17.05.2015 Aufrufe

1990: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Heft 1

1990: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Heft 1

1990: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Heft 1

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Diskussionen<br />

ANTHONY<br />

R. ROWLEY<br />

DAS "KOLLMERSCHE GESETZ" - DIE ENTWIRRUNG VON AHD. UND MHD.<br />

A UND E IN DEN DIALEKTEN DES BAYERISCHEN WALDES<br />

Die gängige Lehrmeinung besagt, daß zur Erklärung des lautlichen Zustandes heutiger<br />

Dialekte sehr selten über die mittelhochdeutsche Epoche hinaus auf althochdeutsche Sprachzustände<br />

zurückgegriffen werden muß. Fürs Bairische drückt es EBERHARDKRANZMAYER<br />

folgendermaßen aus': "In großen Zügen begann die Ausbildung des modernen m<strong>und</strong>artlichen<br />

Lautstandes erst seit Beginn des Hochmittelalters im 12. Jh. [... )", <strong>und</strong> die Aussage in<br />

E. KRANZMAYERS"Sprachaltertümern"2 gilt einzig <strong>und</strong> allein für die M<strong>und</strong>arten der Tiroler<br />

Hochtäler: "Die Sprechweise aller Hochtalm<strong>und</strong>arten ist 'in einem derartigen Maße altertümlich<br />

geblieben, daß wir mehrfach gezwungen sind, bei ihrer Auslegung über den mittelhochdeutschen<br />

Sprachzustand. der sich sonst überall im hochdeutschen Dialektgebiet so<br />

bequem als Ausgangspunkt gebrauchen läßt, zeitlich zurückzugreifen bis auf althochdeutsche<br />

Zustände der Zeit vor 1100, um Klarheit zu schaffen." E. KRANZMAYERfährt dann fort:<br />

"Diese Notwendigkeit ist anderswo überflüssig." Entlang der innovationsfreudigen Isar-<br />

Donau-Straße im mittelbairischen Raum wird mal) also nach E. KRANZMAYERkeine ähnlich<br />

beharrsamen dialektalen Züge erwarten dürfen wie in den Hochtälern Tirols".<br />

Nun weist gerade die "Historische Lautgeographic" E. KRANZMAYERS- 4 trotz aller Vorzüge<br />

beim Aufzeigen der großen Leitlinien der m<strong>und</strong>artlichen Lautentwicklungen - im<br />

Detail immer wieder Ungenauigkeiten <strong>und</strong> Lücken auf, wie bei solchen großräumig angelegten<br />

Übersichtswerken nicht anders zu erwarten. Für die Erklärung der Verteilung der Nachfolger<br />

von mhd. a, a <strong>und</strong> ii in einigen Dialekten Niederbayerns nämlich muß auf vormittelhochdeutsche<br />

Sprachzustände zurückgegriffen werden. Gerade im Falle des mhd. ii können<br />

ferner neuere Untersuchungen die Angaben E. KRANZMAYERSberichtigen. Für mhd. ii rechnet<br />

E. KRANZMAYERdie bairischen M<strong>und</strong>arten entlang der Donau-Isar-Straße zu den "verworrenen<br />

~-M<strong>und</strong>arten"S, die Grenze zu den sogenannten ,,~-M<strong>und</strong>artenU, in denen 'legen'<br />

<strong>und</strong> 'Regen' keinen Reim bilden, zeichnet E. KRANZMAYERmit 6 Fragezeichen durch die<br />

mittlere Oberpfalz. Die Aufnahmen des Sprachatlas für Nordostbayern belegen nunmehr,<br />

daß ein Streifen der südlichen Oberpfalz weit südlich der so eingezeichneten Linie zu den<br />

I E. KRANZMAYER:Historische Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes.<br />

Wien 1956, S. VIII.<br />

2 E. KRANZMAYER:Die Sprachaltertümer in den M<strong>und</strong>arten der Tiroler Hochtäler. In:<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für M<strong>und</strong>artforschung 27 (1960), 160-192, hier S. 165.<br />

