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DAS LETZTE ABENTEUER - Katholische Kirche (Schweiz)

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<strong>DAS</strong> <strong>LETZTE</strong><br />

<strong>ABENTEUER</strong><br />

Ein uralter Reflex in uns verkümmert. Dabei fehlt<br />

er uns gerade jetzt in unserer hedonistischen Moderne.<br />

Warum Beten guttut<br />

Text MATTHIAS MATUSSEK<br />

Als ich vor zwei Jahren das Vorwort zu einem Buch<br />

über den Glauben schrieb, trieb eine radioaktive<br />

Wolke, die sich nach dem Reaktorunfall in Fukushima<br />

gebildet hatte, auf die Millionenmetropole<br />

Tokio zu. Endzeitszenarien mischten sich in die<br />

Nachrichtensendungen, und die ganze Welt, durch<br />

die elektronischen Medien tatsächlich zu einem globalen<br />

Dorf zusammengeschlossen, starrte gebannt<br />

und verschreckt und hypnotisiert nach Japan.<br />

Ich schrieb: «Heldenhaft arbeitet ein kleiner<br />

Trupp am Unglücksreaktor, die Übrigen tun, was sie<br />

in solchen Fällen können: beten. Zumindest versuchen<br />

sie es.»<br />

Sie versuchen es, aber vielleicht haben sie es verlernt.<br />

Das war der Gedanke, der mir in diesem Moment<br />

durch den Kopf ging.<br />

Vielleicht haben auch wir es verlernt. Vielleicht<br />

sind wir so technikstolz und triumphalistisch ins<br />

Diesseits verwoben, dass der uralte Reflex, in der<br />

Not nach Gott zu rufen, verkümmert ist.<br />

Gebete sind das Eingeständnis unserer eigenen<br />

Ohnmacht. Wir wissen nicht weiter und greifen<br />

nach oben, nach aussen, wir greifen über unsere<br />

Existenz hinaus.<br />

Neue Verteilungskämpfe<br />

Natürlich war der Reaktorunfall eine Kränkung<br />

unserer Allmachtsfantasien, unseres Macherstolzes.<br />

Seit die Vernunft im Zeitalter der Aufklärung den<br />

Glauben und seine Wahrheit vom Thron der Welterklärung<br />

gestossen hat, sind wir rettungslos ins<br />

Diesseits gestossen.<br />

Der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche verkündete<br />

– damals noch nicht ohne leises Schaudern und<br />

ohne Hingerissenheit über die eigene Kühnheit –,<br />

dass Gott tot sei. Er verkündete die «Fröhliche Wissenschaft»,<br />

war trunken im Übermut darüber, die<br />

metaphysische Last abgeschüttelt zu haben. Es war<br />

ein Buch, das die Autonomie des Subjekts in Gedichten<br />

und Liedern und Aphorismen zur Freiheit feierte.<br />

Gott war tot und wurde durch den blinden Zufall<br />

der Weltgeschichte ersetzt.<br />

Doch es sollte sich zeigen, dass der Zufall eine<br />

noch höhere Herausforderung für den Menschen<br />

bedeutet, dass er noch schwerer zu leben und zu ertragen<br />

ist. Vor allem aber sollte sich zeigen, dass sich<br />

die Vernunft zu einer neuen, einer technokratischen<br />

Tyrannei entwickeln kann, unter der der Mensch lediglich<br />

zum dehumanisierten Baustein in einigermassen<br />

irren und plumpen Masterplänen «wissenschaftlicher»<br />

Weltanschauung wurde – das 20. Jahrhundert<br />

mit seinen Leichenbergen gab davon grauenerregende<br />

Beispiele.<br />

Und heute, in einer sich zunehmend verdüsternden<br />

