Mensch
Geschichten vom Leben
Geschichten vom Leben
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<strong>Mensch</strong><br />
Geschichten vom Leben<br />
Schicksalsjahr 2014<br />
1
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Als Journalistin schreibe ich darüber. Als<br />
systemische Beraterin und Coach erlebe ich<br />
mit meinen Klienten, wie es ist, wenn sich<br />
das Leben entfalten darf, wenn wir aufhören<br />
nach vorgegebenen Mustern zu funktionieren,<br />
wenn Hemmungen und Ängste<br />
überwunden werden. Es ist befreiend.<br />
<strong>Mensch</strong>, was haben wir es gut!“ Diesen<br />
Satz höre ich gern. Unten bei<br />
uns zuhause am Ostsee-Strand<br />
von Langballigau höre ich ihn oft. Und es<br />
stimmt ja: Bei allen Schwierigkeiten und<br />
Problemen, die der Alltags mit sich bringt,<br />
haben wir es in Deutschland und ganz besonders<br />
wir in Schleswig-Holstein sehr gut.<br />
Das sollten wir genießen, finde ich, denn:<br />
Irgenwann ist es vorbei und wie lange ein<br />
Leben währt, das kann niemand voraussehen.<br />
Dann ist es doch schade um jede Stunde,<br />
in der wir uns über unaufgeräumte<br />
Zimmer, die laute Musik der Nachbarn oder<br />
gar über zu viel Speck auf den Rippen geärgert<br />
haben, obwohl – oder gerade weil –<br />
uns das Essen so gut schmeckt.<br />
Schmerzlich ist mir das bewusst geworden,<br />
als 2014 unser kleiner Nachbarsjunge Kimi<br />
mit gerade einmal sechs Jahren starb. Als<br />
Journalistin habe ich darüber geschrieben,<br />
sogar bei der Beerdigung fotografieren dürfen<br />
(Danke an die Eltern Monira und Steffan).<br />
Seither ist das Thema „Leben und<br />
Sterben“ zum Mittelpunkt meiner Arbeit<br />
geworden. Ich betrachte es von all seinen<br />
Seiten – den schönen und den bitteren.<br />
INHALT<br />
Foto: Voigt<br />
Mir klingt bis heute mahnend ein Bemerkung<br />
im Ohr, die der Leiter des Flensburger<br />
Katharinen Hospizes am Park, Dr. Hermann<br />
Ewald, einmal gemacht hat: Der weitaus<br />
größte Teil seiner Patienten äußere am<br />
Lebensende dieselben drei Wünsche. Die<br />
Sterbenden hätten gern weniger Zeit mit<br />
ihrer Arbeit verbracht, dafür aber mehr Zeit<br />
mit ihrer Familie und mit ihren Freunden.<br />
Und sie hätte gern viel mehr nach ihren<br />
eigenen Vorstellungen, Bedürfnissen und<br />
Gefühlen gelebt, ohne Fassade, ohne Rücksicht<br />
darauf, was andere vielleicht denken<br />
könnten. Vielen Dank für den Hinweis. Ich<br />
werde künftig nach meinen Vorstellungen<br />
leben, wenn auch mit Rücksicht auf die<br />
Welt, die mich umgibt – <strong>Mensch</strong>en, Tiere,<br />
Natur.<br />
In den vergangenen Monaten habe ich mit<br />
vielen <strong>Mensch</strong>en gesprochen, die für sich zu<br />
ähnlichen Einsichten gekommen sind. Was<br />
nützen uns Geld, Gut und berufliches Ansehen<br />
am Ende? Ein erfülltes Leben hat, wer<br />
sich selbst kennenlernt und sein Potential<br />
ausleben kann.<br />
In diesem Heft kommen einige <strong>Mensch</strong>en<br />
zu Wort, die dazu etwas zu sagen haben.<br />
Geschrieben habe ich es für alle, die ihr<br />
Leben neu entdecken möchten und darüber<br />
nachdenken, was es bedeutet zu leben,<br />
wirklich zu leben und nicht bloß nach den<br />
Ansprüchen und Maßstäben anderer zu<br />
funktionieren. Viel Spaß beim Lesen!<br />
Ihre<br />
Anette Schnoor<br />
Der sechste Geburtstag Seiten 3,4<br />
Mias Reiterferien Seite 5<br />
Glücksmoment Seiten 6,7<br />
Sommer der Entscheidung Seiten 8,9<br />
„Mein Krebs hat mich gehelit“ Seiten 10, 11<br />
Träume – Schlüssel zur Seele Seiten 12, 13<br />
Aus der Krise in eine neue Lebensspur Seite 14,15<br />
ANHANG Seiten 16-20<br />
mit tierischen Lebens-Tipps<br />
„<strong>Mensch</strong>“ ist ein Magazin aus dem Büro<br />
MachtWort – Medien & Kommunikation<br />
Moorweg1, 24977 Langballig<br />
Es erscheint ab 2016 vierteljäjrlich und<br />
erzählt Geschichten von <strong>Mensch</strong>en für<br />
<strong>Mensch</strong>en.<br />
V.i.S.d.P./Redaktion/Satz/Layout:<br />
Anette Schnoor, freie Journalistin,<br />
systemische Beraterin & Coach<br />
E-.Mail: schnoor@macht-wort.de<br />
Tel. 04636 - 9796866<br />
www.anette-schnoor.de<br />
www.macht-wort.de<br />
2
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
DER SECHSTE GEBURTSTAG<br />
Hoffnung im Frühling I Zwischen Chips und Chemo<br />
Kimi Lemke an seinem<br />
sechsten Geburtstag:<br />
Ein letztes Mal feiert<br />
der Knirps sein Leben<br />
mit einem rauschenden<br />
Fest.<br />
Heilung – das ist ein großes Wort. „Heilung“,<br />
sagt Monira Lemke, „ja, wenn das<br />
möglich wäre.“ Aber es sieht nicht so aus,<br />
als ob für ihren Sohn Kimi alles heil, alles gut<br />
werden soll.<br />
Als er im April 2008 geboren wird, merkt die Mutter<br />
schnell, dass etwas nicht stimmt. Der Kleine<br />
hat Schmerzen. Da ist sie sich sicher. Er schläft<br />
nicht, schreit, hält seine Umgebung auf Trab. Die<br />
Ärzte, die sie aufsucht, zeigen unverhohlen, was sie<br />
von der zweifachen Mutter halten: „Hysterisch.“<br />
Monira Lemke ist verzweifelt, fährt bis nach Itzehoe<br />
mit ihrem kleinen Sohn. Dort, endlich, nimmt<br />
ein Kinderrheumatologe sie ernst. Ein Untersuchungsmarathon<br />
beginnt. Die Diagnostik ist aufwändig.<br />
Kimi muss ins Universitätsklinikum<br />
Eppendorf nach Hamburg. Und als sie im Herbst<br />
2009 die niederschmetternde Diagnose bekommt,<br />
ist Monira Lemke beinahe erleichtert: „Krebs, ein<br />
Neuroblastom.“ Die 35-Jährige macht sich gerade.<br />
„Jetzt“, sagt sie, „können wir jedenfalls etwas tun.“<br />
Und die Familie tut. Die Eltern begleiten jede Therapie<br />
ihres kleinen Sohnes kritisch. Sie teilen sich<br />
auf. Einer ist bei Kimi, einer bei seiner drei Jahre<br />
älteren Schwester Mia. Sie soll „nicht hintenan<br />
stehen“ und sie glaubt unerschütterlich daran,<br />
dass ihr Bruder wieder gesund werden wird. Und<br />
er? Er hält sich „wie ein Großer“, wird operiert,<br />
bekommt Medikamente, verliert Haare – aber<br />
nicht die gute Laune. 16 Monate lang existieren die<br />
Vier irgendwo zwischen Tod und Leben. Dann<br />
scheint es geschafft. Kimi wird als geheilt entlassen.<br />
Seine Schwester Mia stellt fest: „Jetzt sind wir<br />
wieder eine richtige Familie.“<br />
Tatsächlich – die Lemkes sind eine richtige Familie,<br />
die das Leben genießen kann – bei allen Problemen,<br />
die es mit sich bringt: Die Ehe zwischen<br />
Monira und Steffan scheitert. Als Eltern halten sie<br />
zusammen. Die gemeinsame Wohnung bleibt das<br />
Zentrum der Familie. Die Kinder sollen ihr Zuhause,<br />
ihre Wurzeln behalten. Hier – auf einem ehemaligen<br />
Bauernhof an der Ostseeküste – leben<br />
auch andere Familien, Kinder, Tiere. Hier haben<br />
sie Freunde, ihre vertraute Umgebung, ein kleines<br />
bisschen heile Welt mit Trampolin springen und<br />
Fußball spielen.<br />
3
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Wenn Du sterben musst,<br />
Dann sterbe ich vorher.<br />
Nein, ich bin krank.<br />
Du nicht. Du sollst leben.<br />
>>><br />
Der Schrecken kehrt nach zwei Jahren zurück<br />
