Verwundete Landschaft neu gestalten
ISBN 978-3-86859-141-5
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Inhalt<br />
1 Rolf Kuhn / Rainer Müller: Zehn Jahre Umbruch und Aufbruch . ............. 5<br />
Die Mutter der F60: Elke Löwe * .......................................... 25<br />
Der Seenmacher : Walter Karge * .......................................... 31<br />
21 Petra Kabus: Geschichte einer Industrieregion ........................... 37<br />
22 Holger Bartsch: Alles auf Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
Der Wüstengänger: Karsten Feucht * . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
Der unerwartete Gast: Tommaso Lana * .................................... 75<br />
3 Oliver G. Hamm / Brigitte Scholz: <strong>Landschaft</strong>slabor Lausitz . ................. 81<br />
Die Friedensstifterin: Irmgard Schneider * . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />
Die Offensive: Kathrin Winkler * .......................................... 111<br />
4 Wolfgang Kil: Insel der besonderen Freiheiten . ........................... 117<br />
Die Unternehmerin: Karin Mietke * . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />
Die Heimatkundige: Carola Meißner * ...................................... 139<br />
5 Tina Veihelmann: Wie man eine Schleuder baut .......................... 145<br />
Die Lebenskünstlerin: Gesine Carlitscheck * ................................. 161<br />
Der den Ton angibt: Marcel Friedrich * ...................................... 167<br />
6 Jürg Montalta: Paradies 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />
* Katja Sophia Wolf (Texte), Frank Döring (Fotografien): Zehn Porträts.
1<br />
Zehn Jahre Umbruch und Aufbruch<br />
Eine Rückschau auf die IBA Fürst-Pückler-Land<br />
Rolf Kuhn / Rainer Müller<br />
Der globale Energie- und Rohstoffhunger steigt unaufhörlich. Jahr für Jahr verbraucht die<br />
Menschheit größere Mengen an Bodenschätzen. Immer abgelegener werden die Weltgegenden,<br />
in denen nach Öl, Gas, Kohle, Kies, Ton und Erzen gebohrt und gegraben wird.<br />
Immer aufwendiger die Abbaumethoden und immer größer die Bandbreite der nachgefragten<br />
Ressourcen. Selbst die Tiefsee und Grönland rücken in den Fokus der Bergbaukonzerne,<br />
weil hier riesige Reserven wertvoller Rohstoffe vermutet werden.<br />
Schon heute wird mit großem Aufwand im Norden Kanadas Öl aus gefrorenem Sand<br />
gewonnen. Steigende Nachfrage und steigende Preise machen dies lukrativ. Noch nie wurden<br />
so viele Rohstoffe verbraucht wie 2010. Alleine die Nachfrage nach fossilen Energieträgern<br />
stieg gegenüber dem Vorjahr um 5,6 Prozent, für Kohle gar um 7,6 Prozent.¹ Laut<br />
einem UNO-Bericht könnte sich der weltweite Ressourcenverbrauch bis 2050 auf dann<br />
140 Milliarden Tonnen verdreifachen.² Ursächlich hierfür sind das globale Bevölkerungswachstum,<br />
der hohe Verbrauch in Industrieländern und die wachsende weltweite Nachfrage.<br />
Vor allem die bevölkerungsreichsten Länder China und Indien holen mit großer<br />
Geschwindigkeit auf und werden auf den Weltmärkten aktiv.<br />
Wettlauf um knappe Rohstoffe Die westlichen Konzerne sind nicht mehr unter sich.<br />
Dass französische, britische oder amerikanische Unternehmen im Urwald Nigerias nach<br />
Erdöl bohren, in der Wüste des Nigers Uran abbauen und auch deutsche Stromkonzerne<br />
Steinkohle aus kolumbianischen Minen beziehen, scheint selbstverständlich. Nun aber<br />
kaufen auch chinesische Staatskonzerne Kohleminen in Sambia auf, Kobaltminen im<br />
Kongo oder sie erwerben Konzessionen zur Ausbeutung von Ölfeldern im Sudan. China<br />
eröffnet fast jede Woche ein <strong>neu</strong>es Kohlekraftwerk und verbraucht heute fast die Hälfte der<br />
weltweit geförderten Kohle.³ ◘ 1 › S. 6<br />
Die Verschiebung der politischen und wirtschaftlichen Gewichte führt zu einem Wettlauf<br />
um knapper werdende Rohstoffe und zu einem Anstieg der Preise. Nicht nur der<br />
Abbau von Ölsanden in Kanada rechnet sich dadurch, auch in Australien werden längst<br />
geschlossene Goldminen wieder geöffnet und in Europa, selbst in Deutschland, wird über<br />
die Erschließung von Vorkommen nachgedacht, die bislang als unrentabel galten: Bei Delitzsch<br />
in Sachsen hat sich die <strong>neu</strong> gegründete Deutsche Rohstoff AG die Förderrechte für<br />
5
5 Räumliche Zuordnung /<strong>Landschaft</strong>sinseln und<br />
zeitliches Spektrum der 30 IBA-Projekte<br />
Zeitliches Spektrum<br />
der 30 IBA-Projekte:<br />
Eiszeit 450.000 Jahre v. Chr.<br />
[16] Geopark Muskauer Faltenbogen<br />
Mittelalter 9. Jhd. – 14. Jhd.<br />
[17] Gubiner Hauptkirche<br />
[22] Slawenburg Raddusch<br />
Im Geiste der Aufklärung 19. Jhd.<br />
[15] Fürst-Pückler-Park Bad Muskau<br />
[20] Fürst-Pückler-Park Branitz<br />
[25] Kulturlandschaft Fürstlich Drehna<br />
Industriezeit 20. Jhd.<br />
[2] Besucherbergwerk F60<br />
[4] Erlebnis-Kraftwerk Plessa<br />
[5] Biotürme Lauchhammer<br />
[6] Industriepark und Gartenstadt Marga<br />
[18] Gubener Wolle – Neißeinsel – Haus Wolf<br />
[21] Großsiedlung Sachsendorf Madlow<br />
[29] ENERGIE-Route »Lausitzer Industriekultur«<br />
Wandlungen nach der Kohle 1. Jahrzehnt im 21. Jhd.<br />
[1] IBA Auftaktgebiet Großräschen-Süd<br />
[8] Landmarke Lausitzer Seenland<br />
[9] Schwimmende Häuser Geierswalde<br />