Welt, am Beginn einer Ära der neuen Verteilungskämpfe,<br />

der Kriege um Ressourcen? «Wir<br />

werden wieder beten lernen. Alle», schrieb ich.<br />

Schon die marxistischen Theoretiker der Frankfurter<br />

Schule, die Köpfe der «kritischen Theorie»<br />

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, beschlichen<br />

Zweifel, ob mit der Aufklärung tatsächlich das<br />

letzte Wort in der Befreiung des Menschen gesprochen<br />

war. Sie entdeckten nicht nur in der Erfahrung<br />

des Faschismus, sondern auch in der technologischen<br />

und warenorientierten Zurichtung der Welt<br />

danach, dass die Aufklärung in ein neues Verhängnis,<br />

eine neue Knechtschaft eingemündet war. In das<br />

Gefängnis einer verdinglichten Welt. Es ist kein Zufall,<br />

dass insbesondere Max Horkheimer am Ende<br />

seines Lebens jüdisch-christliche Wahrheiten neu für<br />

sich entdeckte und ebenjene «Sehnsucht nach dem<br />

ganz Anderen», die wir im Glauben und im Gebet<br />

aufgehoben finden.<br />

Jedes Gebet enthält diese Sehnsucht nach dem<br />

Anderen.<br />

Jedes Gebet entzieht sich der Welt der Zwecke<br />

und öffnet das Herz.<br />

Jedes Gebet wird zum subversiven Protest gegen<br />

die Welt der Dinge, die uns verschlingen möchte.<br />

Jedes Gebet ist das Eingeständnis einer höheren<br />

Wahrheit.<br />

Wir beten in der Not, wenn wir nach Hilfe<br />

schreien, wir beten im Glück, dann danken wir für<br />

das unbegreifbare Geschenk des Lebens. Manchmal<br />

beten wir und sind nur voller Staunen über die Allmacht<br />

Gottes, wie im Psalm 139: «Ich gehe oder liege,<br />

so bist du um mich und siehst alle meine Wege»,<br />

denn Gott ist überall und schon immer, ja, «du hast<br />

mich gebildet im Mutterleib».<br />

Überhaupt die Psalmen. Es gibt keine Lebenslage,<br />

keine Gemütsstimmung, die in ihnen nicht besungen<br />

wurde, da ist die tiefste Verzweiflung über die<br />

Grausamkeit und den Spott der Feinde, aber auch<br />

die Dankbarkeit und das schiere Glück. Sicher auch<br />

die Rachepsalmen: wie unumwunden dort die Vernichtung<br />

der Feinde herbeigefleht wird, in rabiater,<br />

ja rasender Sprache, denn auch das schlummert in<br />

uns und will heraus.<br />

Ich habe oft in den Psalmen gelesen, mit den<br />

Psalmen gebetet. Aus den Psalmen steigt Jubel über<br />

Gottes Gegenwart auf und die strahlende Zuversicht,<br />

dass er über uns wacht wie «ein Vater über<br />

seine Kinder».<br />

Das Gebet aller Gebete ist das «Vater unser».<br />

Schon allein diese Anrede in einer vaterlosen Gesellschaft!<br />

Die Zuversicht, dass er da ist, im Himmel, das<br />

Versprechen, dass wir seinen Namen heiligen, der<br />

Wunsch, dass sein Reich kommt, dass sein Wille geschieht,<br />

überall. Am schönsten wohl die Zeile «Gib<br />

uns unser täglich Brot». Das ist nicht die Bitte um<br />

Überfluss, sondern der Wunsch, dass wir versorgt<br />

sein wollen mit dem Notwendigsten. Wir vergeben,<br />

und wir hoffen auf Vergebung, und natürlich wünschen<br />

wir uns, Spur zu halten und nicht in Versuchung<br />

geführt zu werden.<br />

Wir können das Gebet, das uns der Herr gelehrt<br />