und jetzt mit voller Wucht. „Rückfall,<br />
Rezidiv“, berichtet Monira den entsetzten<br />
Nachbarn und Freunden. Alle wissen, was<br />
das bedeutet. Die Mutter selbst hat es immer<br />
gesagt: Die Chancen zu überleben, stehen<br />
schlecht. Und dennoch wird gelacht und<br />
gelebt, frei nach dem Motto „zwischen Chemo<br />
und Chips“. „Chips“, das bedeutet für<br />
Kimi Freizeit und „Chemo“, das ist sein Job.<br />
Inzwischen kann er sprechen und antwortet<br />
äußerst lässig auf eine Einladung: „Da<br />
komm ich, da hab ich frei.“ Doch sein kleiner<br />
Körper kämpft nicht mehr nur gegen<br />
den Krebs. Jetzt heißt der Dämon HLH –<br />
Hämophagozytische Lymphohistiozytose,<br />
eine Lungenkrankheit, nicht weniger tückisch<br />
und genauso tödlich wie der Krebs.<br />
Das Luftholen wird zur fast unlösbaren Aufgabe<br />
für den willensstarken Knirps, der beschließt,<br />
seinen sechsten Geburtstag mit<br />
einem Riesenfest zu feiern, mit Hüpfburg<br />
und fetten Ami-Straßenkreuzern, die er cool<br />
findet, und hunderten Leuten. Familie,<br />
Freunde, Ärzte, Schwestern – wer kann,<br />
kommt. Es wird ein rauschendes Fest mit<br />
einem Geburtstagskind, das seine Sauerstoffflasche<br />
immer dabei hat, Schläuche in<br />
der Nase, ein Lächeln im Gesicht. Und trotz<br />
des fröhlichen Festes ist wohl vielen Erwachsenen<br />
auch zum Weinen zumute: „Was<br />
muss dieser kleine Kerl alles aushalten?“,<br />
sagt eine Frau.<br />
Die Geschwister streiten darum, wer zuerst<br />
sterben wird. „Wenn Du sterben musst,<br />
dann sterb ich vorher“, sagt Mia. Kimi, der<br />
kleine Kimi, schüttelt den Kopf. „Ich bin<br />
krank. Du nicht.“ Seine Schwester reagiert<br />
mit Verlustängsten. Räumt die Mutter den<br />
Kaufmannsladen auf, beginnt die Achtjährige<br />
zu weinen: „Lass das, da hab ich das letzte<br />
Mal mit Kimi gespielt!“<br />
Dann, wenig später, kommt der Tag, an dem<br />
der kleine Patient keine Luft mehr bekommt.<br />
Notaufnahme, Intensivstation Kiel,<br />
künstliches Koma. Die Familie verbringt die<br />
ersten Tage gemeinsam im Elternhaus der<br />
Klinik, Mia ist von der Schule befreit. Alle<br />
sind auf das Schlimmste vorbereitet. Jeden<br />
Tag kann es vorbei sein. Und dann kommt<br />
der kleine Kämpfer zurück. Schritt für<br />
Schritt, Stunde für Stunde ist er wieder da,<br />
wach und obwohl er nicht sprechen kann –<br />
ein Luftröhrenschnitt – macht er klar, was<br />
er will: „Cola.“<br />
Die Lemkes feiern Kimis sechsten Geburtstag | Monira, Kimi, Mia, Steffan<br />
Foto: Voigt<br />
Wie geht es weiter? Steffan und Monira<br />
Lemke wissen es nicht. Freunde und Familie<br />
helfen, zumindest die schlimmste finanzielle<br />
Not zu lindern. An Arbeit ist für beide<br />
nicht zu denken, aber die Fahrten zwischen<br />
dem heimatlichen Langballig und Kiel kosten<br />
viel Geld. Und Mia soll nicht die ganze<br />
Zeit in der Klinik sitzen. Sie macht Reiterferien.<br />
Und die ganz normalen Lebenshaltungskosten<br />
sind auch noch da. „Das geht<br />
schon irgendwie“, sagen die Lemkes. Aber<br />
es ist schwer. Als Freunde die beiden überreden,<br />
ein Spendenkonto einzurichten und<br />
auf Facebook öffentlich zu machen, sind sie<br />
froh. Sie können jetzt mit ihren Gedanken<br />
ganz bei Kimi sein und wer weiß: Heilung,<br />
Wunderheilung – das hat es ja alles schon<br />
gegeben.□<br />
4
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Freude in den Augen: Auf dem<br />
Pony sind Sorgen vergessen<br />
MIAS REITERFERIEN<br />
Pferdeglück an der Ostsee| Hier vergisst Mia die Sorgen um ihren kleinen Bruder.<br />
Mia läuft über die Wiese.<br />
Ihre blonden Haare sind<br />
zum Zopf gebunden, die<br />
großen blauen Augen lachen und<br />
sie riecht nach Sonnenmilch und<br />
Ponystall: „Das da ist Sternchen",<br />
sagt sie und zeigt auf ein kleines,<br />
schwarzes Shettland-Pony. „Und<br />
das ist Rocky". Rocky ist schon<br />
wesentlich größer und ganz schön<br />
weiß. „Und da steht Butterfly". Ja,<br />
die junge Stute wohnt auch hier,<br />
ein Deutsches Reitpony, das sich<br />
mit 1,52 Meter Stockmaß in der<br />
Größe vertan hat, und zum Pferd<br />
geworden ist. „Sie ist die<br />
Schönste", stellt Mia fachmännisch<br />
fest, wobei: „Eigentlich<br />
sind alle schön!"<br />
Mia, acht Jahre alt, schmal und<br />
sportlich, fröhlich – ein<br />
Sonnenschein, steht auf einer<br />
Ponykoppel in Habernis. Sie<br />
macht Reiterferien auf dem<br />
Lindenhof, und es ist kaum zu<br />
glauben, dass dieses unbeschwerte<br />
Mädchen tatsächlich kein<br />
sorgloses Ponyhof-Leben führt.<br />
Nur wer mitbekommt, wie sie auf<br />
andere Kinder achtet, wie sie<br />
abgeben und großzügig<br />
verschenken kann, der ahnt<br />
vielleicht: „Die kleine Maus hat<br />
schon viel erlebt." Das sagt ihre<br />
Mutter Monira Lemke, und sie<br />
hätte gern allen, insbesondere<br />
ihren Kindern, diese Erlebnisse<br />
erspart. Vor fünf Jahren, als ihr<br />
damals einjähriger Sohn die<br />
Diagnose „Krebs" bekam, ein<br />
Neuroblastom, stellte das das<br />
Leben der vierköpfigen Familie<br />
völlig auf den Kopf. Seither geht es<br />
um Therapien, um Ruhephasen,<br />
um Leben und Tod. „Alles dreht<br />
sich um Kimi. Das ist so.“ Und wie<br />
ist das für Mia? „Wie geht es Dir<br />
hier?“, frage ich. Das ist<br />
unverdächtig, denn ich bin ihre<br />
Nachbarin und reite selbst, sogar<br />
auf Butterfly.<br />
„Guuuht“, sagt sie und zieht die<br />
Stimme nach hinten hin hoch.<br />
Dann beeilt sie sich hinzuzusetzen:<br />
„Kimi geht es auch<br />
schon besser.“ Ihr kleiner,<br />
sechsjähriger Bruder liegt wieder<br />
in der Klinik, auf Leben und Tod.<br />
So schlimm wie dieses Mal war es<br />
noch nie. Zum Krebst hat sich eine<br />
Lungenkrankheit gesellt. Die<br />
Eltern weichen seit Wochen kaum<br />
von seinem Bett und Mia selbst<br />
war tagelang dabei. Schule? Daran<br />
war nicht zu denken. „Was ist,<br />
wenn Kimi stirbt, wenn ich nicht<br />
da bin?“ hat sie gerufen und<br />
konnte im Auto nicht aufhören zu<br />
weinen. Also durfte sie bleiben.<br />
Jetzt hat sie Ferien und ihr kleiner,<br />
starker Bruder lebt, jeden Tag ein<br />
kleines Stückchen mehr. Mia kann<br />
frei machen. „Und dafür sind wir<br />
dankbar“, berichten ihre Eltern,<br />
denn an Arbeiten und Geld<br />
verdienen, ist für sie nicht zu<br />
denken. Und an fröhliches Freizeitvergnügen<br />
schon gar nicht. So<br />
geben Freunde, Familie, sogar<br />
ganz unbekannte <strong>Mensch</strong>en Geld<br />
oder einfach praktische Hilfe, um<br />
es Mia schön zu machen. So wie<br />
jetzt Julia und Nino Lauscher und<br />
ihre Betreuerinnen auf dem Lindenhof,<br />
die die Kleine kurzentschlossen<br />
in ihr Zimmer aufgenommen<br />
haben.<br />
Da ist wenig Platz – nur die<br />
oberste Etage im Hochbett – aber<br />
wer braucht hier schon mehr als<br />
ein Bett? Früh morgens geht’s los,<br />
nach den Ponys schauen, um 9<br />
Auch wenn Kimi in der<br />
Klinik um sein Leben<br />
kämpft – seine große<br />
Schwester Mia soll einen<br />
möglichst sorglosen<br />