[13] <strong>Landschaft</strong>sprojekt Welzow<br />
[14] Energielandschaft Welzow<br />
[24] Sielmanns Naturlandschaft Wanninchen<br />
[27] Schwimmende Häuser Gräfendorfer See<br />
[28] Kunstlandschaft Pritzen<br />
[30] Fürst-Pückler-Weg<br />
Wandlungen nach der Kohle 2. Jahrzehnt im 21. Jhd.<br />
[3] Schwimmendes Erlebniszentrum »Die Sonne«<br />
am Bergheider See<br />
[7] SeeStadt Senftenberg<br />
[10] Lagunendorf Sedlitz<br />
[11] Schwimmender Steg Sedlitzer See<br />
[12] Marinapark Sedlitzer See<br />
[19] Cottbuser Ostsee<br />
[23] Wasserreich Spree in Lübben<br />
[26] <strong>Landschaft</strong>skunstwerk »Die Hand« Altdöbern<br />
12<br />
4<br />
24<br />
5<br />
25<br />
3 2<br />
23<br />
22<br />
1<br />
26<br />
27<br />
28<br />
29<br />
12<br />
30<br />
10<br />
8<br />
11<br />
6 7<br />
13<br />
9<br />
21 20 19 17<br />
14<br />
Räumliche Zuordnung<br />
»<strong>Landschaft</strong>sinseln«<br />
1 IBA-Zentrum<br />
2 Lauchhammer-Klettwitz: Industriekultur<br />
3 Gräbendorf-Greifenhain: <strong>Landschaft</strong>skunst<br />
4 Welzow: <strong>Landschaft</strong> im Wandel<br />
5 Wasserwelt Lausitzer Seenland<br />
6 Seese-Schlabendorf: Vorindustrielle Kultur –<br />
Nachindustrielle Natur<br />
7 Cottbus: Seestadt – Stadtsee<br />
8 Bad Muskau-Nochten: Fürst-Pückler-Kulturlandschaft<br />
9 Europainsel Guben-Gubin<br />
18<br />
16<br />
15<br />
Das Konzept der <strong>Landschaft</strong>sinseln entstand gleich in der Anfangsphase der IBA. Es entpuppte<br />
sich als eminent hilfreich, die Teilräume zu verstehen, vom physisch Offensichtlichen<br />
zu abstrahieren. Nur so konnte das IBA-Team konkrete Projektideen entwickeln, die<br />
auf die jeweiligen Gegebenheiten reagieren. Dem großen studentischen Workshop 2001<br />
dienten sie zur Zuordnung von Teilräumen sowie zur inhaltlichen Orientierung.<br />
Einzelprojekte und<br />
Wirkungsebenen Die 30 Projekte wirken – idealerweise – auf verschiedenen Ebenen:<br />
»physisch« vor Ort am Standort, in den Köpfen der regional beteiligten Akteure und überregional<br />
auf der Ebene der Fachleute und Touristen. Die IBA brachte ihre Ideen in den<br />
laufenden Sanierungsprozess mit ein und achtete darauf, dass ein hoher gestalterischer<br />
Anspruch erreicht wurde. Beharrlich arbeitete sie an einem Bewusstseinswandel in der<br />
Region, in der jahrzehntelang das Primat der Braunkohlegewinnung galt.<br />
Ein Beispiel hierfür sind die IBA-Terrassen: Es war eine bewusste Entscheidung der<br />
IBA, direkt am Rand des früheren Tagebaus Meuro, dort wo die Straße abrupt an einem<br />
riesigen Krater abbricht, die zentrale Anlaufstelle für Besucher zu schaffen. Die IBA-Terrassen<br />
sind ein Statement: Auch wenn ein Drittel der Stadt abgebaggert wurde und sie<br />
heute hier an den IBA-Terrassen endet, und auch wenn mit der Stilllegung des Tagebaus<br />
das Kapitel Bergbau in Großräschen abgeschlossen war, so ist das doch nicht das Ende für<br />
Großräschen und das Lausitzer Revier – sondern der Anfang von etwas Neuem. Nirgendwo<br />
wird der Wandel der Lausitz vom Braunkohlerevier zum Seenland, vom »Bergmann<br />
zum Seemann«, so deutlich wie auf den IBA-Terrassen. ◘ 2 › S. 8 / 9<br />
Direkt an der Abbruchkante, die ja auch einen Bruch in der Entwicklung von Großräschen<br />
darstellt, markiert nun ein modernes Bauwerk aus Sichtbeton den Beginn einer<br />
<strong>neu</strong>en Zeit. Hervorgegangen aus einem Architekturwettbewerb, waren die IBA-Terrassen<br />
die Initialzündung für alle weiteren baulichen Entwicklungen, die am <strong>neu</strong>en Seeufer bis<br />
heute folgten: die Seebrücke, das Seehotel, das <strong>neu</strong>e Wohngebiet. Bevor die IBA-Terrassen<br />
2004 als Veranstaltungsort und Besucherzentrum eröffneten, war dieser Teil Großräschens<br />
eine Art »No-Go-Area«. Zu schmerzlich war der Verlust des historischen Ortes, der alten<br />
13
13 Ministerpräsident Matthias Platzeck setzt bei der Eröffnung<br />
des IBA-Finales 2010 auf den IBA-Terrassen die Segel. Auch<br />
wenn sich am Ende des Jahres 2010 die IBA verabschiedet –<br />
der Motor für den Wandel läuft weiter. Die Spuren, welche die<br />
IBA im brandenburgischen Süden hinterlässt, werden noch<br />
lange sichtbar bleiben.<br />
14 IBA-Studierhaus in Großräschen<br />
(auf Luftbild S. 20 / 21 ganz rechts)<br />
14<br />
13<br />
der Region am Grund des entstehenden Großräschener Sees eine »See-Symphonie« mit<br />
dem Titel »Paradies 2 – Beginnt jetzt!« – ein bewegender Abschied von der alten Heimat<br />
und zugleich ein entschlossener Blick nach vorne.<br />
»Auf zu <strong>neu</strong>en Ufern!« hieß die siebte und letzte Inszenierung am Ufer des entstehenden<br />
Sedlitzer Sees, als 5000 Lausitzer in den Abendstunden mit ihren Taschenlampen<br />
das Seeufer in eine »Lichtskulptur« verwandelten. Es war das Konzept des Regisseurs für<br />
die Veranstaltungsreihe, dass die Menschen keine Eventkultur vorgesetzt bekommen, die<br />
sie konsumieren können. Stattdessen mussten sie selbst aktiv werden, sich einbringen.<br />
Jürg Montalta hat die Teilnehmer angeregt, hat ihnen Wege aufgezeigt, die sie dann selbst<br />
gehen mussten. ◘ 13<br />
Wie weiter? Die IBA hat zehn Jahre lang Sichtweisen und scheinbare Gewissheiten infrage<br />