hat, immer beten, zu jeder Gelegenheit, denn es ist<br />

das intimste und das vollständigste aller Gebete.<br />

Dass wir uns in der Messe nach dem Vaterunser die<br />

8 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

9


Hand zum Friedensgruss reichen, rundet es ab, denn<br />

es ist ein versöhnendes, alle miteinander verbindendes<br />

Gebet.<br />

Wofür ich bete? Für alles.<br />

Für Frieden in meinem Herzen und darum, dass<br />

mir der Herr zeigt, was er mit mir vorhat, und mir<br />

den Sinn meines Lebens zeigt, den ich so oft suche.<br />

Ich bete für meinen Sohn, dass er diesen Sinn ebenfalls<br />

in seinem Leben findet – er ist gerade 18 Jahre<br />

alt geworden und wie viele in diesem Alter (auf alle<br />

Fälle wie ich) voller Konfusion. Natürlich, dass er beschützt<br />

wird. Für meine Frau, oft. Oft danke ich ihm,<br />

dass er sie an meine Seite gestellt hat, dass ich sie gefunden<br />

habe, dass er uns diese Liebe geschenkt hat.<br />

Ich bete für meinen Vater, der vor zehn Jahren<br />

gestorben ist, dafür, dass er im Himmel seine Ruhe<br />

und sein Glück gefunden hat, und für meine Mutter,<br />

die schon sehr alt ist und bisweilen unter ihrem Alter<br />

leidet.<br />

Ich bete für Menschen in meiner Nähe, denen<br />

ich Gutes wünsche, für solche, die Schicksalsschläge<br />

zu erleiden haben, die verzweifelt sind. In all diesen<br />

Gebeten ist eine Beschwörung enthalten – und eine<br />

Selbstbesänftigung eines Herzens, das der heilige<br />

Augustinus als «unruhig» bezeichnet – «unruhig ist<br />

mein Herz, bis es ruht in Dir».<br />

Ich bete morgens, wenn ich die Epistel und das<br />

Evangelium des Tages lese. Wüstensprache, Erlösungssprache,<br />

althergebracht, und manchmal dringt<br />

sie nicht durch. Ich lese sie dennoch. Und dann das<br />

Evangelium, dieser bunte und tiefe Episodenroman<br />

aus dem Leben Jesu, oft rätselhaft in den Gleichnissen,<br />

die begriffsstutzigen Jünger, immer einen Schritt<br />

langsamer als der Herr, immer einen Schritt zurück,<br />

wie schön, dass es dort Menschen gibt, die genauso<br />

dumm sind und genauso heilsfern wie ich, das erleichtert<br />

die Identifizierung. Allerdings, wie hingebungsvoll<br />

und restlos sie sich ausliefern und wie unbedingt<br />

sie sind in der Nachfolge, darüber staune ich.<br />

Ich bete abends, und dann sage ich meistens nur<br />

danke, und manchmal reicht es nur zu einem Kreuzzeichen,<br />

wenn ich zu müde bin. Ich sage oft danke<br />

und müsste es noch viel häufiger tun.<br />

Beten ist ein Zwiegespräch, es gibt ein Gegenüber.<br />

Gott ist kein Prinzip, kein abstraktes Gutes,<br />

nicht die Natur in ihrer Vielgestaltigkeit, sondern ein<br />

personales Gegenüber, das meine Gedanken kennt<br />

und meine Schwächen und Fehler. Gott ist Mensch<br />

geworden, unbegreiflich sehr oft für mich, aber ich<br />

nehme es hin als Geschenk.<br />

Über das Beten hat Papst Benedikt XVI. in seiner<br />

Enzyklika «Caritas in veritate» geschrieben: «Wer<br />

betet, vertut nicht seine Zeit, selbst wenn die Situation<br />

alle Anzeichen der Dringlichkeit besitzt.» Tatsächlich<br />