Sommer erleben. Die<br />
kleine Reiterin verbringt<br />
fröhliche Stunden mit<br />
ihren geliebten Ponys.<br />
5
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
>>><br />
Uhr ist erste Reiterbesprechung und dann heißt es<br />
„Rauf in den Sattel" und Mia kann zeigen, was sie<br />
schon kann und das ist viel: auch leicht traben und<br />
galoppieren. Die hellen blauen Augen lachen wieder,<br />
während der kleine Körper unter seiner Schutzweste<br />
– „Die muss ich wegen Mutti tragen“ – aufrecht und<br />
stolz auf dem Pferderücken sitzt. „Die sind sooooooo<br />
süß!“ sagt sie hinterher und kann gar nicht dicht<br />
genug bei den Tieren stehen. „Frei und fröhlich“,<br />
diese Worte schießen mir durch den Kopf und die<br />
Frage, wie es mit ihr weitergeht, mit dieser begabten<br />
kleinen Reiterin, die mit ihrem Bruder lebt und<br />
leidet, die mit der Dame vom mobilen<br />
Kinderhospizdienst Window Color-Bilder malt und<br />
sich trotzdem als Kind selbst treu bleibt – und<br />
heimlich Nutella nascht. □<br />
Leben ist Bewegung.<br />
Nichts steht still, weder<br />
das Universum um uns,<br />
noch das Universum in<br />
uns – und immer wieder<br />
erleben wir Moment des<br />
Glücks.<br />
In Langballig hat Kimis<br />
Nachbar Ralf Schnoor<br />
sein neues E-Bike in Besitz<br />
genommen. Mehr<br />
als 4000 Kilometer wird<br />
er auf ihm allein im ersten<br />
Jahr abstrampeln.<br />
GLÜCKSMOMENT<br />
Ein E-Bike kommt ins Haus I Ralf Schnoor über eine neue, große Liebe<br />
Manch große Freude, hat eine kleine Ursache.<br />
Die größte Freude, die sich Anfang<br />
2014 Ralf Schnoor machte, war der Kauf<br />
eines E-Bikes. Seitdem fährt er jede Strecke auch die<br />
täglichen 30 Kilometer zur Arbeit und wieder zurück<br />
mit dem Fahrrad. „Da strampel’ ich mir alles weg“,<br />
sagt er und meint nicht nur lästige Fettpölsterchen –<br />
er ist Genießer, isst und kocht gern –, sondern auch<br />
Stresserlebnisse und traurige Gedanken. Sein neuer<br />
Drahtesel hat Ralf tasächlich sogar so glücklich gemacht,<br />
dass der ansonsten eher schreibfaule Software-Entwickler<br />
inzwischen regelmäßig in die<br />
Tasten haut und online über seine Erlebnisse berichtet,<br />
über kaputte Reifen, Akkus mit Ladehemmung,<br />
Regenklamotten für den Radfahrer und was ihm<br />
sonst noch so begegnet. >>><br />
6
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
>>><br />
„Ein E-Bike habe ich mir Anfang<br />
dieses Jahres angeschafft. Nach<br />
wirklich langer und bedächtiger<br />
Auswahl. Und zwar so bedächtig,<br />
dass meine „Mitwisser“ schon<br />
Wetten abschlossen, ob es jemals<br />
zur Beschaffung kommen würde.<br />
Nun denn, es ist da. Und<br />
mittlerweile auch schon über 2500<br />
Kilometer gefahren. Zeit für einen<br />
ersten Bericht zur Sache. Es wurde<br />
Ende Februar ein Kalkhoff Image<br />
bx 24 aus dem Breisgau für nur<br />
999 Euro frei Haus geliefert. Ein<br />
Bombenangebot, finde ich. In<br />
einigen Blogs zum Thema e-Bike<br />
mit dem verbauten Bionx-Antrieb<br />
finden sich allerdings durchaus<br />
Kritiker des Systems. Deswegen<br />
wohl auch der günstige Preis. Ich<br />
habe nun einige Erfahrungen<br />
gemacht und möchte vorab sagen,<br />
dass ich mit dem Rad gut<br />
zufrieden bin.<br />
Auf der negativen Seite steht in<br />
erster Linie das Lenkerschlagen.<br />
Also lässt man bei etwa 20 km/h<br />
oder mehr den Lenker los, so fängt<br />
er an zu flattern. Das kannte ich<br />
zuletzt von meinem Alpina-5<br />
Gang-Jugendfarrad. Habe aber<br />
auch andere e-Bikes getestet – die<br />
hatten trotz des doppelten Preises<br />
dasselbe Problem. Außerdem ließ<br />
sich dieses Manko zumindest<br />
lindern – nämlich über Punkt zwei<br />
der Negativliste: Die Pannenanfälligkeit<br />
der Originalen<br />
Conti eco Bereifung.<br />
In Zeiten von Schwalbe Maraton<br />
Plus Pannenresistenz ist ein<br />
Platten pro Woche außerhalb<br />
meiner Toleranz. Dann hat mir der<br />
serienmässige B&M Lyt eco<br />
Scheinwerfer zu wenig Licht<br />
gegeben und ich hab ihn gegen<br />
einen B&M IQ 2 Luxos B<br />
getauscht. Nun kann die dunkle<br />
Jahreszeit kommen.<br />
Als vorerst letzte Maßnahme<br />
wurde noch an der hinteren<br />
Felgenbremse mit einem Brake-<br />
Booster nachgerüstet, da die<br />
wirklich gut funktionierende<br />
Magura HS 11 den Hinterbau<br />
auseinander drückt. Jetzt arbeitet<br />
sie noch besser.<br />
Kommen wir zu den positiven Seiten<br />
des Rades: ich bin über seine<br />
Reichweite überrascht. Denn in<br />
der Beschreibung steht, dass es<br />
mit einer Akku-Ladung maximal<br />
60 Kilometer kommen würde.<br />
Und zwar unter günstigsten Bedingungen.<br />
Ehrlich gesagt hat der<br />
Akku die 60 Kilometer so gut wie<br />
immer geschafft. Hier oben im<br />
norddeutschen Flachland kommt<br />
man im vorsichtig gerechneten<br />
Schnitt sogar 70 Kilometer weit.<br />
Dann ist da noch die Ergonomie,<br />
die gut zu mir passt - kompakter<br />
Rahmen Größe M bei 1,82 Körpergröße.<br />
Aber das ist natürlich eine<br />
ganz persönliche Sache. Und die<br />
Bremsen– in meinen Augen eine<br />
wirklich gute Konstruktion. Bis<br />
auf die genannte Spreizung des<br />
Hinterbaus.<br />
Das Rad an sich macht unterm<br />
Strich einen deutlich positiven<br />
Eindruck. Im Einsatz ist es in erster<br />
Linie im Pendelverkehr zur Arbeit<br />
und wieder nach Hause (14<br />
Km pro Tour). Die genannte<br />
Reichweite ist natürlich auch erradelt,<br />
will damit sagen dass man<br />
schon in die Pedale treten muss,<br />
damit es so weit gehen kann. Meine<br />
maximale Reichweite lag bis<br />
jetzt bei 105 Kilometern. So geht's<br />
eben auch. Vor allem im Flachland.<br />
Sehen wir mal, was der Winter<br />
so bringt. Die Spike- Reifen<br />
liegen im Schuppen bereit. Und<br />
dann bin ich mal gespannt, was<br />
der Akku in der kalten Jahreszeit<br />
schafft.“□<br />
● Ralfs Fahrrad-Blog im Internet:<br />
http://www.newsimnorden.de/ralfs<br />
e-bike-geschichten.html<br />
Geschichten auf News im Norden<br />
Anfang 2014 startete das Mitmachportal News im Norden. Auf der<br />
Internetseite wächst seither stetig die Sammlung von Blogs und<br />
privaten Newsportalen aus Norddeutschland. Mitmachen<br />
erwünscht: www.newsimnorden.de<br />
Per Postpaket wird der<br />
neue Drahtesel angeliefert<br />
- die Männer packen<br />
aus, schrauben zusammen<br />
und los geht’s<br />
durch Wind und Wetter.<br />
Übrigens: „Bescheuerte<br />
Kleidung macht selbstbewusst.“<br />
7
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Der Sommer 2014 ist<br />
ein Traumsommer, heiß<br />
und trocken. Während<br />
am Nordseestrand die<br />
Kinder durch den Sand<br />
toben, liegt Kimi in seinem<br />
Krankenhausbett<br />
und ringt mit dem Tod.<br />
Im August stirbt er.<br />
SOMMER DER ENTSCHEIDUNG<br />
Nach fünf Jahren ist alles vorbei I Plötzlich ist es still<br />
Und plötzlich war alles still.“ Wer<br />
kann das Leid ermessen, wenn ein<br />
Kind stirbt. Wenn fünf Jahre zwischen<br />
Hoffen und Bangen, zwischen Klinik,<br />
