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INHALT<br />
PROLOG: wohnen = widerstand 9<br />
das halle-neustadt-lexikon: INDEX 11<br />
Zweierlei Expertenwissen 32<br />
<strong>Gebaute</strong> <strong>Welt</strong>: „The very stuff itself“ 33<br />
Architektonischer <strong>Raum</strong>:<br />
Eine Standortbestimmung 34<br />
Physisch-materieller <strong>Raum</strong> 34<br />
Der <strong>Raum</strong> der Planung und der <strong>Raum</strong><br />
als Medium von Darstellungen 38<br />
<strong>Gebaute</strong> <strong>Welt</strong>: die Krise der Stadtentwicklung 43<br />
Lernen von der Theorie: Phänomenologische<br />
Räumlichkeit und architektonische Praxis 48<br />
© 2012 by jovis Verlag GmbH<br />
Das Copyright für die Texte liegt bei der Autorin.<br />
Das Copyright für die Abbildungen liegt bei den Fotografen/Inhabern der<br />
Bildrechte.<br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
Von der Fakultät Gestaltung der Universität der Künste Berlin unter<br />
dem Titel <strong>Gelebter</strong> <strong>Raum</strong>: Weisen des Wohnens und ihre Bedeutung für die<br />
Entwicklung städtischer Räume angenommene Dissertation im Studiengang<br />
Architektur (Druckfassung)<br />
Titelbild: Anja Weber<br />
Gestaltung und Satz: subsolar<br />
Druck und Bindung: fgb freiburger graphische betriebe<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im<br />
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
jovis Verlag GmbH<br />
Kurfürstenstraße 15/16<br />
10785 Berlin<br />
www.jovis.de<br />
ISBN 978-3-86859-149-1<br />
räume bewohnen: phänomenologische grundlagen 53<br />
Die Entdeckung der Lebenswelt 54<br />
Unbewohnbare Räume 55<br />
Ein interdisziplinärer Diskurs 58<br />
Weisen des Wohnens: <strong>Welt</strong> und Heimat 62<br />
Wohnen in der <strong>Welt</strong> 62<br />
Wohnen in einer Heimat 67<br />
Bewohnbare und unbewohnbare Räume:<br />
Grundlegende Differenzen 69<br />
<strong>Gelebter</strong> <strong>Raum</strong>: Das Drei-ebenen-modell 73<br />
Gestimmter <strong>Raum</strong> 74<br />
Ort und Richtung im gestimmten <strong>Raum</strong> 76<br />
Dinge im gestimmten <strong>Raum</strong> 77<br />
Bewegung im gestimmten <strong>Raum</strong> 78<br />
Der Andere im gestimmten <strong>Raum</strong> 79<br />
Handlungsraum 80<br />
Ort und Richtung im Handlungsraum 81<br />
Dinge im Handlungsraum 83<br />
Bewegung im Handlungsraum 84<br />
Der Andere im Handlungsraum 85<br />
Wahrnehmungsraum 86<br />
Ort und Richtung im Wahrnehmungsraum 87<br />
Dinge im Wahrnehmungsraum 88<br />
Bewegung im Wahrnehmungsraum 90<br />
Der Andere im Wahrnehmungsraum 90<br />
Qualitäten und Grenzen gelebter Räumlichkeit 91
isse und spalten: Grenz-Gänge 93<br />
Ortsverschiebung, Zeitverschiebung 95<br />
Bruchlinien der Erfahrung 96<br />
Das performative Hier 97<br />
Niemand ist je ganz bei sich: Eigen- und Fremdorte 98<br />
Heterotopien: Möglichkeitsräume 100<br />
„Fahren“: aktuelle und virtuelle Räume 101<br />
Heterochronien: Erweiterungen des Präsenzfeldes 102<br />
Markierungen und Praktiken 104<br />
Markierungen auf der Karte 105<br />
Markierungen im Kalender 105<br />
„Kippen“: gelebte und andere Räume 106<br />
Einschreibungen: Bahnen im <strong>Raum</strong> 107<br />
Gewöhnung: Rhythmen alltäglicher Performanz 109<br />
Zweckentfremdungen 110<br />
Wir leben nicht in mathematischen Räumen,<br />
aber in mathematisierbaren 111<br />
Fazit: „Die <strong>Welt</strong> ist nicht, sie bildet sich“ 179<br />
Bewohnbare Räume?<br />
Zusammenfassung der Problematik 179<br />
Transfer-erfolge: Drei Brücken-Bauten 182<br />
Offene Fragen und mögliche Anschlüsse 186<br />
Anhang 189<br />
Lokale Experten 191<br />
Zum Beispiel Halle-Neustadt 193<br />
BibliografiE 198<br />
Abbildungsnachweis 205<br />
Dank 206<br />
GRÄBEN UND BRÜCKEN: PRAXISTRANSFER 113<br />
Stadt als Wohn-<strong>Raum</strong>: Expertenwissen 114<br />
Städte bewohnen 115<br />
Wohnräume bauen 115<br />
Kippen und Fahren: Methoden der Planung 117<br />
„Kippen“: Situation und Konstellation 118<br />
„Fahren“: Bahnen im <strong>Raum</strong> und in der Zeit 120<br />
Methoden der Planung: eine Diskussion 121<br />
Übersetzungen: Qualitative Kriterien 122<br />
Gestimmter <strong>Raum</strong> und Atmosphäre 122<br />
Handlungsraum und Performanz 126<br />
Wahrnehmungsraum und immersives Panorama 130<br />
Exkurs: „Heimat“ halle-neustadt 133<br />
Fotografien als Hilfsmittel des Einwohnens 135<br />
REKONSTRUKTION VON SITUATIONEN 138<br />
Die verwendeten Aufnahmen 140<br />
Blickräume und eigene <strong>Welt</strong> 150<br />
Konstellation und Ereignis 160<br />
Ortsverschiebungen 166<br />
Möglichkeitsräume 176
“Wissen Sie, es ist immer das Leben, das recht, und der Architekt,<br />
der unrecht hat.“<br />
Le Corbusier (zitiert nach Boudon 1971, S.13)<br />
1 Die Definition dieses<br />
Begriffs ist auch durch den<br />
sogenannten spatial turn<br />
der letzten Jahrzehnte nicht<br />
einfacher, sondern im Gegenteil<br />
immer komplizierter<br />
geworden.<br />
2 Die „Unwirtlichkeit der<br />
Städte“ ist durch Alexander<br />
Mitscherlichs gleichnamige<br />
Streitschrift (Mitscherlich<br />
1965) zum stehenden Begriff<br />
einer soziologisch motivierten<br />
Kritik geworden, die vor<br />
allem den am Reißbrett entstandenen<br />
Siedlungen der<br />
Moderne eine mangelnde<br />
Lebensqualität attestierte.<br />
Auch Jane Jacobs (1963) und<br />
Henri Lefebvre (1970/2003)<br />
argumentierten seinerzeit<br />
in einer ähnlichen Weise,<br />
während heute vor allem die<br />
jenseits aller Planung entstandenen<br />
Sprawls der „Zwischenstadt“<br />
(Sieverts 1998<br />
und Hauser/Kamleithner<br />
2006) und die entvölkerten<br />
Regionen der Deindustrialisierung<br />
(Kil 2004 und Giseke/<br />
Spiegel 2006) im Fokus der<br />
Debatte stehen.<br />
3 Die erste Recherche erfolgte<br />
im Rahmen des Wettbewerbs<br />
„Shrinking Cities –<br />
Reinventing Urbanism“,<br />
der nach neuen Strategien<br />
im Umgang mit Leerstand<br />
und Bevölkerungsrückgang<br />
suchte. Siehe auch: Hebert<br />
et. al. (2005)<br />
PROLOG: wohnen = widerstand<br />
Dieses Buch geht der Frage nach, wie die gebaute<br />
<strong>Welt</strong> städtischer Gefüge und der gelebte <strong>Raum</strong><br />
der individuellen Erfahrung voneinander abhängen.<br />
Beide Begriffspaare beschreiben spezifische<br />
Perspektiven auf „den“ <strong>Raum</strong> 1 , die sich, wie zu zeigen<br />
sein wird, nicht ohne weiteres zur Deckung<br />
bringen lassen – und einander dennoch (oder gerade<br />
deswegen) bereichern können.<br />
Während die gebaute <strong>Welt</strong> hier als Metapher für die maßgeblich von<br />
Architekten und Stadtplanern produzierte baulich-räumliche Umgebung<br />
verstanden werden soll, innerhalb derer sich „das Leben abspielt“, bezeichnet<br />
der aus der Phänomenologie stammende Begriff gelebter <strong>Raum</strong> die<br />
existenzielle Relation, die diese allgemeine Umwelt für jedes Individuum<br />
als eigene <strong>Welt</strong> erschließt.<br />
Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielt das Wohnen, dessen<br />
genauer Wortsinn hier ebenso fraglich wird wie die allgemeine Rede<br />
vom <strong>Raum</strong>: Während der Begriff in der Sprache der Architekten und<br />
Stadtplaner vor allem eine funktional-rechtliche Zuschreibung beinhaltet<br />
– man baut Wohnanlagen, definiert Wohngebiete und legt Wohnstraßen<br />
an –, ist seine Bedeutung im Kontext der Phänomenologie, deren<br />
Vertreter es zum Teil als Synonym für das Sein verwenden (Heidegger,<br />
Merleau-Ponty, siehe unten: S. 53 ff.), sehr viel weiter gefasst.<br />
Es mag unter anderem an dieser unterschiedlichen Bedeutung und<br />
Tiefe des Wohnbegriffs liegen, dass unsere (mit mehr oder weniger Aufwand<br />
geplanten) Wohnanlagen, Wohngebiete und Wohnstraßen heute<br />
vielerorts so wenig bewohnbar erscheinen 2 – und dennoch, scheinbar fast<br />
zwangsläufig, zu vertrauten, bedeutsamen, eben „gewohnten“ Orten für<br />
all diejenigen werden, die dort leben. Das „Einwohnen“, das zu dieser<br />
Vertrautheit führt, ist eine über längere Zeiträume hinweg meist unbewusst<br />
ausgeübte Tätigkeit, die die allmähliche Integration der betreffenden<br />
Umgebung in die eigene Lebenswelt zur Folge hat. Während das anthropologisch<br />
orientierte Interesse der Philosophie vor allem darauf gerichtet<br />
ist, zu erforschen, wie diese Prozesse sich auf die Existenz des wohnenden<br />
Menschen auswirken, soll hier vor allem danach gefragt werden, welche<br />
Erkenntnisse sich daraus für den fach- und sachgerechten Umgang mit der<br />
gebauten <strong>Welt</strong> ableiten lassen – der es, so die These dieses Buches, keineswegs<br />
egal ist, ob sie „gelebt“ wird oder nicht.<br />
Auf den folgenden Seiten sind Auszüge einiger Interviews dokumentiert,<br />
die im Jahr 2004 zum Thema des Wohnens unter Schrumpfungsbedingungen<br />
in der ehemaligen sozialistischen Mustersiedlung Halle-Neustadt durchgeführt<br />
wurden. 3 Unter alphabetisch geordneten Schlagworten sind sie<br />
hier zu einem Lexikon collagiert, in dem sich langjährige Bewohner und<br />
Bewohnerinnen zu allgemeinen und besonderen Aspekten ihres Wohnortes<br />
äußern. Ihr Expertenwissen, das zum Teil sehr spezifische Begriffe und<br />
PROLOG: WOHNEN = WIDERSTAND<br />
9
Redewendungen umfasst, wird durch ausführliche, die Lexikoneinträge<br />
begleitende Seitennoten und Verweise ergänzt und auf diese Weise auch<br />
für (im eigentlichen Wortsinn) „Außen-Stehende“ erschlossen. 4<br />
Die parallele Präsentation dieser individuellen Innen- und einer ihr<br />
zum Teil widersprechenden Außensicht macht deutlich, wie viel Engagement<br />
unter bestimmten Umständen vonnöten sein kann, um aktiv für die<br />
eigene Interpretation (und den eigenen Ort) einzutreten. Dieser Widerstand,<br />
der dem Abschnitt seinen Titel gibt, ist also keine Blockadehaltung,<br />
sondern im Gegenteil ein konstruktiver Gegenentwurf zu den gängigeren<br />
Reaktionen von Flucht bis Resignation – und damit für einen Stadtteil,<br />
der es auch zukünftig nicht leicht haben wird, eine wichtige Ressource.<br />
Das Wohnen verliert vor dem Hintergrund des Stadtumbaus den Status<br />
des Fraglosen. Dadurch kommen einige sonst verborgene Mechanismen<br />
zum Vorschein (und zur Sprache), die generell zur Gewöhnung an Orte<br />
und Räume beitragen. Halle-Neustadt, der „Schau-Platz“ dieses Prologs,<br />
wird so zum idealen Untersuchungsgegenstand für das theoretische Feld<br />
gelebter Räumlichkeit, das im Hauptteil des Buches genauer vermessen<br />
werden muss. Die Fragestellung, die diese Forschung ursprünglich motiviert<br />
hat, ist jedoch die, was die mit der Planung und der Entwicklung<br />
von städtischen Räumen befassten Architekten und Urbanisten aus dieser<br />
Recherche für den Umgang mit der gebauten <strong>Welt</strong> lernen können und<br />
welchen Wert die Erkenntnisse, Werkzeuge und Methoden, die hier gewonnen<br />
werden, für die Moderation der anstehenden stadträumlichen<br />
Transformationsprozesse besitzen – nicht nur in Halle-Neustadt, sondern<br />
überall.<br />
4 Wer darüber hinaus noch<br />
mehr über Halle-Neustadt<br />
im Speziellen erfahren<br />
möchte, findet im Anhang<br />
(S. 193 ff.) einen kurzen<br />
Abriss der Entstehungsgeschichte<br />
sowie einige weiterführende<br />
Literaturhinweise.<br />
ABBILDUNG 1<br />
das halle-neustadt-lexikon: INDEX<br />
Abriss / 12<br />
acker / 12<br />
aneignung / 12<br />
angst / 13<br />
Arbeitslosigkeit / 13<br />
Atmosphäre / 13<br />
ausländer / 14<br />
baustelle / 14<br />
Blocknummern / 15<br />
demografie / 15<br />
fortschritt / 15<br />
friedhof / 16<br />
gewöhnung / 16<br />
grillen / 17<br />
grün / 17<br />
Grundsteinlegung / 18<br />
gummistiefel / 19<br />
Hausgemeinschaft / 19<br />
Heimat / 20<br />
initiative / 21<br />
Kindereinrichtungen / 21<br />
kultur / 21<br />
kunst / 23<br />
leere Läden / 23<br />
lotto / 24<br />
magistrale / 24<br />
mieten / 24<br />
orientierung / 24<br />
partiZIPATION / 25<br />
platte / 26<br />
spielen / 26<br />
stadtrecht / 27<br />
tanzEn / 27<br />
verarmung / 27<br />
verkehr / 27<br />
versorgung / 28<br />
Weite des Blicks / 28<br />
wende / 29<br />
wohnkomplex / 29<br />
Zentrum / 30<br />
10 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
PROLOG: WOHNEN = WIDERSTAND<br />
11
A5 Frau Schütze wohnte in der<br />
Hallorenstraße 4 (ehemals<br />
Block 201), dem ersten Haus,<br />
das im Jahr 2002 abgerissen<br />
wurde.<br />
6 Die Grundstückseigentümerin,<br />
die „Gesellschaft für<br />
Wohn- und Gewerbe-Immobilien<br />
Halle-Neustadt<br />
GmbH“ (GWG), hatte die<br />
damals stark verunsicherten<br />
Bürger und Bürgerinnen mit<br />
der Aussicht beruhigt, dass<br />
anstelle des Wohnblocks ein<br />
Pflegeheim errichtet würde.<br />
Nachdem sich dieses Projekt<br />
lange verzögert hatte, ist es<br />
inzwischen realisiert worden:<br />
Das „Seniorenzentrum AGO<br />
Halle-Neustadt“ wurde 2008<br />
eröffnet.<br />
7 Die Straßenbahnlinie von<br />
Halle-Neustadt nach Halle<br />
Hauptbahnhof wurde erst<br />
1998–2003 gebaut. Bis dahin<br />
gab es lediglich eine Busverbindung<br />
( VERKEHR).<br />
ABBILDUNG 2<br />
/Abriss<br />
Schütze: Gewohnt hab’ ich 31 Jahre in dem Haus, was abgerissen ist. 5<br />
Laaß: Da haben sie mordsmäßig Versprechungen gemacht, was dort alles<br />
hin soll, und nun ist da ein nackter Platz! 6<br />
Schütze: Als ich damals in die Wohnung eingezogen bin, hab’ ich gesagt,<br />
hier tragen sie mich im Sarg erst wieder raus – aber da hätt’ ich mir das<br />
Leben nehmen müssen!<br />
Laaß: Ich hab’ mir vorgenommen, ich will noch mal durch die Stadt<br />
gucken. Sonst weiß hinterher keiner mehr, wie die ausgesehen hat. Wird<br />
ja alles weggebrochen und weggerissen …<br />
Schütze: Das tut immer noch so’n bisschen weh, wenn man daran vorbeigeht<br />
jetzt, an dieser Zementfläche, wo das Haus gestanden hat.<br />
Wache: Aber wir profitieren jetzt: Wir haben mehr Sonne, Frau Schütze!<br />
Schütze: Ach, Frau Wache, erzählen Sie mir nichts von Sonne!<br />
Wache: Oh ja! Wirklich! Bis abends haben wir jetzt Sonne!<br />
Schütze: Dafür habt ihr jetzt den Krach von der Straßenbahn! 7<br />
Wache: Nee, ach! Den hört man doch nicht …<br />
/Angst<br />
Saar: Es ist schon etliches passiert. Es sind auch schon Besucher überfallen<br />
worden, wenn sie von uns 10 kamen, am hellichten Tage, mittags um zwölf.<br />
Kam einer aus dem Gebüsch, hat die alte Dame krankenhausreif geschlagen,<br />
die Tasche entwendet und war fort. Ist nie erwischt worden.<br />
Wenn wir wandern, durch die Heide, da ist noch nie etwas gewesen. Ich<br />
bin auch oft abends noch mit dem Fahrrad unterwegs und komme spät<br />
nach Hause, ich hab’ bisher nie Probleme gehabt. Es wird einem aber<br />
durch die Medien auch Angst gemacht.<br />
/Arbeitslosigkeit<br />
Luther: Das ist ja, warum die Arbeitslosigkeit überhaupt entstanden<br />