kann man das Gebet der Geschäftigkeit abtrotzen<br />

und merkt, dass man beschenkt wurde. Als<br />

Kinder haben wir mit unseren Eltern den Rosenkranz<br />

gebetet, heute tun wir das seltener. Aber<br />

Papst Benedikt XVI. hat ihn jeden Mittag gebetet.<br />

Und sein Vorgänger, Johannes Paul II., war ein regelrechter<br />

Mystiker des Rosenkranzes. Er war für<br />

ihn ein «Lieblingsgebet... es kann alle Ereignisse des<br />

Lebens einschliessen». Dazu hat es diese meditative<br />

Qualität der Wiederholung. Buddhisten würden<br />

vielleicht von einem Mantra sprechen, allerdings<br />

geht es ihnen nicht um das Ziel der Leere, sondern<br />

um das der Fülle.<br />

«Beten heisst still werden», schrieb Søren Kierkegaard.<br />

«Still sein und warten, bis der Beter Gott<br />

hört.»<br />

Ein Zwiegespräch? Durchaus. Im Paradies hat<br />

Gott direkt mit den Menschen gesprochen. Später<br />

war nur noch seine Stimme, die aus dem Dornbusch<br />

kam oder aus der Staubwolke. Die Menschen haben<br />

mit ihm gesprochen wie Adam, mit ihm gehadert wie<br />

Hiob, mit ihm diskutiert wie Abraham, der ihn von<br />

der Vernichtung der Stadt Sodom abzubringen<br />

versuchte, das erste Bittgebet in der Geschichte.<br />

Heute nehmen wir Gott in uns hinein, wenn<br />

wir beten.<br />

•<br />

Der bekennende Katholik MATTHIAS MATUSSEK, 59, ist<br />

Autor und Videoblogger beim Nachrichtenmagazin<br />

«Der Spiegel». Sein Buch «Das katholische Abenteuer.<br />

Eine Provokation» erschien 2011.<br />

redaktion@dasmagazin.ch<br />

WAS HABEN SIE<br />

HEUTE GEBETET?<br />

<strong>DAS</strong> FRAGTEN WIR GLÄUBIGE<br />

IN DER GANZEN SCHWEIZ<br />

Bilder ANNE MORGENSTERN<br />

Protokolle BIRGIT SCHMID, ANNA MILLER<br />

10 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013


JULIAN MURMANN<br />

JULIAN MURMANN<br />

24, STUDENT<br />

DREIFALTIGKEITS­<br />

KIRCHE, BERN<br />

«Wenn ich aufstehe am Morgen, setze ich<br />

mich zuerst auf die Bettkante und spreche<br />

ein Gebet, ich gehe aber auch regelmässig<br />

in die Sonntagsmesse in die Wallfahrtskirche<br />

Brig-Glis. Im Moment lerne ich auf die<br />

Matur, Chemie ist nicht meine Stärke, und<br />

so bete ich: ‹Vater, ich bitte dich, dass ich<br />

in der kommenden Chemieprüfung zeigen<br />

kann, was ich gelernt und verstanden habe.›<br />

Ich habe auch früh angefangen, um eine<br />

gute Partnerin zu beten: ‹Jesus, hilf mir,<br />

nicht aus blinder Leidenschaft, sondern<br />

aus wahrer Liebe meine Partnerin zu finden.›<br />

Ich bin bereits erhört worden. Jetzt<br />

bete ich, dass diese Liebe wachsen kann.»<br />

12 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

13


BEATRICE HERZOG<br />

CLOÉ YVES MARIE GOTTLIEB<br />

CLOÉ YVES MARIE<br />

GOTTLIEB, 4<br />

KLOSTERKIRCHE<br />

EINSIEDELN<br />

BEATRICE HERZOG<br />

78, RENTNERIN<br />

KLOSTERKIRCHE<br />

FAHR<br />

«Wenn ich für mich bete, bete ich wortlos<br />

und spreche kein formuliertes Gebet. Ich<br />

bin einfach da, offen und höre in mich hinein.<br />

Es heisst ja: Ihr seid die Tempel des<br />

Heiligen Geistes, das klingt jetzt so fromm,<br />

aber der Herrgott wohnt in uns, deshalb<br />