Sonnenschein und Katastrophen plötzlich<br />
vorbei sind. „Alles still.“ Sie sagt es noch<br />
einmal und ihre großen, braunen Augen<br />
schwimmen in Tränen, blicken forschend in<br />
das Gesicht ihrer Gesprächspartnerin. Kann<br />
sie verstehen, was das heißt: „alles still“?<br />
Keine Beatmungsmaschine, kein Überwachungsgerät,<br />
kein Herzschlag, kein Leben.<br />
Monira Lemke hat ihr sterbendes Kind in<br />
den Armen gehalten. Ein letztes Bild zeigt<br />
die beiden, ein kleiner müder Junge mit<br />
blutleeren Lippen, der entspannt-geborgen<br />
auf dem weichen Körper seiner Mutter liegt,<br />
in liebevoller Umarmung. Am Morgen hatten<br />
die Ärzte dem Vater gesagt, dass es vorbei<br />
sei, dass sein Sohn nun sterben werde.<br />
Literweise Blutkonserven hatten sie zuvor<br />
in den kleinen Körper gepumpt und Literweise<br />
war das Blut wieder herausgelaufen.<br />
Einfach so. „Wir wissen nicht wieso und wir<br />
wissen nicht, wie lange es jetzt noch dauern<br />
wird. Machen sie ihm einen letzen, schönen<br />
Tag.“<br />
Kimi ist tot und sein letzter Tag war ein<br />
schöner, mit Freunden und Cola trinken<br />
und ohne Schmerzen. „Aber das kannst Du<br />
doch nicht begreifen, dazusitzen und zu wissen,<br />
dass Dein Kind stirbt. Und er sah gut<br />
aus, so gut, gar nicht mehr so krank.“ Kimis<br />
Kampf gegen den Krebs – ich habe darüber<br />
in Zeitungen und Magazinen berichtet. Von<br />
den Hoffnungen der Eltern, von seiner<br />
Schwester Mia, der kleinen leidenschaftlichen<br />
Reiterin, und von Kimi selbst, der<br />
trotz allem ein fröhliches Kind war, das sein<br />
Leben genossen hat. Ein Junge, ein echter<br />
Macker, der zu seinem sechsten Geburtstag<br />
ein rauschendes Fest verlangte, mit Hüpfburg<br />
und dicken Autos.<br />
Viele Leser spendeten der Familie Geld, damit<br />
alle zusammen sein konnten in den dramatischen<br />
Tagen in der Klinik, in dieser<br />
Zwischenzeit, in der an Arbeit nicht zu denken<br />
war. „Wir haben mehrere tausend Euro<br />
bekommen“, sagt Monira Lemke dankbar.<br />
„Richtig viel Geld. Das hat uns geholfen und<br />
hilft uns immer noch.“ Die Kosten für ein<br />
Leben am Krankenbett, die Beerdigung und<br />
die Grabpflege, Reiterferien für Mia, sogar<br />
ein Urlaub für die ganze Familie auf Fuerte<br />
Ventura können die Lemkes davon bezahlen.<br />
„Das hat sich Mia so sehr gewünscht,<br />
mit Mama und Papa zusammen.“ Es ist eine<br />
Möglichkeit als Familie wieder zueinanderzufinden,<br />
vielleicht, auch wenn die Eltern<br />
längst geschieden sind. Es ist still geworden.<br />
Auch zwischen ihnen. Die Trauer und der<br />
Schmerz machen sprachlos, die Eltern und<br />
ihre kleine Tochter.<br />
Mit sich selbst klar zu kommen, das ist es,<br />
was jeder versucht. Denn da ist kein Kimi<br />
8
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
mehr, um den die Welt sich dreht, darum,<br />
dass er essen muss, trinken, schlafen, Medizin<br />
bekommen, eine neue Sauerstofflasche,<br />
eine neue Windel – und mit dem man lachen<br />
kann! Es gibt nichts mehr, was ablenkt<br />
von diesem Wahnsinn, nur eine unheimliche,<br />
ungerechte Leere ist geblieben.<br />
Disziplin zeigen, das hat Monira Lemke in<br />
den vergangenen Jahren gelernt. Eisern behält<br />
sie die Zügel in der Hand. Blickt nicht<br />
zurück. Fragt nicht nach dem „Warum“ und<br />
wieso ihr damals niemand geglaubt hat als<br />
sie mit ihrem gerade ein paar Monate alten<br />
Sohn von Arzt zu Arzt lief. Hätte man sie<br />
nicht als hysterische Mutter nach Hause geschickt,<br />
sondern hätte Kimis Urin vorsorglich<br />
auf ein Neuroblastom hin untersucht –<br />
was wäre gewesen? Welche Chancen hätte er<br />
gehabt, wäre der Krebs nicht erst entdeckt<br />
worden, als der kleine Körper randvoll davon<br />
war? All diese Fragen nützen nichts<br />
mehr. Da ist der neunte Geburtstag ihrer<br />
kleinen Tochter. Und Mia ist jetzt endlich<br />
einmal dran. Sie hat über Jahre hinweg zurückgesteckt.<br />
„Ist ja nicht so wichtig, Mama<br />
– diesen Satz, hat sie viel zu oft gesagt“,<br />
findet die Mutter. Und: „Wir sind es Kimi<br />
schuldig, dass wir das Leben leben, dass wir<br />
auch seine schönen Seiten genießen, dass<br />
wir jeden Morgen aufstehen, uns schick machen<br />
und da raus gehen, auch um Spaß haben,<br />
uns nicht runterziehen lassen in einen<br />
Strudel, der nur abwärts führt. Natürlich<br />
trauern wir, wir weinen und sind wütend<br />
und streiten uns und vertragen uns und wir<br />
sind genervt – aber das geht doch nur uns<br />
was an!“<br />
„Wir sind es Kimi schuldig, dass wir das<br />
Leben leben, dass wir auch seine schönen<br />
Seiten genießen, dass wir jeden Morgen<br />
aufstehen, uns schick machen und da raus<br />
gehen, auch um Spaß zu haben.“<br />
Die letzten Worte klingen bitter, denn „Wer<br />
nicht dem Klischee einer trauernden Familie<br />
entspricht, der hat es schwer“. Das erfahren<br />
die Drei beinahe täglich. Da sind so viele<br />
Verletzungen, die geschehen und alte Wunden,<br />
die jetzt Zeit haben aufzubrechen, gehässige<br />
Sätze, die nachhallen. Sätze wie<br />
„Krebs kriegen ja nur die Kinder von armen<br />
Leuten.“ Oder: „Na, dann habt Ihr es ja endlich<br />
geschafft.“ Und: „Behaltet Ihr jetzt das<br />
ganzen Geld, wo Kimi tot ist?“ Nicht selten:<br />
„Sehr trauernd seht ihr ja nicht gerade aus.“<br />
Gerne auch: „Tut mir leid, dass ich mich<br />
nicht gemeldet habe – ich kann das einfach<br />
nicht aushalten.“<br />
Die verwaiste Mutter holt tief Luft: „Ihr<br />
macht Euch gar keine Vorstellungen davon,<br />
was ich alles nicht mehr aushalten kann!“<br />
platzt es aus ihr heraus. „Aber, was nützt es<br />
denn? Da muss man sich doch mal gerade<br />
machen!“ Dann ist sie still, schaut in ihren<br />
Kaffebecher, ziemlich lange. „Naja, und<br />
dann fahren wir jetzt zusammen nach Fuerte.“<br />
Endlich einmal Urlaub, endlich einmal<br />
raus in eine andere Umgebung zwischen andere<br />
<strong>Mensch</strong>en, <strong>Mensch</strong>en, die die Geschichte<br />
der Lemkes nicht kennen. „Und<br />
danach geht es weiter.“ Ihre Erfahrungen<br />
will Monira Lemke nicht für sich behalten,<br />
sie will sich sozial engagieren. „Wenn ich<br />
daran denke, wie wir um Kimi gekämpft<br />
haben und sehe, dass andere, gesunde Kinder<br />
so misshandelt werden, dass sie im Innersten<br />
sterben, dann treibt mich das um.<br />
Und wir haben ja auch sehr viel Gutes erfahren,<br />
viel Unterstützung bekommen. Das<br />
möchte ich zurückgeben.“ Wie und wo genau?<br />
„Das wird sich zeigen. Wir haben doch<br />
Zeit“, sagt sie. Ersteinmal Zeit für die Stille.□<br />
9
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Michhelle Meyenburg hatte den Tod vor Augen.<br />
„Ich habe mich bewusst dafür entschieden zu<br />
leben“, sagt sie im Herbst 2014.<br />
MEIN KREBS HAT MICH GEHEILT<br />
Sie ist 16 Jahre alt, steht kurz vor dem<br />
Realschulabschluss und wenn sie auch<br />
nur einen Apfel essen soll, wehrt sie<br />
sich mit Händen und Füßen. Essen, das<br />
kommt für sie nicht in Frage. Heute, nur ein<br />