ist: dass alles stillgelegt wurde und wir beliefert wurden von dem anderen<br />
Teil. 11 Der hat damit seine Absatzschwierigkeiten überwunden,<br />
und wir waren die Abnehmer. Und dann ist die große Frage immer: „Wieso<br />
haben wir keine Arbeitsplätze?“ Das könnte mich immer … Das ist ja<br />
so eine Gemeinheit, so ein Schwindel, gucken Sie sich das doch an!<br />
Reinicke: Und das Schlimme ist eben heute in unserer Stadt: Die jungen<br />
Leute ziehen alle weg! Die kriegen keine Arbeit hier – (wütend:) IM WES-<br />
TEN, IM GOLDENEN WESTEN, da kriegen sie Arbeit, und dann auch<br />
Wohnung. Und dann ziehen sie weg. (Traurig:) Das geht mir so ans Herz,<br />
dass diese jungen Leute alle wegziehen müssen. Na, und man propagiert<br />
es ja auch noch, da sagt man noch: „Kommt doch zu uns, kommt doch in<br />
den Westen, da kriegt ihr eure Arbeit“ – und es ist ja auch wirklich so! 12<br />
10 „uns“ = die AWO-Begegnungsstätte<br />
„Dornröschen“,<br />
Frau Saar leitete dort die<br />
Seniorenarbeit.<br />
11 „Der andere Teil“ = die<br />
ehemalige BRD<br />
12 Das Stadtentwicklungskonzept<br />
(Stadt Halle (Saale)<br />
(Hg) 2007, S. 92) bemerkt<br />
dazu: „Der Bevölkerungsanteil<br />
der Arbeitslosen und/<br />
oder Sozialhilfeempfänger<br />
ist überdurchschnittlich hoch<br />
und weiter steigend – im Unterschied<br />
zu stabilen Zahlen<br />
für die Gesamtstadt.“ Über<br />
20 Prozent der Bevölkerung<br />
sind demnach abhängig von<br />
Transferleistungen ( VER-<br />
ARMUNG).<br />
8 Die Entscheidung für den<br />
Standort der neuen Stadt<br />
war nicht einfach: Mehrere<br />
Gutachten kamen schließlich<br />
zu dem Schluss, dass das<br />
westlich der Saaleaue gelegene,<br />
bis dahin rein landwirtschaftlich<br />
genutzte Gebiet<br />
sich am besten eignen<br />
würde, obwohl hier im Grunde<br />
ungünstige hydrologische<br />
Verhältnisse bestanden: Aufgrund<br />
des hohen Grundwasserstandes<br />
wurde für einen<br />
Teil der Siedlungsfläche eine<br />
Wasserhaltung erforderlich,<br />
die seither kontinuierlich<br />
arbeitet („Brunnengalerie“).<br />
9 Von der vormals eigenständigen<br />
Gemeinde Passendorf<br />
existieren nur noch<br />
Fragmente: Die ehemalige<br />
Dorfstraße, die kleine Kirche<br />
und das ehemalige Gutshaus<br />
„Passendorfer Schlösschen“<br />
( KULTUR) liegen heute wie<br />
Fremdkörper im Gewebe der<br />
Großsiedlung. Der ursprünglich<br />
zur Gemeinde Passendorf<br />
gehörende FRIEDHOF<br />
wurde verlegt.<br />
/Acker<br />
Reinicke: Und das war ja alles Ackerfeld! Bevor Neustadt gebaut wurde,<br />
war das alles Acker! 8<br />
Bis auf da, wo Passendorf ist, 9 das existierte als Dorf schon. Aber alles andere<br />
war ringsherum nur Acker! Ringsrum!<br />
/Aneignung<br />
Luther: Oft stehen wir da und beobachten, wie weit die Bäume sind. Wie<br />
weit dieser Strauch ist, wie weit jener Baum ist, an jedem Stückchen, an<br />
dem wir langgehen.<br />
Und drüben fangen die Kirschen an, und die Forsythien, und hier ist ein<br />
Mandelbaum – da fühl’ ich mich hier richtig zu Hause! Und eigentlich<br />
fühle ich mich hier so ein bisschen wie im eigenen Haus, das ist komisch,<br />
nicht? Ich fühle mich hier nicht wie in einer Mietwohnung! Ich fühle mich<br />
eben nicht nur als Mieter XY, sondern ich fühle mich hier als Besitzer<br />
dieses Stadtteiles, und fühle mich hier zu Hause. Ja. Das ist mein Halle-<br />
Neustadt!<br />
/Atmosphäre<br />
Taraba: Anfangs, muss ich sagen, hatte ich das Gefühl, in Halle-Neustadt<br />
ist es nur windig, und durch die hellen Blocks hat mich das auch ein bisschen<br />
geblendet, 13 weil ich das gar nicht gewöhnt war.<br />
Luther: Dieser Blick, hier zum Fenster raus, hat für mich eine beruhigende<br />
Atmosphäre. Ich weiß gar nicht, warum – wenn ich so sitze und kann hier<br />
so durchgucken, und da gehen die Leute spazieren oder gehen einkaufen,<br />
oder die Kinder machen Krach – dann fühl’ ich mich hier wohl.<br />
Schütze: Da gibt’s ja schon welche, die verlangen, dass Schallmauern gebaut<br />
werden! 14<br />
ABBILDUNG 3<br />
13 Dass Halle-Neustadt<br />
zu Beginn als hell und<br />
zugig empfunden wurde,<br />
lag auch an der fehlenden<br />
Außenraumgestaltung. In<br />
den Folgejahren wurden in<br />
zahlreichen „Subbotnik-Aktionen“,<br />
wie sie Frau Laaß<br />
unter GRÜN (S. 17)<br />
erklärt, Bäume gepflanzt, die<br />
heute an einigen Stellen zu<br />
einem undurchdringlichen<br />
Dickicht zusammengewachsen<br />
sind.<br />
14 Gegen den Lärm der<br />
Straßenbahn, die jetzt die<br />
Magistrale entlangfährt<br />
( VERKEHR und Anmerkung<br />
7). Dieser wird umso<br />
stärker empfunden, je mehr<br />
von den Elfgeschossern<br />
an der Magistrale dem<br />
ABRISS zum Opfer fallen –<br />
denn diese dienten nicht nur<br />
der besseren Orientierung,<br />
sondern schützten auch die<br />
dahinter liegenden Wohngebiete<br />
vor Verkehrslärm.<br />
12 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
PROLOG: WOHNEN = WIDERSTAND<br />
13
M77 Die Neustädter Passage<br />
ist die Fußgängerzone im<br />
ZENTRUM von Neustadt.<br />
Auch hier wurden, wie am<br />
Gastronom ( Anmerkungen<br />
71 und 76) die öffentlichen<br />
Freiräume neu gestaltet<br />
(2006–2007), doch konnte<br />
der chronische Leerstand<br />
dadurch nicht behoben werden.<br />
Neben den ungenutzten<br />
Hochhausscheiben ( ZEN-<br />
TRUM) sind vor allem die<br />
Nähe der neuen Shopping-<br />
Mall ( Anmerkung 68) und<br />
die fehlende Barrierefreiheit<br />
ein strukturelles Problem<br />
( VERSORGUNG).<br />
78 Hier geht es um die<br />
Zuweisung der Wohnung im<br />
Block 618–621 ( Anmerkung<br />
29). In der DDR-Lotterie gab<br />
es nur fünf Gewinnzahlen,<br />
der hier zitierte „Fünfer“<br />
entspricht also dem heutigen<br />
„Sechser“ im Lotto.<br />
79 Vom Wohngebiet Gimritzer<br />
Damm (Punkthochhaus,<br />
5. Stock), am östlichen Rand<br />
von Halle-Neustadt gelegen.<br />
80 Die Magistrale ist die<br />
Hauptstraße von Halle-<br />
Neustadt. Sie durchquert das<br />
Siedlungsgebiet in Ost-West-<br />
Richtung und bindet es über<br />
eine Hochstraße an Alt-Halle<br />
an. Die städtebauliche<br />
Bedeutung der Magistrale<br />
Owurde durch die Anordnung<br />
von Elfgeschossern an der<br />
südlichen und des Stadtzentrums<br />
an der nördlichen<br />
Seite betont.<br />
81 Frau Luther ist mit<br />
ihrem Mann in eine kleinere<br />
Wohnung im selben Haus<br />
gezogen.<br />
Becker: Das Kaufcenter Neustädter Passage 77 ist auch zu, ja.<br />
Hirschfeld: Die hatten für uns sowieso nischt, nur Jugendliches.<br />
Laaß: Das ist ja egal, aber es war da!<br />
Müller: Ach, die hatten aber auch für ältere Damen noch ein paar Sachen …<br />
Hirschfeld: Ich wär’ zu dick, das haben sie glattweg gesagt!<br />
Wache: Aber auf jeden Fall steht fest, dass nur reduziert worden ist, nur<br />
reduziert!<br />
/Lotto<br />
Luther: Ich sag’ mal, das Ganze war wie ein Fünfer im Lotto. 78 Es war eine<br />
richtige Befreiung, dass wir so luftig und warm wohnen konnten – wir<br />
brauchten ja nicht mehr zu heizen! Ach, es war – irre schön!<br />
/Magistrale<br />
Saar: Der Blick von hier aus 79 nach Halle ist wunderschön. Meine Gäste<br />
stehen immer auf dem Balkon, auch abends, wenn auf der Magistrale 80<br />
die Lichter an sind, und die Scheinwerfer der Autos eine rote Kette, eine<br />
weiße Kette bilden.<br />
/Mieten<br />
Luther: Also, wir haben eine so hohe Rente, dass wir uns diese billige<br />
Wohnung da drüben nicht mehr leisten konnten (lacht). 81 Ich meine, die<br />
Mieten sind ja sowieso ein Problem gewesen, auch früher: 160 Mark,<br />
damals, dann 214 Mark – das war sicherlich keine bestandserhaltende<br />
Berechnung. Es konnte sich aber jeder leisten …<br />
Ja, und dann kam die Verdoppelung, Verdreifachung der Miete, und jetzt<br />
der Euro – mein Mann ist schweren Herzens ausgezogen, ich bin leichten<br />
Herzens ausgezogen, weil wir 30 Meter Fenster hatten und dreizehn<br />
Türen, und da brauch ich Ihnen wohl nicht zu sagen, dass ich da keinen<br />
Bock drauf hatte, das bis in mein hohes Alter zu putzen (lacht) … Zumal<br />
ja auch dann, bis auf den Jüngsten, die Kinder raus waren und verheiratet,<br />
es war auch nicht nötig, wirklich nicht. Aber es hat dann doch Tränen<br />
gegeben, fast – ist ein völlig anderes Wohngefühl!<br />
Kicinski: Silvester 1981 habe ich meinen Lebensgefährten kennengelernt,<br />
der war alleinstehend und hatte Haus und Werkstatt in Eisleben. Da haben<br />
wir uns dann geeinigt, dass ich zu ihm komme, bis er in Rente geht:<br />
Schweren Herzens habe ich meine Stelle im Betrieb aufgegeben und bin<br />
1983 nach Eisleben gezogen. Aber meine Wohnung hab’ ich behalten!<br />
Das war zum damaligen Zeitpunkt kein großes Problem: Ich habe damals<br />
33 Mark Miete bezahlt, mit allem Drum und Dran. Das konnte<br />
ich mir leisten. Und im Wendejahr 1989 sind wir dann endgültig wieder<br />
hierher gezogen.<br />
/Orientierung<br />
Schütze: Na ja, ich orientiere mich an den Kaufhallen! Ich weiß noch<br />
genau, als ich nach Neustadt gezogen bin, dass ich ein paar Mal im<br />
Kreise herum gelaufen bin und fand nicht mehr raus, weil eben alles<br />
so egal aussieht! 82 Die sind immer alle so in Vierecken gebaut, diese<br />
WOHNKOMPLEXE, und da kann man sich ganz schnell drin verirren!<br />
Taraba: Wir fanden uns zurecht, weil wir ja von Anfang an in der Stadt<br />
gewohnt haben und sie haben wachsen sehen. Und dann gab’s solche Veröffentlichungen:<br />
Es wurde ja immer von einem „Block“ 83 gesprochen, und<br />
da hatte man ein System, die zu nummerieren: 84 die 800er Blöcke hier, die<br />
900er Blöcke da, die 500er und die 600er dort. Das entsprach den neun<br />
WOHNKOMPLEXEN, und daran orientierte man sich.<br />
Thomas: Ich komme ja aus Eisleben, das ist eine gewachsene Stadt, also<br />
etwas ganz anderes. Für mich war das größte Problem, als ich herkam, die<br />
Orientierung: Es gab ja keine Straßennamen, nur Hausnummern!<br />
Kicinski: So im amerikanischen Stil.<br />
Thomas: Es gab große Tafeln, wo alles aufgelistet war, und da musstest du<br />
dich zurechtfinden – also, das war eine Sucherei, sag ich Ihnen!<br />
Immerhin bald 100.000 Menschen hier, und dann immer nach diesen<br />
Nummern … 85<br />
Taraba: Nach der Wende haben ja alle Straßen Namen bekommen, und<br />
da hab’ ich anfangs auch meine Schwierigkeiten gehabt. Aber ich hab’ mir<br />
das jetzt so eingeprägt: unser Viertel, Südpark, ist das Komponistenviertel.<br />
Dann gibt es die Blumenregion im 3. WK, die Harzstraßen im 1. WK,<br />
dort die Dichter, und hier hinten die Pferdenamen – dann weiß ich zumindest<br />
im Groben Bescheid. Wo dann die einzelne Straße genau ist, kann<br />
ich auch nicht hundertprozentig sagen. Aber ich orientiere mich jetzt an<br />
diesen Vierteln, wie man sie nach der Wende geschaffen hat. 86<br />
/PARTIZIPATION<br />
Luther: Das wollte ich noch sagen: Wir haben heutzutage viel weniger<br />
Chancen, was im Wohnbereich zu machen! Was wir hier früher verändern<br />
konnten, in unseren Diskussionen, wenn wir als Bevölkerung – als<br />
Frauen, kinderreiche Mütter oder, was weiß ich – , wenn wir sagten, das<br />
wird nicht so gemacht, sondern so, dann wurde das in dieser Stadt auch so<br />
gemacht: weil wir nämlich das Recht hatten, zu sagen, was hier gemacht<br />
wird! Heute hat ja niemand mehr das Recht, zu sagen, was hier gemacht<br />
wird, das muss ja über fünf … (unterbricht sich – zu sich selbst:) nicht auf-<br />
82 Beim Bau von Halle-Neustadt<br />
kamen nur<br />
relativ wenige verschiedene<br />
Typenserien zum<br />
Einsatz. Während man im<br />
WOHNKOMPLEX I noch<br />
Experimente wagte, kamen<br />
in den folgenden WKs vor<br />
allem der Typ P2 und die<br />
Reihe WBS 70 zur Anwendung.<br />
Zwar bemühte man<br />
sich sehr um eine sinnfällige<br />
städtebauliche Gliederung<br />
der verschiedenen Bereiche,<br />
unterlag dabei jedoch<br />
starken ökonomischen und<br />
technischen Zwängen (siehe<br />
auch Anmerkungen 105<br />
und 106).<br />
83 BLOCKNUMMERN und<br />
Anmerkung 21<br />
84 Tatsächlich folgt die<br />
Nummerierung der Wohnkomplexe<br />
der Reihenfolge<br />
ihrer Fertigstellung, während<br />
sich die Blocknummern<br />
in ihrer Hunderter-Stelle<br />
am Ziffernblatt der Uhr<br />
orientieren. Die Zehnerstelle<br />
bezog sich auf eine fiktive<br />
Koordinate: den (Uhrzeiger-)<br />
Schnittpunkt zwischen<br />
ABBILDUNG 11<br />
Magistrale (Ost-West) und<br />
S-Bahn (Nord-Süd). Je<br />
weiter die betreffende Straße<br />
im Wohnkomplex von diesem<br />
gedachten Mittelpunkt<br />
entfernt ist, desto höher die<br />
Zehnerstelle der betreffenden<br />
Blocknummer; für die<br />
Nummern der Aufgänge (=<br />
die Einerstelle) galt das gleiche<br />
Prinzip analog. So weit<br />
die Theorie – in der Praxis<br />
wurden die Blöcke einfach<br />
der Reihe nach durchnum-<br />
85 Vor allem Kinder schei-<br />
Pmeriert.<br />
terten häufig an diesem<br />
System, das ja voraussetzte,<br />
dass man Zahlen lesen<br />
konnte.<br />
86 Wer heute nachvollziehen<br />
möchte, wie sich die alte und<br />
die neue Logik überlagern,<br />
kann die dem halleneustadt-führer<br />
beiliegende<br />
Spezialkarte nutzen (Bader/<br />
Herrmann (Hg) 2006).<br />
24 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
PROLOG: WOHNEN = WIDERSTAND<br />
25
ABBILDUNG 13<br />
116 Diese Aussage lässt sich<br />
auch nach eingehender<br />
Recherche nicht bestätigen.<br />
Allerdings erwähnen mehrere<br />
Quellen, dass die fünf<br />
„Scheiben“ ( Anmerkung<br />
117) eine Antwort auf die fünf<br />
Türme sind, die die Silhouette<br />
von Alt-Halle bestimmen.<br />
117 Die „Scheiben“ sind die<br />
fünf 18-geschossigen Wohnhochhäuser,<br />
die quer zur <br />
MAGISTRALE angeordnet<br />
sind (in ABBILDUNG 13<br />
sind sie noch im Ensemble<br />
mit dem „hohen C“ zu<br />
sehen, Anmerkung 68).<br />
Sie markieren das Zentrum<br />
von Halle-Neustadt und<br />
dienten als Studenten- und<br />
Arbeiter-, als sogenannte<br />
„Ledigen“-Wohnheime.<br />
Um die gewünschte Höhe<br />
dieser Gebäude realisieren<br />
Z<br />
/Zentrum<br />
zu können (was mit der<br />
herkömmlichen Großtafelbauweise<br />
nicht möglich war),<br />
ließ Chefarchitekt Paulick<br />
das schwedische Allbeton-<br />
System importieren, das<br />
zeitgleich unter anderem<br />
im Märkischen Viertel in<br />
Berlin angewendet wurde.<br />
Auch die Punkthochhäuser<br />
wurden in diesem Verfahren<br />
errichtet, bei dem die<br />
tragenden Elemente in<br />
Ortbeton hergestellt wurden.<br />
Lediglich die Bauteile, die<br />
hinterher sichtbar blieben,<br />
wurden anschließend als<br />
Fertigteile montiert (Treppen,<br />
Fassaden).<br />
118 Analog zu der sonstigen<br />
Nummerierung hatten auch<br />
sie keine Haus-, sondern<br />
BLOCKNUMMERN – allerdings<br />
bestanden diese hier<br />
nicht aus Zahlen, sondern<br />
aus Buchstaben (Scheibe A,<br />
B, C, D und, versetzt zu den<br />
anderen, E). Heute ist nur<br />
die Scheibe C genutzt, die<br />