warte ich und will spüren, was in mir<br />

kommt. Heute habe ich gebetet: ‹Herrgott,<br />

du bist ja Vater, du weisst ja – bitte begleite<br />

mich, die bevorstehende Generalversammlung<br />

meines Vereins drückt mich grad so.<br />

Ich lege dir meine Sorge hin, du siehst sie.<br />

Ich muss das jetzt einfach aushalten, mach<br />

mich mutiger, zeig mir den Weg.› »<br />

«Ich bete jeden Abend zum lieben Gott.<br />

‹Lie ber Gott, mach mich fromm, dass ich<br />

in den Himmel komm, mein Herzchen ist<br />

rein und ganz klein, soll niemand drin wohnen<br />

ausser Mama und Papa und Jesus allein.›<br />

Das betet meine Mama mit mir, und<br />

die hat das auch schon mit ihrer Mama gebetet.<br />

Heute Morgen habe ich auch zu meinem<br />

Schutzengel gebetet, dass er mich beschützt.<br />

Wenn ich hinfalle und mir mein<br />

Knie wehtut, war der Schutzengel zu langsam.<br />

Ich mag Gott, und das Beste ist, dass<br />

er in meinem Herz wohnt. Das ist viel näher<br />

als der Nikolaus. Der wohnt am Nordpol.<br />

Wenn die Mama und ich in der Stadt sind,<br />

sage ich, ich will dem lieben Gott hallo<br />

sagen, und dann gehen wir in eine <strong>Kirche</strong>.<br />

Ich mag <strong>Kirche</strong>n, weil es da so leise ist. Und<br />

weil da so schöne Musik gespielt wird. Gott<br />

sieht alles, was man macht, also ist man<br />

lieber brav. Man sollte ein guter Mensch<br />

sein, sonst kommt die Polizei.»<br />

14 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

15


MAYA FÜRST<br />

LIRIDONA BOQAJ<br />

LIRIDONA BOQAJ<br />

28, VERKÄUFERIN<br />

KIRCHE ST. LEON­<br />

HARD, WOHLEN AG<br />

MAYA FÜRST<br />

21, PFLEGEFACHFRAU<br />

DREIFALTIGKEITS­<br />

KIRCHE, BERN<br />

«Oft nehme ich im Zug meinen Rosenkranz<br />

in die Hand. Es ist einfach ein schönes<br />

Gefühl, in die Taschen zu fassen und<br />

sich wieder daran zu erinnern, dass Gott da<br />

ist. Ich bete den Rosenkranz aber nicht vor<br />

anderen Menschen. Sobald man ein Kreuz<br />

trägt oder sagt, dass man gläubig ist, wird<br />

man komisch angesehen. Bevor ich ins Bett<br />

gehe, bete ich die Komplet, das Nachtgebet<br />

der Mönche. Ich lese dann jeweils aus<br />

dem Stundenbuch ein paar Psalmen, danach<br />

lege ich meine persönlichen Anliegen<br />

und Sorgen vor Gott. Ich bete kindlich,<br />

in einfacher Sprache. ‹Gott, ich bitte dich,<br />

schau zu meinem Freund, du kennst ihn,<br />

und du weisst, wie du ihm helfen kannst.›<br />

Ich bete zu Hause immer im Schlafzimmer,<br />

dort stehen auch mein Holzkreuz und<br />

meine Herz-Jesu-Statue. Ich komme oft<br />

allein in die <strong>Kirche</strong>, knie vor der Mutter<br />

Gottes oder dem Tabernakel. Ich knie,<br />

weil Gott heilig ist und weil das Knien aus<br />

meiner Sicht die schönste Form der Anbetung<br />

ist.»<br />

«Wir waren diesen Sonntag in der Albaner<br />

Mission. Wir sind Kosovaren und gehören<br />

zur katholischen Minderheit. ‹O<br />

zot›, beginne ich meine Gebete, das heisst<br />

in meiner Sprache ‹O Gott›. ‹O zot, mach<br />

bitte, dass meine zwei kleinen Söhne Dilan<br />

und Dorian gesund bleiben und ein schönes<br />