) E. KRANZMAYER(s. Fußn. 1), S. 6 f.<br />

4 ebda.<br />

5 ebda., § 3d, 3e.<br />

6 ebda., Karte 3.<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für <strong>Dialektologie</strong> <strong>und</strong> <strong>Linguistik</strong>, LVI!. Jahrgang, <strong>Heft</strong> I (<strong>1990</strong>)<br />

© Pranz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stungan


Diskussionen<br />

ss<br />

konservativen »~-M<strong>und</strong>arten" mit r~g 'Regen', leI] 'legen' gehört". In welcher Hinsicht E.<br />

KRANZMAYERSDarstellung im Falle e-Nachfolger auch sonst unvollständig ist, wird unten<br />

zu zeigen sein.<br />

Lückenhaft ist auch E. KRANZMAYERSBehandlung der Verhältnisse bei mhd. a, a im<br />

mittelbairischen Teil des Donautals. E. KRANZMAYERverzeichnet für die "Donaustraße"8<br />

auch in Altbayern die Leitformen blQsn 'blasen' (mhd. a), hQsn 'Hasen' (mhd. a in Dehnung),<br />

gQßn 'Gasse' (mhd. a bei erhaltener Kürze). Ferner wird an einer Stelle? angegeben,<br />

daß im Rupertiwinkel relikthaft 'blasen' <strong>und</strong> 'losen' im Dialekt reine Reime bilden. Diese<br />

Bestandsaufnahme E. KRANZMAYERSignoriert den Bef<strong>und</strong> aus zwei älteren Lautbeschreibungen<br />

von GEORG MAURER <strong>und</strong> jOHANN SCHIESSL IO • Neuerdings ist der tatsächliche<br />

Lautstand der Dialekte nördlich <strong>und</strong> südlich der Donau in Niederbayern nochmals ausführlich<br />

von MICHAEL KOLLMER dargestellt worden", der - ohne seine Vorgänger zu<br />

erwähnen'? - zu den gleichen Schlußfolgerungen wie G. MAURER<strong>und</strong> J. SCHIESSLkommt.<br />

Wie entwickeln sich also in diesen Dialekten die Nachfolger von mhd. a <strong>und</strong> a? Im folgenden<br />

soll von der Umgebung vor I, r <strong>und</strong> vor Nasal abgesehen werden, da hier Sonderentwicklungen<br />

eintreten, die im Prinzip auch von E. KRANZMAYERrichtig beschrieben werden!'.<br />

Zunächst gehen die genannten Untersuchungen von G. MAURER,J. SCHIESSL<strong>und</strong><br />

M. KOLLMERvon einer Norrnalentwicklung von mhd. a, a zu mdaJ. Q / Q aus - M. KOLLMER<br />

führt z.B. an'": bob« 'backen', sqg 'Sack', grqs 'Gras', Qka 'Acker', mQga 'mager'; sQv 'Schaf',<br />

bron 'braten'. Zwei eindeutig lautlich zu bestimmende Umgebungen verursachen Hebung zu<br />

geschlossenem 0 - nämlich die Stellung nach I <strong>und</strong> nach w im Wortanlaut l5 : loha 'lachen', us<br />

'Schlag', glös 'Glas', loka 'Lache', pflosta 'Pflaster', salöd 'Salat'; slöv 'Schlaf, blöI] 'plagen';<br />

woHn 'waschen', wös 'was', wossa 'Wasser', swöh 'schwach'; wög 'Waage', swöga 'Schwager'.<br />

Weiterhin erfolgt Hebung zu 0 stets vor l-haltigen Nebentonsilben, auch wenn diese zu<br />

-e vokalisiert sind: oksl 'Achsel', nögl 'Nagel', opfe 'Apfel', nöwe 'Nabel', sdöl 'Stadel'; nöl<br />