anderen stehen leer.<br />
119 Scheibe A war 2004<br />
Schauplatz des Theaterfestivals<br />
„Hotel Neustadt“, einer<br />
Kooperation zwischen dem<br />
Thalia Theater Halle und<br />
raumlabor Berlin.<br />
Reinicke: Ja, wenn ich also Kleidung oder besondere Dinge wollte, dann<br />
musste ich schon ins Zentrum. Und Neugierde hat uns ja auch immer mal<br />
da runter getrieben, um mal zu gucken, wie’s weitergeht. Dann sind wir<br />
eben sonnabends oder sonntags mal runterspaziert, wenn wir nicht gerade<br />
zum Einkaufen waren.<br />
Schütze: Also, mir hat mal ein alter Leuna-Arbeiter erzählt, dass das Zentrum<br />
von Halle-Neustadt nach dem Wahrzeichen von Leuna gebaut ist. 116<br />
Laaß: Mir ist mal erzählt worden, die „Krone“ von Halle-Neustadt, das<br />
sind die Scheiben. 117 Das sollte die Krone von Halle-Neustadt sein, darum<br />
darf’s auch nicht weggerissen werden!<br />
Wache: Die Scheiben, die maroden!<br />
Laaß: Alles verkommen.<br />
Schütze: Ich weiß es nicht mehr, wie das aussah, das Zeichen.<br />
Laaß: Das sind die Scheiben da, 1, 2, 3, 4, 5. 118<br />
Saar: In der einen hat ja das Thalia-Theater das Hotel gemacht. 119<br />
Laaß: Gibt’s das eigentlich noch?<br />
Andere: Nein, nein …<br />
Saar: Ach, das ist nicht mehr?<br />
Laaß: Das haben sie einmal hochgezogen und nun liegt’s wieder da …<br />
Wache: Aber es sah putzig aus!<br />
Saar: Ja, das sollte ja auch putzig sein!<br />
Laaß: Sie haben das im Fernsehen, in unserem Halle-Sender, mal gezeigt.<br />
Schütze: Welches meinen Sie jetzt?<br />
Saar: Das nicht-echte Hotel!<br />
Schütze: Ach, was die da jetzt so spontan – nee, sporadisch – einrichten,<br />
mit altem Krempel?<br />
Becker: Das war das letzte Hochhaus, hier am Bahnhof, wo man in der<br />
ersten Etage diese Hotelzimmer gemacht hat.<br />
Schütze: Früher gehörte von den Hochhäusern eins Buna, eins Leuna.<br />
Laaß: Das waren die Wohnheime.<br />
Schütze: … Studentenwohnheime …<br />
Becker: … Arbeiterwohnheime …<br />
Schütze: Also, gegenüber von meinem Block, der da abgerissen ist, 120<br />
da ist die erste Scheibe, das ist die Scheibe E. Da waren Ausländer drin,<br />
Vietnamesen und Polen und alles Mögliche, die in Buna oder Leuna arbeiteten.<br />
121<br />
Becker: Und dieses hier, in der Mitte, ist das einzige, was einigermaßen<br />
in Schuss ist. Wo das Finanzamt drin war, und die Deutsche Bank. Jetzt<br />
ist das ein Bürohaus, und ganz oben ist ein sehr hübsches Café mit angeschlossenem<br />
Reisebüro, in der 18. Etage. Da hat man einen schönen<br />
Rundblick über ganz Halle-Neustadt.<br />
Laaß: Das ist das einzige, was wirklich in Ordnung ist!<br />
Becker: Ja, das ist das einzige, was einigermaßen ansprechend ist von der<br />
Instandhaltung. Die anderen sehen alle furchtbar aus!<br />
120 Hallorenstraße 4, AB-<br />
RISS und Anmerkung 5<br />
121 In der DDR gab es, vergleichbar<br />
zu den in der BRD<br />
beschäftigten „Gastarbeitern“,<br />
sogenannte „Vertragsarbeitnehmer“<br />
aus den<br />
sozialistischen Bruderländern.<br />
Diese wurden jedoch,<br />
anders als im Westen, in der<br />
Regel immer nur befristet<br />
dienstverpflichtet und<br />
durften ihre Familien nicht<br />
mitbringen. Sie wohnten daher<br />
auch nicht in herkömmlichen<br />
Wohnungen, sondern<br />
in Wohnheimen.<br />
30 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
PROLOG: WOHNEN = WIDERSTAND<br />
31
Zweierlei Expertenwissen<br />
Der gelebte <strong>Raum</strong> von Halle-Neustadt ist, wie sich zeigt, an vielen<br />
Stellen mit seiner äußeren Form nicht kongruent: Die lineare Ordnung<br />
der selbstähnlichen Typengebäude und ihrer scheinbar immer gleichen<br />
Zwischenräume, die für den Blick des Fremden zunächst kaum etwas<br />
Spezifisches besitzen, überlagern sich in den Aussagen der Bewohner mit<br />
Fragmenten mythischer Erzählungen, intellektuellen Wissens und persönlicher<br />
Erinnerungen, die sich sowohl an bestehenden als auch an vergangenen<br />
Räumen und Objekten festmachen.<br />
Wir begegnen in den Aussagen dieses Prologs verschiedenen, mehr<br />
oder weniger bewussten Strategien und Taktiken, die nicht mehr so glanzvolle<br />
Gegenwart – die eigene ebenso wie die städtische – ein wenig aufzupolieren:<br />
Frau Reinicke, die jahrelang am „Aufbau der Stadt“ mitgewirkt<br />
hat, ist immer noch stolz auf die „Errungenschaften“, die sie mit<br />
verantwortet ( GRÜN, PLATTE), Frau Luther besitzt ein spezifisches<br />
Wissen und detaillierte Kenntnisse über Konzeption und Planung der<br />
Stadt ( WOHNKOMPLEX, KUNST), und für Frau Taraba zählten<br />
(und zählen) vor allem die persönlichen Kontakte und die vielfältigen<br />
Handlungsmöglichkeiten ( INITIATIVE, VERSORGUNG), die<br />
ihre Umgebung zu bieten hat. Frau Laaß und Frau Schütze, die von den<br />
gegenwärtigen Entwicklungen eher enttäuscht sind, zehren von ihren Erinnerungen<br />
an bessere Zeiten ( GRÜN, HAUSGEMEINSCHAFT);<br />
Frau Wache hingegen ist ein sehr offener Mensch und ihrer Umgebung<br />
grundsätzlich positiv zugewandt ( ABRISS, ATMOSPHÄRE). Frau<br />
Kicinski schließlich fühlt sich ohne jede Sentimentalität einigen besonderen<br />
Orten der Stadt besonders verbunden, weil sie schlicht zu<br />
ihrer eigenen Biografie gehören ( HEIMAT, KULTUR), und sogar<br />
Frau Saar, die ursprünglich wirklich nicht nach Halle-Neustadt wollte<br />
( GEWÖHNUNG), hat schließlich nicht nur ihren beruflichen, sondern<br />
auch ihren Lebensmittelpunkt hierher verlegt.<br />
Ihre Erläuterungen zeigen uns insgesamt eine Stadt, die wir als Fremde<br />
nicht sehen, deren Geist wir aber spüren können, wenn wir uns mit<br />
diesem Wissen in ihr bewegen. Die Stadt, könnte man sagen, ist nicht<br />
die Summe ihrer Räume, sondern das Produkt der Sichtweisen, die sie<br />
ermöglicht – und jeder Bewohner ist auf spezielle Weise ein „Experte“<br />
seines Stadtraumes, auch wenn sein (oder ihr) Wissen der Einschätzung<br />
der politischen oder der Fachöffentlichkeit nicht entspricht.<br />
Vieles jedoch von dem, was den Charakter von Halle-Neustadt für<br />
seine Bewohner geprägt hat, liegt in der Vergangenheit – vielleicht sogar<br />
seine Zukunft. Letztere kann nur dann gesichert und sinnvoll gestaltet<br />
werden, wenn es gelingt, alle Bewohner, gegenwärtige und künftige, zu<br />
engagieren. Wie das gehen kann und auf welchen Grundlagen ein solches<br />
Engagement überhaupt zu erwarten ist, soll nun erörtert werden.<br />
1 So geschehen beim Streit<br />
um den Bahnhofsumbau<br />
in Stuttgart (S 21), der den<br />
öffentlichkeitswirksamen<br />
Widerstand zum republikweit<br />
rezipierten Medienereignis<br />
werden ließ (2010/11).<br />
<strong>Gebaute</strong> <strong>Welt</strong>:<br />
„The very stuff itself“<br />
Der diesem Buch vorangestellte Prolog eröffnet<br />
verschiedene Perspektiven auf den städtischen<br />
<strong>Raum</strong>: Subjektive Erfahrungen auf der einen und<br />
objektive Daten auf der anderen Seite repräsentieren<br />
nicht nur verschiedene Formen des „Expertenwissens“,<br />
sondern zeichnen auch ganz unterschiedliche<br />
Bilder desselben Ortes. Die <strong>Gebaute</strong><br />
<strong>Welt</strong>, so scheint es, ist nicht einfach gegeben, sondern<br />
muss vor jeder geplanten transformation<br />
zunächst gedeutet werden.<br />
Für Architekten und Urbanisten ist das eine Herausforderung. Denn<br />
nicht nur in Halle-Neustadt, wo der Wertewandel politisch und der Bevölkerungsrückgang<br />
ökonomisch bedingt sind, offenbart sich eine erstaunliche<br />
Diskrepanz zwischen dem, was den Planern machbar und<br />
dem, was den Bewohnern wünschbar erscheint: Die offensichtlichen Differenzen,<br />
die im Extremfall dazu führen können, dass der „Widerstand<br />
des Wohnens“ städtische Bauvorhaben blockiert, 1 müssen grundsätzlich<br />
verhandelt werden. Doch welche Sprache, welches Vokabular soll diesen<br />
Verhandlungen zugrunde liegen? Welches Wissen kann bei der jeweils<br />
anderen Seite vorausgesetzt werden, welches nicht?<br />
Einen in dieser Hinsicht vielversprechenden Ansatz verfolgt die Phänomenologie,<br />
die mit grundsätzlichen strukturellen Überlegungen zum<br />
(leiblichen) Wohnen im <strong>Raum</strong> ebenso aufwarten kann wie mit detaillierten<br />
Beschreibungen und genauen Beobachtungen einzelner „Räumlichkeiten“.<br />
Mit dem Begriff des gelebten <strong>Raum</strong>es erfasst sie bereits seit langer<br />
Zeit einen Modus des Zur-<strong>Welt</strong>-Seins, der die physische Realität einer<br />
konkreten Umgebung in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zur leiblichen<br />
Erfahrung der dort anwesenden Personen untersucht – und damit<br />
einen wichtigen Schlüssel für das hier geforderte erweiterte architektonische<br />
<strong>Raum</strong>verständnis bedeuten könnte.<br />
Das Experiment, als Fremde nach Halle-Neustadt zu reisen und sich<br />
die Stadt aus der Sicht der Bewohner und Bewohnerinnen erklären zu lassen,<br />
liefert aus der Perspektive der Phänomenologie einige grundsätzliche<br />
(Teil-)Antworten auf die Frage, was „Wohnen“ eigentlich ist und wie man<br />
das „macht“ – und auch, was dies für den Bau, den Umbau oder auch<br />
den Abbau bewohnter Siedlungen bedeuten kann. So zeigt der Prolog<br />
mit seinen sehr persönlichen Äußerungen und den darin verwendeten<br />
Spezialbegriffen ( LEXIKON, S. 11 ff.), wie wichtig es im Interesse<br />
eines transparenten, zielführenden Diskurses ist, zunächst die eigene<br />
Perspektive zu kennzeichnen und den persönlichen Standpunkt zu markieren.<br />
Da dieses Buch aus der Perspektive der Architekturpraxis entstanden<br />
ist, dient der erste Abschnitt dieses Kapitels dazu, den (eigenen) Blick<br />
auf den architektonischen <strong>Raum</strong> der gebauten <strong>Welt</strong> zu beschreiben. Im<br />
32 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
GEBAUTE WELT: „THE VERY STUFF ITSELF“<br />
33
we are constantly placed in situations of complexity and contradiction.<br />
We are required to reconcile problems often beyond our scope. We find<br />
ourselves simultaneously offering visions and comprehending the implications<br />
of technical and pragmatical conditions. … Above all, we are<br />
detached. We are detached from the very act of making. We indicate and<br />
give instruction. We adopt graphic methods to communicate our ideas.<br />
These ideas themselves are given first form not in reality but in graphic<br />
representation. Drawing is our art of making, but it is often unclear what<br />
it is we are making by our drawing.“<br />
17<br />
Gernot Böhme, als Philosoph jahrelang Lehrer an einer Architekturfakultät,<br />
empfindet hier wenig Mitleid und geht mit den Architekten<br />
noch härter ins Gericht. Ihm geht es nicht nur um die Diskrepanz zwischen<br />
gebauten und gezeichneten Räumen, die Chipperfield bemängelt,<br />
sondern er vermisst vor allem die Korrespondenz zwischen gezeichneten<br />
und gelebten Räumen: 18 „Obgleich die Architektur natürlich seit je<br />
Räume für die leibliche Anwesenheit von Menschen geschaffen hat, so<br />
war sie doch fixiert auf <strong>Raum</strong> als Medium von Darstellungen. Das ist<br />
eine déformation professionelle: Architekten zeichnen, sie bauen Modelle,<br />
dann lassen sie zwar noch in der Wirklichkeit ihre Bauten ausführen,<br />
aber am Ende dieses Prozesses dominiert wiederum die Fotografie. Die<br />
Arbeit des Architekten vollzieht sich also überwiegend im <strong>Raum</strong> als Medium<br />
von Darstellungen. Erwägungen über Größenverhältnisse, Formen,<br />
Volumina beherrschen ihr Denken. Der <strong>Raum</strong>, in den sie ihre Entwürfe<br />
einzeichnen, ist der euklidische <strong>Raum</strong>, metrisch, homogen, nahezu isotrop.“<br />
19<br />
Umfasst also „unsere Kunst des Handelns“ („our art of making“, Chipperfield,<br />
s. o.) nur die Herstellung einiger weiterer Variationen der „unbewohnbaren“<br />
<strong>Welt</strong>, gegen die die Phänomenologie (siehe unten, S. 55<br />
ff.) seit jeher ins Feld zieht? Inwieweit wäre die hier unter dem Stichpunkt<br />
der Medialisierung beschriebene „Entfremdung“ zwischen dem <strong>Raum</strong> der<br />
gebauten <strong>Welt</strong> und seiner medialen Darstellung dafür verantwortlich, und<br />
welche Möglichkeiten gäbe es, diese Differenz zu verringern? Bevor diese<br />
Frage im folgenden Kapitel in den Fokus der Untersuchung rückt, ist noch<br />
ein letzter Punkt zu betrachten, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung<br />
ist und mit den beiden anderen, bereits beschriebenen Aspekten<br />
korrespondiert.<br />
Quantifizierung<br />
Ein letzter, wichtiger Abstraktionsschritt, dessen Vollzug den synchronisierten,<br />
medial dargestellten <strong>Raum</strong> der Planung noch ein Stück<br />
weiter von seiner korrespondierenden Erfahrungswirklichkeit entfernt,<br />
ist die Quantifizierung, die den Diskurs über <strong>Raum</strong> in Architektur und<br />
Urbanismus im eigentlichen Wortsinn „maß-geblich“ beeinflusst. Mit<br />
den herkömmlichen Repräsentationsmedien des Räumlichen wird der<br />
<strong>Raum</strong> nicht nur darstellbar (wie schon in der Zentralperspektive der Renaissance),<br />
sondern auch messbar, und in unserer von Normen, Gesetzen<br />
17 Chipperfield 1994, S. 31<br />
18 In Böhmes Terminologie<br />
ist gelebter <strong>Raum</strong> als „<strong>Raum</strong><br />
leiblicher Anwesenheit“<br />
charakterisiert, während er<br />
den hier vorgestellten <strong>Raum</strong><br />
der Planung als „<strong>Raum</strong> als<br />
Medium von Darstellung“<br />
bezeichnet (Böhme 2004).<br />
19 Böhme 2006, S. 16 (Hervorhebung<br />
im Original)<br />
20 Zum Beispiel entscheidet<br />
die aktuelle Fördermittel-Vergabepraxis<br />
nicht<br />
selten über funktionale<br />
Projektbestandteile, während<br />
Richtlinien zur Kreditvergabe<br />
an bestimmte Standards der<br />
Einergieeinsparung gekoppelt<br />
sind.<br />
und Richtlinien durchzogenen <strong>Welt</strong> haben die vermeintlich „objektiven“<br />
Faktoren, die auf diese Weise identifiziert werden können, einiges Gewicht:<br />
Flächenbedarfe und Baukosten, Bauzeiten und Honorarsummen,<br />
aber auch ganz einfach Längen und Breiten, Höhen und Tiefen sind bezifferbare<br />
Größen, die ganz entscheidend zur Struktur des Planungsraumes<br />
beitragen. Sind diese (und viele andere) Werte „objektiv“ ermittelt,<br />
lassen sich in der Folge alle möglichen Arten von Quotienten berechnen,<br />
die das (an diesem Ort einzigartige) Vorhaben mit anderen, ähnlich gearteten<br />
Projekten vergleichbar machen sollen: Die Macht der Zahlen, ob<br />
sie über Bebaubarkeit oder Energieverbrauch, über Quadratmeterpreise<br />
oder Erschließungskosten, über Förderfähigkeit oder Finanzierbarkeit informieren,<br />
stellt die Frage nach der räumlichen Qualität, der sinnlichen<br />
Erfahrbarkeit oder auch der örtlichen Angemessenheit vielfach in den<br />
Schatten. So werden im Rahmen gängiger Planungsprozesse häufig nicht<br />
