorerst erhalten. Es ist nach Martin-Luther-King,<br />

dem amerikanischen Bürgerrechtler, benannt. Schon als wir noch in einem ganz anderen<br />

Stadtteil wohnten und ich nur gelegentlich hier vorbei kam, dachte ich: Das muss eine ganz<br />

besondere Gemeinde sein, die ihr Zentrum nach einem Bürgerrechtler unserer Tage, statt<br />

nach dem Reformator Martin Luther nennt. So ist es auch! Was sie hier mit begrenzten Mittel<br />

auf die Beine stellen, kann sich sehen lassen.<br />

Im Übrigen ist mir um die Zukunft der Kirche nicht bange, selbst wenn die Finanzen noch<br />

knapper werden. Sollten sich einmal Kirchgebäude und Gemeindezentren gar nicht mehr finanzieren<br />

lassen, ziehen wir uns eben wieder in unsere Wohnungen zurück und gründen kleine<br />

Hausgemeinden. So hat die Kirche schließlich einmal angefangen.<br />

6.6 Die Flucht vor den Pollen<br />

Heute ist ein schöner, sonniger Tag. Ich blicke auf das Mittelmeer. Halblinks, hinter dem Horizont<br />

liegt Zypern. Rechts sehe ich das Küstengebirge westlich von Antalya, links im Dunst<br />

verschwindend die Tempelruinen von Side. Hinter mir erhebt sich die Kette des Taurusgebirges.<br />

Eben hat der Kellner eine Tasse Tee und ein Glas Wasser vor mich hingestellt. Er kennt<br />

mich seit vier Jahren, ist aber immer noch verwundert, wenn er mich auf meinem kleinen<br />

Computerchen (ein Palm m515) tippen sieht. Immer wieder fragt er, warum ich denn im Urlaub<br />

arbeite. Vergeblich habe ich zu erklären versucht, dass ich kein richtiger Urlauber bin,<br />

sondern für ein paar Wochen im Jahr meinen Wohnsitz verlege. Immer wenn bei uns in<br />

Deutschland die Gräserpollen fliegen und mich mit Niesanfällen und zugeschwollenen Augen<br />

140


plagen, fliehe ich in ein Land, wo Palmen und Oleander anstelle von Gräsern wachsen. Das<br />

ist seit sieben Jahren eine gute Lösung! Drei Jahre lang habe ich mich nach Kroatien geflüchtet,<br />

jetzt bin ich zum vierten Mal an der Türkischen Südküste, immer im gleichen Hotel.<br />

In Kroatien war es, was die Landschaft anlangt, wunderschön und Dubrovnik ist eine reizvolle<br />

Stadt. Im Balkankrieg wurde zwar die Altstadt in Brand geschossen (trotz "Weltkulturerbe“!),<br />

heute ist aber alles wieder restauriert und repariert. Touristen flanieren durch die alten<br />

Gassen mit den neuen Schicki-Micki-Läden. Nur in den Vororten sieht man noch manche<br />

rauchgeschwärzte Ruine und andere Kriegsschäden. Die Hotels auf der Halbinsel Babi Kuk<br />

wurden wieder zurecht geflickt. Sie strahlen den Charm von früheren DDR-Hotels aus. Der<br />

Pool ist neu, edel, von gewaltigen Ausmaßen mit Blick auf die ebenfalls neue Hängebrücke,<br />

aber im Hotel rosten die Moniereisen aus der Wand, niemand fühlt sich für den Müll, der in<br />

den Gängen herumliegt, zuständig und die Verpflegung - naja. Kroatien hat nicht genug Devisen,<br />

da kann es keine Bananen und keine Pampelmusen zum Frühstück geben. Ersatzweise<br />

liegen ein paar mickrige Äpfel herum. Damit es nach mehr aussieht, werden sie aufgeschnitten,<br />

sind im Nu braun und niemand will sie mehr essen. Drei Jahre lang habe ich mir das geduldig<br />

angesehen und dann auf Türkei umgeschaltet. Ein Unterschied wie Tag und Nacht!<br />

Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens, mit allen seinen Folgen, scheint mir ein lehrreiches<br />

Beispiel, wie man ein Land ruinieren kann, indem man sich für Krieg anstelle von Interessensausgleich<br />

durch Verhandlungen entscheidet. Fast jeder Staat auf dieser Erde muss verschiedene<br />

Völker und Kulturen unter einen Hut bringen. Auch die Türkei hat ihr "Kurdenproblem"<br />

und merkt so langsam, dass es nicht durch Unterdrückung zu lösen ist. Wie man so<br />

ein Problem zufriedenstellend lösen kann, habe ich 2007 in Südtirol gesehen. Dort hat man<br />

zunächst die deutsche Sprache und Kultur unterdrückt und damit einen Bürgerkrieg riskiert,<br />

später aber umgeschaltet und auf weitgehende Autonomie gesetzt. Jetzt sind nicht nur die<br />

Straßenschilder zweisprachig (deutsch / italienisch), auch die Kinder wachsen zweisprachig<br />

auf. Einen besseren Start in eine zunehmend vernetzte Welt kann man sich kaum vorstellen<br />