Leben haben werden.› Seit ich verheiratet<br />

bin, bete ich öfters. Ich bitte um<br />

Gesundheit für meinen Mann, um Liebe<br />

und Harmonie, dass ihn Gott schützt bei<br />

der Arbeit und wenn er im Auto unterwegs<br />

ist. Ich danke Gott, dass ich nun<br />

langsam die Medikamente absetzen kann,<br />

nachdem es mir nach der Geburt des Kleinen<br />

sehr schlecht ging, körperlich und<br />

psychisch. Damals, als ich schwanger werden<br />

wollte, habe ich auch oft gebetet, der<br />

Wunsch ging in Erfüllung. Ich bete vor<br />

dem Essen und abends im Bett, ich könnte<br />

nicht einschlafen ohne. Richtig voll weg<br />

bin ich aber nur, wenn ich in der <strong>Kirche</strong><br />

bete.»<br />

16 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

17


RAJASEKARAM ANANTHASEGARAM<br />

SIDONIE NDAMNI & CAROLINE POLLASTRI<br />

RAJASEKARAM<br />

ANANTHASEGARAM<br />

56, HILFSBÄCKER<br />

KLOSTERKIRCHE<br />

EINSIEDELN<br />

«Hier in der Klosterkirche bete ich zur<br />

schwarzen Madonna. Heute Morgen bin<br />

ich in der letzten Reihe der <strong>Kirche</strong> niedergekniet<br />

und habe gedacht: ‹Heilige Maria,<br />

hilf, dass das, was ich habe, mir genug ist.<br />

Ein Haus, ein Auto, das reicht doch.› Dass<br />

ich hier sitze, hilft mir, keine schlechten<br />

Energien zu entwickeln. Und das wiederum<br />

hilft mir, ein guter Mensch zu sein. Ich<br />

komme aus Sri Lanka, mein Vater war Katholik.<br />

Hinduismus und Katholizismus –<br />

irgendwie ist beides in mir drin. Meine Urgrossmutter<br />

war eine <strong>Schweiz</strong>erin, die nach<br />

Sri Lanka auswanderte. Dass ich ausgerechnet<br />

in der <strong>Schweiz</strong> Asyl gefunden habe,<br />

das kann kein Zufall sein. Ich glaube an<br />

Reinkarnation. Der Kreis schliesst sich.»<br />

SIDONIE NDAMNI<br />

33, FABRIKARBEITERIN<br />

CAROLINE POLLASTRI &<br />

38, SOZIALBEGLEITERIN<br />

HERZ-JESU-KIRCHE,<br />

ZÜRICH<br />

Sidonie: «Ich bete jeden Abend, be vor<br />

ich schlafen gehe. Ein Vaterunser, ein Gegrüsst<br />

seist du, Maria. Dann singe ich zusammen<br />

mit meinen Kindern und meinem<br />

Mann laut in unserer Wohnung. Ich<br />

habe gestern Abend gebetet, dass meine<br />

Familie in Afrika Frieden hat und gesund<br />

bleibt. Die Medikamente in Afrika sind<br />

sehr teuer, und es gibt keine richtige Krankenversicherung.»<br />

Caroline: « ‹Bitte steh mir heute im<br />

Gottesdienst bei, wenn ich singe›, habe ich<br />

heute gebetet. Dann für die Kinder, die an<br />

Aids leiden. Und ich habe Gott gedankt für<br />

all die Hilfe, die wir bekommen. Bei uns<br />

in Afrika ist das Dankgebet das höchste<br />

Gebet. Meistens bete ich auf Bamileke, in<br />

der Sprache Westkameruns.»<br />

18 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

19


ZDENKO SAMARDZIC BJÖRN SCHRADER RALPH M. TRÜEB<br />

ZDENKO SAMARDZIC<br />

47, SAKRISTAN<br />

HERZ-JESU-KIRCHE,<br />

ZÜRICH<br />

RALPH M. TRÜEB<br />

54, DERMATOLOGE<br />

PRAXIS IN<br />

WALLISELLEN<br />

«Wenn ich morgens mit dem Auto zur Arbeit<br />

fahre, bete ich am Steuer still vor mich<br />

hin, auf Kroatisch, das ist meine Muttersprache.<br />