nur formale, sondern auch inhaltliche Kriterien quantitativ beurteilt, 20<br />
während die angestrebte Vergleichbarkeit aufgrund der jeweils spezifischen<br />
Situation fraglich bleibt.<br />
Dieser Vorrang des Quantitativen gegenüber dem Qualitativen beeinflusst<br />
die Gestaltung und die Entwicklung unserer Lebensumgebungen<br />
heute in einem solchen Ausmaß, dass selbst ambitioniert „gestaltete“ Orte<br />
zuweilen schlicht „unbewohnbar“ bleiben. Um den genaueren Nachweis<br />
dieser Problematik – und damit um eine Bestandsaufnahme der Krise,<br />
in der sich die Praxis der Planung befindet – wird es im folgenden Abschnitt<br />
gehen.<br />
<strong>Gebaute</strong> <strong>Welt</strong>:<br />
die Krise der Stadtentwicklung<br />
Städtischer <strong>Raum</strong> ist heute wichtige Ressource einer Gesellschaft, die<br />
sich, zumindest in unserem mitteleuropäischen Kulturkreis, nicht mehr<br />
vorrangig durch ihre Neubautätigkeit ausdrückt. Jede Manipulation des<br />
baulichen Bestandes, jeder Umbau und jede Transformation (städtischer)<br />
Umgebungen greift in einen schon bestehenden Kontext ein, dessen Komplexität<br />
häufig unterschätzt wird. Verlässliche Prognosen über die zukünftige<br />
Entwicklung der <strong>Welt</strong> lassen sich heute, vor dem Hintergrund<br />
schwindender Rohstoffreserven und instabiler Ökonomien, ohnehin nicht<br />
mehr erstellen: Die Zukunft der Stadt, so viel scheint sicher, ist relativ<br />
ungewiss.<br />
Die Verstädterung, die in anderen Gegenden der Erde bis heute wachsende<br />
Metropolregionen und sich rapide ändernde Lebensumstände erzeugt,<br />
kommt im Bereich unserer suburbanisierten „Zwischenstädte“<br />
(Sieverts 1997) zum Erliegen. Die Räume, die hier generiert werden, sind<br />
keine genuin städtischen mehr: Ihnen fehlen Prägnanz und Sichtbarkeit<br />
(Hauser/Kamleithner 2006), Identität und Charakter. Gleichzeitig wandelt<br />
sich die Landschaft, die lange Zeit als Gegensatz der Stadt galt, in<br />
eine vom Menschen überformte Kulturlandschaft, deren Strukturen sich<br />
42 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
GEBAUTE WELT: „THE VERY STUFF ITSELF“<br />
43
der Strukturen gelebter Räumlichkeit erfolgen, die es ermöglicht, einige<br />
der Differenzen zwischen dem gelebten <strong>Raum</strong> und der gebauten <strong>Welt</strong><br />
genauer zu vermessen und zu kartieren.<br />
1 Der Fokus der Untersuchung<br />
liegt vor allem auf<br />
solchen Beiträgen, die aus<br />
architektonischer Sicht<br />
anschlussfähig sein könnten.<br />
Diejenigen, die hier bereits<br />
selbst eine Abgrenzung<br />
vornehmen, finden daher<br />
weniger Beachtung als solche,<br />
die dies nicht tun.<br />
räume bewohnen:<br />
phänomenologische grundlagen<br />
Nachdem Perspektive und Problemstellung dieser<br />
Untersuchung beschrieben worden sind, geht<br />
es nun „zu den Sachen selbst“: In diesem Kapitel<br />
wird die andere, die phänomenologische Perspektive<br />
auf den <strong>Raum</strong> erschlossen, und es wird gezeigt,<br />
Inwiefern darin auch eine implizite Kritik<br />
an architektonischen Räumen zu finden ist.<br />
„<strong>Gelebter</strong> <strong>Raum</strong>“ ist weder ein scharf umrissener Begriff noch eine<br />
homogene Theorie des Räumlichen. Wenn in diesem Kapitel einige Sichtweisen,<br />
Facetten und Strukturen gelebter Räumlichkeit zusammengetragen<br />
werden, so geschieht das entlang eines Pfades, der von dem hier<br />
verfolgten Erkenntnisinteresse erzeugt wird und das Themenfeld damit<br />
auf spezifische Weise erschließt. Die Perspektive nicht nur einer fremden<br />
Disziplin – der Architektur – sondern auch noch ihrer Praxis ist dabei naturgemäß<br />
eine andere als die, die den hier wiedergegebenen Denkansätzen<br />
ursprünglich zugrunde lag. 1<br />
Daraus ergibt sich jedoch eine zentrale Problematik dieses Ansatzes,<br />
denn die phänomenologische <strong>Raum</strong>beschreibung erfasst zunächst überhaupt<br />
nicht die konkrete, spezifische Umwelt, die wir als Architekten<br />
und Urbanisten handelnd modifizieren, sondern geht existenziellen, zum<br />
Teil transzendentalen Fragestellungen nach. Die Strukturen, die sie erörtert,<br />
sind immer auf die persönliche Perspektive der „den <strong>Raum</strong> lebenden“<br />
Menschen bezogen – ein Umstand, der es für viele bis heute fraglich<br />
macht, inwieweit „gelebter <strong>Raum</strong>“ überhaupt in generalisierbarer Weise<br />
beschreibbar und auf gesellschaftlicher Ebene relevant ist.<br />
<strong>Gelebter</strong> <strong>Raum</strong> ist vom euklidischen Modell des konkreten <strong>Raum</strong>es,<br />
das heute immer noch den meisten <strong>Raum</strong>repräsentationen zugrunde<br />
liegt, grundverschieden. Vor allem ist er nicht <strong>Raum</strong> „an sich“, der immer<br />
schon und unabhängig vom Menschen da ist, sondern <strong>Raum</strong> „für<br />
jemanden“, der sich demjenigen, der ihn erfährt, auf spezifische Weise<br />
erschließt. Seine Beschreibung ist daher ungemein kompliziert. Man<br />
kann den gelebten <strong>Raum</strong> nicht ausmessen, nicht abzeichnen und nicht<br />
erklären, denn das würde bedeuten, sich die Perspektive eines anderen zu<br />
eigen zu machen, mehr noch: Es wäre der Versuch, sich die Perspektive<br />
aller anderen zu eigen zu machen und diese dann für alle nachvollziehbar<br />
zu machen.<br />
Nicht genug damit, dass dies ein babylonisches Unterfangen und das<br />
Gegenteil jeder Re-Präsentation wäre: Hinzu kommt, dass „gelebter“<br />
<strong>Raum</strong> auch nicht statisch ist, sondern seine Zuständlichkeit im Gegenteil<br />
stetig ändert. Denn sein „Gelebt-Werden“ schließt notwendig einen<br />
Verlauf mit ein – sei es einfach den der chronologischen Zeitabfolge,<br />
wie wir ihn aus der zählbaren Zeit der Chronografie kennen, oder auch<br />
den der „gelebten“ Zeit, die als Dauer erfahren wird. Beide Aspekte, die<br />
52 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
RÄUME BEWOHNEN: PHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLAGEN<br />
53
von Grenzen, die nicht eingrenzen, sondern Verbindungen zu einem Außen<br />
ermöglichen und eine Bestimmung des „Wesens“ zulassen, das das<br />
Wohnen im jeweils eingeräumten, spezifischen <strong>Raum</strong> kennzeichnet<br />
(Heidegger 1952/1978, S. 149). Das Einräumen der Orte, bei Heidegger<br />
durch Um- und Wegräumen der Dinge ergänzt, ist ein performativer Akt,<br />
der das Wohnen wesentlich in einem Handlungszusammenhang gründet.<br />
Heidegger denkt dabei, wie Ullrich Schwarz in einem Aufsatz mit<br />
dem programmatischen Titel „Dis-location“ aufzeigt (Schwarz 2000),<br />
das Wohnen nicht statisch oder an territorial definierte Orte gebunden,<br />
sondern beschreibt es als Tätigkeit, die die „Not des Wohnens“ lindern<br />
oder gar überwinden soll. 38 Sowohl im Aspekt des Handelns, der bereits<br />
in „Sein und Zeit“ im Zusammenhang der Zeuganalyse aufscheint, 39<br />
als auch im „Durchstehen“ und „Durchgehen“ von Räumen (Heidegger<br />
1952/1978, S. 152) besitzt <strong>Raum</strong> einen performativen Charakter. Orte<br />
sind bei Heidegger Stellen im <strong>Raum</strong>, die durch das bauliche und das denkende<br />
„Einräumen“ erst „Gegenden“ eröffnen, in denen Wohnen möglich<br />
ist. 40 Das Einräumen der Orte jedoch, dieser Handlungszusammenhang,<br />
der im Wohnen begründet liegt, ist als solcher nicht bewusst, nicht „ausdrücklich<br />
im Blick“: Erst der eingeräumte <strong>Raum</strong>, der verstattete Ort,<br />
werden dem „Erkennen“ überhaupt zugänglich.<br />
Damit folgt Heidegger prinzipiell Husserls Ansatz, den <strong>Raum</strong> der<br />
Erkenntnis in einem vor-bewussten, alltäglichen (Handlungs-)<strong>Raum</strong> zu<br />
gründen. Aus dem konkreten Handlungszusammenhang der Lebenswelt<br />
heraus gelangt man, so Heidegger, zu einem abstrakten <strong>Raum</strong>begriff, indem<br />
die „Umsicht“ des Einräumens allmählich und stufenweise ersetzt<br />
wird durch die „Hinsicht“ des Bewusstseins, das seine eigene Verankerung<br />
in der Räumlichkeit des Daseins zu diesem Zweck ausblendet. 41<br />
Die <strong>Welt</strong> verliere damit, so Heidegger, ihren „Bewandtnischarakter“, die<br />
Umwelt werde zur Naturwelt, die „umsichtig orientierte Platzganzheit<br />
des zuhandenen Zeugs“ sinke herab zur reinen „Stellenmannigfaltigkeit“<br />
(Heidegger 1927/2006 , S. 112). Diese Stellenmannigfaltigkeit entspricht<br />
dem leeren Spatium von Descartes’ „unbewohnbarem“ <strong>Raum</strong>.<br />
Wenn man es als Husserls Verdienst bezeichnen kann, die alltägliche<br />
Lebenswelt, die wir alle eigentlich immer schon haben, der Wissenschaft als<br />
Fundament aller Abstraktion des <strong>Raum</strong>es (zurück)gegeben zu haben, dann<br />
ist sicherlich Heideggers wichtigster Beitrag in diesem Zusammenhang die<br />
Beschreibung dieser <strong>Welt</strong> als vor-bewusster Handlungszusammenhang.<br />
Doch auch Heidegger, dessen großes Thema das transzendentale Sein<br />
war, kam nie wirklich im architektonischen, konkreten <strong>Raum</strong> an: Seine<br />
Ontologie bleibt aufgespannt zwischen einem denkenden Bewusstsein<br />
und dem real vorhandenen Ding, an das er seinen <strong>Raum</strong>begriff koppelt. 42<br />
Heideggers Seinsanalyse von 1927 wird jedoch in den 30er Jahren des 20.<br />
Jahrhunderts extrem populär. Seine ontologische Auslegung von Husserls<br />
Ansatz findet vor allem bei den französischen Existenzialisten eine große<br />
Resonanz, zum Beispiel in Sartres „Das Sein und das Nichts“ (Original<br />
1943). Allerdings gerät die wirkliche <strong>Welt</strong> vor dem Hintergrund des<br />
38 Während Heidegger die<br />
„Not des Wohnens“ 1952 sehr<br />
grundsätzlich auffasste –<br />
im Sinne einer historisch<br />
bedingten Unfähigkeit des<br />
Menschen, Orte zu verstatten<br />
und das „Geviert“ zu versammeln<br />
– fassten die anwesenden<br />
Architekten seine<br />
Ausführungen als Rede zur<br />
aktuellen, kriegsbedingten<br />
Wohnungsnot auf. Dies blieb<br />
keineswegs das einzige<br />
Missverständnis innerhalb<br />
dieses wohl einmaligen<br />
Kommunikationsversuchs:<br />
Die Architekten gingen hier<br />
anscheinend in der Mehrheit<br />
einfach davon aus, dass<br />
Heideggers <strong>Raum</strong>begriff der<br />
ihre sei und dass seine Beispiele<br />
(die berühmte Brücke,<br />
das Schwarzwaldhaus) ganz<br />
wörtlich zu nehmen wären.<br />
39 Hier prägt Heidegger für<br />
alle Dinge den Begriff des<br />
„Zuhandenen“ (§ 22: Die<br />
Räumlichkeit des innerweltlich<br />
Zuhandenen, S. 102 f.),<br />
der anzeigt, dass die Dinge<br />
eben im oben genannten<br />
Verweisungs- oder Handlungszusammenhang<br />
zu<br />
sehen sind.<br />
40 An diesen performativen<br />
Aspekt bei Heidegger<br />
schließen, wie Schwarz<br />
anmerkt, heute vor allem<br />
die Architekturtheoretiker<br />
Karsten Harries und Ignasi<br />
de Solà-Morales an.<br />
41 Heidegger 1927/2006,<br />
S. 112. Heidegger verweist an<br />
dieser Stelle auf die Arbeit<br />
Oskar Beckers (Becker<br />
1923/1973), der die Fundierung<br />
des mathematischen<br />
<strong>Raum</strong>es in dem der phänomenologischen<br />
Räumlichkeit<br />
nachzuweisen sucht.<br />
42 Erst in seinem späten Text<br />
„Die Kunst und der <strong>Raum</strong>“,<br />
in dem er die Arbeit des<br />
Bildhauers Eduardo Chillida<br />
zum Ausgangspunkt eines<br />
Nachdenkens über den<br />
<strong>Raum</strong> in der Plastik macht,<br />
versucht Heidegger sich an<br />
einem konkreten <strong>Raum</strong>begriff<br />
(Heidegger 1969/2007).<br />
43 Der politisch kontaminierte<br />
Begriff wurde nach<br />
dem Zweiten <strong>Welt</strong>krieg für<br />
lange Zeit aus dem gesellschaftswissenschaftlichen<br />
Vokabular getilgt – bis zu<br />
Michel Foucaults „Anderen<br />
Räumen“, den „Espaces<br />
autres“ (Foucault 1967), in<br />
denen er das „Zeitalter des<br />
<strong>Raum</strong>es“ ausrief und damit<br />
den spatial turn einleitete.<br />
44 Merleau-Ponty hatte nicht<br />
nur Zugang zum Husserl-Archiv<br />
in Löwen, sondern<br />
bezieht sich auch ausführlich<br />
auf klinische Experimente<br />
der Berliner Schule der<br />
Gestaltpsychologie.<br />
45 Merleau-Ponty 1945/1966,<br />
S. 170<br />
46 ebd.<br />
Zweiten <strong>Welt</strong>kriegs nun vollends zu einer problematischen, von außen<br />
vorgegebenen und kaum zu ertragenden Grundbedingung menschlicher<br />
Existenz, deren Räumlichkeit ganz im Sinne des Heideggerschen „Geworfenseins“<br />
als schicksalhafte, von geopolitischem Expansionsdenken<br />
manipulierte Territorialität erfahren wird.<br />
Während sich damit der Abschied des Räumlichen aus dem gesellschaftswissenschaftlichen<br />
Diskurs bereits andeutet, 43 bemüht sich der<br />
französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) in Absetzung<br />
vom Existenzialismus und im Anschluss an die im vorigen Kapitel<br />
beschriebene interdisziplinäre Debatte 44 um eine integrative Darstellung<br />
des Phänomens der „anthropologischen Räumlichkeit“, wie er sie nennt.<br />
In seiner 1945 im Original erschienenen „Phänomenologie der Wahrnehmung“<br />
entwickelt er Husserls Ansatz des Erfahrungshorizontes weiter, indem<br />
er die leibliche Existenz des Menschen räumlich denkt – und diesen<br />
damit in einen ganz konkreten Bezug zur physischen <strong>Welt</strong> setzt.<br />
Merleau-Ponty entwickelte die Konzeption einer <strong>Welt</strong>, in der mir nicht<br />
mein intentional gerichtetes Bewusstsein (Husserl) oder mein alltäglicher<br />
Handlungszusammenhang mit den räumlich vorhandenen Dingen<br />
(Heidegger) eine sinnvolle und erfolgreiche Performanz im <strong>Raum</strong> ermöglichen,<br />
sondern die mir durch meine eigene, leibliche Existenz überhaupt<br />
erst erschlossen wird: „Insofern ich einen Leib habe und durch ihn hindurch<br />
in der <strong>Welt</strong> handle, sind <strong>Raum</strong> und Zeit für mich nicht Summen<br />
aneinander gereihter Punkte, noch auch übrigens eine Unendlichkeit von<br />
Beziehungen, deren Synthese mein Bewusstsein vollzöge, meinen Leib in<br />
sie einbeziehend; ich bin nicht im <strong>Raum</strong> und in der Zeit, ich denke nicht<br />
<strong>Raum</strong> und Zeit; ich bin vielmehr zum <strong>Raum</strong> und zur Zeit, mein Leib<br />
heftet sich an ihnen an und umfängt sie.“ 45<br />
Merleau-Pontys Konzeption dieses „Umfangens“ von <strong>Raum</strong> und Zeit<br />
erinnert sicher nicht zufällig an Minkowskis „Weite des Lebens“: „Die<br />
Weite des Umfangens ist das Maß der Weite meiner Existenz; aber nie<br />
vermag sie eine totale zu sein: der <strong>Raum</strong> und die Zeit, denen ich einwohne,<br />
sind stets umgeben von unbestimmten Horizonten, die andere<br />
Gesichtspunkte offen lassen. Die Synthese der Zeit wie des <strong>Raum</strong>es ist<br />
immer aufs Neue zu beginnen.“ 46 <strong>Raum</strong> entsteht also nicht einfach von<br />