gestellt. Das war oft lästig und anstrengend. Und es trübte im Alltag der Projektarbeit<br />
manchmal den nötigen Blick nach vorne. Nicht immer, wenn die IBA-Projektbetreuer<br />
mit ihren Architekten, <strong>Landschaft</strong>splanern und Künstlern von »auswärts« zu Bürgerversammlungen,<br />
Runden Tischen oder Arbeitskreissitzungen mit Bauverwaltungen, Forstämtern<br />
und Bergbausanierern kamen, sprachen die Beteiligten die gleiche Sprache. Dies<br />
führte auch zu Missverständnissen. Eine IBA ist ohnehin immer auch ein Experiment –<br />
und Experimente können scheitern, müssen auch scheitern dürfen. So konnten nicht alle<br />
Projekte während der IBA-Laufzeit 2000 bis 2010 umgesetzt werden. 20 von 30 Projekten<br />
können als umgesetzt betrachtet werden, zwei weitere sind derzeit im Bau, acht in<br />
Planung. Aber leider ist auch ein Projekt gescheitert (vgl. Kapitel Scholz / Hamm). Hier<br />
wurde der Konflikt deutlich, der sich wie ein roter Faden durch die gesamte Laufzeit der<br />
IBA zog und den Karl Ganser in seiner Festrede zum IBA-Finale im Herbst 2010 als »großen<br />
Graben zwischen dem alten Denken des Bergbaus und der <strong>neu</strong>en Leichtigkeit einer<br />
postindustriellen Zeit« beschrieb. Er sagte aber voraus: »Die <strong>neu</strong>en Denkweisen sind nur<br />
aufgeschoben, sie werden wieder erscheinen. Denn die Wahrnehmung dieser IBA wird<br />
nach dem Finale größer sein als vorher.«<br />
Diese veränderte Wahrnehmung der IBA war bereits zum Ende der Laufzeit überall<br />
spürbar. Die Anerkennung wuchs. Ganz wesentlich dazu beigetragen hat »Paradies 2«, das<br />
22<br />
der Bevölkerung zeigte, dass sie ernst genommen wird. Immer öfter hieß es in Gesprächen<br />
»Schade, dass die IBA zu Ende geht«. Dabei geht es gar nicht zu Ende. Zwar hatte die IBA<br />
2010 ihr Präsentationsjahr und mit »Paradies 2« ihren künstlerischen Abschluss, aber der<br />
Umbau der Lausitz geht weiter – nicht nur bei den bisher unvollendeten Projekten der<br />
IBA. Wünschenswert wäre es, der Geist der IBA, die »<strong>neu</strong>en Denkweisen« würden weiterleben.<br />
Es gibt noch viel zu tun bei der weiteren Sanierung der Bergbaufolgelandschaften,<br />
dem Bau der Kanäle zwischen den Seen, bei der Gestaltung der Seeufer, aber auch beim<br />
Umgang mit dem industriellen Erbe. Der <strong>neu</strong>e Anspruch, gestalterisch und ästhetisch, das<br />
Verspielte und Leichte würden der Region weiterhin gut tun.<br />
Der Bergbau im Lausitzer Revier wird wohl noch einige Jahrzehnte weitergehen, weitere<br />
Bergbaufolgelandschaften werden also dazukommen – und damit Herausforderungen<br />
an die regionalen Planer. Herausforderungen, die sie hoffentlich kreativ, mit großem Gestaltungswillen<br />
und stets mit der Gesamtentwicklung im Blick annehmen.<br />
Um hierfür einen mit außergewöhnlichen Anstrengungen verbundenen Zeithorizont<br />
vorzugeben, wäre es hilfreich, wenn mit der technischen Fertigstellung des Lausitzer<br />
Seenlandes etwa im Jahr 2015 noch einmal ein Präsentationshöhepunkt gesetzt wird,<br />
diesmal jedoch länderübergreifend zwischen Brandenburg und Sachsen. Wichtig ist auch,<br />
dass Netzwerkprojekte wie der Fürst-Pückler-Radweg, die Lausitzer Industriekultur und<br />
das Kompetenzzentrum Schwimmende Architektur weiterentwickelt werden. Durch das<br />
großflächig <strong>neu</strong> zu <strong>gestalten</strong>de und <strong>neu</strong> zu nutzende Lausitzer Seenland ergeben sich<br />
für die Schwimmende Architektur deutschlandweit einmalige Möglichkeiten, die mit der<br />
Entwicklung schwimmender Häuser in Richtung Energieautarkie und Wasserkreislauf<br />
gepaart werden könnten, sodass die Lausitz wie zur Hochzeit der Industrieentwicklung<br />
wieder weltweit an die Spitze ingenieurtechnischer und architektonischer Innovation treten<br />
würde.<br />
Die IBA als Institution gibt es nicht mehr, doch die Prozesse, die sie angestoßen hat,<br />
sind unumkehrbar. Die Projekte bleiben der Region erhalten und hoffentlich auch die<br />
Netzwerke, der Erfahrungsschatz und das Know-how. In der zweijährigen Liquidationsphase<br />
der IBA GmbH werden gemeinsam mit der Stadt Großräschen die Weichen gestellt<br />
für die Umnutzung der früheren Geschäftsstelle als IBA-Studierhaus mit Wissensspeicher<br />
23
3 Hannelore und Wolfgang Joswig sowie Helmut Rippl legten im<br />
Ergebnis der Projektwoche »Hommage an Otto Rindt« die Idee vor,<br />
am auslaufenden Tagebau Meuro im Rahmen der Sanierung einen<br />
<strong>Landschaft</strong>spark zu schaffen. Zusammengefasst in der Dokumentation<br />
»Das Prinzip Hoffnung«, fungierte diese Idee als Angebot für<br />
eine (mög liche) Internationale Bauausstellung 2010<br />
3<br />
Veredelungsbetriebe und die Altlasten wurden auf die Lausitzer Bergbauverwaltungsgesellschaft<br />
(LBV) übertragen, die im Eigentum des Bundes blieb und noch im Jahre 1994 mit<br />
der Mitteldeutschen Braunkohleverwaltungsgesellschaft MBV zur LMBV vereinigt wurde.<br />
Diesem bundeseigenen Unternehmen wurde die Sanierung der gesamten Bergbaualtlasten<br />
einschließlich der bergrechtlichen Sicherungsmaßnahmen für die Auslauftagebaue<br />
übertragen. Zur Finanzierung dieser Aufgabe schlossen der Bund und die Braunkohleländer<br />
Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 1992 das erste Verwaltungsabkommen<br />