gutes Jahr später, sagt Michelle Meyenburg:<br />
„Mein Krebs hat mich von der Magersucht<br />
befreit.“ Krebs – genauer gesagt Lymphdrüsenkrebs,<br />
das ist die Diagnose, die die zarte<br />
junge Frau nach einem Irrweg durch Artpraxen<br />
und Kliniken, nach Fehldiagnosen<br />
und schlaflosen Nächten zu hören bekommt.<br />
Schmerzen über der rechten Niere<br />
hatten sie geplagt – „und das war ja auch<br />
kein Wunder, nach dem Kampf, den ich gegen<br />
meinen Körper geführt habe. Mir war<br />
klar, dass die Nieren irgendwann kaputt gehen.“<br />
Doch die sind tatsächlich okay. Auch<br />
das Pfeiffersche Drüsenfieber, das kurz im<br />
Gespräch ist, als das Fieber kommt, bestätigt<br />
sich nicht. „Tatsächlich war es schon das<br />
Pel-Ebstein-Fieber, das auf die Lymphome<br />
hinwies“, weiß Michelle heute. Aber Krebs<br />
mit 16 Jahren? „Du hörst das und denkst,<br />
die Orgel knallt.“<br />
„Heute weiß ich:<br />
Körper und<br />
Seele – das geht<br />
nur zusammen.“<br />
Stoffwechselaktivität zahlreicher Tumoren.<br />
„Aber kein Organ war befallen.“ So hat sie<br />
gute Heilungschancen als die erste Chemo<br />
beginnt. Sieben intensive Therapie-Monate<br />
liegen vor Michelle. Sie schafft es. Heute ist<br />
die junge Frau gesund, hat mit eisernem<br />
Willen ihren Realschulabschluss gemacht,<br />
ist auf dem Weg zum Abitur – ein Weg, der<br />
mit Mundschutz, ohne Haare und dem Bewusstsein<br />
begonnen hat, das Ziel ungläubigneugieriger<br />
Blicke zu sein.<br />
Die Zeit als Krebspatientin hat Michelle geprägt<br />
– im Umgang mit sich selbst und mit<br />
anderen. Sie will darüber sprechen, dass die<br />
schwere Krankheit nicht nur schrecklich<br />
war. „Gesprochen wird über die Einschränkungen,<br />
nicht über die >>><br />
Krebs? „Was bedeutet das für mein Leben,<br />
für meinen Schulabschluss. Ich will die Prüfung<br />
machen, Freunde treffen, zum Abschlussball<br />
gehen.“ Der Arzt in der Kieler<br />
Uniklinik fragt seine junge Patientin: Weißt<br />
Du, warum Du hier bist, was Onkologie bedeutet?<br />
„Da habe ich es erst realisiert und<br />
geweint. Und dann wachst Du am nächsten<br />
Morgen auf und denkst: Okay, Du liegst hier<br />
immer noch. Das war kein Traum.“<br />
Nein, es ist kein Traum. Eine PET (Positronen-Emissions-Tomographie)<br />
zeigt das<br />
Ausmaß der Erkrankung: „Mein Oberkörper<br />
war schwarz“ – ein Hinweis auf die hohe<br />
10
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
>>> Entwicklungschancen, die Du hast. Und nicht<br />
über die fröhlichen Momente.“ Das schmale Gesicht<br />
wird ernst: „Wenn Du erlebst, was es heißt,<br />
komplett die Kontrolle über Deinen Körper zu verlieren,<br />
lernst Du seinen Wert zu schätzen.“ Das<br />
Leben fühlt sich danach anders an. Da ist diese<br />
Schlüsselszene: „Ich kannte es bis dahin nur, gegen<br />
mich zu kämpfen, das Essen zu verweigern, wenn<br />
ich meinte, nicht gut genug zu sein. Und dann lag<br />
ich da voller Schmerzen total bewegungsunfähig im<br />
Bett. Ich habe die Botschaft meines Körpers verstanden:<br />
Wenn ich gegen ihn kämpfe, kämpft er<br />
gegen mich. Leben, das geht nur miteinander.“<br />
Unterwegs im Hansapark: Regelmäßig organisiert das Team Doppelpass<br />
Ausflüge für Patienten und ihre Familien. Bei diesem Ausflug im September<br />
2014 waren Torben Schütt, Eike Bruhn, Mirko Nitschmann, Torsten<br />
Schulz und Oliver Goebel (v.l.) dabei.<br />
Das Team<br />
Doppelpass<br />
tut soviel für<br />
uns. Ich<br />
möchte etwas<br />
zurückgeben,<br />
mit anderen<br />
eine Show auf<br />
die Beine<br />
stellen,<br />
Spenden<br />
sammeln.<br />
Michelle entscheidet sich bewusst dafür zu leben,<br />
mit Freude zu leben. Jetzt geht es bergauf. Sie isst,<br />
auf der Kieler Woche nimmt sie zum ersten Mal<br />
ihre Mütze ab und präsentiert mutig den nackten<br />
Schädel. Wenn sie davon erzählt, lächelt sie und<br />
spricht dankbar über die Unterstützung, die sie<br />
bekommen hat. Von Freunden, Familie, Ärzten,<br />
Schwestern, Pflegern – und vom Team Doppelpass.<br />
Der gemeinnützige Verein ehemaliger Fußballer<br />
erfüllt Kindern mit Krebs ihre Wünsche. Regelmäßig<br />
sind die jungen Patienten mit den Jungs unterwegs.<br />
In Bussen geht es in den Heidepark oder ins<br />
Hansaland, notwendige Anschaffungen werden finanziert.<br />
„Das bringt uns so viel Lebensfreude“,<br />
sagt Michelle. „Da möchten wir etwas zurückgeben.“<br />
Gemeinsam mit Freundin Johanna beschließt sie,<br />
„selbst ein Event auf die Beine zu stellen. Jetzt mal<br />
umgekehrt für das Team Doppelpass.“ Einige ehemalige<br />
Patienten hat sie für ihre Idee schon gewinnen<br />
können, sogar der Radiosender RSH hat<br />
Unterstützung zugesagt, um das Thema Krebs aus<br />
Sicht der jugendlichen Patienten zu präsentieren.<br />
Die „typischen Schlüsselfragen“ will Michelle ansprechen:<br />
Wie erlebst Du die Diagnose? Was bedeutet<br />
die Therapie für Dein Leben? Wie gehst Du<br />
in Dein neues Leben? „Ich will zeigen, was Krebs<br />
uns wirklich bedeutet. Auch im positiven Sinne.<br />
Welche Entwicklungschancen uns die Krankheit<br />
gibt“, denn: „Wenn heute jemand zu mir sagt: ,Jetzt<br />
bist Du endlich wieder gesund und alles ist wie<br />
früher‘, dann denke ich: Nein, nichts ist mehr wie<br />
früher – glücklicherweise nicht!“ □<br />
Team Doppelpass<br />
Das Team Doppelpass besteht aus ehemaligen Fußballern, die<br />
ursprünglich aus Nortorf kommen. Sie unterstützen Kinder,<br />
die an Krebs erkrankt sind und ihre Familien finanziell und<br />
erfüllen den kleinen Patienten ihre besonderen Träume.<br />
Spendengelder werden zu 100 Prozent weitergegeben.<br />
Mehr im Internet unter www.team-doppelpass.de<br />
11
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Von Tieren und Träumen<br />
können wir viel lernen –<br />
dass Gut und Böse unverfälscht<br />
dazugehören,<br />
manchmal sogar recht dicht<br />
beieinander liegen. Polaritäten<br />
begleiten unser Leben:<br />
Freude und Leid, Spaß<br />
und Ernst, Gesundheit und<br />
Krankheit, Leben und Tod.<br />
Warum leiden und sterben<br />
wir? Welchen Sinn können<br />
wir im Leben und Sterben<br />
für uns selbst entdecken?<br />
Einen Weg zur Auseinandersetzung<br />
eröffnen uns<br />
unsere Träume.<br />
TRÄUME – SCHLÜSSEL ZUR SEELE<br />
Botschaft aus dem Unbewussten I Symbole können uns den Weg zu uns selbst zeigen<br />
Ach was, Träume sind doch nur Schäume“,<br />
habe ich meine Urgroßmutter noch im Ohr.<br />
Wenn sie das sagte, dann machte sie einen<br />
sehr geraden Rücken, schüttelte leicht den Kopf und<br />
sprach ausnahmsweise im besten Hochdeutsch, obwohl<br />
sie sonst durch und durch eine „plattdütsche<br />
angeliter Deern“ war. Nur wenn sie es ernst meinte,<br />
dann kramte sie ihre Sonntagsausgeh-Sprache hervor<br />
– und Träume waren ihr ernst, sie machten ihr<br />
oft Angst. Was steckt wirklich hinter den Botschaften<br />
unserer Seele? Ein Besuch im Traumdeuterkurs:<br />
Recht hatte sie nicht, meine Urgroßmutter. Träume<br />
sind keineswegs nur Schäume, sondern Botschaften<br />