selbst, sondern ist das Ergebnis einer unausgesetzten Tätigkeit, die nie endet<br />
– eher Prozess als Zustand. Zudem scheint hier, hinter dem Horizont<br />
des jeweils eigenen, auf diese Weise hergestellten <strong>Raum</strong>es, eine Vielzahl<br />
von anderen Räumen mit ganz anderen Horizonten auf: Räume von anderen,<br />
möglicherweise, oder Räume, die ich selbst erfahren kann, wenn<br />
ich meinen Stand- oder, wie Merleau-Ponty es nennt, „Gesichtspunkt“<br />
ändere.<br />
Merleau-Ponty, der die „<strong>Raum</strong>blindheit“ von „Empiristen“, die nur subjektive<br />
Erlebnisdaten gelten lassen, und „Intellektualisten“, die lediglich<br />
abstrakte Konstruktionen als den wahren <strong>Raum</strong> propagieren, gleichermaßen<br />
kritisiert, sucht mit seiner Auffassung dessen, was er „<strong>Raum</strong>erfahrung“<br />
(Merleau-Ponty 1945/1966, S. 285) nennt, einen alternativen Weg, eine<br />
64 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
RÄUME BEWOHNEN: PHÄNOMENOLOGISCHE GRUNDLAGEN<br />
65
phänomenologischer Betrachtung nun in denjenigen Aspekten, in denen<br />
sich das Verstehen solchen Verhaltens differenziert nach Maßgabe verschiedener<br />
Ausprägungen seines Umweltbezugs. Es sind deren drei aufweisbar:<br />
als gestimmter Leib ist der Leib Träger von Ausdrucksgehalten,<br />
als handelnder Leib ist er Ausgangspunkt zielgerichteter Tätigkeit, als<br />
Einheit der Sinne ist er Zentrum der Wahrnehmung.“ 2<br />
Ströker ordnet „jeder dieser drei Seinsweisen des Leibsubjekts“ eine<br />
„eigene <strong>Raum</strong>struktur“ zu: dem gestimmten Leib den „gestimmten<br />
<strong>Raum</strong>“, dem (un- oder vorbewusst) handelnden Leib den „Aktionsraum“<br />
und dem Leib als Einheit der Sinne den „Anschauungsraum“. Ein Großteil<br />
ihrer Studie dient dazu, die „je nach Leibweise anders strukturierte<br />
<strong>Raum</strong>habe des Subjekts als Leibsubjekt aufzuweisen und zur Darstellung<br />
zu bringen“ (Ströker 1965, S. 20 f.). Die so geschaffene Struktur<br />
erlaubt es, die Vielzahl von Fragmenten, die in der wissenschaftlichen<br />
<strong>Welt</strong> zum Phänomen des „gelebten <strong>Raum</strong>es“ kursierten, systematisch zu<br />
ordnen und zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei ist das Ganze<br />
mehr als die Summe seiner Teile: „Wenn die Untersuchung … innerhalb<br />
des gelebten <strong>Raum</strong>es den gestimmten <strong>Raum</strong> vom Aktionsraum und diesen<br />
wiederum vom Anschauungsraum abhebt, um getrennt aufzuweisen,<br />
was Charaktere des einen, Eigenschaften des anderen sind, so bleibt sie<br />
sich bewußt, damit Scheidungen und Sonderungen vorgenommen zu haben,<br />
die sich nur dann bewähren, wenn die Betrachtung, je schärfer sie<br />
scheidet, die Einheit und Zusammengehörigkeit des Gesonderten auch<br />
umso deutlicher sichtbar und verständlich zu machen vermag.“ 3<br />
Strökers Untersuchung ist bis heute die umfassendste, systematischste<br />
und zugleich detaillierteste Darstellung des gelebten <strong>Raum</strong>es und bildet,<br />
trotz ihrer zum Teil schwer verständlichen Sprache, immer noch ein wichtiges<br />
Bezugssystem für alle, die sich mit dem Begriff auseinandersetzen. 4<br />
In diesem Kapitel kommt außerdem Lenelis Kruse zu Wort, die 1974 in<br />
ihrem Buch „Räumliche Umwelt“ Strökers Modell daraufhin überprüft,<br />
ob der gelebte <strong>Raum</strong> als Umweltbegriff für die ökologische Psychologie<br />
infrage kommt. Während sie die Grundstruktur von Strökers Modell<br />
dabei weitgehend übernimmt, verändert sie zwei ihrer Leitbegriffe: Den<br />
„Aktionsraum“ bezeichnet sie als „Handlungsraum“ und den „Anschauungsraum“<br />
als „Wahrnehmungsraum“, was im nun folgenden Text so übernommen<br />
wird.<br />
Gestimmter <strong>Raum</strong><br />
Der gestimmte <strong>Raum</strong> ist derjenige Bereich räumlicher Erfahrung, „der<br />
auf eine so oder so befindliche Leiblichkeit bezogen ist“ (Waldenfels 2009,<br />
S. 196). Von allen Bereichen gelebter Räumlichkeit ist er am weitesten von<br />
gängigen mathematischen und geometrischen <strong>Raum</strong>vorstellungen entfernt:<br />
„In seiner ontologisch ursprünglichsten Form steht er diesseits der<br />
Bestimmung durch Zahl und Quantität, hat er seine eigentliche Charakteristik<br />
darin, Qualität, Ausdrucksfülle zu sein. Hier macht er zunächst<br />
2 Ströker 1965, S. 19 f.<br />
3 Ströker 1965, S. 22<br />
4 Bernhard Waldenfels und<br />
Gernot Böhme verweisen in<br />
mehreren Darstellungen auf<br />
Strökers Text, und es findet<br />
sich eine Passage daraus im<br />
aktuell erschienenen Sammelband<br />
Architekturwissen<br />
(Hauser et. al. (Hg) 2011).<br />
5 Ströker 1965, S. 22<br />
6 Ströker 1965, S. 23 (Hervorhebungen<br />
im Original)<br />
das Umhafte aus, das ‚Atmosphärische‘, vom gestimmten Wesen in seiner<br />
eigenen Unmittelbarkeit gewahrt.“ 5<br />
Dabei ist gestimmter <strong>Raum</strong> nichts außerhalb oder jenseits der leiblich<br />
anwesenden Person Vorstellbares. Lenelis Kruse versteht (unter Bezugnahme<br />
auf Heideggers Begriff der „Befindlichkeit“, Heidegger 2006,<br />
S. 134 ff.) Gestimmtheit als „das, worin sich der Mensch schon vor aller<br />
reflexiven Hinwendung zur <strong>Welt</strong> vorfindet, … die ursprüngliche Erschlossenheit<br />
von <strong>Welt</strong>“ (Kruse 1974, S. 59–60). So gesehen ist es gar<br />
nicht möglich, den gestimmten <strong>Raum</strong> als etwas „an sich“ Existierendes<br />
zu beschreiben: „Der <strong>Raum</strong> ist primär nicht Gegenstand für ein Subjekt<br />
raumerfassender Akte; sondern als gestimmter <strong>Raum</strong> eignet ihm eine Weise<br />
des Mitdaseins mit dem Erlebnisich, die sich allen begrifflichen Fixierungen<br />
eines an der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt orientierten<br />
Denkens als ‚Relation‘, ‚Beziehung‘, ‚Verhältnis‘ entzieht, weil vielmehr<br />
diese ihrerseits schon in jener ursprünglichen, nicht hintergehbaren Verbundenheit<br />
von Leibsubjekt und <strong>Raum</strong> gründen.“ 6<br />
Diese existenzielle „Kommunikation zwischen Subjekt und <strong>Welt</strong>“<br />
(Kruse 1974, S. 59–60) ist entsprechend schwer zu beschreiben: Einerseits<br />
wirkt der gestimmte <strong>Raum</strong> auf den Menschen, andererseits beeinflusst<br />
die eigene Stimmung die Wahrnehmung des umliegenden <strong>Raum</strong>es:<br />
„Er ist je ein anderer, wie das Wesen, das in ihm lebt, je ein anderes ist“<br />
(Ströker 1965, S. 22). Es handelt sich hier also weder um ein kausales<br />
Ursache-Wirkungs-Prinzip – denn das würde bedeuten, dass bestimmte<br />
Räume allen Menschen gleich gestimmt erscheinen müssten – noch um<br />
eine rein subjektive Projektion – denn dann könnte die Atmosphäre eines<br />
Ortes nicht von zwei Menschen ähnlich empfunden werden. Ströker<br />
(1965, S. 23) schreibt: „Sein Vernehmen ist kein Wahrnehmen, sein Gewahren<br />
ist kein Erkennen, es ist vielmehr ein Ergriffen- und Betroffensein.<br />
Der <strong>Raum</strong> übt zwar seine ‚Wirkung‘ aus, er steht aber zum Erleben<br />
nicht in einem Kausalverhältnis, sondern er ‚teilt sich mit‘, ‚spricht an‘.“<br />
Kruse (1974, S. 60) ergänzt: „Dieser Charakter der Betroffenheit ist Ausdruck<br />
jener ganz ursprünglichen Verbundenheit von Subjekt und <strong>Welt</strong>,<br />
die überhaupt die Grundlage bildet für alles spätere reflexive Sich-richten<br />
auf die <strong>Welt</strong>, der sinnlichen Anschauung, des Denkens, des zweckhaften<br />
Handelns.“<br />
Vom gestimmten <strong>Raum</strong> kann ich mich nie distanzieren. Er ist meine<br />
„leibhaftige Herumwirklichkeit“ (Dürckheim 1932, S. 409), deren Physiognomie<br />
und Ausdrucksfülle mich anspricht, mich angeht, mich eben<br />
be-trifft – ob ich das will oder nicht. Allerdings können die Aufmerksamkeit<br />
und die Sensibilität für die gestimmte Umgebung nicht nur bei<br />
verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt, sondern auch<br />
bei ein und demselben Menschen unterschiedlich präsent sein. Verfolge<br />
ich ein Ziel, übe eine bestimmte Handlung aus oder gerate etwa unter<br />
Stress, wird mir die Stimmung meiner Umgebung weit weniger bewusst<br />
(und weniger bedeutsam) erscheinen, als wenn ich mich in kontemplativer<br />
Muße dieser Kommunikation im „Innesein“ (Dürckheim 1932, S. 427)<br />
74 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
GELEBTER RAUM: DAS DREI-EBENEN-MODELL<br />
75
maßgeblich charakterisiert – und zwar, möchte man aus der Sicht der<br />
Architektur hinzufügen, an jedem konkreten Ort der <strong>Welt</strong> auf ganz spezifische<br />
Art und Weise.<br />
Handlungsraum<br />
In der wechselseitigen Rhythmisierung des (städtischen) gestimmten<br />
<strong>Raum</strong>es klang es bereits an: Ich bin generell nie nur „gestimmtes“ Wesen,<br />
meine leibliche Anwesenheit ist praktisch nie rein „pathisch“, sondern<br />
wird stets begleitet von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkprozessen.<br />
So ist auch mein Verhältnis zur Umgebung nie das des reinen Inneseins<br />
oder des völlig unbewussten Gewahrwerdens; es ist im Gegenteil<br />
recht schwierig, sich in unserer von vielfältigen Reizen angefüllten Alltagswelt<br />
in solch einen zugleich passiven und dennoch erfahrungsoffenen<br />
Zustand zu versetzen.<br />
Meine „natürliche Einstellung“ zu meiner räumlichen Umwelt entsteht<br />
maßgeblich dadurch, dass ich in ihr bestimmten Tätigkeiten nachgehe.<br />
Als handelnder Person gehört mir (nach Strökers Zuordnung und<br />
Kruses Terminologie) mein „Handlungsraum“ an – allerdings auch hier<br />
nicht in einem Besitzverhältnis und nicht in einer Relation des „Gegenüber“<br />
zweier sonst unabhängiger Pole, wie sich zeigen wird. Im Handlungsraum<br />
wie im Wahrnehmungsraum entstehen Bedeutungs- und Verweisungszusammenhänge,<br />
die in der Phänomenologie als „Richtungen“<br />
bezeichnet werden: „Dem Richtungsbegriff sind allgemein zwei Bestimmungen<br />
eigentümlich. Richtung setzt zunächst unterscheidbare Gebiete<br />
voraus, fixierbare Orte, Stellen, ein Hier und ein Dort; Richtung ist stets<br />
Richtung von … nach. Ferner schließt sie die Möglichkeit der Bewegung<br />
ein, die sich damit als eine ‚gerichtete‘, orientierte ausweist.“ 16<br />
Bevor hier nun auf den spezifischen Charakter von Ort und Richtung<br />
im Handlungsraum eingegangen wird, soll daher ein kurzer Überblick<br />
gegeben werden über das, was Handlungs- und Wahrnehmungsraum gemeinsam<br />
ist, nämlich dass sie, als gerichtete Räume, zu orientierten Räumen<br />
werden. Kruse bezieht sich in diesem Punkt (wie schon Binswanger)<br />
auf die Definition Oskar Beckers, den sie wie folgt zitiert: „Wir verstehen<br />
unter dem ‚orientierten <strong>Raum</strong>‘ den Umweltsraum des einzelnen;<br />
also jenes Gebilde, in dessen Mittelpunkt ‚ich‘ mich ständig befinde und<br />
dessen äußerste … Grenze der ‚Fernhorizont‘ … ist. Ich kann im orientierten<br />
<strong>Raum</strong> nicht wandern, vielmehr nehme ich ihn … immer mit.<br />
Sein Hauptmerkmal ist, daß in ihm der Leib des Ich konstituiert ist als<br />
räumliches Gebilde und als, wenn auch ausgezeichnetes, Objekt unter<br />
anderen Dingen seine Stelle in ihm hat. … Doch ist … die Stelle des<br />
orientierten <strong>Raum</strong>es, an welcher der Leib sich befindet, ganz besonders<br />
von allen ausgezeichnet. Sie ist das absolute ‚Hier‘ im Gegensatz zu jedem<br />
‚Dort‘. Ebenso ist die Entfernung von ‚mir‘ wesentlich etwas anderes als<br />
die Entfernung zweier Gegenstände voneinander.“ 17 Damit wird der orientierte<br />
(Handlungs- und Wahrnehmungs-) <strong>Raum</strong> auf eine andere Weise<br />
16 Ströker 1965, S. 54<br />
17 Becker 1923, zitiert nach<br />
Kruse 1974, S. 78<br />
18 Kruse 1974, S. 98<br />
als der gestimmte <strong>Raum</strong> modellhaft vorstellbar, nämlich als topologische<br />
Struktur. Gleichzeitig schließt das „absolute Hier“, das durch die<br />
jeweilige Person, deren „gelebten <strong>Raum</strong>“ ich betrachte, markiert wird, seine<br />
eigene Repräsentation logisch aus: Ein „Hier“, als „Nullpunkt aller<br />
Erfahrung“ (Husserl, s. o.), kann nur für denjenigen ein absoluter Ort<br />
sein, der hier „Hier“ sagt. Das Hier des Anderen dagegen, auf das hin sich<br />
sein gelebter <strong>Raum</strong> orientiert, ist für mich ein Dort. Damit zeigt sich die<br />
mit der Orientiertheit notwendig verknüpfte Singularität jeder leiblich<br />
er- oder gelebten <strong>Welt</strong> – ein Punkt, über den noch zu sprechen sein wird.<br />
Den (orientierten) Handlungsraum definiert Ströker als „das Worin möglicher<br />
Handlungen. Der Begriff der Handlung wird dabei verstanden als<br />
Verwirklichung eines Entwurfs mittels des Leibes und seiner Glieder“<br />
(Ströker 1965, S. 55). Während die Struktur des Handlungsraumes einerseits<br />
die Möglichkeiten und den tatsächlichen Verlauf meiner Handlung<br />
beeinflusst, wird andererseits der <strong>Raum</strong> selbst durch mein Handeln kontinuierlich<br />
neu erschlossen und konfiguriert.<br />
Ort und Richtung im Handlungsraum<br />
Der „ausgezeichnete Ort“ im Handlungsraum ist, wie in den Ausführungen<br />
zur Orientiertheit erläutert, das „Hier“ des leiblich anwesenden<br />
Subjekts. „Als Zentrum des Handlungsraumes bestimmt sich mein<br />
Leib als das Von-wo-aus meines Gerichtetseins auf die Dinge. Er ist das<br />
absolute Hier zu jedem Dort. Handeln setzt immer an bei den Dingen<br />
und nicht beim Subjekt des Handelns. Das bedeutet, daß das Dort immer<br />
früher ist als das Hier. Ich bin im Handeln stets schon über meinen<br />
Leib hinaus im Sinne des intentionalen wie auch des räumlichen<br />
Gerichtetseins auf die Dinge.“ 18 Es ist dieser Begriff der Richtung oder<br />
Gerichtetheit, der den Handlungsraum zum orientierten <strong>Raum</strong> macht.<br />
Dabei sind die Richtungen, die in ihm existieren, keine Vektoren, die<br />
unabhängig vom Handelnden und seiner Handlungsabsicht fest- oder<br />
darstellbar wären. Orientiert ist er „durch die Art und Weise, wie das im<br />
Zentrum befindliche Subjekt nach Maßgabe seiner leiblichen Organisation<br />
den <strong>Raum</strong> nach qualitativ verschiedenen Richtungen zu gliedern<br />
vermag“ (Ströker 1965, S. 71). Kruse (1974, S. 93) ergänzt: „Oben und<br />
unten, vorn und hinten, links und rechts sind nichts im oder am Leib,<br />
etwas in oder an den Dingen, sondern Beziehungen des handelnden Leibes<br />
zu den behandelten Dingen. Es sind Bewegungsrichtungen, die vom<br />
Leibsubjekt ausgehen und im Umgang mit den Dingen sich als qualitativ<br />
verschieden erweisen.“ Im Folgenden soll kurz auf diese qualitativen<br />
Unterschiede eingegangen werden.<br />
oben und unten – die Höhe<br />
Der Gegensatz zwischen Oben und Unten ist für die Gliederung des<br />
Handlungs- und damit auch des gelebten <strong>Raum</strong>es von besonderer Bedeutung,<br />
da ihm meine leibliche Aus- bzw. Aufrichtung entspricht. Während<br />