'Nadel'. Die Entwicklung vor -ei der Folgesilbe ist so regelmäßig, daß man zumindest für die<br />

in Frage stehenden M<strong>und</strong>arten nicht mit E. KRANZMAYER 16 an Sonderentwicklungen nur der<br />

alten Dreisilber denken kann.<br />

Die weiteren Um gebungen für die Hebung von mhd. a, a zu ö lassen sich synchron<br />

zunächst am besten als morphologisch bedingt charakterisieren. Alle schwachen Maskulina<br />

mit stammhaft gewordenem mhd. -en der obliquen Kasus im Nom. Sing. weisen Hebung zu<br />

7 VgJ. URSULAGöTZ: Die M<strong>und</strong>art von Kallmünz. Phonetisch-phonologische Untersuchung<br />

unter diachronem <strong>und</strong> synchronem Aspekt. In: Sprachwissenschaft 12 (1987), S.<br />

396-474; hier S. 424.<br />

8 E. KRANZMAYER(s. Fußn.<br />

9 ebda., § 1f1.<br />

1), § 1c, l d <strong>und</strong> Karte 1.<br />

10 GEORG MAURER:Die mittelhochdeutschen e, iu <strong>und</strong> 6 der Stammsilben in der jetzigen<br />

M<strong>und</strong>art an der I1z. Neustadt a. d. Haardt 1898. S. 13 f. - jOHANN SCHIESSL:Die niederbayerische<br />

M<strong>und</strong>art in der Gegend von Eichendorf. Teil 1. Passau 1909. § 24.<br />

11 MICHAELKOLLMER:Die schöne Waldlersprach von Wegscheid bis Waldmünchen, von<br />

Passau bis Regensburg. Band 1: Lautliche <strong>und</strong> grammatische Beschreibung der Waldlerspraehe.<br />

Prackenbach 1987. - VgJ. dazu auch meine Rezension unten ZDL 57 (<strong>1990</strong>), 99-1~2.<br />

12 In seiner Dissertation M. KOLLMER:Die bairischen Laute, dargestellt durch Vergleich<br />

der M<strong>und</strong>art des Klinglbachtales im Bayerischen Wald mit anderen bairischen M<strong>und</strong>arten.<br />

Diss. München 1949 (Masch.), S. VIII wird die Arbeit von J. SCHIESSLgenannt.<br />

13 E. KRANZMAYER(s. Fußn. 1), § 1.<br />

14 Etwa M. KOLLMER(s. Fußn. 11), S. 216ff.<br />

15 ebda., S. 28.<br />

16 E. KRANZMAYER:Lautliche Sonderwege alter Dreisilber im Ostoberdeutschen. In:<br />

Teuthonista 11 (1935), S. 65-131.


56 Diskussionen<br />

o auf: kostn 'Kasten', boha 'Backen', gropfa 'Krapfen', hödan 'Hadern', mÖl) 'Magen', sön<br />

'Schaden', gröm 'Graben' usw. Als Ausnahme mit sehr offenem ~ erscheint ds~pfa 'Zapfen',<br />

dazu s.u. Während von den schwachen Maskulina, die das mhd. -en der obliquen Kasus im<br />

Nom. Sing. nicht aufweisen, die Fälle sbQds 'Spatz', rotz 'Ratte' (sowie die Sonderentwicklung<br />

'Jf 'Affe') den halboffenen Vokal aufweisen, liegt in hös 'Hase' Hebung vor, ebenso<br />

(wohl durch Analogie) in rö 'Rabe' mit altem stammhaften -en; die anderen Wörter mit mhd.<br />

stammhaftem -en weisen keine Hebung auf: vQm 'Faden', hQva 'Hafen'. Fast alle schwachen<br />

Feminina mit stammhalt gewordenem mhd. -en der obliquen Kasus weisen ebenfalls den<br />

geschlosseneren Vokal 0 auf: uostn 'Fastenzeit', hoka 'Hacke', moiin 'Masche', nosn 'Nase',<br />

dröIJ 'Trage', mon 'Made', söm 'Schabe' usw. Ausnahmen sind hier nodan. 'Natter' <strong>und</strong><br />

cUtzn 'Tatze'. Die Feminina, bei denen im Nom. Sing. kein -en aufscheint, zeigen dagegen<br />

keine Hebung: sQ (daneben mancherorts auch sö) 'Säge', k~tz 'Katze', s~ch 'Sache', Mn!f<br />

