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Am Schrein des Misri-Schah sind nach dem ... - Navid Kermani

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ehaupten, merkt aber bald, daß er gegen diese unlautere Konkurrenz keine Chance hat,<br />

versucht es noch drei, vier Minuten mit ein paar Tremolos, bevor er den Musikern das<br />

Zeichen gibt, eine Pause einzulegen.<br />

Die Trommler und Blechbläser haben nun wirklich nichts Mystisches und virtuos <strong>sind</strong> sie<br />

auch nicht; es geht ihnen mehr darum, so scheint es, durch größtmögliche Lautstärke die<br />

höchstmögliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ein Mann mit Rastalocken gerät dennoch in<br />

Ekstase, um ihn herum tänzelnd eine Frau mittleren Alters, deren Kopftuch zwar die Haare,<br />

aber nicht die anzüglichen Blicke, Gesten und Hüftschwünge bedeckt. Überhaupt die<br />

Menschen im Hof <strong>des</strong> <strong>Schrein</strong>s, so viele Sonderlinge, Ausgeflippte und vermutlich auch<br />

Heilige unter den Normalsterblichen - wo <strong>sind</strong> sie nur tagsüber, frage ich mich, all die wilde<br />

Frisuren, kunterbunten Lumpen, extravaganten Ringe, aber vor allem die zerfurchten,<br />

verzückten, wie abwesenden Gesichter, die einer anderen Gegenwart angehören zu scheinen?<br />

Hier tanzt ein Greis mit einem Plastikkorb auf den hennagefärbten Haaren und geschlossenen<br />

Augen, dort schreit ein Jüngling vor Liebe zu Gott laut auf.<br />

Es ist weit <strong>nach</strong> Mitter<strong>nach</strong>t, als ich den <strong>Schrein</strong> verlasse, zwei oder drei Uhr, da merke ich<br />

erst, daß das gesamte Viertel in Feststimmung ist, die staubigen Gassen mit Girlanden<br />

geschmückt, erleuchtet und vom Duft frisch zubereiteter Süßspeisen erfüllt, die ärmlichen<br />

Straßenrestaurants und Teehäuser vollbesetzt, vor ihren Läden die Händler, die <strong>dem</strong> Treiben<br />

gelassen zusehen, häufig Kinder oder Enkel auf ihrem Schoß, Grüppchen von Frauen, die von<br />

den Müttern angeführt herumschlendern, aus allen Richtungen Prozessionen, die trommelnd<br />

und singend in Richtung <strong>des</strong> <strong>Schrein</strong>s marschieren, über ihren Köpfen ein fein besticktes,<br />

langes Tuch, um es auf <strong>dem</strong> Grab <strong>des</strong> Heiligen abzulegen. Auch die Brüder Sain treffe ich<br />

wieder, die beiden berühmten Trommler, von deren Konzert auf <strong>dem</strong> Friedhof <strong>des</strong> <strong>Schah</strong><br />

Djamals ich in der ersten Folge meiner Reiseeindrücke berichtete; diesmal stehen Gonga und<br />

Mithu auf einer richtigen Bühne, vor ihnen ein großer Pulk von Zuhörern, den komplizierten<br />

Rhythmen hingegeben, die ich wieder nicht zu entschlüsseln vermag.<br />

Auf Lastwagen mit offenen Ladeflächen und riesigen Lautsprechern machen nebeneinander<br />

die großen Parteien Werbung für sich, in<strong>dem</strong> sie kostenlos Essen verteilen und dabei den<br />

Qawwali bis zum Anschlag aufdrehen, als müssen sie die Konkurrenz nicht nur bei Wahlen<br />

überstimmen, sondern übertönen. Mit der größten Ladefläche und der lautesten Musik ist die<br />

Muslim League vertreten, obwohl sie doch angeblich von Saudi-Arabien finanziert wird.<br />

Anderswo tanzen junge Männer in immer neuen Formationen, nicht beseelt, nicht kunstvoll,<br />

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