Manchmal bete ich auch im Laufen<br />

bei der Arbeit, als Sakristan in einer<br />

<strong>Kirche</strong> betest du automatisch ständig.<br />

Wenn ich frei habe, vergesse ich auch mal<br />

zu beten. Ich schliesse jeden Tag morgens<br />

die <strong>Kirche</strong> auf, dann bekreuzige ich mich<br />

vor der Mutter Gottes und dem Tabernakel.<br />

Ich bin im ehemaligen Jugoslawien<br />

aufgewachsen, und als Jugendlicher in<br />

einem kommunistischen Staat bist du weit<br />

weg von der <strong>Kirche</strong>. Doch der Glaube<br />

kam wieder. Ich bin Sakristan geworden,<br />

weil ich Gott danken wollte für mein gutes<br />

Leben. Was genau ich bete? Beten ist intim.<br />

Nur so viel: Ich bete für meine Kinder, die<br />

gerade im Teenageralter sind, dass sie einen<br />

kühlen Kopf bewahren.»<br />

BJÖRN SCHRADER<br />

40, DOZENT<br />

HERZ-JESU-KIRCHE,<br />

ZÜRICH<br />

«Meine Frau und ich beten abends abwechselnd<br />

mit unseren Kindern, so sammeln<br />

wir uns, kommen zur Ruhe, auch wenn es<br />

nur zwanzig Sekunden sind. ‹Maria, breit<br />

den Mantel aus, mach Schirm und Schild<br />

für uns daraus, lass uns darunter sicher<br />

stehn, bis alle Stürme vorübergehn.› Auch<br />

wenn man mal Streit hatte, untereinander<br />

oder mit den Kindern, beten wir und signalisieren:<br />

Da steht nichts mehr zwischen<br />

uns. Dieses Gebet ist für mich ein Zeichen<br />

der Versöhnung.«<br />

«Im Gespräch mit Patienten kommt es vor,<br />

dass mein Blick zur kleinen Ikonostase der<br />

Schutzheiligen in meiner Praxis schweift<br />

und ich still um Hilfe für all jene bitte, die<br />

bei mir Rat suchen. Besonders verbunden<br />

fühle ich mich der heiligen Agnes von Rom<br />

mit folgendem Tagesgebet: ‹Ewiger Gott,<br />

du berufst, was schwach ist in dieser Welt,<br />

um das, was stark ist, zu beschämen./Höre<br />

auf die Fürsprache der heiligen Agnes./<br />

Komm uns zu Hilfe, damit auch wir unbeirrt<br />

den Glauben bekennen.› Aufgrund<br />

ihrer Legende ist die heilige Agnes für mich<br />

Schutzpatronin für Frauen mit Haarausfall.<br />

Die Heiligen um Hilfe zu bitten stellt<br />

keinen Widerspruch zum Vertrauen auf<br />

Gott dar, vielmehr wird in den Heiligen<br />

letztlich Gottes Wirken am Menschen offenbart.<br />

Die Heiligen waren verwundbare<br />

Menschen wie wir, die abgelehnt wurden,<br />

20 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

21


KATHARINA PRETNAR<br />

ANDREAS WINKLER<br />

denen Gewalt widerfuhr und die dabei<br />

nicht verzagten, sondern an Gott festhielten.<br />

Ich bete zu den Heiligen, weil sie für<br />

mich versinnbildlichen, dass man die Hoffnung<br />

nicht aufgeben soll und Gott sich<br />

um unsere Nöte kümmert. Auch wenn<br />

Berichte über Wunderheilungen aus dem<br />

Blickwinkel der modernen Medizin schwierig<br />

zu bewerten scheinen und der Schwerpunkt<br />

dieser Wunderberichte mehr im<br />

theologischen Bereich und der Allegorie<br />

liegt, bin ich überzeugt, dass die Heiligen<br />

uns die Augen öffnen können für eine spirituelle<br />

Dimension auch im Arztberuf.<br />

Nicht zuletzt sind die Haare dem Himmel<br />