'Strafe', idross 'Straße'.<br />

Hier liegt es ja nahe, die Hebung von der Normalentwicklung Q zu halbgeschlossenem 0<br />

auf die Einwirkung des Schwachtonvokalismus des Althochdeutschen zurückzuführen -<br />

G. MAURER,J. SCHIESSL<strong>und</strong> M. KOLLMERargumentieren alle so: 0 bzw. u der ahd. Folgesilbe<br />

verursachte die Hebung. Bei den Feminina sei dabei eben nicht das -a des Nom. Sing.<br />

im Ahd., sondern das -icn der obliquen Kasus ausschlaggebend gewesen 17. In einer Reihe von<br />

Fällen müssen ferner, wie M. KOLLMERzutreffend 'ausführt l8 , neuere phonetische Entwicklungen<br />

des Dialekts berücksichtigt werden - vor allem die Senkungen von 0 <strong>und</strong> von Q zu<br />

offenem II insbesondere vor Dentalfortis, aber auch sonst vor Fortis. In dem von M. KOLL-<br />

MERbeschriebenen Dialekterwa heißt es d~ssn 'Tasche' (aber als Reliktwort dolin 'Scheide<br />

der Kuh') <strong>und</strong> auch vielfach, nach eigenen Erhebungen vorwiegend bei jüngeren Sprechern,<br />

massn 'Masche', vi~ssn 'Flasche', d~tzn 'Tatze', neben lotn auch ~tn. 'Latte', ferner n~cht<br />

'Nacht', aks 'Achse', ds~pfa 'Zapfen' u.a.m. .<br />

Der Bef<strong>und</strong> bei den Verben legtebenfalls die Annahme eines Zusammenhangs mit der<br />

ahd. Endsilbe nahe. Die starken Verben zeigen alle die Normalentwicklung zu Q, wenn nicht<br />

rein phonetische Faktoren wie im Falle 'schlagen', 'waten', (Hebung nach i, w) Hebung<br />

verursachen - man vergleiche etwa zu den obengenannten schwachen Substantiven gröm<br />

'Graben', drol) 'Trage' die entsprechenden starken Verben grQm 'graben', drQIJ 'tragen'.<br />

Einige wenige schwache Verben haben ebenfalls Q:sQIJ'sagen', .VTQIJ'fragen', uostn 'fasten'-<br />

es sind dies alle nach Ausweis der Untersuchung von FRITHJOFRAVEN I9 alte -en- Verben. Die<br />

Nachfolger der alten -on-Verben dagegen haben geschlossenes 0: jÖIJ'jagen', sön 'schaden',<br />

bön 'baden', moha 'machen', hoka 'hacken', obtn 'achten', noiin 'naschen', soffa 'schaffen',<br />

grösn 'grasen, d.i. jäten' u.a. Sdroffa 'strafen' zeigt ebenfalls geschlossenen Vokal (aber sdrQ[f<br />

'Strafe') - nach Ausweis von FRIEDRICH KLUGESEtymologischem Wörterbuch 20 kam das<br />

Verb erst ab 1700 auf. Während die Anzahl der -on-Verben relativ hoch ist, sind es nur<br />

wenige -en-Verben, die in diesen Dialekten Nachfolger haben. Neben sQm 'schaben' (das<br />

südlich der Donau als söm belegt ist), finde ich nur noch uodsot] 'verzagen'. Ahd. lachen<br />

erfährt Hebung des Stammvokals durch den i-Anlaut, r~stn weist Senkung vor Dentalfortis<br />

auFI.<br />

17 Etwa M. KOLLMER(s. Fußn. 11), S. 54.<br />

18 ebda., S. 43 f.<br />

19 FRITHJoF RAVEN: Die schwachen Verben des Althochdeutschen. Bd. 1-2. Gießen<br />

1963/1967.<br />

20 FRIEDRICH KLUGE: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Auf!.<br />

bearb. von WALTHERMITZKA.Berlin 1967.<br />

21 Dieses Verb war wohl ohnehin schon in ahd. Zeit zu den -jan-Verben übergetreten,<br />

vgl. F. RAVEN(s. Fußn. 19). Bd. 1. S. 415.


