210: Sozialhilfe.
Wenn Arme ärmer werden. SKOS-Co-Präsidentin Therese Frösch wehrt sich gegen SVP-Attacke aufs Sozialsystem.
Wenn Arme ärmer werden. SKOS-Co-Präsidentin Therese Frösch wehrt sich gegen SVP-Attacke aufs Sozialsystem.
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Menschengeschichte<br />
Sprache erkundet, desto mehr«, versuchte<br />
ich ihn zu beruhigen.<br />
Er schüttelte den Kopf. Bis zum Aussteigen<br />
sprachen wir kein Wort mehr miteinander.<br />
Ein Mädchen auf dem Arm, das<br />
zweite an der Hand, lief der grosse und<br />
stämmige Mann neben mir her. Ich begleitete<br />
ihn bis zum gesuchten Haus. Er zog<br />
aus der Hosentasche die Terminkarte einer<br />
Ärztin, zu der seine Kinder in eine medizinische<br />
Kontrolle gingen. Ein Blick auf das<br />
Kärtchen verriet, dass er mehr als zwei<br />
Stunden zu früh dastand. Als ich ihn darauf<br />
ansprach, lachte er. Es sei wichtiger, die<br />
Adresse gefunden zu haben, als zwei Stunden<br />
zu warten. Statt im Asylzentrum, wo er<br />
auch nichts tue, wolle er nun hier warten.<br />
Ich zeigte ihm die Strasse, die zum See<br />
führte, und erzählte in wenigen Worten<br />
vom breiten Seeufer, wo es schön sei zum<br />
Spazieren. Der Hochnebel hatte sich unterdessen<br />
zurückgezogen.<br />
Er verabschiedete sich von mir und bedankte<br />
sich. Vor dem Eingang des Lunchkinos<br />
entschied ich mich, ebenfalls zum<br />
See zu gehen. Ich hörte mich flüstern: »Ich<br />
will die Sonne geniessen. Den Film kann<br />
ich auch im Abendprogramm sehen.«<br />
Er lächelte, als er mich erblickte, und bevor<br />
ich bei ihm ankam, rief er mir zu, ob<br />
auch ich zwei Stunden zu früh gewesen sei.<br />
Das ältere Mädchen hielt das kleine an der<br />
Erzählen in der neuen Sprache. Durch die<br />
Literatur hat sich Yusuf die Sprache<br />
Deutsch angeeignet<br />
Hand und fütterte mit ihrem Sandwich<br />
zwei Schwäne. Er heisse Marwan, sagte der<br />
Mann. Auch ich stellte mich vor. Er bot<br />
mir Früchte an, die er mitgenommen hatte<br />
aus dem Asylzentrum, das er »Camp«<br />
nannte. Es sei schön am See, nahm ich den<br />
Faden wieder auf, zeigte auf die vielen<br />
Menschen am Ufer. Die einen assen, die<br />
anderen lernten. Die Natur hier sei sehr<br />
grün, bemerkte er, aber seine lärmige Stadt<br />
fehle ihm, auch der Geruch der Erde.<br />
Seine Stadt Qamishli, wo zuletzt über<br />
300 000 Menschen gelebt hätten, sei vor<br />
rund hundert Jahren von Aramäern gegründet<br />
worden, die vor der Verfolgung aus<br />
dem Osmanischen Reich geflüchtet waren.<br />
In den folgenden Jahren seien auch Kurden<br />
dorthin geflohen. Auch viertausend armenische<br />
Flüchtlinge aus der Türkei hätten<br />
damals rund um Qamishli Zuflucht gefunden.<br />
Stolz seien die Menschen seiner Stadt,<br />
dass diese den Verfolgten Schutz geboten<br />
habe. Die Jihadisten wollten diesem Völkermosaik<br />
nun ein Ende setzen.<br />
»Kennst du den armenischen Sänger<br />
Aram Tigran, der auf Kurdisch sang?«<br />
»Natürlich, wer kennt seine melancholische<br />
Stimme nicht?«<br />
»Er stammte aus meiner Ortschaft. Sein<br />
Vater gehörte zu den Überlebenden des armenischen<br />
Völkermordes. Als einziger<br />
Überlebender seiner Familie flüchtete er<br />