Braunkohlesanierung.<br />
Damit wurde die LMBV in der Lausitz einer der wichtigsten Arbeitgeber. Sie beschäftigte<br />
zu Beginn an die 20.000 Arbeitnehmer und hatte die Aufgabe, immer auch geförderte<br />
Arbeitnehmer (ABM) einzusetzen. Ohne die für viele Menschen in der Lausitz dramatischen<br />
Auswirkungen des Strukturwandels leugnen zu wollen – die Arbeitslosenquoten<br />
lagen zeitweise über 25 Prozent –, muss doch festgestellt werden, dass die Bergbausanierung<br />
vor allem in der ersten Hälfte der 90er Jahre die Folgen des starken Beschäftigungsrückgangs<br />
in der Braunkohlewirtschaft wenigstens mildern konnte.<br />
Eine IBA in der Lausitz? Mit den oben genannten sozialpolitischen »Abfederungsmaßnahmen«<br />
einerseits und dem Verwaltungsabkommen zur Braunkohlesanierung andererseits<br />
hatte der Bund Instrumente geschaffen, die allerdings nur die sozialen und ökologischen<br />
Folgen des Strukturbruchs milderten – eine Zukunftsperspektive erwuchs daraus<br />
für die gebeutelte Region noch nicht. Wenn es einer Region so schlecht geht, dann greift<br />
sie nach jeder Chance, vorausgesetzt, es gibt Verantwortungsträger, die eine solche auch<br />
erkennen. So bewarb sich die Stadt Cottbus mit ihrem damaligen Oberbürgermeister Waldemar<br />
Kleinschmidt als erste Stadt in den <strong>neu</strong>en Ländern um die Ausrichtung einer Bundesgartenschau,<br />
erhielt den Zuschlag, investierte 130 Millionen DM, davon ca. 95 Millionen<br />
Fördermittel 10 und hatte einen städtebaulichen Entwicklungsschub, der noch heute<br />
erkennbar ist. Was also konnte eine solche Chance für eine ganze Region sein, wie konnte<br />
eine Vision für die Lausitz aussehen?<br />
Es waren die Senftenberger Architekten und Stadtplaner Hannelore und Wolfgang<br />
Joswig, die im Ergebnis der Projektwoche »Hommage an Otto Rindt« die Idee vorlegten,<br />
58<br />
am auslaufenden Tagebau Meuro im Rahmen der Sanierung einen <strong>Landschaft</strong>spark zu<br />
schaffen. Der »Ilse-Park Niederlausitz« sollte »ein Angebot für eine (mögliche) Internationale<br />
Bauausstellung 2010« sein.11 Die Idee war, den notwendigen Sanierungsprozess<br />
so zu <strong>gestalten</strong>, dass im Ergebnis eine spektakuläre Bergbaufolgelandschaft mit hohem<br />
Nachnutzungspotenzial entstünde. Notwendige Änderungen des Abschlussbetriebsplanes<br />
sollten dafür frühzeitig die Vorraussetzungen schaffen.12 Die Bezugnahme auf eine<br />
IBA kam nicht von ungefähr. Zu dieser Zeit näherte sich die IBA Emscher Park ihrer Halbzeit,<br />
und die Ähnlichkeit der Joswig’schen Vision mit den Zielen dieser IBA ist unverkennbar.<br />
Bereits in der ersten Dokumentation bezogen sich die Autoren darüber hinaus<br />
ausdrücklich auch auf den Schöpfer der Parks in Muskau und Branitz, den »grünen« Fürsten<br />
Hermann von Pückler-Muskau, indem sie ihr Konzept als Weiterentwicklung seiner<br />
landschaftsgärtnerischen Ideen und Leitlinien verstanden wissen wollten. ◘ 3<br />
Die Vision war in der Welt, nun brauchte es Menschen, die sie tatsächlich als Chance<br />
be- und ergriffen. Dass sich solche Menschen zunächst unter den Kommunalpolitikern<br />
des gerade <strong>neu</strong> geschaffenen Landkreises Oberspreewald-Lausitz (OSL) fanden, war folgerichtig.<br />
Zum einen war es ja eine Projektidee für einen Teilbereich dieses Landkreises, zum<br />
anderen war und ist dieser Landkreis immer noch der »Sanierungslandkreis« schlechthin.<br />
Von Nord nach Süd lagen zu diesem Zeitpunkt je nach Sicht- bzw. Zählweise acht bis<br />
<strong>neu</strong>n sogenannte Sanierungsräume auf dem Territorium des Kreises, fast ein Drittel der<br />
Kreisfläche war durch den Bergbau beeinflusst, und insgesamt 122 Restlöcher (zum Teil<br />
auch aus dem Glassandabbau im Süden) machten den Landkreis zum »restlochreichsten«<br />
des Landes. ◘ 4<br />
Als unmittelbar von der Idee des »Ilse-Parks« Betroffener engagierte sich der<br />
Großräschener Bürgermeister Thomas Zenker in der Folgezeit für die Weiterentwicklung<br />
des Konzeptes – und es war seine Stadt, die bei einer zweiten Projektwoche auch den<br />
Schwerpunkt mit dem heutigen IBA-Auftaktgebiet bildete. Der Autor selbst, damals als<br />
Landrat mit dem Kreisplanungsamt direkt in die Entwicklung der Planungsidee eingebunden,<br />
hatte Anfang September 1994 die Gelegenheit, dem Ministerpräsidenten des Landes<br />
Brandenburg, Manfred Stolpe, zum ersten Mal dieselbe vorzustellen, wobei die Reaktion<br />
darauf eher zurückhaltend ausfiel.<br />
59
7 Die Regionale Planungsgemeinschaft beruft das »Gründungskuratorium IBA Fürst-Pückler-Land« unter Leitung von<br />
Walter Momper ein. Prof. Karl Ganser (damals Geschäftsführer der IBA Emscher Park) ist Ideengeber und Berater.<br />
Das Kuratorium empfiehlt 1996 die Durchführung einer IBA in der Lausitz und schlägt 20 Projekte dafür vor.<br />
8 Gemeinsam mit Ministerpräsident und Ministern der Landesregierung Brandenburg die Gründungsgesellschafter der<br />
IBA: die damaligen Landräte von Oberspreewald-Lausitz, Elbe-Elster, Spree-Neiße und Dahme-Spreewald –<br />
Holger Bartsch, Walter Kroker, Dieter Friese und Martin Wille – sowie der Oberbürgermeister der Stadt Cottbus Waldemar<br />
Kleinschmidt, März 1999<br />
9 Der damalige Umweltminister und spätere Ministerpräsident des Landes Brandenburg Matthias Platzeck enthüllt<br />