Diskussionen 57<br />

Auffallend ist auch, daß nokat 'nackt (ahd. nack8t), hinaan 'Hafer' (ahd. habaro), koda<br />

'Kater' (ahd. kataro) den gehobenen Vokal aufweisen; Ausnahme allerdings ist hier der Fall<br />

Qdan 'Ader' (ahd. ädr«, adrun).<br />

Daß E. KRANzMAYERals Leitforrnen für seine Darstellung gerade die Ausnahmefälle<br />

'Hase' (Entwicklung wie bei den schwachen Maskulina mit stammhalt gewordenem mhd.<br />

-en der obliquen Kasus) <strong>und</strong> 'blasen' (Hebung nach l im Anlaut) wählte, wirkte sich für die<br />

Darstellung der Verhältnisse in den Dialekten Niederbayerns nördlich der Donau fatal ausabgesehen<br />

davon, daß E. KRANZMAYERSAngaben offener Aussprache Q für diese Dialekte<br />

offenk<strong>und</strong>ig falsch ist. Vielmehr herrscht hier parallel zur von E. KRANZMAYER 23 sogenannten<br />

,,~-Verwirrung" eine "a-Verwirrung" vor dergestalt, daß mhd. a, a teils zu Q, teils zu 0<br />

<strong>und</strong> - worauf E. KRANZMAYERgar nicht eingeht - teils zu Ji) wird (mhd. a im übrigen<br />

relikthaft in nordbairischer Weise auch zu QU, worauf E. KRANZMAYERrichtig hinweisr'").<br />

E. KRANZMAYERSBelegwörter gehören zur kleineren Gruppe derjenigen Wörter, die<br />

geschlossenes 0 aufweisen. blosn. 'blasen' reimt nicht nur im Rupertiwinkel", sondern im<br />

Donautal von Passau bis fast nach Regensburg lautgesetzlieh mit losn 'hören'. Nach dem<br />

Bef<strong>und</strong> - <strong>und</strong> M. KOLLMERShier zitierte Transkriptionen stimmen in dieser Hinsicht vollständig<br />

überein mit den Ergebnissen meiner eigenen Aufnahmen - können kaum Zweifel<br />

daran bestehen, daß die ursprüngliche Bedingung für die Entwicklung zu 0 ein hinterer<br />

geschlossener Vokal der ahd. Folgesilbe war. Fehlte dies, so steht als Stammvokal Q. Interessant<br />

ist dabei, daß G. MAuRER- <strong>und</strong> in ähnlichem Sinne auch M. KOLLMER 26 - auch im Falle<br />

der Nachfolger von ahd./mhd. e in diesen Dialekten eine Einwirkung der ahd. Folgesilbe<br />

haben plausibel machen können. E. KRANZMAYERSDarstellung der ,,~-Verwirrung'r" trifft<br />

für die von G. MAURER<strong>und</strong> M. KOLLMERbeschriebenen Dialekte also ebenfalls nicht zu -<br />

ein Zustand, der durch das Material der Untersuchung von J. SCHIESSLsowie durch eigene<br />