am nächsten.»<br />

KATHARINA PRETNAR<br />

27, LEHRERIN<br />

KIRCHE ST. PETER<br />

UND PAUL, ZÜRICH<br />

«Beten ist sprechen mit Gott wie mit dem<br />

besten Freund, über all die Dinge, die mich<br />

bewegen. Ich gehe täglich in die Messe. Ich<br />

bete für Familie, Freunde, das Lehrerkollegium,<br />

meine Schüler: ‹Herr Jesus, ich bringe<br />

alle Jugendlichen zu dir›, sage ich zum Beispiel,<br />

‹hilf ihnen auf ihrem Weg, leite sie,<br />

dass sie das Glück ihres Lebens erfahren.›<br />

Ich picke selten einen bestimmten Schüler<br />

heraus, keiner soll bevorzugt werden. Ich<br />

richte mich während des Tages oft mit<br />

Stossgebeten an Gott, egal, ob ich eine Tür<br />

öffne, die Strasse überquere oder abwasche.<br />

Oder ich bete einen Rosenkranz. Und ich<br />

wende mich an Heilige, die ich besonders<br />

verehre, oder an den seligen Johannes Paul<br />

II. Als meine Schwester vor zehn Jahren<br />

starb, an Krebs, sie war 19, betete ich oft an<br />

ihrem Krankenbett und bat Gott, dass er sie<br />

heile. Aber ich habe mit der Zeit verstanden,<br />

dass nicht alles in unserer Macht steht.<br />

– Während Sie mich beim Beten fotografiert<br />

haben, schloss ich Sie in mein Gebet<br />

mit ein.»<br />

ANDREAS WINKLER<br />

36, BIERBRAUER<br />

LIEBFRAUENKIRCHE,<br />

ZÜRICH<br />

«Eigentlich bete ich immer, auch im<br />

Gehen, beim Spazieren im Wald. Ich gehe<br />

jeden Tag nach der Arbeit in die <strong>Kirche</strong>,<br />

auch mal am Nachmittag, ich arbeite<br />

Schicht. Wenn ich allein sein will, suche ich<br />

die Krypta auf. Ich starte mit einem Vaterunser,<br />

es ist ja wie beim Gitarrenspiel, zuerst<br />

muss ich mich einstimmen. Ich bete<br />

die prophetischen Bücher aus dem Alten<br />

Testament laut vor, denn durch das Aufsagen<br />

bekommen Gottes Worte Kraft. Ich<br />

kann schon mal eineinhalb Stunden lang<br />

beten. Für mich selber bete ich immer weniger,<br />

weil ich weiss, dass es gut kommt. Ich<br />

bete für die Jugendlichen in unserer Pfarrei<br />

und für das Kinderheim, das ein Kollege<br />

in Nigeria aufgebaut hat. Ich bete für<br />

den ehemaligen Papst Benedikt, den ich bewundere,<br />

und für die Bischöfe Vitus und<br />

Marian. Natürlich wünsche ich auch Papst<br />

Franziskus I. alles Gute, übrigens gibt es<br />

ja ein Franziskaner Weissbier.»<br />

22 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

23


TOBIA RÜTTIMANN<br />

44, ORDENSSCHWESTER<br />

KLOSTER<br />

INGENBOHL<br />

«Dreimal am Tag bete ich gemeinsam mit<br />

meinen Mitschwestern das kirchliche Stundengebet.<br />

Da tragen wir die Sorgen und<br />

Anliegen der Menschen vor Gott, die täglich<br />

an uns herangetragen werden, sei es<br />

durch Briefe, Mails oder Telefon.»<br />

BIRGIT SCHMID ist Redaktorin des «Magazins».<br />

birgit.schmid@dasmagazin.ch<br />

ANNA MILLER ist freie Journalistin und Autorin.<br />

redaktion@dasmagazin.ch<br />

Die Fotografin ANNE MORGENSTERN lebt<br />

in Zürich.<br />

www.annemorgenstern.com<br />

24 <strong>DAS</strong> MAGAZIN 13/2013<br />

25

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