von uns selbst an uns selbst, eine Möglichkeit unbewusste<br />
Vorgänge bewusst zu machen. Und weil das<br />
so ist, können wir sie ganz individuell für uns deuten<br />
und sie für uns zu nutzen, als Entscheidungshilfe<br />
12
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
oder zur persönlichen Entwicklung. Ob<br />
dabei allerdings die vielen verschiedenen<br />
Lexika der Traumdeutung helfen, die online<br />
oder auf dem Buchmarkt zu haben<br />
sind? Vermutlich nicht, denn Träumen ist<br />
eben eine sehr persönliche Sache und die<br />
eigene Deutung, vielleicht mit Hilfe von<br />
Fachleuten, ist durch keine allgemein gültigen<br />
Vorschriften zu ersetzen.<br />
Dennoch: Auch Träume folgen Regeln, und<br />
„es gibt ganz verschiedene Kategorien von<br />
ihnen“, erläutert der Landwirt und Tiefenpsychologe<br />
Peter Lorenzen aus Langballig.<br />
Gemeinsam mit seiner Frau Christa, ebenfalls<br />
Tiefenpsychologin, leitet er Kurse, in<br />
denen die Teilnehmer lernen, ihre Träume<br />
zu deuten. Und beiden ist anzumerken, wie<br />
begeistert sie von diesen nächtlichen Sequenzen<br />
sind, die selbst dann Wirkung entfalten,<br />
wenn wir uns nicht mehr an sie<br />
erinnern können. Das sei möglich, weil „das<br />
Unbewusste die Symbole der Träume versteht“,<br />
erklärt Peter Lorenzen. „Dennoch ist<br />
die Wirkung größer, wenn wir uns erinnern<br />
können und noch größer, wenn wir die<br />
Träume deuten, denn damit holen wir ihre<br />
Botschaften direkt in unser Bewusstsein.“<br />
Nun ist da also dieser Traum, an den ich<br />
mich noch so gut erinnern kann, den ich<br />
schon als kleines Kind geträumt habe: Ich<br />
sitze in unserem guten, alten August, unserer<br />
ersten Familienkutsche, einem VW<br />
Käfer, habe mich wie gewohnt gemütlich in<br />
die Sitzbank gekuschelt. Aber plötzlich bin<br />
ich allein im Auto und August fällt und fällt<br />
Schnauze abwärts direkt in einen Graben,<br />
den ich vor mir schon immer näher kommen<br />
sehe und dann – zack, wach.<br />
„Ha“, sagt Peter Lorenzen. „Das ist ein Klassiker,<br />
ein sogenannter Falltraum.“ Fallträume<br />
kennen fast alle <strong>Mensch</strong>en. Sie gelten als<br />
Albträume. Ihnen gemein ist, dass der Träumende<br />
der Situation ausgeliefert ist und oft<br />
panische Angst empfindet. Häufig wachen<br />
Betroffene schweißgebadet auf. Doch:<br />
„Schaden will uns ein solcher Traum mit<br />
Sicherheit nicht“, sagt Peter Lorenzen. „Seine<br />
Absicht ist es, den <strong>Mensch</strong>en zeigen, dass<br />
sie etwas ändern müssen, wenn sie in bestimmten<br />
Lebenssituationen den Boden unter<br />
den Füßen verloren haben.“ Wird ein<br />
Falltraum zu einem dauerhaften Problem,<br />
sei es sinnvoll, professionelle Hilfe zu suchen,<br />
um die Traum-Symbole deuten und<br />
daraus die richtigen Schlüsse für mögliche<br />
Veränderungen im realen Leben zu ziehen.<br />
„Um Träume richtig deuten zu können,<br />
braucht es ein klares Symbolverständnis.<br />
Das ist wie eine Fremdsprache. Man muss es<br />
erst lernen“, erklärt Lorenzen als Kursleiter<br />
zu Beginn der ersten Stunde im Traumdeutungskurs.<br />
Zehn Teilnehmer – Männer und<br />
Frauen ab ungefähr 40 Jahren – haben sich<br />
in dem Gruppenraum der Lorenz’schen Lebenswerkstatt<br />
an der Ostsee versammelt.<br />
Nun erfahren sie, dass es verschiedene Arten<br />
von Träumen gibt. Nicht immer brauchen<br />
sie Symbole. Der Wahr- oder<br />
Warntraum etwa zeigt uns die Welt genauso,<br />
wie wir sie kennen. So berichtet eine<br />
Dame im Kurs davon, wie sie kürzlich<br />
träumte, auf dem Weg zur Arbeit einen<br />
Unfall zu erleben. Alles war völlig real. Üblicherweise<br />
sei sie auf dem Weg zur Arbeit<br />
immer etwas verspätet und deshalb zumeist<br />
ein wenig schnell. Nach diesem Traum aber<br />
sei sie sie gewarnt gewesen und langsamer<br />
als üblich gefahren. Tatsächlich überquerte<br />
ein Radfahrer bei Rot die Ampel und tauchte<br />
plötzlich direkt vor ihrem Wagen auf. Nur<br />
„Zähne stehen<br />
im Traum für<br />
Biss im Leben,<br />
für Aggression.“<br />
um Haaresbreite habe sie bremsen können.<br />
„Wäre ich so schnell wie sonst gewesen, hätte<br />
es böse ausgehen können.“<br />
Die meisten Träume allerdings brauchen<br />
Symbole. „Und weil viele <strong>Mensch</strong>en diese<br />
Traumsprache nicht verstehen, halten sie<br />
das Geträumte für dummes Zeug“ – für<br />
Schäume eben, wie es auch meine Urgroßmutter<br />
tat. Welche typischen Symbole gibt<br />
es denn? „Zähne zum Beispiel; sie stehen<br />
für Aggressionen“, erklärt der Fachmann.<br />
„Aggressionen, die ich brauche, um mich im<br />
Leben durchzubeißen – keine zerstörerische<br />
Wut. Und wenn mir die Zähne im Traum<br />
ausgefallen, zeige mir das, dass ich aktuell<br />
nicht genügend Biss habe, um mich in einer<br />
bestimmten Situation durchzusetzen.“ Ein<br />
anderes Beispiel: „Haare sind ein Symbol<br />
für Gedanken. Fallen sie mir aus, heißt das,<br />
dass ich in Bezug auf ein aktuelles Geschehen<br />
gedankenlos handle oder vielleicht<br />
schon gehandelt habe.“<br />
Und was bedeuten Träume von <strong>Mensch</strong>en<br />
oder auch Tieren? <strong>Mensch</strong>en und Tiere, von<br />
denen wir träumen, stehen nicht für die<br />
realen Personen, Hunde, Katzen und so weiter,<br />
mit denen wir zu tun haben, lernen die<br />
Kursteilnehmer. Sie seien lediglich Repräsentanten<br />
eigener Aspekte. „Tiere etwa zeigen<br />
Emotionen und Verhaltensweisen. Ich<br />
kann mich ja bissig wie ein Wolf oder treu<br />
wie Schaf verhalten. <strong>Mensch</strong>en stehen für<br />
unbewusste Seiten meiner Persönlichkeit,<br />
die ich mit diesen <strong>Mensch</strong>en verbinde und<br />
die mir der Traum zeigen will.“ Und träume<br />
ich von meinem Partner, geht es tatsächlich<br />
um Gefühle und Meinungen, die ich einer<br />
bestimmten Situation zu mir selbst habe.<br />
Wer also im Traum erlebt, von seinem<br />
Partner oder seiner Partnerin verlassen zu<br />
werden, bekommt die Botschaft, dass er aktuell<br />
nicht zu sich selbst steht.<br />
Ein anderes Beispiel: Viele <strong>Mensch</strong>en – meine<br />
Urgroßmutter etwa – haben Angst,<br />
wenn sie vom Tod träumen und mögen sich<br />
mit diesen „Hirngespinsten“ gar nicht beschäftigen.<br />
Schade, denn der Traum vom<br />
Tod zeigt häufig an, dass wir in unserem<br />
Leben etwas verändern sollten, wenn nicht<br />
in uns angelegte Talente oder Fähigkeiten<br />
sterben sollen. „Wenn ich eigentlich eine<br />
Führungspersönlichkeit bin, mich aber<br />
ständig klein mache, dann stirbt diese Qualität<br />
in mir. Es geht dabei also um den seelischen<br />
Tod.“<br />
Während ich Peter Lorenzen zuhöre, arbeitet<br />
es in mir. Was bedeutet mein Auto-<br />
Traum? Was repräsentiert dieser alte VW-<br />
Käfer – weiß mit roten Sitzpolstern. Das<br />
Auto stehe für das, was in mir veranlagt sei,<br />
das was sich verwirklichen wolle, erläutert<br />
der Tiefenpsychologe. Was ich mit meinem<br />
Auto im Traum erlebe, zeige mir, wie es mit<br />
dieser Selbstverwirklichung im wahren Leben<br />