Aufnahmen bestätigt werden konnte". Da die Untersuchung von G. MAURER,die explizit<br />

diesem Themenkreis gewidmet ist, an unzugänglicher Stelle erschienen ist, seien die Ergebnisse<br />

hier zitiert:"<br />

"Altes e hat den offenen Klang nur 1. vor r, 2. vor I, wenn nicht, wie in felis, welicher i<br />

darauffolgte[ ... ], 3. vor h<strong>und</strong> h + Consonant, wenn nicht, wie in sechs [... ] zehen,<br />

zehtari, i einwirkte, 4. vor folgendem 0, ö, al <strong>und</strong> bei den Femininen der n-Deklination<br />

infolge der Endung ün, deren n aus den obliquen Kasus auch in den Nominativ<br />

eingedrungen ist, 5. in dem Wort pfeffer."<br />

Beispiele für die Entwicklung zum geschlossenen e sind also: lern 'leben' (altes en- Verb), lesn<br />

'lesen', essn 'essen', brecba 'brechen', dren 'treten' (starke Verben mit Suffix -an), leuia<br />

'Leber', ureda 'Wetter', dreg 'Dreck', we 'Weg', ble 'Blech', em 'eben', becha 'Becher'.<br />

Dagegen haben offenes e:<br />

- alte -on-Verben: betn 'beten', v~g 'fegen', lelea 'lecken', brecba 'Flachs brechen', bressn<br />

'pressen' u.a.:<br />

- schwache Maskulina <strong>und</strong> Feminina: sd'ika 'Stecken', recha 'Rechen', dsepj« 'Zapfen',<br />

22 E. KRANZMAYER(s. Fußn. 1), Karte 1.<br />

23 ebda., § 3d2.<br />

24 ebda., § 3e3.<br />

25 Vgl. Fußn. 9.<br />

26 M. KOLLMER(s. Fußn. 11), S. 54.<br />

27 E. KRANZMAYER(s. Fußn.<br />

28 J. SCHIESSL(s. Fußn. 10).<br />

1), § 3d2, 3e.<br />

29 G. MAURER(s. Fußn. 10), S. 12f.


58 Diskussionen<br />

grflssn 'Kresse'; auch wenn im Nom. Sing. das -en nicht stammhalt wurde: l~b'Löwe', uieps<br />

'Wespe', dSflk 'Zecke', beks 'Hexe', gr~ps 'Krebs'; ferner bei den alten dreisilbigen schwachen<br />

Substantiva k~va 'Käfer', besn 'Besen'; - vor Schwachtonsilbe mit I: uielesln 'wechseln',<br />

b~dln 'betteln', n~we 'Nebel', r~gl 'Regel', s~l 'Schädel', sw~ve 'Schwefel', sessl 'Sessel'.<br />

Einige Wörter, die zu dieser letztgenannten Gruppe gehören (sowie die Fälle 'Käfer' <strong>und</strong><br />

'Besen'), fallen unter die von E. KRANZMAYER 30 postulierte Sonderentwicklung alter Dreisilber;<br />

die Regularität der Entwicklung vor -ei jedoch - auch in alten Zweisilbern - stellt<br />

wiederum die Erklärungen E. KRANZMAYERS in Frage.<br />

Verwirrend ist zwar, daß die gleichen Folgesilben des Ahd. bei den a-Nachfolgern eine<br />

schließende Wirkung, bei den e-Nachfolgern dagegen eine öffnungserhaltende Wirkung<br />

haben. Darum wirkt der Versuch von M. KOLLMER 31 , die beiden Erscheinungen in einer<br />

einzigen Regel zusammenzufassen, phonetisch so wenig plausibel. Unbestreitbar ist allerdings<br />

der m<strong>und</strong>artliche Bef<strong>und</strong>, der für die Richtigkeit obengenannter Analyse spricht. Die<br />

Darstellung bei E. KRANZMAYER,der diese M<strong>und</strong>arten pauschal seinen "verworrenen ~-<br />

M<strong>und</strong>arten" zuordner'", verkennt die Regularitaten in der Verteilung offener <strong>und</strong> geschlossener<br />

e-Nachfolger.<br />

M. KOLLMERformuliert sein Folgesilbenvokalgesetz folgendermaßen."<br />

"Ein jeweils gearteter ahd. Folgesilbenvokal hebt (schließt) einen gleichartigen <strong>und</strong><br />

senkt (öffnet) einen ungleichartigen ahd. Stammvokal, d.h. ein vorderer Folgesilbenvokal<br />