die Schwerkraft dafür sorgt, dass meine Füße mit dem Boden meiner<br />
80 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
GELEBTER RAUM: DAS DREI-EBENEN-MODELL<br />
81
wie Waldenfels es nennt, gehört ein situativer Ort, der den Fragenden und<br />
den Antwortenden einbindet. Ohne eine übereinstimmende Vorstellung<br />
zwischen beiden, was mit „hier“ eigentlich gemeint ist, wäre jede Verständigung<br />
darüber sinnlos: „Wo also ist hier? Hier ist dort, wo derjenige,<br />
der ‚hier‘ sagt oder nach dem ‚hier‘ fragt, sich jeweils befindet. … Wer<br />
nicht aus eigener Erfahrung weiß, wo derjenige sich aufhält, der ‚hier‘ sagt,<br />
versteht schlichtweg nicht, was diese Äußerung meint. Ein situationsloses<br />
‚hier‘ bliebe eine leere Sprachgebärde. Ihr Aussagegehalt gliche einer<br />
Wegkarte, die nichts taugt, solange der Benutzer nicht weiß, welche Stelle<br />
auf der Karte seinem eigenen Standort entspricht.“ 14 Doch zeigt sich hier<br />
bereits die nächste Spalte im gelebten <strong>Raum</strong>: Mein Hier-für-mich ist nicht<br />
identisch mit dem Dort, das sich der Andere aus meiner Antwort als meinen<br />
Standort erschließt. Genauso wenig kann ich das Hier des Anderen<br />
als Hier-für-mich okkupieren, es bleibt für mich ebenfalls ein Dort. Allerdings<br />
kann ich, von meiner eigenen leiblichen Erfahrung ausgehend,<br />
mich in dieses andere Dort „hineinversetzen“ – indem ich dies jedoch tue,<br />
gerate ich in einen weiteren Zustand der „Dezentrierung“ (Waldenfels<br />
2009, S. 42). Auch indem ich „hier“ sage und dabei meinen Standpunkt<br />
markiere, bin ich also nicht vollständig hier: Mein Ort erweist sich streng<br />
genommen als nicht kommunizierbar. Der Ort meiner Rede und der beredete<br />
Ort, wie Waldenfels das nennt, fallen nicht zusammen: Ich kann<br />
zwar an „meinem“ Ort „hier“ sagen, doch auch damit kann ich die oben<br />
geschilderte Diatopie, das Auseinandertreten des Ortes, nicht verhindern.<br />
Niemand ist je ganz bei sich: Eigen- und Fremdorte<br />
Die Ortsverschiebung öffnet einen Spalt in meinem gelebten Eigen-<br />
<strong>Raum</strong>. Durch diesen Spalt dringt das Fremde ein und richtet Fragen an<br />
mich. Es stellt dadurch zwar die Integrität meines Eigenraumes in Frage,<br />
aber es bereichert ihn auch: Ohne das Fremde, so Waldenfels’ zentrale<br />
Denkfigur, keine Erfahrung, ohne den Anderen keine eigene Identität.<br />
Damit erscheint die Ortsverschiebung, die bisher als Verlusterfahrung beschrieben<br />
wurde, im Gegenteil als notwendige Voraussetzung, überhaupt<br />
eine <strong>Welt</strong> zu haben. Allerdings ergibt sich aus dieser originären Fremdheit,<br />
dem „Stachel des Fremden“ (Waldenfels 1991), der mich daran hindert,<br />
ungestört ganz bei mir zu sein, Konfliktpotenzial: Das Eigene und das<br />
Fremde, denen wir schon mehrfach begegneten (siehe oben, S. 68 ff.),<br />
sind die in diesem Zusammenhang relevanten Begriffe, die im Folgenden<br />
erneut zu betrachten sind.<br />
Es wurde deutlich, dass in dem Augenblick, da jemand an einer bestimmten<br />
Stelle im <strong>Raum</strong> „hier“ sagt, ein Ort sprachlich markiert wird,<br />
der für diese Person den Charakter des „eigenen“ Ortes besitzt, während<br />
er für andere lediglich eines von vielen „Dorts“ beschreibt. Zugleich wurde<br />
klar, dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir diesen Ort selbst als<br />
unseren eigenen bezeichnen würden, „Risse und Spalten“ (Waldenfels) bekommt,<br />
wenn wir ihn einerseits als a-topischen Ort unseres Leibes, als<br />
Zentrum unserer Wahrnehmung, und andererseits als potenziellen Ort für 14 Waldenfels 2009, S. 67<br />
15 „Die Grenze ist nicht<br />
das, wobei etwas aufhört,<br />
sondern, wie die Griechen<br />
es erkannten, die Grenze ist<br />
jenes, von woher etwas sein<br />
Wesen beginnt.“ (Heidegger<br />
1978, S. 149)<br />
16 Waldenfels 2009, S. 112<br />
17 Waldenfels 2009, S. 77.<br />
Zu diesem Thema siehe<br />
auch die Topographie des<br />
Fremden (Waldenfels 1997)<br />
jemand anders auffassen, an dem unser Körper nur zufällig gerade positioniert<br />
ist. Trotzdem generiert dieses Hier, da es nun einmal unser Stand-<br />
Punkt auf dem Boden der Erfahrung ist, unsere Perspektive auf die <strong>Welt</strong>,<br />
die wir als unsere eigene zu betrachten gewohnt sind, insofern sie auf uns<br />
bezogen und durch unsere Anwesenheit konstituiert ist.<br />
Der eigene Standpunkt wiederum erschließt unseren Eigenraum, der<br />
sich vom Fremdraum absondert. Diese Absonderung erfolgt entlang von<br />
Grenzen, deren Vorhandensein existenziell, 15 deren Lage und Ausformung<br />
jedoch nicht statisch, sondern auf mich, meine Möglichkeiten sowie meine<br />
räumliche Umgebung bezogen sind. „Das Fremde, das in der Ferne<br />
aufleuchtet, verweist gleichzeitig auf die Grenzen des <strong>Raum</strong>es … auf<br />
jene Ein- und Ausgrenzungen, die ein Drinnen und Draußen entstehen<br />
lassen und Fragen der Zugänglichkeit, der Zugänglichkeitsbedingungen,<br />
der Zugangsschranken oder der Zugangsrechte heraufbeschwören. Die<br />
so entstehenden Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem nehmen verschiedene<br />
Formen an.“ 16 Sie können auch ganz unterschiedliche Charaktereigenschaften<br />
besitzen – zum Beispiel stabil oder flexibel, an konkrete<br />
Orte oder Personen gebunden, nah oder fern, eng oder weit, gesetzlich<br />
verbrieft oder durch Gewohnheit erworben sein. Die Grenzen zwischen<br />
meinem Eigen- und Fremdraum konstituieren die „Weite meiner Existenz“<br />
(Minkowski), sie können nach Tages- und Jahreszeit, eigener Gestimmtheit<br />
und eigenem Vermögen differieren – und natürlich auch von<br />
baulichen und anderen Barrieren beeinflusst sein. Grundsätzlich jedoch<br />
(und noch vor jeder architektonischen Ausformulierung) scheiden sie ein<br />
Innen von einem Außen: „Innen ist, wo jemand oder etwas sich absondert.<br />
… Das Drinnen hat Sinn nur für ein Selbst, das sich hier befindet,<br />
es kommt ursprünglich zur Sprache in der Weise, dass jemand für sich<br />
selbst oder stellvertretend für andere(s) ‚hier‘ und ‚dort‘ sagt. Die soziale<br />
Unterscheidung von Eigenem und Fremdem gewinnt von daher einen topischen<br />
Charakter, der über eine bloße Metaphorik hinausgeht … .“ 17 Die<br />
soziale Unterscheidung zwischen Hier und Dort, die in dieser Überlegung<br />
zu einem Innen und einem Außen führt, konstituiert zwischen dem Eigenen<br />
und dem Fremden eine Grenze. Zu jeder Grenze gehören wiederum<br />
Übergänge und Perforationen, Punkte ihrer potenziellen und faktischen<br />
Überschreitbarkeit. Selbst bauliche Grenzen sind nie absolut, sondern dienen<br />
im Gegenteil auch dem Austausch, dem Passiert-Werden: Ein- und<br />
Ausgrenzen, Zutritt gewähren oder verhindern, „Öffnen und Verschließen<br />
sind Urgesten, die voraussetzen, dass jemand den <strong>Raum</strong> bewohnt“ (Waldenfels<br />
2009, S. 113).<br />
Im bewohnten <strong>Raum</strong> entstehen so, wie schon unter „Wohnen in einer<br />
Heimat“ (S. 67 ff.) beschrieben, durchaus auch territoriale Ansprüche,<br />
deren Legitimation unter anderem mithilfe von Gesetzen erreicht wird:<br />
„Man nimmt nicht nur einen vorübergehenden Standort ein, sondern<br />
man besetzt oder okkupiert <strong>Raum</strong>stücke, die sich von andern abgrenzen.<br />
Man ist nicht nur am rechten oder falschen Ort, sondern auch am rechtmäßigen<br />
Ort, am unrechtmäßigen Ort oder an gar keinem Ort wie Vogel-<br />
98 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
RISSE UND SPALTEN: GRENZ-GÄNGE<br />
99
Die dritte Brücke – Übersetzungen: Qualitative Kriterien (S. 122 ff.) –<br />
knüpft an die im Kapitel <strong>Gelebter</strong> <strong>Raum</strong>: Das Drei-Ebenen-Modell<br />
(S. 73 ff.) erörterten Strukturen gelebter Räumlichkeit an und setzt diese<br />
zu einem Vokabular ins Verhältnis, das in der Architektur gebräuchlich<br />
ist. So wird dem gestimmten <strong>Raum</strong> die Atmosphäre, dem Aktions- oder<br />
Handlungsraum der Begriff der Performanz und dem Anschauungs- oder<br />
Wahrnehmungsraum das immersive Panorama zugeordnet, damit qualitative<br />
Kriterien der <strong>Raum</strong>beschreibung erfasst und kommuniziert werden<br />
können.<br />
Mit diesen Transfergewinnen – einem erweiterten Wissen, einer methodischen<br />
Kompetenz und qualitativen Kriterien zur Beurteilung und<br />
Entwicklung städtischer Räume – können, so die These, relevante Aspekte<br />
gelebter Räumlichkeit für die Planung der gebauten <strong>Welt</strong> erschlossen werden.<br />
Stadt als Wohn-<strong>Raum</strong>: Expertenwissen<br />
Die erste der drei Brücken, die hier als Verbindung zwischen Theorie<br />
und Praxis konstruiert werden, basiert auf dem un-eindeutigen Begriff<br />
des Wohnens. Selbst wenn man den (ohnehin unbewohnbaren) <strong>Raum</strong> der<br />
Planung außer Betracht lässt, ergeben sich zwischen gebauter <strong>Welt</strong> und<br />
gelebtem <strong>Raum</strong> fundamentale Differenzen in Bezug auf die Definition<br />
dessen, was Wohnen eigentlich heißt.<br />
Das phänomenologische Wohnen verankert mich leiblich im <strong>Raum</strong><br />
und zur <strong>Welt</strong>, die es mir erschließt. Es bezeichnet eine Weise meiner Existenz;<br />
als solche ist es nicht an konkrete Räumlichkeiten oder Orte gebunden:<br />
„Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen“<br />
(Heidegger 1978, S. 141). Wohnen wird unbewusst und kontinuierlich<br />
praktiziert, es sei denn, der natürliche Zusammenhang mit der Umgebung,<br />
der „Anhalt an der <strong>Welt</strong>“, ist gestört oder infrage gestellt. Wohnen in der<br />
Planung ist dagegen ein Bedürfnis, das es im Interesse der gesellschaftlichen<br />
Ökonomie möglichst effektiv zu befriedigen gilt. Vom Wohnen wird<br />
alles ferngehalten, was stören könnte: So werden bis heute Wohn-Straßen,<br />
Wohn-Blöcke und Wohn-Gebiete von anderen, heterogeneren Quartieren<br />
separiert. Dabei wird das derart auf- und eingeräumte Wohnen zu einem<br />
langweiligen Rudiment, das aus einem mit verschiedenen Tätigkeiten angefüllten,<br />
gesellschaftlichen Leben sorgsam herausgeschält und in den dafür<br />
eingerichteten Räumen einer Wohnung (die auch kaum noch andere<br />
Tätigkeiten zulassen 2 ) unter Schutz gestellt wird.<br />
Wäre Wohnen wirklich nur das, ein geregelter Regenerationsvorgang<br />
als Unterbrechung unserer anderswo praktizierten beruflichen Tätigkeiten,<br />
dann ließe sich kaum erklären, dass der Ort ihrer Wohnung für viele<br />
Menschen von derart großer Bedeutung ist. Die stark eingeschränkte<br />
Verwendung des Wohnbegriffs, an der die Planersprache leidet, kann das<br />
Phänomen des gefühlten Hingehörens an einen Ort, das Heimisch-Sein,<br />
nicht erklären.<br />
2 Das Streben nach normierten<br />
Wohn-Standards war vor<br />
dem Hintergrund der Nachkriegs-Wohnungsnot<br />
und der<br />
Idee des industrialisierten<br />
Bauens immer auch Suche<br />
nach Mindest-Standards.<br />
Die damit einhergehende<br />
Mono-Funktionalisierung der<br />
Wohnungen wird vor allem<br />
im sozialen Wohnungsbau<br />
(Westdeutschland) und in<br />
den genormten Typen der<br />
Plattenbauten (Ostdeutschland)<br />
deutlich, die nicht viel<br />
„Spielraum“ bieten, um<br />
dort anders als mit einer<br />
vierköpfigen (Norm-)Familie<br />
zu wohnen.<br />
Städte bewohnen<br />
Wie vor allem im Abschnitt Wohnen in einer Heimat (S. 67 ff.) und<br />
unter Gewöhnung: Rhythmen alltäglicher Performanz (S. 109 f.) aufgezeigt<br />
wurde, sind es rhythmisierte Prozesse, die zu einer nachhaltigen Identifikation<br />
mit dem bewohnten Ort führen. Der habituelle, gelebte <strong>Raum</strong>,<br />
den ich mir im Lauf der Zeit durch unausgesetztes Engagement erarbeite,<br />
bettet mich in den konkreten <strong>Raum</strong> der gebauten Umgebung ein und<br />
erschließt mir diesen als meinen eigenen <strong>Raum</strong>.<br />
Während dieser Vorgang in individuell geordneten Besitzverhältnissen<br />
(wie zum Beispiel der Eigenheimsiedlung) nur innerhalb der dort lebenden<br />
Gruppen (der Familie, der Wohn- oder Hausgemeinschaft) zu verhandeln<br />
ist, überlagern sich im öffentlichen, städtischen <strong>Raum</strong> unzählige<br />
dieser Eigen-Räume und bilden einen entscheidenden Teil dessen, was als<br />
Charakter des jeweiligen Ortes erfahrbar wird. Die Praktiken der Bewohner,<br />
ihre Gewohnheiten und Vorlieben schreiben sich in den städtischen<br />
<strong>Raum</strong> ein: Ob die Straße als Erweiterung der eigenen Wohnung betrachtet<br />
wird oder als reine Verkehrsfläche, ob Grünflächen zum Aufenthalt<br />
genutzt oder nicht betreten werden dürfen, ob die Vorgaben des städtischen<br />
<strong>Raum</strong>es affirmativ bestätigt oder durch gezielte Maßnahmen infrage<br />
gestellt werden, wirkt sich nicht nur auf den Charakter eines Ortes aus,<br />
sondern auch auf sein Erscheinungsbild.<br />
Die meisten dieser Praktiken basieren auf der kulturellen Prägung der<br />
jeweiligen Bewohner, und sie bestätigen sich bis zu einem gewissen Grad<br />
selbst – nicht so sehr, weil die Menschen ihre Wohngegenden nicht verlassen<br />
würden, sondern weil jene, die hinzukommen, die dort herrschenden<br />
Bedingungen in der Regel gezielt suchen, in der Folge akzeptieren und<br />
selbst entsprechend weitergeben. Zu Problemen (und zur Einschaltung<br />
von qualifizierten Fachleuten) kommt es dann, wenn die lokalen Praktiken<br />
entweder untereinander zu Konflikten führen (wenn also beispielsweise die<br />
eine Bewohnergruppe eine andere an der Entfaltung ihrer Interessen hindert)<br />
oder aber, wenn die entstehenden räumlichen Konfigurationen nicht<br />
der allgemeinen Vorstellung davon entsprechen, wie mit den Räumen der<br />
Stadt umzugehen sei (wenn beispielsweise zu viel „Unordnung“ entsteht<br />
oder an bestimmten Orten vermehrt kriminelle Handlungen stattfinden).<br />
Im ersteren Fall können die zuständigen Behörden und die planenden<br />
Fachleute davon ausgehen, dass ihre Arbeit immerhin von einem Teil der<br />
ortsansässigen Bevölkerung unterstützt (oder zumindest gewürdigt) wird,<br />
im anderen Fall legitimiert sich das planerische Eingreifen durch ein allgemeines<br />
Interesse der Zivilgesellschaft.<br />
Wohnräume bauen<br />
Nicht erst im Konfliktfall wird deutlich, dass die Vorstellung, Planung<br />
müsse immer im Sinne der (welcher?) Bewohner eines Ortes erfolgen,<br />
ebenso realitätsfern ist wie die, dass Planung den Bewohnern einfach einen<br />
Rahmen für ihre Existenz vorschreiben könne, der dann von diesen<br />
fraglos zu akzeptieren sei. Das Bauen, Umbauen oder Transformieren von<br />
114 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
GRÄBEN UND BRÜCKEN: PRAXISTRANSFER<br />
115
Bewegtheit des situativen Panoramas korreliert mit den bereits beschriebenen<br />
Phänomenen der Performanz und der Atmosphäre. Da ich nicht<br />