bestellt ist.<br />
In meinem Traum ist der VW-Käfer mit dem<br />
schönen Namen August zunächst ein sicherer,<br />
gemütlicher Ort – er gehört aber<br />
nicht mir, sondern ist das Auto der Familie.<br />
Mit ihm stürze ich plötzlich ab ins Ungewisse,<br />
in Richtung Graben. Die Aussage des<br />
Traumes ist damit klar: „Geh Deinen eigenen<br />
Weg, mach es Dir nicht in den Lebensgewohnheiten<br />
Deiner Eltern bequem.“ Und<br />
das offene Ende? „Alles ist offen“, sagt Peter<br />
Lorenzen. „Du hast die Wahl, ob Du aussteigen<br />
oder in den Graben rauschen willst.“<br />
Wobei auch der Graben wieder ein Symbol<br />
wäre, nämlich für das Unterbewusste; nein,<br />
lieber nicht dort stecken bleiben und weitermachen<br />
wie bisher.<br />
Die Deutung meines alten Traumes macht<br />
Sinn für mich. Und dass ich ihn irgendwann<br />
überwunden und nie wieder geträumt habe,<br />
zeigt mir, dass ich diese Stufe auf der Lebensleiter<br />
genommen habe. Zu träumen allerdings,<br />
ist mir geblieben und nach dem<br />
Kurs sehe ich heute mit anderen Augen auf<br />
diese Fähigkeit. Träume sind eben keine<br />
Schäume, sondern „spannende und nützliche<br />
Lebensbegleiter“, wie es eine Teilnehmerin<br />
sagt. □<br />
13
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Spätestens in der Mitte des Lebens erwischt sie<br />
uns, die Frage nach dem Sinn. Was tun, wenn<br />
der Alltag immer schwerer fällt?<br />
AUS DER KRISE IN<br />
EINE NEUE LEBENSSPUR<br />
Nein, es geht ihr nicht darum, Krisen<br />
zu beweinen oder darauf aufmerksam<br />
zu machen, dass die Zahl der<br />
psychischen Erkrankungen bundesweit<br />
steigt. Schon längst ist dieses Thema aus<br />
der Schamecke des Privaten befreit und<br />
hinein ins berufliche Leben geschwappt.<br />
Schlagworte wie „Burnout“, manchmal<br />
auch „Boreout“, sind salonfähig.<br />
Anja Funk-Klebe geht es darum, dass diese<br />
Krisen einen Sinn in unseren Leben haben.<br />
Zwei Bücher hat sie darüber geschrieben<br />
„Seelentanz statt Lebenskampf“ und „Himmelslicht<br />
trifft Leuchtfeuer“, heißen sie.<br />
Beide sollen ihren Lesern Begleiter sein,<br />
erklären Ursachen und Chancen, die Lebenskrisen<br />
innewohnen. „Begreift man die<br />
Botschaft krisenhaften Erlebens, liegt darin<br />
ein Wandlungsmoment, den wir nutzen<br />
können.“ So kann der Weg in ein sinnvolleres<br />
und leichteres Leben aussehen.<br />
48 Jahre ist Anja Funk-Klebe alt, dreifache<br />
Mutter, vierschiedene berufliche Ausbildungen<br />
hat sie absolviert: Sie ist Waldorf-<br />
Pädagogin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin,<br />
systemischer Coach und „in erster<br />
Linie immer ein forschender <strong>Mensch</strong><br />
geblieben“, wie sie selbst von sich sagt. Auf<br />
die Idee mit den Büchern sei sie nicht etwa<br />
gekommen, „weil ich eine gute Schreiberin<br />
bin. Das ist es nicht“, sagt sie lächelnd. Ihre<br />
grün-braunen Augen blicken dabei offen –<br />
und, ja, ein wenig forschend. Ihr gehe es<br />
um die Botschaft, um ihre Erkenntnisse.<br />
„Ich will keine perfekte Arbeit abliefern, ich<br />
möchte auch nicht das große Geld machen<br />
oder meinen Namen in der Presse lesen.<br />
Ich möchte einfach meinen Beitrag dazu<br />
leisten, dass sich in unserer Gesellschaft<br />
etwas verändern kann.“<br />
14
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Die Flensburger Kinderpsychotherapeutin<br />
sieht sie jeden Tag:<br />
Die Schwierigkeiten im Leben vieler<br />
<strong>Mensch</strong>en beginnen in frühester<br />
Kindheit. Mehr als die Hälfte<br />
der Säuglinge und Kleinkinder<br />
findet keine sichere Bindung zu<br />
ihren Eltern, schreibt Funk-Klebe<br />
unter Verweis auf aktuelle Erkenntnisse<br />
aus der Hirnforschung.<br />
Das bedeutet, dass sie<br />
nicht erfahren, wie es ist, ohne<br />
Bedingung oder Leistungsanforderungen<br />
geliebt und geachtet zu<br />
werden, einfach so wie sie sind.<br />
Sie erfahren kaum Bestätigung,<br />
werden nicht ermutigt, eigenständig<br />
zu handeln und haben Angst<br />
vor schlimmen Konsequenzen,<br />
wenn sie Fehler machen. Das hat<br />
Folgen. Je nach Veranlagung reagieren<br />
die Betroffenen mit aggressivem<br />
Verhalten, um Aufmerksamkeit<br />
zu bekommen oder sie<br />
sind überangepasst. „Und mit diesen<br />
Verhaltensmustern werden sie<br />
erwachsen, gründen Familien, gehen<br />
in die Arbeitswelt und gestalten<br />
unsere Gesellschaft.“<br />
Über 50 Prozent der Bevölkerung<br />
sind es in Deutschland. Die Buchautorin<br />
beschreibt das anstrengende<br />
Leben der Betroffenen, die<br />
auf der ständigen unbewussten<br />
Suche nach der elterlichen Anerkennung<br />
und Geborgenheit sind,<br />
nach der Anbindung, die es nicht<br />
gab und so nicht mehr geben wird.<br />
„Da sind ihre Hoffnungen in die<br />
Umwelt.“ Leistungswillig und<br />
ständig gut erreichbar seien viele,<br />
manchen machen gerne Geschenke,<br />
sind damit beschäftigt,<br />
es anderen recht zu machen oder<br />
stellen aggressive Forderungen<br />
oder demonstrieren für ideelle<br />
Ziele – und „laufen so von einer<br />
Enttäuschung zur nächsten“.<br />
Denn die Anerkennung und Wertschätzung,<br />
die kindliche Anbindung,<br />
die es zuhause nicht gab, es<br />
gibt sie nicht mehr.<br />
Und Schwäche zu zeigen, ist dabei<br />
nicht möglich. Als Kind war es lebensgefährlich,<br />
für die Erwachsene<br />
sind Schwächen ein gesellschaftlicher<br />
Makel, sie machen ihnen<br />
Angst und werden verleugnet<br />
– bis sie sich mit Macht ins Leben<br />
drängen, die eigenen Schwächen.<br />
„Spätestens in der Lebensmitte,<br />
wenn die Kräfte nachlassen, die<br />
Augen und der Körper sich verändern,<br />
kommt die Krise“, prophezeit<br />
die Fachfrau. Dann sind sie<br />
da, die berühmten Fragen: Warum<br />
tu ich mir das an, was will ich<br />
eigentlich im Leben und ist das,<br />
was ich habe, eigentlich das, was<br />
ich will. Und: Was will ich eigentlich?<br />
„Die Emotionen klopfen so<br />
heftig an die Tür, dass wir auf unsere<br />
Biografie gestoßen werden:<br />
Was fehlt mir, welche Bedürfnisse<br />
und Wünsche habe ich? Häufig<br />
werden die Betroffenen psychisch<br />
oder körperlich krank.“ Krise, das<br />
bedeutet Schmerzen. Und an dieser<br />
Stelle entscheidet es sich, ob<br />
jemand die Schmerzen aushält,<br />
sich ehrlich mit seinem Lebensthema<br />
auseinandersetzt und sich<br />
der Situation quasi als Passagier<br />
aussetzt: Was kommt da, welche<br />
<strong>Mensch</strong>en, welche Anregungen<br />
und Ideen in Büchern oder Filmen,<br />
im täglichen Leben rühren<br />
und an, welche Bemerkungen<br />
oder Träume geben Informationen,<br />
die in der Auseinandersetzung<br />
mit sich selbst helfen?<br />
„Da ist vieles möglich, wenn Du<br />
offen bist.“ Wer jetzt die Chance<br />
ergreift, kann neue Fähigkeiten<br />
und Talente entwickeln – und in<br />
einer erwachsenen Anbindung „an<br />
die Gesellschaft, an das große<br />
Ganze“, Sicherheit finden. So<br />
kann die Wende hin zu einem zufriedenen<br />
Leben aussehen, vielleicht<br />