als Zwölfjähriger aus der heutigen Türkei<br />
nach Qamishli. Arams Familienhaus ist<br />
ganz nah bei unserem. Wie einfühlsam er<br />
singt! Seit ich geflüchtet bin, kann ich seine<br />
Strophe Die Fremde ist erbarmungslos<br />
viel besser verstehen. Gesegnet sei seine<br />
Seele.«<br />
Marwan ist mit seiner Frau und den zwei<br />
Töchtern vor wenigen Monaten in die<br />
Schweiz gekommen, auf einer langen und<br />
beschwerlichen Reise. Die Familie hat Asyl<br />
erhalten. Seine Eltern und Geschwister<br />
lebten aber noch im irakischen Kurdistan,<br />
in Zelten. »Sie alle fehlen uns, vor allem<br />
den Töchtern. Mir fehlen dazu meine<br />
Schüler.«<br />
Seit wann ich hier leben würde, fragte er,<br />
als ich ihm zum Abschied meine Hand<br />
hinstreckte. Ich rechnete laut. »Siebenundzwanzig<br />
Jahre.« Vor Staunen biss er auf seine<br />
Unterlippe. Er stellte seine Frage zum<br />
zweiten Mal. Ich wiederholte. Seine fragenden<br />
Blicke verrieten sein Erstaunen.<br />
»Wir meinten, dass wir 2015 zurückkehren<br />
könnten, in unsere Heimat, zu den Geschwistern,<br />
zu den Eltern.«<br />
Ich sagte ihm, dass auch ich einmal gehofft<br />
hätte, in zwei Jahren zurückzukehren. <br />
Geschichten aus dem Leben<br />
<br />
Soraja<br />
Roman<br />
Limmat Verlag Zürich.<br />
224 Seiten, 34.80 CHF.<br />
»Ich bin Autor der<br />
deutschsprachigen Literatur«,<br />
meint Yusuf<br />
Yeşilöz, der gerne als<br />
ein Vertreter der hiesigen Migrationsliteratur<br />
bezeichnet wird. So unscharf der<br />
Begriff ist: »Eine Migrationsbiografie<br />
prägt fürs Leben«, so Yeşilöz.<br />
Er wird 1964 in einem kurdischen<br />
Dorf in Mittelanatolien geboren. 1987<br />
sucht er Asyl in der Schweiz. 1998 erscheint<br />
sein erst erster Roman »Reise in<br />
die Abenddämmerung«. Yeşilöz, der inzwischen<br />
den Schweizer Pass hat und<br />
mit seiner Familie in Winterthur lebt,<br />
verarbeitet darin seine Flucht.<br />
In seinem jüngsten, nunmehr zehnten<br />
Buch »Soraja« spielt der Autor verschiedene<br />
Erfahrungen von kultureller Differenz<br />
und Entwurzelung durch. Der<br />
schlanke Roman handelt von Ferhad, einem<br />
gut integrierten Endvierziger, den<br />
eine »kleine, feine Geschichte« mit der<br />
viel jüngeren, Kopftuch tragenden Soraja<br />
verbindet. Ferhad ist nicht nur viel zu alt<br />
für Soraja, die sich ihrer elterlichen Tradition<br />
verpflichtetet fühlt; er ist auch<br />
noch areligiös und dunkelhäutig.<br />
Das Buch spielt im letzten Monat vor<br />
Ferhads Rückkehr in die Türkei, nachdem<br />
er fast ein Vierteljahrhundert in der<br />
Schweiz gelebt hat. Yeşilöz’ männliche<br />
Hauptfigur ist und bleibt ein »Dauerheimatloser«,<br />
wie er sich einmal bezeichnet.<br />
»Soraja« ist ein souveränes Buch, und<br />
sein Autor erzählt Geschichten, die das<br />
Leben schreibt.<br />
Anna Wegelin<br />
Kleininserate<br />
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Wolf Südbeck-Baur, Postfach, 4001 Basel oder per<br />
E-Mail an redaktion.basel@aufbruch.ch<br />
Annahmeschluss: 16. Januar 2015<br />
Mission, geits no?<br />
Fachtagung am Samstag, 7. Februar 2015, Bern<br />
mit Theaterkabarett Birkenmeier<br />
Infos: www.refbejuso.ch/mission21regio<br />
43<br />
aufbruch<br />
Nr. <strong>210</strong><br />
2014