Ob Israelis und Palästinenser das eines Tages auch begreifen? <strong>Erika</strong> und ich unterstützen seit<br />

etlichen Jahren den "Friedenskoch", einen Palästinenser, der schon lange in Köln lebt und auf<br />

dem Kirchentag und bei ähnlichen Gelegenheiten ara<strong>bis</strong>che Gerichte kocht. Damit will er das<br />

Geld für einen Kindergarten in Ramle (Israel) zusammenbringen, in dem christliche, jüdische<br />

und muslimische Kinder miteinander leben sollen. Wir denken, es ist sehr wichtig, solche<br />

Projekte zu fördern, weil sie das Vorurteil, so etwas ginge nun einmal nicht, widerlegen.<br />

Ruth Cohn, die Begründerin der TZI, hat es auf die einfache Formel gebracht: Jeder ist partiell<br />

mächtig, er kann mehr verändern als gar nichts, und er ist zugleich partiell ohnmächtig<br />

und muss ertragen, was er selbst, andere Menschen und die Natur ihm eingebrockt haben. In<br />

den 68ern sahen wir uns einseitig auf der Seite der Allmacht und meinten, in wenigen Jahren<br />

die ganze Welt umkrempeln zu können. Heute schlägt das Pendel nach der anderen Seite aus:<br />

Gewalt, Krieg, soziale Ungerechtigkeit - da kann man ja doch nichts machen! Die Wahrheit<br />

liegt wohl in der Mitte. Wenn jeder tut, was er kann - nicht mehr aber auch nicht weniger -<br />

kommen wir schon ein Stückchen weiter.<br />

Bis auf ein Ausnahme habe ich die Flucht vor den Pollen immer ohne <strong>Erika</strong> angetreten. Einmal<br />

fliegt <strong>Erika</strong> nicht gern, zum anderen sind wir, wenn es darum geht, Neues auszuprobieren,<br />

grundverschieden. Das zeigt sich, wenn wir essen gehen. <strong>Erika</strong> wählt sich Speisen aus,<br />

die sie noch nie probiert hat, immer nach dem Motto: “Mal schauen, wie das schmeckt!” Ich<br />

141


dagegen entscheide mich für etwas, das mir schon beim letzten Mal zugesagt hat. Da weiß<br />

man, was man hat! So kommt es, dass ich jedes Jahr zwei oder drei Wochen als Single Urlaub<br />

mache, was ja auch seine Vorteile hat. Beispielsweise habe ich ein Doppelzimmer ganz<br />

für mich alleine, kann mich richtig ausbreiten, die Klamotten auf dem zweiten Bett verteilen<br />

und niemand sagt: “Warum liegen deine Sachen schon wieder auf meinem Bett herum?” Die<br />

Nachteile dieser Single-Reisen will ich aber nicht verschweigen. In “meinem” Hotel findet<br />

man durchweg Paare, seien es nun junge Leute - meist mit Kindern - oder auch Großeltern -<br />

meist mit Enkeln. Da sitzt so ein armer Single abends oft allein am Tisch mit seinem Rotwein<br />

oder Raki und trinkt dann leicht ein Glas zu viel. Paare setzen sich (fast) immer zu Paaren.<br />

Durchbricht man dieses Prinzip und fragt, ob man sich dazu setzen darf, erntet man erstaunte<br />

Blicke: “Ja finden sie denn wirklich keinen anderen Platz?” Kein Wunder also, dass ich nach<br />

zwei oder spätestens drei Wochen das Alleinsein gründlich satt habe und gern nach Iserlohn<br />

zu meiner <strong>Erika</strong> zurückkehre. Unseren gemeinsamen Urlaub machen wir dann in einer anderen<br />

Jahreszeit, wenn sich die Gräserpollen ausgetobt haben.<br />

Beim abendlichen Herumhocken im Hotel kann man interessante Bekanntschaften machen,<br />

oft mit Leuten aus meiner alten sächsischen Heimat. Einmal habe ich einen ehemaligen<br />

Oberst der Nationalen Volksarmee kennen gelernt. Der war in der DDR bei der Raketenabwehr<br />

und hat es nach der Wende zum Leiter eines Supermarktes gebracht. “Kein großer Unterschied”,<br />

sagte er, “damals mussten die Raketenköpfe richtig im Regal liegen (de Ragehdngöbbe<br />

mussdn rischdsch im Regal lieschn), jetzt die Salatköpfe – alles Logistik!”<br />

Einmal habe ich ein Schweizer Ehepaar kennen gelernt, beide in heftigem Kontrast zum locker-legeren<br />

Umfeld des Urlaubshotels, äußerst korrekt gekleidet. Sie hatten gerade eine<br />