ein Bild anschaue, sondern leiblich in einen räumlichen Zusammenhang<br />
eingebettet bin, erfahre ich dessen Veränderlichkeit unmittelbar, ob sich<br />
nur die Dämmerung herabsenkt (und langsam die Lichter der Straßenbeleuchtung<br />
angehen), oder ob ich an einer Hauptverkehrsstraße stehe und<br />
dem Strom der vorbeifahrenden Autos zuschaue. Die Veränderlichkeit des<br />
immersiven Panoramas gehört wesentlich zu dessen Charakter. Auch hier<br />
gilt, dass mein Wahrnehmungsraum einer gewissen rhythmischen Wiederkehr<br />
unterliegen muss, wenn er für mich ein gewohnter <strong>Raum</strong> werden soll.<br />
Meine eigene Bewegung innerhalb des panoramatischen Stadtraumes<br />
führt zu einer sukzessiven Wahrnehmung seiner Abfolgen. Je nach Charakter<br />
der Gegend können die Übergänge zwischen verschiedenen Umgebungen<br />
fließend sein oder aber abrupt eintreten. Hier gibt es Analogien<br />
zur Erfahrung von Atmosphären: Entlang meiner Bewegungsachse entstehen<br />
mehrdimensionale, räumliche Eindrücke, die ineinander übergehen<br />
und einander ablösen. So werden räumliche Kontinuitäten, aber auch<br />
Brüche und Veränderungen erfahrbar.<br />
Vor allem die Unterschiedlichkeit von durchgangenen oder durchfahrenen<br />
Räumen kann dabei im Sinne einer urbanen Choreografie (Meisenheimer<br />
2000) erfahren werden, in der meine leiblichen Bewegungen zu<br />
den Bewegungssuggestionen der städtischen <strong>Raum</strong>folge in Korrespondenz<br />
stehen. In diesem Sinn werden hier Typologien von Räumen vorstellbar,<br />
die deren bauliche Konfiguration in ein Verhältnis zur Gestalt und Ausdehnung<br />
der begehbaren Wege, der einnehmbaren Standorte, der erfassbaren<br />
Durchblicke und Perspektiven setzen. Verschiedene bauliche Arrangements<br />
lassen unterschiedliche Weisen der Bewegung und verschiedene<br />
Arten der Einbettung zu, die durch leiblich-situative Qualitäten wie Enge<br />
und Weite, Höhe und Tiefe, Prägnanz und Diffusität gekennzeichnet erscheinen.<br />
Eine solche „Phäno-Typologie“ (sinngemäß nach Bürklin 2008,<br />
S. 159) wäre für unterschiedliche Stadt- und <strong>Raum</strong>charaktere, aber auch<br />
für unterschiedliche binnenräumliche Situationen zu erarbeiten. Da auch<br />
die panoramatische Qualität situativer, städtischer Umgebung maßgeblich<br />
von Standpunkt, Perspektive und Eigenbewegung der leiblich anwesenden<br />
Stadtbewohner abhängt, zeigt sich auch hier der zeit-räumliche Charakter<br />
des <strong>Raum</strong>es. Nicht die Permanenz gebauter Formen, sondern die Dynamik<br />
dieses Fließens sollte Grundlage und Ziel aller Bemühungen sein,<br />
Städte angemessen zu transformieren.<br />
1 Das Archiv, entstanden aus<br />
einer ehrenamtlichen Initiative,<br />
sammelt Dokumente<br />
und Urkunden, aber auch<br />
alltägliche Dinge und private<br />
Hinterlassenschaften, die<br />
das Leben und den Alltag<br />
in der Vorwendezeit für die<br />
Nachwelt festhalten und<br />
dokumentieren.<br />
2 Siehe hierzu vor allem<br />
Barthes (1989).<br />
Exkurs: „Heimat“ halle-neustadt<br />
MitHilfe der phänomenologischen Theorie konnten<br />
einige Brücken zwischen den unbewohnbaren<br />
Räumen der Mathematik und den abstrakten<br />
Räumen der Planung errichtet werden. Doch wie<br />
zeigen sich diese Überschneidungen in der Realität?<br />
Lassen sich Eigen- und Fremdorte, Spiel- und<br />
Mölichkeitsräume, Orts- und Zeitverschiebungen<br />
auch im konkreten LebensUmfeld nachweisen?<br />
Auf welche Weise schreiben sie sich in die gebaute<br />
<strong>Welt</strong> ein?<br />
Grundlage der folgenden Untersuchungen sind Fotografien des städtischen<br />
<strong>Raum</strong>es von Halle-Neustadt, die zwischen 1967 und 1979 entstanden<br />
sind. Sie befinden sich heute im örtlichen Stadtteilarchiv, der<br />
Geschichtswerkstatt des soziokulturellen Zentrums „Pusteblume“. 1 Aber<br />
wie verhalten sich Fotografien, selbst Medien der Darstellung, zur Erfahrungsfülle<br />
des gelebten <strong>Raum</strong>es? Warum und mit welchen Mitteln sollen<br />
sie hier untersucht werden? Welche Chancen, welche Risiken ergeben sich<br />
durch die Verwendung dieses Materials?<br />
Es gibt zwei Dinge, die hier anzumerken sind. Sie betreffen zum einen<br />
die Rolle des Fotos als Objekt und als Medium, und zum anderen<br />
das Verhältnis zwischen Darstellung und Dargstelltem, zwischen Bild und<br />
Wirklichkeit.<br />
Fotografien als Medium von Darstellungen<br />
Fotografien sind zweidimensionale Abbilder von konkreten <strong>Raum</strong>ausschnitten,<br />
aufgenommen in einer bestimmten, mehr oder weniger genau<br />
datierbaren Situation. Obwohl sie reale Gegebenheiten wiederzugeben<br />
scheinen, sind sie keineswegs objektiv: 2 Neben der Apparatur der Kamera,<br />
die nicht nur eine gewisse Kunstfertigkeit in der Bedienung voraussetzt,<br />
sondern auch bestimmte technische Bedingungen für den Vorgang des<br />
Abbildens liefert (zum Beispiel Objektiv und Brennweite, das verwendete<br />
Filmmaterial, der Grad der Automatisierung), ist es vor allem der<br />
Blick des Fotografen, der darüber entscheidet, welcher Ausschnitt in genau<br />
welcher Weise dargestellt wird. Professionelle Fotografen überlassen<br />
nur wenige Dinge dem Zufall. Vor allem, wenn architektonische Objekte<br />
und Räume abzubilden sind, spielen Uhrzeit und Sonnenstand, Wetter<br />
und Lichtqualität eine ebenso große Rolle wie die notwendigen Entscheidungen<br />
zu Brennweite und Lichtempfindlichkeit, Tiefenschärfe, Farbqualität,<br />
Entwicklungsprozess, Bildformat und dergleichen mehr.<br />
Professionelle Fotografien werden auf diese Weise zu Werken, die<br />
mit der „Wirklichkeit“ (eines Gebäudes, des abgebildeten <strong>Raum</strong>es) oft<br />
ebenso wenig zu tun haben wie mit dem gelebten <strong>Raum</strong> des Fotografen.<br />
Seine Aufgabe ist es, die gebaute <strong>Welt</strong> auf eine bestimmte Weise einzufangen,<br />
mit Bedeutung aufzuladen und zum Sprechen zu bringen; eine<br />
132 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
EXKURS: „HEIMAT“ HALLE-NEUSTADT<br />
133
Die Verwendeten Aufnahmen<br />
ABBILDUNG 15<br />
Schieloer 04.67<br />
140 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
EXKURS: „HEIMAT“ HALLE-NEUSTADT<br />
141
200 meter<br />
150 meter<br />
Blickräume und eigene <strong>Welt</strong><br />
100 meter<br />
Herr M: Das ist die<br />
Schieloer Straße.<br />
Und das sind noch die Bauarbeiten<br />
hier im Kindergarten Schnatterinchen.<br />
Herr M: Sehen Sie, hier wurde<br />
noch der Block 10 gebaut.<br />
50 meter<br />
51°28'29''N<br />
11°54'40''E<br />
N<br />
Blickpunkt:<br />
ca. 6 m<br />
ü. Gelände<br />
block 645<br />
block 643<br />
1 minute<br />
schieloer str.<br />
block 644<br />
2 minuten<br />
blickachse<br />
3 minuten<br />
gastronom<br />
4 minuten<br />
baustelle<br />
block 618<br />
5 minuten<br />
block 617<br />
6 minuten<br />
7 minuten<br />
block 604<br />
8 minuten<br />
block 605<br />
9 minuten<br />
blick nach<br />
alt-halle<br />
10 minuten<br />
Hier steht mein Dienstwagen, da,<br />
der BMW. Da hat sich noch einer<br />
aufgeregt, was der hier zu suchen<br />
hat, mit der Leipziger Nummer!<br />
Na ja, ich hab auch viele andere<br />
Bilder gehabt, Herbstfärbung der<br />
Laubbäume und so, das war so eine<br />
Marotte. Hab' ich alles weggetan.<br />
schieloer 04.67: Blickraum und Eigene <strong>Welt</strong><br />
ABBILDUNG 22<br />
Die erste Aufnahme ist ein Diapositiv, von Herrn<br />
M. eigenhändig beschriftet mit „Schieloer Str.“<br />
und „04.67“. Der Straßenname im Bildtitel zeigt,<br />
dass Beschriftung und Datierung nachträglich<br />
(anlässlich der Schenkung ans Stadtteilarchiv<br />
im Jahr 2007) erfolgt sind, denn die Straßen in<br />
Halle-Neustadt hatten bis zur Wende keine Namen<br />
(siehe Prolog, S. 15).<br />
Das Dia ist gut erhalten, lediglich die Farben<br />
sind etwas verblasst. Die Bildebene der Kame-<br />
ra ist ganz leicht geneigt. Das Bild zeigt einen<br />
Straßenraum, der auf einen Fluchtpunkt am Horizont<br />
hin konvergiert – eben die besagte, heutige<br />
Schieloer Straße, deren westliches Ende unterhalb<br />
von M.’s Fenster liegt.<br />
Im April 1967 sind hier im Nahbereich die Bauarbeiten<br />
fast abgeschlossen, während sich im Hintergrund<br />
noch die Kräne drehen. Am Horizont<br />
sind die Höhenzüge des östlichen Saaleufers und<br />
die Silhouette der alten Stadt Halle zu erkennen.<br />
Die Kartografie des Blickraumes zeigt einen langen,<br />
schmalen, keilförmigen Kartenausschnitt.<br />
Der unmittelbare Nahbereich ist aufgrund des<br />
erhöhten Standortes nicht im Bild. Der daran angrenzende<br />
Straßenraum wird durch die sichtbaren<br />
Gebäude, die alle nicht vollständig sichtbar<br />
sind, gerahmt.<br />
Der im Bild durch die Perspektive verkleinerte<br />
Fernraum erscheint auf der Karte weit und großzügig,<br />
zugleich aber auch weit weniger strukturiert<br />
als der Nahbereich.<br />
Der Standort des Fotografen befindet sich am<br />
Fenster seiner Wohnung: Es handelt sich um einen<br />
Blick aus dem (vertraglich geregelten) eigenen<br />
<strong>Raum</strong> in den noch fremden Stadtraum, der<br />
sich von dieser Stelle aus in genau dieser Gestalt<br />
präsentiert. Herr M. wohnt zu dem Zeitpunkt, da<br />
die Aufnahme entsteht, erst seit etwa vier Monaten<br />
hier. Am Horizont ist (noch) die Stadt Halle zu<br />
sehen, wo die Familie M. herkam.<br />
Die Umgebung, an die man sich gewöhnen muss,<br />
ist noch nicht fertiggestellt. Auf der neuen Straße<br />
gibt es nur ein Element, das Herr M. explizit<br />
als sein „eigenes“ bezeichnet: seinen Dienstwagen,<br />
einen sandgrauen BMW, in der Reihe der<br />
parkenden Autos der dritte Wagen von vorn. Mit<br />
seinem Leipziger Kennzeichen erregte dieser<br />
damals Unmut bei einigen Anwohnern, die seine<br />
Berechtigung, hier Parkraum zu beanspruchen,<br />
infrage stellten: Auch die Aneignung eines Stellplatzes<br />
war in der neuen Stadt keine Selbstverständlichkeit.<br />
ABBILDUNG 20<br />
ABBILDUNG 21<br />
150 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
EXKURS: „HEIMAT“ HALLE-NEUSTADT<br />
151
Konstellation und Ereignis<br />
umliegenden Geräts konterkariert. Gebaut wird<br />
überall gleichzeitig, nichts ist wirklich fertig, und<br />
doch sind die wenigen Personen, die sich auf der<br />
Straße aufhalten, keine Bauarbeiter, sondern Anwohner,<br />
die sich die vorübergehend verlassene<br />
Baustelle als Eigenraum erschließen.<br />
Beide Tätigkeiten, Bauen und Wohnen, finden<br />
anscheinend im selben Setting parallel statt:<br />
So stehen Leute gleichermaßen wie Straßenlaternen<br />
auf dem Gehweg herum, während allerlei<br />
Haufen (noch) nicht verlegten Materials die<br />
Landschaft bilden, auf der die Kinder spielen.<br />
Der Straßenraum als solcher ist breit genug, um<br />
für alle anderen möglichen Aktivitäten zu dienen,<br />
was jedoch durch die strenge Zonierung verhindert<br />
wird.<br />
ABBILDUNG 35 ABBILDUNG 36<br />
ABBILDUNG 37 ABBILDUNG 38<br />
Im Bild „Schieloer 04.67“ (Grafik in ABBILDUNG<br />
35) wirkt der Straßenraum geordnet und klar gegliedert:<br />
links die vertikal zur Straße stehenden<br />
drei Zeilen, rechts der parallele Riegel. Die Fläche<br />
ist asymmetrisch zoniert: im Süden Längsparkplätze<br />
und ein breiter Grünstreifen, im Norden<br />
grenzt der Gehweg direkt an die Fahrbahn.<br />
In der Tiefe des Bildes, hinter den drei Zeilen,<br />
schieben sich mehrere Bauten in den Blickraum.<br />
Der erste ist der Flachbau des „Gastronom“,<br />
der zum Wohnkomplexzentrum gehört. Dahinter<br />
sieht man weitere Gebäude: einen Fünfgeschosser,<br />
der parallel zu den Zeilen vorne links im<br />
Bild steht, einen weiteren, der in der Richtung<br />
des Blocks rechts vorn platziert ist, und einen<br />
Elfgeschosser, von dem nur eine Fensterachse<br />
zu sehen ist. In den beiden Lücken, die zwischen<br />
diesen drei entfernteren Gebäuden entstehen,<br />
sieht man in der Ferne die Stadt Halle sowie<br />
noch zwei weitere, nur noch zartblau zu erkennende<br />
Tiefenebenen.<br />
Es staffeln sich hier, wie schon das kartografische<br />
Experiment (ABBILDUNG 28) gezeigt hat,<br />
mehrere, teilweise sehr weit voneinander entfernte<br />
<strong>Raum</strong>bereiche hintereinander, die mit<br />
unterschiedlichen Elementen in der panoramatischen<br />
Komposition des Bildes vertreten sind:<br />
der Straßenraum vor dem Fenster, der Binnenraum<br />
des Wohnkomplexzentrums, der dahinter<br />
liegende nächste Wohnbezirk und schließlich die<br />
Stadt, vor deren Toren die Neubausiedlung liegt.<br />
Zwei dieser Tiefenebenen wird der hier im Bau<br />
befindliche Block 618–621 verstellen, wenn er<br />
fertig ist: dann schließt sich der <strong>Raum</strong>, zumindest<br />
vom Fenster der M.’s aus gesehen, zu einer<br />
überschaubaren und geordneten, jedoch in ihrer<br />
Blicktiefe vergleichsweise beschränkten Szenerie.<br />
Ein besonderes Ereignis ist hier nicht zu beobachten<br />
(ABBILDUNG 36): Leute stehen auf dem<br />
Gehweg, ein Paar schiebt einen Kinderwagen,<br />
weiter hinten spielen größere Kinder auf der<br />
Fahrbahn. Diese ist bereits in Betrieb, wie man<br />
aus den zahlreichen parkenden Autos schließen<br />
kann. Es ist eine gewöhnliche sonntägliche<br />
Szene, abgesehen vom deutlich erkennbaren<br />
Baustellencharakter: Verschiedene Haufen noch<br />
nicht eingebauten oder überflüssigen Materials<br />
liegen herum, und auf dem Gehweg steht eine<br />
Straßenlaterne. Etwa in der Bildmitte ist ein<br />
Kran zu sehen, der zur Taktstraße des Blocks<br />
618–621 gehört. Von diesem Block selbst sieht<br />
man erst den Sockel. Links im Bild werden die<br />
Außenanlagen der Kindereinrichtung „Schnatterinchen“<br />
angelegt. Zwei DDR-Fahnen sind im<br />
Bild zu sehen, eine rechts am Haus, eine geradeaus<br />
an der Fassade des Flachbaus. Die Häuser<br />
sind alle vollständig bezogen, obwohl die Außenanlagen<br />
noch nicht fertiggestellt sind.<br />
Die Analyse zeigt einen Straßenraum, der durch<br />
seine Bebauung nach Süden hin klar begrenzt<br />
wird, nach Norden in den fließenden <strong>Raum</strong> der<br />
Freiflächen zwischen den Zeilenbauten übergeht.<br />
Die im Grunde großzügige Anlage des südlichen<br />
Bürgersteigs liegt komplett im Schatten, und die<br />
Vielzahl der Hauseingänge gibt dem öffentlichen<br />
<strong>Raum</strong> an dieser Stelle einen eigenartig privaten<br />
Charakter. Auf der nördlichen Straßenseite sieht<br />
man die dort positionierten Zeilenbauten von der<br />
Rückseite. Obwohl hier teilweise Balkone zu erkennen<br />
sind, sind die vorgelagerten Freiräume<br />
keine Privatbereiche und nicht durch Zäune umfriedet.<br />
Die strenge, scheinbar geordnete Axialität des<br />
Bildes wird durch die zufällige Anordnung der<br />
Häuserblöcke und des scheinbar wahllos her-<br />
Das Bild „636 + 618 (10), 04.68“ ist in der heutigen<br />
Meisdorfer Straße aufgenommen und zeigt einen<br />