bereits im September 1998 das Baustellenschild für den künftigen IBA-Geschäftssitz in Großräschen. Daneben Walter<br />
Karge und Holger Bartsch.<br />
?<br />
8<br />
7<br />
9<br />
unten« von so herausragender Bedeutung war, sollen hier zumindest zwei Namen stehen.<br />
Es war der damalige Leiter der Planungsstelle der Regionalen Planungsgemeinschaft<br />
Lausitz-Spreewald, Alois Seewald, der mit seinen Mitstreitern die Ausdehnung der IBA<br />
auf die gesamte Planungsregion vorantrieb, und es war die damalige Referatsleiterin des<br />
Planungsreferates Süd in der gemeinsamen Landesplanung (GL), Edith Lotzmann, die für<br />
die Machbarkeitsstudien die finanziellen Mittel »herbeischaffte«.<br />
Was kann,<br />
was soll die IBA leisten? Ganz bewusst vergab die Regionale Planungsgemeinschaft mit<br />
Unterstützung des Umweltministeriums zwei Machbarkeitsstudien, um neben der regionalen<br />
Sicht auch eine von außen zu bekommen. Folgerichtig erhielt den einen Zuschlag<br />
eine Arge, die sich ausschließlich aus regionalen Akteuren rekrutierte,15 während der andere<br />
Zuschlag an eine externe Arge 16 ging.<br />
So unterschiedlich die Auftragnehmer, so unterschiedlich auch die Ergebnisse. Während<br />
die regionale Arge sich sehr konkret auf einzelne, bereits angedachte bzw. in den<br />
Nachnutzungskonzepten enthaltene Projekte konzentrierte und außer dem Gesamtkonzept<br />
bereits eine Projektliste vorschlug, sahen die Externen vor allem das Einmalige der<br />
sogenannten Zwischenlandschaft und schlugen unter anderem vor, einen ausgekohlten Tagebau<br />
offen zu halten. So spektakulär sich ein solches Projekt auch dargestellt hätte, eine<br />
realistische Option war das jedoch – schon aus Sicherheits-, aber auch aus Kostengründen –<br />
nie. Zwangsläufig stand die »Basler-Studie« mit den Zielen der Abschlussbetriebspläne<br />
im Widerspruch, die unter anderem die Standfestigkeit der geschütteten Böschungen und<br />
das gefahrlose Betreten der sanierten Bergbaufolgelandschaft beinhalten. Darüber hinaus<br />
hätte ihre Zielstellung in der Region sehr wahrscheinlich zur Ablehnung der IBA geführt,<br />
wie sich später am Projekt »Wüste / Oase Welzow« zeigen sollte. So wurde sie in der<br />
Auswertung und den darauf fußenden Entscheidungen der Planungsgemeinschaft nicht<br />
weiter verfolgt. Dessen ungeachtet begleitete die Diskussion darüber, wie viel Wildheit,<br />
wie viel Künstlichkeit die entstehende Bergbaufolgelandschaft haben sollte, den weiteren<br />
Prozess der Herausbildung einer IBA-Philosophie noch über einen längeren Zeitraum. Mit<br />
dem Tagebau Meuro-Süd, der bis 1999 noch in Betrieb war, wurde schließlich in der IBA-<br />
64<br />
Zeit die Möglichkeit geschaffen, eine sogenannte »Zwischenlandschaft« selbst zu »erwandern«,<br />
was sich später als ein ausgesprochener touristischer Renner erweisen sollte.<br />
Am 19. Februar 1997 konstituierte sich ein von der Planungsgemeinschaft berufenes<br />
Expertengremium, das sogenannte Kuratorium. Zum Vorsitzenden wurde der ehemalige<br />
Regierende Bürgermeister von Berlin und der Mitinitiator der Berliner Altbau-Neubau-<br />
IBA, Walter Momper, einstimmig gewählt. Unter seiner souveränen Leitung und der intensiven<br />
Mitarbeit von Karl Ganser erarbeitete, ja man kann fast sagen, erstritt sich das<br />
aus Vertretern von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zusammengesetzte Gremium 17<br />
in sieben Sitzungen im Zeitraum Februar bis Juni ein Grundsatzpapier. Dieses wurde unter<br />
dem Titel »Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land – Werkstatt für <strong>neu</strong>e <strong>Landschaft</strong>en<br />
in der Lausitz – Die Empfehlungen des Gründungskuratoriums« der Öffentlichkeit,<br />
vor allem aber der Landesregierung, übergeben. Das einschließlich der Bildbeigaben<br />
nur 56 Seiten starke Gründungsdokument der späteren IBA beinhaltete in drei Kapiteln<br />
die programmatischen und organisatorischen Grundsätze, einschließlich eines Finanzierungsvorschlages<br />
der zukünftigen IBA sowie eine Projektliste von 20 Projekten. ◘ 7 Zudem<br />
empfahl es »der Region und der Landesregierung die Durchführung der Internationalen<br />
Bauausstellung« mit den vier Arbeitsbereichen Neue <strong>Landschaft</strong>en, Industriekultur, Baukultur<br />
und Tourismus.18<br />
Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass trotz anfangs sehr unterschiedlicher Vorstellungen<br />
über Ziele und Inhalte, ja sogar über den Namen, letztlich alle Kuratoriumsmitglieder<br />
hinter diesem Dokument standen. Es wäre ein eigenes Kapitel wert, diesen Prozess<br />
zu schildern, der von einer seltenen, schöpferischen Spannung und Intensität geprägt war.<br />
Auch wenn jeder Krämer seine Ware lobt, steht es dem Autor nicht an, einzelne Aussagen<br />
des Berichts als auch aus heutiger Sicht noch hochaktuell zu bewerten.<br />
Eingedenk der finanziellen Möglichkeiten des Bundeslandes Brandenburg orientierten<br />
sich die Empfehlungen an einer eher schmalen IBA-Organisation mit zehn bis zwölf<br />
festangestellten Mitarbeitern und einem Jahresetat von 3,25 Millionen DM. Ungeachtet<br />
dessen dauerte es noch fast zwei Jahre, bis die Landesregierung am 30. März 1999 in einer<br />
gemeinsamen Sitzung des Kabinetts mit den Vertretern der Region in Cottbus grünes<br />