(nur ahd. i) (1) hebt (schließt) einen vorderen Stammvokal (ahd. e, e) <strong>und</strong> (2)<br />

senkt (öffnet) einen hinteren Stammvokal (ahd. a); ein hinterer Folgesilbenvokal (ahd.<br />

0, u) (3) hebt (schließt) einen hinteren Stammvokal (ahd. a) <strong>und</strong> (4) senkt (öffnet)<br />

einen vorderen Stammvokal (ahd. e, e)".<br />

Die Einwirkungen auf ahd. e (Primärumlaut) kann M. KOLLMERnicht plausibel machen;<br />

ebensowenig die senkende Wirkung des i auf a (!). Der Kern dieses Gesetzes bleibt also wie<br />

folgt:<br />

Ahd. a erscheint in den betroffenen Dialekten:<br />

- vor -0, -im, -ün, -al, -ul als 0<br />

- ansonsten als Q;<br />

Ahd. e erscheint:<br />

- vor -0, -on, -icn, -al, -ul als ~<br />

- ansonsten als e.<br />

Darin haben also nach Überzeugung des Verfassers G. MAURER,J. SCHIESSL<strong>und</strong> M. KOLL-<br />

MER entgegen der eingangs zitierten "gängigen Lehrmeinung" recht, daß auch für diese<br />

Erscheinungen an der an sich innovationsfre<strong>und</strong>lichen Donau-Isar-Straße der Rückgriff auf<br />

althochdeutsche Zustände der Zeit vor 1100 nötig ist. Wenn man die Entwicklungen von<br />

ahd. a <strong>und</strong> ahd. e auf einen gemeinsamen Nenner bringen will, bleibt nur die Möglichkeit,<br />

mit E. KRANZMAYER 34 anzunehmen, daß in althochdeutscher <strong>und</strong> frühmittelhochdeutscher<br />

Zeit im Bairischen der Primärumlaut offener ausgesprochen wurde als das germanische e; in<br />

dieser Stufe muß sich bei den e-Nachfolgern wie bei den a-Nachfolgern die offenere Variante<br />

in der gleichen Umgebung gef<strong>und</strong>en haben. Spätere Lalitentwicklungen verschleierten erst<br />

30 Vgl. Fußn. 16 <strong>und</strong> E. KRANZMAYER(s. Fußn. 1), § 3bl.<br />

31 ebda., S. 50.<br />

32 Vgl. Fußn. 27.<br />

33 ebda., S. 50.<br />

34 E. KRANZMAYER(s. Fußn. 1), § 4a3.


Diskussionen 59<br />

die gemeinsame Gr<strong>und</strong>lage, indem der Primärumlaut das alte e im Öffnungsgrad »überholte"<br />

.<br />

Welchen Umfang die Gebiete mit den genannten lautgeschichtlichen Besonderheiten<br />

haben; ob die Gebiete mit getrennter Behandlung der a-Nachfolger je nach Folgesilbe <strong>und</strong><br />

die Gebiete mit getrennter Behandlung der e-Nachfolger übereinstimmen; ob die Gebiete in<br />

sich in den lautgeschichtlichen Details einheitlich sind - diese Fragen stehen wegen des<br />

Mangels an einschlägigen Monographien noch offen. Der geplante Sprachatlas von Niederbayern<br />

wäre die geeignete Instanz" um f<strong>und</strong>ierte Antworten auf der Gr<strong>und</strong>lage einer soliden<br />

Materialbasis z~ geben.<br />

Adresse des Autors: Priv.-Doz. Dr. ANTHONYR. ROWLEY<br />

Kommission für M<strong>und</strong>artforschung<br />

- Bayerisches Wörterbuch -<br />

Bayerische Akademie der Wissenschaften zu München<br />

Marstallplatz 8<br />

D-8000 München 22

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!