Rundreise durch Kappadokien hinter sich. Auf meine Frage, wie ihnen die Türkei gefalle,<br />

antwortete der Mann: “Ein schönes Land, aber die Währung ist nicht stabil.” So einen Satz<br />

kann nur ein Schweizer zustande bringen!<br />

Ein andermal hatte ich einen vom Leben sichtlich hart geschlagenen Mann zum Gegenüber,<br />

wieder einen Schweizer, diesmal einen Wirt aus Graubünden, dessen Wirtshaus nicht mehr so<br />

richtig lief. Seine Frau, eine kleine, rundliche Person, erzählte von ihren zahlreichen Katzen,<br />

von denen immer mal wieder eine überfahren werde, weil der Gasthof an einer Hauptstraße<br />

liegt. Die Frau sah selbst wie eine wohlgenährte Katze aus, trug eine Menge Goldschmuck<br />

und eine samtenes Bändchen um den Hals. Als der Mann seine Frau vorstellte, sagte er: “Das<br />

ist meine dritte Frau, die anderen beiden sind mir weggelaufen.” Er sagte tatsächlich “weggelaufen”,<br />

so als würde es sich um Haustiere handeln. Was soll man dazu sagen? Vielleicht:<br />

“Miau!”<br />

6.7 Ein Blick in die Zukunft<br />

Nachdem nun die ersten sieben "Rentnerjahre" herum sind, blicke ich einigermaßen beruhigt<br />

in die Zukunft. Das Älterwerden hat sich als langsame und keineswegs nur schreckliche Veränderung<br />

herausgestellt. Körperliche Einschränkungen nehmen zu, haben aber noch keine katastrophalen<br />

Folgen. Zumindest werden wir noch einige Jahre in unserer Wohnung, die nur<br />

begrenzt behindertengerecht ist, bleiben können. Natürlich freue ich mich, wenn ich für jünger<br />

gehalten werde, als ich wirklich bin. Vor einigen Jahren habe ich an der Kasse des Sprengel-Museums<br />

in Hannover gefragt, ob es für Senioren eine Ermäßigung gibt. “Ja”, sagte die<br />

142


Frau an der Kasse “aber nicht für Sie, sondern erst ab 65!” Ich war gerade 67 geworden und<br />

habe flugs meinen Ausweis gezückt. Das hat gut so richtig gut getan!<br />

Schön ist es, immer mehr den Jüngeren überlassen zu können, nach dem Motto: Jetzt seid ihr<br />

dran! Schade finde ich allerdings, dass diese Übergabe an die kommenden Generationen im<br />

Bereich unserer Familie nicht wie gewünscht gelaufen ist. Wir haben keine leiblichen Kinder<br />

und auch keine Enkelkinder. Konni, die Frau unseres Adoptivsohns Dominik, hat aus ihrer<br />

ersten Ehe zwei Töchter in die neue Beziehung eingebracht. Die sind beide schon in der Pubertät<br />

und probieren gerade aus, wie man die Erwachsenen am schnellsten “auf die Palme”<br />

bringen kann. Für Großeltern mit völlig anderen Vorstellungen von den Wichtigkeiten des<br />

Lebens kann das ziemlich nervig sein. Ein eigenes Enkelbaby, wie ich es gern auf meinem<br />

Bauch herumkrabbeln ließe, kann es nicht ersetzen. Da fehlt mir was, aber ich muss das wohl<br />

oder übel als Schicksal hinnehmen.<br />

Man kann es allerdings mit den Enkeln auch übertreiben. Im Freundeskreis erlebe ich manche<br />

Großmutter, die nur noch um ihre Enkel rotiert. Dem göttlichen Kinde werden bombastische<br />

Hausaltäre mit silbern gerahmten Fotos errichtet. Die eigenen Interessen schrumpfen<br />

auf ein Nichts zusammen. Beim letzten Klassentreffen in Leipzig haben wir versucht, für die<br />

kommenden Jahre einen veränderten Termin zu finden. Es scheiterte daran, dass bei jedem<br />

Terminvorschlag mindestens eine Beteiligte sagte: "Geht nicht, da hat mein Enkel Geburtstag!"<br />

Meine Frau <strong>Erika</strong> hat übrigens für das fehlende Enkelkind einen guten Ersatz gefunden. Sie<br />

hilft regelmäßig einer Frau, die Drillinge bekommen hat, indem sie mit den Dreien spielt und<br />

sie badet. Auch eine Möglichkeit, die Verantwortung für die Zukunft wahr zu nehmen.<br />

An dieser Stelle schließe ich vorerst meine biografischen <strong>Notizen</strong> aus den ersten sieben Ruhestandsjahren.<br />

Mal schauen, was das Leben im Alter noch so alles mit sich bringt. Eines Tages<br />

wird es mir nicht mehr gelingen, Text in den PC einzutippen – aber davon reden wir jetzt<br />

noch nicht. Als Nächstes stehen erst einmal zwei siebzigste Geburtstage an, der von <strong>Erika</strong><br />

und mein eigener. Danach sehen wir weiter.<br />

H.R.<br />

143


Dieses Heft wird kostenlos vertrieben und darf auch nur kostenlos weitergegeben werden.<br />

Wenn Sie mir allerdings eine Spende zukommen lassen wollen, freue ich mich. Sie ermöglichen<br />

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Konto: <strong>Holm</strong> <strong>Roch</strong>, Kto.-Nr. 5405383739 bei der ING DiBa (BLZ 500 105 17)<br />

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