auch nur ein erster Schritt,<br />
dem eine weitere Krise und ein<br />
weiterer Schritt folgen. „Wichtig<br />
ist es, den Krisenverlauf rückblickend<br />
zu betrachten. Zumeist werden<br />
sich die Botschaften ähneln.<br />
Dann kommt es darauf an, sie zu<br />
verstehen.“<br />
Allerdings: Wer sich und sein bisheriges<br />
Leben auf diese grundlegende<br />
Weise in Frage stellt, der<br />
verändere sich und das führe häufig<br />
zu einer Verunsicherung seiner<br />
Umwelt und sehr häufig zu Ablehnung,<br />
warnt Anja Fun-Klebe,<br />
denn: „Da funktioniert ja plötzlich<br />
einer nicht mehr. Das gefährdet<br />
das gesamte System. Die Angriffe,<br />
die daraus folgen, muss ich als Erwachsener<br />
aushalten.“<br />
Professionelle Hilfe sei in dieser<br />
Phase sinnvoll, auch wenn es<br />
Kommentare gibt wie: „Na, gehst<br />
Du in die Klappse“ oder „flüchtest<br />
Du mal wieder ins Kranksein?“<br />
Soviel Druck kann nicht jeder verkraften<br />
und so flüchten manche<br />
<strong>Mensch</strong>en an dieser Stelle. Sie lassen<br />
sich nicht auf ihre Gefühle und<br />
Bedürfnisse ein, wollen diesen<br />
„Humbuk“ nicht und spalten die<br />
eigenen unangenehmen Schwächen<br />
ab. „So sehe ich sie dann umso<br />
mehr bei den anderen,<br />
kritisiere sie und erhöhe mich<br />
über sie, um mir selbst einen Wert<br />
zu geben, um mich zu schützen.“<br />
Viele <strong>Mensch</strong>en, die auf diese<br />
Weise verfahren, schließen sich<br />
einer Gruppe an, die gemeinsame<br />
Standpunkte eine gemeinsame<br />
Meinung hat, die sie nach außen<br />
vertritt. „Das macht den Einzelnen<br />
stärker.“ Neue Fähigkeiten und<br />
Kompetenzen, ein fröhlicheres Leben<br />
wird er auf diese Weise nicht<br />
entwickeln. Anja Funk-Klebe<br />
blickt nachdenklich in sich hinein.<br />
Dann ist er wieder da, dieser direkte,<br />
forschende Blick: „Unsere<br />
Gesellschaft sollte sich auf die Fähigkeiten<br />
und der Stärken der Einzelnen<br />
besinnen. Weder Eltern,<br />
Freunde, Schule, Arbeitgeber<br />
noch die Gesellschaft können über<br />
den Wert eines <strong>Mensch</strong>en befinden“,<br />
sagt sie. „Mir war beim<br />
Schreiben des Buches wichtig, den<br />
<strong>Mensch</strong>en zu sagen: Schon mit<br />
dem Lebensbeginn sind wir wertvoll<br />
und unersetzbar, weil es keinen<br />
<strong>Mensch</strong>en auf dieser Erde ein<br />
zweites Mal gibt“ – das ist ein<br />
guter Grund, gut mit sich selbst<br />
umzugehen.□<br />
Im Winter 2014 veröffentlicht<br />
Anja Funk-<br />
Klebe ihr zweites Buch.<br />
Auf der Suche nach dem<br />
„Wie soll’s weitergehen?“,<br />
kommen ihre<br />
Anregungen vielen<br />
<strong>Mensch</strong>en gerade recht.<br />
Die Fotos zeigen sie bei<br />
einem Vortrag im Medienhaus<br />
des sh:z (Schleswig-Holsteinischer<br />
Zeitungsverlag).<br />
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<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
ANHANG<br />
Tierisch gute<br />
Tipps – Nellys<br />
Lebensregeln<br />
Liebe Leute,<br />
so schlecht wie sein Ruf ist der „graue Alltag“ nicht. Ihr könnt ihn Euch bunt machen!<br />
Wie das geht, zeigen wir Hunde Euch jeden Tag:<br />
1. Freu Dich!<br />
Jeder neue Tag, jede Begegnung mit einem <strong>Mensch</strong>en, jedes Tier oder Ereignis ist<br />
ersteinmal ein Grund zur Freude. Wir begrüßen jeden und alles Schwanz wedelnd.<br />
Denn: Soziale Kontakte sind wichtig.<br />
2. Du brauchst nicht viel.<br />
Wenn Du zu essen, ein Dach über dem Kopf und eine kuschelig-warme Höhle hast, hast<br />
Du alles, was Du brauchst. Einige von uns lernen zusätzliche Zirkuskunststückchen, um<br />
bewundert zu werden. Das ist klasse, wenn es Dir Spaß macht, kostet allerdings Zeit, in<br />
der Du auf andere Weise Spaß haben kannst.<br />
3. Lass Dich verwöhnen!<br />
Streicheleinheiten und Leckerchen kannst Du einfach dankbar annehmen. Das ist sehr<br />
schön für alle Beteiligten.<br />
4. Lese die Zeichen und suche die Botschaft.<br />
Der Tag wird sonnig, wenn für gute Unterhaltung gesorgt ist. Such Dir deshalb einen<br />
„Laternenpfahl“. Laternenpfähle sind spannend: Jeder pinkelt dran und deshalb gibt es<br />
dort die besten Geschichten zum Lesen und Weitersagen.<br />
5. Du bist doch nicht zu alt!<br />
Wir spielen bis wir sterben – das kannst Du auch. Wirklich, jeden Tag!<br />
6. Wehr Dich!<br />
Wenn Dich jemand angreift, brauchst Du Dir das nicht gefallen zu lassen. Einmal kurz<br />
zu drohen und im Notfall auch zubeißen, ist in Ordnung. Aber dann kannst Du die ganze<br />
Sache gleich wieder vergessen. Die schlechte Laune anderer Hunde ist ja nicht Dein<br />
Problem.<br />
7. Lecke Deine Wunden!<br />
Wenn Du selbst gebissen worden bist, bist Du möglicherweise selbst Schuld daran.<br />
Lecke Deine Wunde sorgfältig und denkt darüber nach, was Du nächstes Mal anders<br />
machen kannst.<br />
8. Das Bauchgefühl zeigt Dir den Weg.<br />
So wichtig wie Du denkst, ist Dein Kopf gar nicht. Er sagt Dir, wann Du am Straßenrand<br />
besser stehen bleiben solltest, ist ansonsten aber selten wirklich zu gebrauchen. Bauch<br />
und Nase wissen sehr viel besser, wo es etwas richtig Gutes zu fressen gibt oder mit wem<br />
Du Spaß haben kannst.<br />
9. Gutes Essen ist wichtig.<br />
Lecker und viel ist solange erlaubt, wie Du Dich noch gut bewegen kannst, denn<br />
Beweglichkeit brauchst Du zum Spielen. Und spielen hilft Dir, bis zum Schluss jung und<br />
gesund zu bleiben. Hab ich ja schon gesagt (Nr.5).<br />
10. Such Dir einen Job, der Spaß macht.<br />
Das Leben braucht einen Sinn. Deshalb suchen wir uns einen Job, der zu unseren<br />
Fähigkeiten passt: Jagdhunde jagen und Hütehunde hüten und weil wir das gut können,<br />
kriegen wir jede Menge Lob und Leckerchen. Wenn wir allerdings nicht aufpassen<br />
und im falschen Job landen – also zum Beispiel als Jagdhund eine Familie hüten sollen<br />
– kann es Probleme geben. Pass auf, dass Dir das nicht passiert!<br />
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Eure Nelly<br />
P.S. Guck „süß und knuddelig“.<br />
Dann gibt's vielleicht mal was zu naschen. Aber übertreib es nicht, sonst heißt es<br />
nachher: „Nicht betteln!“ oder Du wirst zu dick zum spielen.
<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
Einblick in die<br />
Ausstellung<br />
„<strong>Mensch</strong>“ –<br />
Ein Jahr Leben<br />
April 2015<br />
Galerie Sandberg,<br />
Flensburg<br />
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<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
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<strong>Mensch</strong> — Geschichten vom Leben<br />
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Das Magazin "<strong>Mensch</strong>" erscheint ab 2016<br />
vierteljährlich und erzählt Geschichten von<br />
<strong>Mensch</strong>en für <strong>Mensch</strong>en.<br />
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Anette Schnoor<br />
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<strong>Mensch</strong> – mach was<br />
aus Deinem Leben!<br />
www.anette-schnoor.de<br />
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