Licht für die IBA gab. ◘ 8 Es bedurfte erst der Gründung einer IBA-Vorbereitungsgesell-<br />
65
Besuchern, die hier übernachten, essen u. a. m., weil die<br />
Menschen dann beginnen, diese Vision besser zu verstehen.«<br />
Er folgt seiner eigenen Sehnsucht, sucht die Tiefe, die<br />
Wahrheit, das Echte. Als er ganz jung während eines Studienstipendiums<br />
in Chile seine heutige Frau kennenlernt, hat<br />
er noch nicht den Mut, seinen Gefühlen recht zu geben. Erst<br />
als er über die IBA zu einer Konferenz nach Chile reist und<br />
sie sich wieder suchen, entschließen sie sich, gemeinsam in<br />
der Lausitz zu leben. Sie haben inzwischen drei Kinder, und<br />
auf die Frage, wie sich der Kontakt nach Chile erhalten lässt,<br />
meint er: »Vielleicht werde ich ja hier in Welzow einmal Tagebauführer<br />
aus der Atacama-Wüste schulen, wer weiß?«<br />
--<br />
Anmerkungen<br />
1 „Public Relations und Imageaufbau für eine Region am Beispiel der Unternehmenskommunikation der<br />
IBA Fürst-Pückler-Land“, Magisterarbeit von Jana Tschitschke, TU Dresden, 2004<br />
Tommaso Lana<br />
Der unerwartete Gast<br />
74 74<br />
75
80 80<br />
Bewusstwerdungsprozesses. Wenn die Welzower beginnen,<br />
»sich selbst zu unternehmen«, ihr eigenes Potenzial zu<br />
erkennen und dieses in einem <strong>neu</strong>en Miteinander zu entfalten,<br />
geht es nicht mehr nur noch darum, irgendwie zu<br />
überleben. »Dann beginnen sie, ihr Leben als Kunstwerk zu<br />
kreieren.«<br />
Tommaso hält bildlich gesehen mit dem Welzow-Projekt<br />
»ein noch verpacktes Geschenk in seinen Händen«, das<br />
er mitnehmen wird für seine berufliche und private Zukunft.<br />
»Und noch etwas Großes darf ich mitnehmen: Die authentische<br />
Freundschaft vieler Menschen, die entschieden haben,<br />
dieses Geschenk mit mir gemeinsam auszupacken.«<br />
81<br />
3<br />
<strong>Landschaft</strong>slabor Lausitz<br />
Das Beispiel Tagebau Welzow-Süd<br />
Oliver G. Hamm / Brigitte Scholz<br />
Seit 1844 wird in der Lausitz Braunkohle gefördert, zunächst im Tiefbau, ab Anfang des<br />
20. Jahrhunderts aus großen Tagebauen. Welche gewaltigen Erdmassen dabei bewegt<br />
wurden – und in den fünf verbliebenen Lausitzer Tagebauen in Jänschwalde, Cottbus-<br />
Nord, Welzow-Süd, Nochten und Reichwalde noch bis weit ins 21. Jahrhundert hinein<br />
bewegt werden –, verdeutlichen einige Zahlen: Seit 1930 förderte man in der Lausitz insgesamt<br />
rund sieben Milliarden Tonnen Kohle. Bis 2010 beanspruchte der Bergbau 814<br />
Quadratkilometer Fläche, ihm fielen 125 Orte mit insgesamt fast 28.000 Einwohnern zum<br />
Opfer, das heißt, die Bevölkerung einer durchschnittlichen Kleinstadt musste ihre Heimat<br />
verlassen und <strong>neu</strong> angesiedelt werden. Andererseits gab die Braunkohleindustrie in<br />
der gesamten damaligen DDR Ende der 1980er Jahre fast 140.000 Menschen Lohn und<br />
Brot – womit der kleinere, ostdeutsche Staat zum weltweit größten Braunkohleproduzenten<br />
avancierte. ◘ 1 › S. 82 / 83, ◘ 2 › S. 86<br />
Die Wende 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 mit der Folge eines<br />
radikalen Umstrukturierungsprozesses in vielen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />
Bereichen bedeutete auch für die Energiepolitik eine große Zäsur. Zahlreiche unrentable<br />
Tagebaue und Veredelungsanlagen wurden geschlossen. Zurück blieben riesige Bergbaufolgelandschaften,<br />
für deren Rekultivierung mit der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft<br />
mbH (LMBV) ein bergrechtlich verantwortlicher Projektträger<br />
gegründet wurde. Die LMBV übernahm die Aufgaben, die bergbaulichen Anlagen zu<br />
sichern und die Flächen zu rekultivieren sowie einen ausgeglichenen Wasserhaushalt herzustellen<br />
– und zwar nicht nur für die seit 1990 stillgelegten Tagebaue, sondern auch für<br />
die Altlasten aus DDR-Zeiten. In Ostdeutschland hatte sich trotz klarer rechtlicher Vorgaben<br />
bis Ende der 1980er Jahre ein Rekultivierungsdefizit von insgesamt fast 130 Quadratkilometern<br />
Fläche aufgestaut.<br />
Damit übernahm der Bund die Pflichten der bergbaulichen Rekultivierung der ehemaligen<br />
DDR-Tagebaue und stellt bis heute über ein Verwaltungsabkommen, das jeweils<br />
für fünf Jahre ausgehandelt wird, die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung. Grundsätzlich<br />
teilen sich der Bund zu 75 Prozent und die betroffenen Länder zu 25 Prozent die<br />
finanziellen Aufwendungen. Allein die im IV. Verwaltungsabkommen von 2007 bis 2012<br />
eingesetzte Summe von rund zehn Milliarden Euro verdeutlicht die gewaltigen Anstren-
gungen, die für diese Aufgaben erforderlich sind – und damit ist noch nicht das Ende der<br />
Sanierungsverpflichtung erreicht.<br />
Die konkurrenzfähigen Tagebaue wurden nach der Wende privatisiert und von der<br />
Lausitzer Braunkohle AG (LAUBAG), später der Vattenfall Europe Mining AG weiter betrieben.<br />
Anders als bei den ehemaligen staatlichen DDR-Tagebauen ist heute Vattenfall<br />
selbst für die Rekultivierung der Bergbaufolgelandschaften zuständig, gehört diese Aufgabe<br />
doch zu den gesetzlichen Pflichten des Bergbautreibenden.<br />
Einblick: Neue <strong>Landschaft</strong>en<br />
nach dem Bergbau Der Frage, wie mit einer Bergbaufolgelandschaft umgegangen werden<br />