Blick in Richtung Wohnkomplexzentrum. Links<br />
im Bild (ABBILDUNG 37) ist ein fünfgeschossiges<br />
Wohnhaus angeschnitten (Block 634), dahinter<br />
sieht man einen Flachbau (Block 636) und<br />
im Bildhintergrund steht der Elfgeschosser des<br />
Blocks 618–621, damals noch Block 10 genannt.<br />
Herr M. hat bei diesem Bild ein 50-mm-Objektiv<br />
verwendet. Sein Standort befindet sich auf Höhe<br />
des Blocks 643 an der Meisdorfer Straße. Linkerhand,<br />
nicht mehr im Bild, liegt das Heizhaus<br />
(Block 654), das auch in der zu diesem Bild gehörigen<br />
Beschreibung von Herrn und Frau M.<br />
eine Rolle spielt, da es beiden als Merk- und Orientierungspunkt<br />
dient.<br />
Herr M. hat, um diese Aufnahme machen zu können,<br />
den Gehweg verlassen und sich auf einer<br />
Grünfläche am Straßenrand positioniert. Obwohl<br />
sich auch hier mehrere <strong>Raum</strong>ebenen hintereinander<br />
abzeichnen (Vordergrund mit Leuten,<br />
Wohnhaus, Flachbau, Hochhaus), entsteht in<br />
diesem Bild kaum räumliche Tiefe: Dass das elfgeschossige<br />
Wohnhaus, das den Blickraum begrenzt,<br />
weiter hinten liegt als das niedrigere Gebäude<br />
im Vordergrund, erkennt man lediglich an<br />
der Struktur der Fassade und an den Unschärfen<br />
der Aufnahme.<br />
Es fehlen räumliche Elemente, die in die Tiefe<br />
gerichtet sind: Lediglich die Laternen deuten auf<br />
einen Fluchtpunkt rechts außerhalb des Bildrandes<br />
hin. Die Außenanlagen, die hier schon<br />
fertiggestellt zu sein scheinen, weisen unterschiedliche<br />
gestalterische Ansätze auf, die insgesamt<br />
ein ambivalentes Bild ergeben: Während<br />
der von den Personen begangene Weg offenbar<br />
ein Grünzug werden soll (von der Straße abgerückt,<br />
mit eigener Beleuchtung), sind die Flächen<br />
auf der nördlichen Straßenseite so etwas<br />
wie Hausgärten, in denen Wäsche getrocknet<br />
werden kann. Da hier keine Zäune oder Mauern<br />
existieren, erkennt man die Funktion der Fläche<br />
jedoch lediglich an ihrer Belegung: Die im<br />
Plan festgelegte funktionale Zonierung wird in<br />
der perspektivischen Verkürzung zu einem heterogenen<br />
Tableau, in dem sich private und öffentliche<br />
Räume verschränken und ineinander<br />
schieben.<br />
Die Aufnahme ist nicht ohne Weiteres im Stadtraum<br />
zu verorten: Die heutige Schieloer Straße,<br />
160 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
EXKURS: „HEIMAT“ HALLE-NEUSTADT<br />
161
ABBILDUNG 49<br />
Ha-Neu 00.00 Uhr, 01.01.79: Ortsverschiebung<br />
Auch in diesem Bildraum hat die Vegetation<br />
sich in den Vordergrund gedrängt. Doch immer<br />
noch ist der Charakter dieses Stadtraumes unentschieden:<br />
Die große Weite, die doch gefasst<br />
ist, die immer noch kollektiv einsehbare Grünfläche<br />
und die Fußgängerzone am „Gastronom“<br />
bleiben unentschiedene Handlungsräume.<br />
Die Nutzungen der angrenzenden Gebäude haben<br />
sich mittlerweile verändert: Die Ledigenwohnungen<br />
im Kopfbau des Blocks 618–621 sind<br />
heute ein Altenheim (die Katharinen-Wohnanlage),<br />
im ehemaligen Rundbaukindergarten befindet<br />
sich eine Seniorenpflegestation, und der<br />
„Gastronom“ steht seit langem leer.<br />
Auch der „Plasteblock“ selbst ist nicht mehr<br />
voll bewohnt. Der von hier aus linke der beiden<br />
weiter hinten an der Magistrale gelegenen<br />
Elfgeschosser ist heute, nach mehrmaliger<br />
Insolvenz der verschiedenen Eigentümer, eine<br />
Ruine, die jedem, der nach Halle-Neustadt<br />
kommt, signalisiert, dass es hier Probleme<br />
gibt – nicht nur räumlicher Art.<br />
174 GEBAUTE WELT | GELEBTER RAUM<br />
EXKURS: „HEIMAT“ HALLE-NEUSTADT<br />
175
Möglichkeitsräume<br />
Die durchgeführten Analysen machen (wie schon der Prolog) deutlich,<br />
dass man über die „Wirklichkeit“ von Halle-Neustadt nicht sprechen<br />
kann, ohne ganz verschiedenen Stand-Punkten und Perspektiven Rechnung<br />
zu tragen. Zwar haben nicht alle heutigen Bewohner ein wohlsortiertes<br />
Fotoarchiv, und nicht alle künftigen Bewohner werden sich für<br />
das vergangene Lebensgefühl (und das ihm innewohnende Engagement)<br />
interessieren oder gar begeistern können, doch die gezeigten Versuche, bestimmte<br />
Kriterien gelebter Räumlichkeit in Ausschnitten zu visualisieren,<br />
ermöglichen zumindest ein Gespräch über Potenziale und Ziele, die mit<br />
der räumlichen Entwicklung verbunden sein könnten. Es ist wiederum<br />
charakteristisch für Halle-Neustadt, dass der Blick in die Vergangenheit<br />
hier, anders als in gewachsenen Städten, keinen Retro-Film, sondern einen<br />
Science-Fiction-Streifen zu zeigen scheint.<br />
Die Grafiken erheben nicht den Anspruch, einen allgemeingültigen<br />
Weg zur Darstellung des gelebten <strong>Raum</strong>es (oder des Bewohnten im Unbewohnbaren)<br />
gefunden zu haben. Sie stellen aber einen Versuch dar,<br />
Orte im Fluss der Zeit zu zeigen – denn als solche sind und bleiben sie<br />
Möglichkeitsräume, deren weitere Entwicklung nicht unwesentlich von den<br />
gegenwärtigen Interessen und den zukünftigen Plänen ihrer Bewohner abhängt.<br />
Dabei wird die räumliche Entwicklung Halle-Neustadts sicherlich<br />
nicht allein anhand von städtebaulichen Fragen entschieden. Die Hybris<br />
der Planer, die zu Beginn der 1960er Jahre der Ansicht waren, dass man<br />
ohne Weiteres eine Stadt für 100.000 Menschen mit einer sehr begrenzten<br />
Anzahl von Gebäude- und Außenraumtypologien und innerhalb weniger<br />
Jahre aus dem buchstäblichen Ackerboden stampfen könne, rächt sich<br />
heute deshalb auf so deutliche Weise, weil nicht nur das damals herrschende<br />
politische System, sondern auch die für die ursprüngliche Planung<br />
ursächlichen Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Halles Bevölkerung<br />
ist bald so weit geschrumpft, dass die verbleibenden Bewohner, rein rechnerisch,<br />
problemlos auf genau der Fläche wohnen könnten, die die Stadt<br />
vor dem Bau der Neustadt bereits einnahm – doch befinden sich viele der<br />
Wohnungen (und damit die Macht und die Möglichkeit der Steuerung)<br />
heute nicht mehr in städtischer Hand. Wenn es darum geht, für beide Teile<br />
der „Doppelstadt“ 10 eine zukunftsfähige Strategie zu entwickeln, dann<br />
erscheint es geboten, die jeweiligen Qualitäten zu erfassen und diese nicht<br />
in Konkurrenz, sondern in gegenseitiger Ergänzung weiterzuentwickeln.<br />
10 So lautete der programmatischen<br />
Slogan der IBA<br />
Sachsen-Anhalt 2010, die<br />
Halle unter dem Oberbegriff<br />
„Balanceakt Doppelstadt“<br />
qualifizieren wollte.<br />
11 Das IBA-Vorzeigeprojekt<br />
im Oleanderweg, ein<br />
ambitionierter Um- und<br />
Teilrückbau (Stefan Forster<br />
Architekten, Frankfurt/M.,<br />
2010 fertiggestellt) versucht<br />
mit zum Teil recht radikalen<br />
Eingriffen in die bauliche<br />
Substanz, diese Defizite zu<br />
beheben – wobei hier (Förder-)Mittel<br />
zur Verfügung<br />
standen, die den wirtschaftlichen<br />
und finanziellen Spielraum<br />
erheblich erweiterten.<br />
12 Mit den ersten Abrissen<br />
am Niedersachsenplatz<br />
entstand 2003 die Idee des<br />
Kulturblock e. V., die frei<br />
werdenden Grundstücke zu<br />
parzellieren und zur Bewirtschaftung<br />
an Hobbygärtner<br />
zu vergeben. Die Aktion, die<br />
versuchte, dem anstehenden<br />
Umbau positive Aspekte<br />
abzugewinnen, führte jedoch<br />
nicht zu bleibenden (nachhaltigen)<br />
Nutzerstrukturen.<br />
13 In Dessau beispielsweise<br />
werden sogar innerstädtische<br />
Areale „renaturiert“.<br />
Siehe auch: Ministerium für<br />
Landesentwicklung und Verkehr<br />
des Landes Sachsen-<br />
Anhalt (Hg) (2010).<br />
14 Siehe auch Hebert (2012)<br />
Die Qualitäten des Wohnstandortes Halle-Neustadt, das zeigen sowohl<br />
die hier betrachteten Bilder als auch die Aussagen der Bewohner, liegen<br />
in der „Weite des Blicks“, der ruhigen Atmosphäre, in der Funktionalität<br />
der kurzen Wege und der guten Versorgung mit Wohnfolgeeinrichtungen.<br />
Was vor allem die älteren Bewohner durchaus zu schätzen wissen, hält<br />
jedoch viele Jüngere und auch Familien von einem Zuzug ab: Einer stärkeren<br />
Diversifizierung der Nutzungen (und der Nutzer) stehen vor allem<br />
die baulichen Strukturen der Wohnblöcke entgegen, die unter anderem<br />
aufgrund des hohen Grundwasserstandes fast im ganzen Stadtgebiet erhöhte<br />
Sockelgeschosse besitzen. Dadurch ist mit vertretbarem Aufwand<br />
weder eine Durchmischung mit kleinteiligen Gewerbe- oder Dienstleistungsstrukturen,<br />
noch ein barrierefreier Zugang zu den Wohnungen zu<br />
erreichen; und selbst dort, wo die wohnungsnahe Anlage von Mietergärten<br />
möglich wäre, bleiben diese von der eigentlichen Wohnebene abgekoppelt.<br />
11<br />
Eine Besonderheit in der stadträumlichen, aber auch in der atmosphärischen<br />
Qualität von „Ha-Neu“ stellt heute sicherlich „das viele Grün“ dar,<br />
das den öffentlichen <strong>Raum</strong> prägt – und das mit jedem Abriss immer noch<br />
wächst. Neben eigenen Experimenten, mit den frei werdenden Flächen<br />
kreativ umzugehen, 12 kann Halle hier möglicherweise von den Erfahrungen<br />
anderer Städte lernen. 13 Vielleicht geben einige der historischen Bilder<br />
auch Anregungen für Zweckentfremdung und Subversion: Wenn man<br />
den weiten Stadtraum ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen<br />
zur Aneignung überließe, dann könnten sich spezifische Nutzungen, aber<br />
auch spezifische Zugehörigkeits- bzw. Zuständigkeitsgefühle entwickeln.<br />
Das Dogma der „aufgeräumten“ Stadt) sollte hier stellen- oder zumindest<br />
zeitweise aufgegeben werden – ein Kartrennen wäre dafür vielleicht nicht<br />
der schlechteste Anfang.<br />
Nicht nur für Halle-Neustadt gilt, dass die vermeintliche Stabilität<br />
von Orten aufgrund ihrer Zeitgebundenheit als relativ bezeichnet werden<br />
muss: Ihre Identität liegt weniger in der Konstanz ihrer Form oder in der<br />
Wiedererkennbarkeit ihrer Gestaltung, sondern in den Erinnerungen und<br />
Zuschreibungen ihrer Bewohner. 14<br />
Die hier präsentierten (karto-)grafischen Experimente suchen (für Halle-Neustadt<br />
im Speziellen, für andere Orte im Allgemeinen) nach Möglichkeiten,<br />
Ausschnitte aus der räumlichen Geschichte eines Ortes auch<br />
als Ausschnitte der Zeitgeschichte und im Zusammenhang mit einer persönlichen<br />
Biografie auf einem zweidimensionalen Trägermaterial präsentieren<br />
zu können. Als ortsbezogene Momentaufnahmen besitzen die hier<br />
betrachteten Fotografien zwar kaum „historische“ Relevanz, eingebettet in<br />
die dazugehörige Lebensgeschichte sind sie jedoch durchaus von Bedeutung<br />
– über das individuelle Erleben hinaus.<br />
Die dargestellten Ereignisse und Bilder eines vergangenen Alltags zeigen<br />
Ausschnitte aus einer Realität, in der die Gewöhnung an die neue<br />
Wohnumgebung noch eine echte Aufgabe war, was die heute erforderlichen<br />
Bemühungen, sich wieder oder neu zu gewöhnen, ein Stück weit<br />
relativieren mag. Halle-Neustadt ist eine Stadt, die nie „fertig“ war: Zum<br />
Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung und ihrer dichtesten Besiedlung,<br />
der Ende der 1980er Jahre erreicht war, fiel die Mauer; kurze Zeit später<br />
begann der lange (und noch lange nicht abgeschlossene) Prozess des<br />
Rückbaus. Die leicht futuristische Atmosphäre, die einige der historischen<br />
Aufnahmen vermitteln, lassen es fraglich erscheinen, ob sie eine vergange-<br />
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EXKURS: „HEIMAT“ HALLE-NEUSTADT<br />
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ne Wirklichkeit oder eine utopische Möglichkeit darstellen – was für die<br />
Stadt, in der das Morgen schon Gegenwart war, vielleicht auch künftige<br />
Räume erschließt.<br />
Fazit:<br />
„Die <strong>Welt</strong> ist nicht, sie bildet sich“<br />
Es ist an der Zeit, die Ergebnisse dieses Streifzuges<br />
zwischen Theorie und Praxis, zwischen<br />
universalen und konkreten Orten, zwischen<br />
gebauter <strong>Welt</strong> und gelebtem <strong>Raum</strong> zusammenzutragen<br />
und Bilanz zu ziehen. Dabei sind die<br />
Lernerfolge ebenso zu benennen wie die offenen<br />
Fragen, die bleiben: an die eigene und<br />
an andere Disziplinen.<br />
Die Fragestellung, ob und wie Architektur und Urbanismus für die<br />
konkrete Transformation städtischer Räume vom Verständnis gelebter<br />
Räumlichkeit profitieren können, ist in der vorliegenden Untersuchung<br />
auf mehrere Weisen und auf verschiedenen Ebenen beantwortet worden,<br />
obwohl die Differenzen zwischen den hier infrage stehenden Konzeptionen<br />
des <strong>Raum</strong>es erheblich und letztlich nicht zu nivellieren sind: Während<br />
sich der gelebte <strong>Raum</strong> als „<strong>Raum</strong> leiblicher Anwesenheit“ zwar erfahren,<br />
nicht aber darstellen lässt, ist der „<strong>Raum</strong> als Medium von Darstellung“,<br />
in dem wir als Architekten und Urbanisten unsere Vorstellungen von der<br />
Transformation konkreter, städtischer Räume erarbeiten, zwar in vielfältiger<br />
Weise darstellbar, jedoch nicht leiblich erfahrbar. Beide wiederum<br />
stehen in einem nur mittelbaren Verhältnis zum realen <strong>Raum</strong> unserer konkreten,<br />
gebauten Lebensumgebungen, der jedoch von beiden nicht nur<br />
beeinflusst, sondern auch Bedingung ihrer Existenz ist.<br />
Insofern ist, so die These, die Qualität der gebauten <strong>Welt</strong> nicht nur<br />
relevant für die Vielfalt der dort entstehenden Lebenswelten, sondern es<br />
ist umgekehrt auch die Qualität gelebter Räumlichkeit, die für die Erscheinungsweise<br />
des konkreten <strong>Raum</strong>es von Bedeutung ist. Um diese These<br />
zu belegen, wird im folgenden Abschnitt der Gang der Untersuchung<br />
noch einmal zusammenfassend nachvollzogen, um anschließend sowohl<br />
die Transfererfolge als auch die unbeantworteten Fragen und möglichen<br />
Anschlüsse durch weitere Forschungs- und Praxisprojekte zu erörtern.<br />
Bewohnbare Räume?<br />
Zusammenfassung der Problematik<br />
Architekten und Städtebauer üben maßgeblichen Einfluss auf die<br />
räumliche Entwicklung unserer Umwelt aus. Sie erzeugen und transformieren<br />
unaufhörlich kollektive Räume, die als Teil der gebauten <strong>Welt</strong> zu<br />
Orten alltäglicher Tätigkeiten, zu besonderen Orten der Identifikation<br />
oder auch zu Orten (oder Gegenständen) gesellschaftlicher Auseinandersetzungen<br />
werden. Diese Orte sind damit einerseits konkretes Produkt<br />
einer lokalen <strong>Raum</strong>- und Kulturgeschichte, andererseits deren (bauliche)<br />
Voraussetzung. Diese Wechselwirkung zwischen physisch konkretem und<br />
gesellschaftlich produziertem <strong>Raum</strong> ist der Grund dafür, dass gebaute<br />
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FAZIT: „DIE WELT IST NICHT, SIE BILDET SICH“<br />
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