muss, hatten sich bereits die Preußen gewidmet und 1922 einen ministeriellen Erlass zur<br />
»Zuführung des Landes nach der Auskohlung seiner früheren Bestimmung gemäß« in<br />
Kraft gesetzt. Seit damals orientierte man sich an dem Grundsatz, dass forst- und landwirtschaftliche<br />
Flächen, die dem Bergbau zum Opfer fallen, in der durch den Bergbau<br />
umgeformten <strong>Landschaft</strong> wieder herzurichten sind. Zu DDR-Zeiten hatte die Herstellung<br />
landwirtschaftlicher Flächen die oberste Priorität. 1989 war eine Novellierung des Berggesetzes<br />
der DDR geplant, das mehr Gestaltungsmöglichkeiten für Bergbaufolgelandschaften<br />
entsprechend der jeweiligen Bodenqualität ermöglichen sollte. Allerdings wurde<br />
dieser Ansatz wegen der Wende nicht weiterverfolgt. Vielmehr orientierten sich seitdem<br />
die Grundsätze zur Gestaltung der Bergbaufolgelandschaften in der Lausitz und auch im<br />
Raum Leipzig/Halle/Bitterfeld, dem zweiten großflächigen Braunkohlefördergebiet im<br />
Osten Deutschlands, an jenen, wie sie in Nordrhein-Westfalen galten.<br />
An dem weitgehend gleichen Grundschema der Rekultivierung hat sich in nunmehr<br />
90 Jahren seit Inkrafttreten des preußischen Ministererlasses kaum etwas geändert: Wo<br />
aufgrund eines Tagebaus forst- oder landwirtschaftliche Flächen verloren gingen, müssen<br />
sie nach Beendigung der Tagebauaktivitäten wieder <strong>neu</strong> angelegt werden. Beispiel<br />
Welzow-Süd, Teilabschnitt I mit ca. 89 Quadratkilometern Fläche: Nach der aktuellen<br />
Planung sollen cirka 65 Quadratkilometer inklusive Renaturierungsflächen der Wald- und<br />
Forstwirtschaft zurückgegeben werden. Das entspricht etwa 73 Prozent der Gesamtfläche.<br />
Weitere 20 Quadratkilometer, also 22 Prozent der Flächen, wurden bzw. werden wieder<br />
84<br />
für eine landwirtschaftliche Nutzung hergerichtet. Die Rekultivierung erfolgt parallel zur<br />
Kohlegewinnung, sodass bis Dezember 2011 bereits 61 Prozent der aktuellen Tagebaufläche<br />
wieder einer <strong>neu</strong>en Nutzung zugeführt werden konnte. Seit 1994 wurden in Welzow-<br />
Süd schon 11 Millionen Laub- und Nadelbäume gepflanzt.<br />
Der »Rekultivierung« genannten Pflichtmaßnahme für Bergbaufolgelandschaften, in<br />
»Braunkohlenplänen« mit Verordnungscharakter festgeschrieben, liegt der Gedanke der<br />
»Heilung« einer durch menschlichen Eingriff veränderten <strong>Landschaft</strong> zugrunde. Dabei<br />
mutet dieser Gedanke schon deshalb absurd an, weil der Tagebau die <strong>Landschaft</strong> nachhaltig<br />
verändert und der Eingriff nicht revidiert, also »geheilt« werden kann – anderenfalls<br />
müssten ja Milliarden von Kubikmetern bewegten Erdreichs ein zweites Mal in Bewegung<br />
gebracht und um das Volumen der zutage geförderten Braunkohle ergänzt werden, nur um<br />
die gleiche <strong>Landschaft</strong> zurückzuerhalten, wie sie sich vor der Aufschließung des Tagebaus<br />
dargeboten hatte.<br />
Zweifelsohne ist es eine große Errungenschaft, riesige Flächen nach dem Bergbau wieder<br />
fruchtbar und kultivierbar zu machen. Bis heute hat die LMBV, die in Ostdeutschland<br />
insgesamt 224 Tagebaurestlöcher mit rund 1190 Kilometern Böschung zu sichern und zu<br />
sanieren hat (davon rund 660 Kilometer gekippt und zumeist akut rutschgefährdet), bereits<br />
fast 600 Kilometer Böschung gesichert und rund 1200 Quadratkilometer Bergbaufolgelandschaften<br />
rekultiviert: zum größten Teil durch Aufforstung, aber auch durch Schaffung<br />
von Landwirtschafts-, Naturschutz- und Wasserflächen. Um unstabile Böschungen<br />
zu sichern – eine unbedingte Voraussetzung, um sie für Forst- und Landwirtschaft oder als<br />
Freizeit- und Erholungsfläche nutzen zu können – wurden <strong>neu</strong>e Technologien entwickelt,<br />
zum Beispiel die Rütteldruckverdichtung.<br />
Doch so sehr heute die absoluten Zahlen und die hohen technischen Standards der Sanierungs-<br />
und Rekultivierungsarbeiten zu überzeugen wissen, so sehr fällt auch das Fehlen<br />
einer übergreifenden Gestaltungsidee für die Bergbaufolgelandschaften ins Auge. Die<br />
Aufgabe, diesem Defizit abzuhelfen, hatte sich die Internationale Bauausstellung (IBA)<br />
Fürst-Pückler-Land 2000–2010 auf die Fahne geschrieben, die sich vor allem als »Werkstatt<br />
für <strong>neu</strong>e <strong>Landschaft</strong>en« verstand. Sie nahm in ihrem Titel Bezug auf den Visionär<br />
Fürst Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau (1785–1871), der schon im 19. Jahr-<br />
85
Chronologie<br />
Vom Tagebau zum <strong>Landschaft</strong>slabor Welzow-Süd<br />
96<br />
1962 Aufschluss Tagebau Welzow-Süd<br />
Der <strong>neu</strong>e Tagebau dient der Versorgung des Kraftwerks Schwarze<br />
Pumpe. Ab 1966 werden jährlich bis zu 22 Millionen Tonnen Braunkohle<br />
gefördert und rund 166 Millionen Kubikmeter Abraum bewegt.<br />
1994 Braunkohlenplan Tagebau Welzow-Süd Teilabschnitt I<br />
Infolge der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wird der <strong>neu</strong> erstellte<br />
Plan rechtswirksam. Er dient als Grundlage für den umwelt- und sozialverträglichen<br />
Abbau der Braunkohle und die Rekultivierung der Bergbaufolgelandschaft.<br />
1997 Empfehlungen des Gründungskuratoriums der IBA Fürst-Pückler-Land<br />
Die Grundsätze der IBA Fürst-Pückler-Land werden veröffentlicht. Die<br />
IBA hat das Leitbild, »aus dem Bergbau <strong>neu</strong>e, aber ihn nicht verleugnende<br />
<strong>Landschaft</strong>en zu schaffen«.<br />
2000 Bericht der Strategischen Kommission der IBA Fürst-Pückler-Land<br />
Das Konzept gliedert den IBA-Raum in »<strong>Landschaft</strong>sinseln« mit eigenständigem<br />
Charakter. Die <strong>Landschaft</strong>sinsel Welzow steht unter dem<br />
Leitthema »Tagebau-Denkmal«.<br />
2001 Gemeinsamer Besuch von IBA und LAUBAG im Eden Project (GB)<br />
Das Eden Project in Cornwall zeigt eindrucksvoll den Gegensatz zwischen<br />
der kargen, wüstenartigen <strong>Landschaft</strong> eines ehemaligen Tagebaus<br />
und einer »Oase«, dem <strong>neu</strong>en »Garten Eden« in kuppelförmigen<br />
Gewächshäusern.<br />
Internationaler Studentenworkshop »Werkstatt für <strong>neu</strong>e <strong>Landschaft</strong>en«<br />
Für die <strong>Landschaft</strong>sinseln der IBA Fürst-Pückler-Land entwickeln 100<br />
Studierende aus sechzehn Ländern <strong>neu</strong>e Ideen.<br />
97<br />
2002 Machbarkeitsstudie »Wüste / Oase Welzow«<br />
Die Studie präsentiert ein Konzept, das die wüstenartigen Spuren des<br />
Tagebaus sichtbar in der <strong>Landschaft</strong> belässt und in ihrer Mitte eine<br />
»Oase« für touristische Nutzungen vorsieht. Der IBA-Fachbeirat beschließt<br />
die Aufnahme als <strong>neu</strong>es Projekt.<br />
2003 Deutscher <strong>Landschaft</strong>architektur-Preis<br />
Der Bund deutscher <strong>Landschaft</strong>sarchitekten (bdla) würdigt das Projekt<br />
»Wüste / Oase Welzow« für seinen Prozesscharakter und die gestalterische<br />
Inszenierung.<br />
2004 Vertiefung der Machbarkeitsstudie »Wüste / Oase Welzow«<br />
Die Planer entwickeln unter dem Titel »<strong>Landschaft</strong> im Wandel« eine mit<br />
den technischen Rahmenbedingungen abgestimmte Choreographie für<br />
die Schüttung der <strong>neu</strong>en <strong>Landschaft</strong>.<br />
»Energielandschaft Welzow« wird IBA-Projekt<br />
Der IBA-Fachbeirat beschließt die Aufnahme als <strong>neu</strong>es Projekt. Ziel ist<br />
der modellhafte Anbau schnell wachsender Gehölze für die Energieproduktion<br />
in der Bergbaufolgelandschaft Welzow-Süd.<br />
2005 »Aus« für »Wüste / Oase Welzow« –<br />
Start für »IBA-<strong>Landschaft</strong>sprojekt Welzow-Süd«<br />
Die IBA entscheidet sich nach Bürgerprotesten gegen die Fortführung<br />
des Projektes und verspricht einen <strong>neu</strong>en Anlauf unter dem Namen<br />
»IBA-<strong>Landschaft</strong>sprojekt Welzow-Süd«. Gemeinsam mit Vertretern der<br />
Anliegerkommunen, den Fachbehörden und dem Bergbauunternehmen<br />
werden in einem Arbeitsgremium <strong>neu</strong>e Ideen diskutiert.<br />
Ökosystemforschung der BTU Cottbus startet<br />
Das wiederhergestellte Wassereinzugsgebiet des »Hühnerwassers«<br />
wird von Vattenfall den Wissenschaftlern der Brandenburgischen<br />
Technischen Universität Cottbus als Forschungsgelände übergeben.
11 Unterzeichnung der Lausitz Charta in der Neuen Bühne Senftenberg durch (v.l.n.r.) Manfred Kolba (LMBV),<br />
Prof. Dr. Günter H. Schulz (Hochschule Lausitz), Prof. Dr. Walther Ch. Zimmerli (BTU Cottbus), Dr. Karl Heinz Tebel<br />
(BASF Schwarzheide), Dr. Hartmuth Zeiß (Vattenfall), Dr. Friedrich von Bismarck (Bund-Länder-Geschäftsstelle<br />
für die Braunkohlensanierung), Brigitte Scholz (IBA Fürst-Pückler-Land, Organisation), Siegurd Heinze (Landkreis<br />
Oberspreewald-Lausitz), Prof. Dr. Rolf Kuhn (IBA Fürst-Pückler-Land), Frank Szymanski (Stadt Cottbus),<br />
Carl-Heinz Klinkmüller (Landkreis Dahme-Spreewald), Christian Jaschinski (Landkreis Elbe-Elster), Harald Altekrüger<br />
(Landkreis Spree-Neiße); nicht abgebildet: Prof. Dr. László Ungvári (TH Wildau)<br />
11<br />
ZEH N TH ESEN ZUM UMGANG MIT LAN DSCHAFTEN<br />
NACH DEM BERGBAU<br />
1. Beispiel geben<br />
Die Entwicklung der <strong>Landschaft</strong> nach dem Bergbau muss beispielgebend<br />
sein. Sie hat als bewusst geplanter Umgang mit Kulturlandschaft<br />
Vorbildfunktion und muss dazu beitragen, internationale Ziele und<br />
Standards nachhaltiger Entwicklung umzusetzen.<br />
2. Ressourcen nutzen<br />
Die Hinterlassenschaften des Bergbaus, Flächen, Gebäude und Infrastrukturen,<br />
sind industriekulturelle Ressourcen für eine nachhaltige<br />
Entwicklung. Die Erhaltung und Nachnutzung typischer Elemente<br />
schafft besondere Orte, die das Image einer Region prägen und Brücken<br />
zwischen Vergangenheit und Zukunft bilden.<br />
3. Identität stiften<br />
Die <strong>Landschaft</strong> nach dem Bergbau muss eigene, <strong>neu</strong>e Qualitäten haben.<br />
Die ursprüngliche <strong>Landschaft</strong> und eine verlorene Heimat lassen sich<br />
nicht wiederherstellen. Neue Entwicklungen müssen an prägenden<br />
Orten ansetzen, um Identifikation und eine <strong>neu</strong>e Identität zu fördern.<br />
4. Planungshorizont weiten<br />
Die Planung für die <strong>Landschaft</strong> nach dem Bergbau muss bereits vor der<br />
Inanspruchnahme durch den Bergbau einsetzen, von Beginn an Ziele für<br />
die zukünftige Gestaltung und Entwicklung vertreten und Optionen für<br />
temporäre Nutzungen ermöglichen. Sie muss prozessbegleitend sein<br />
und flexibel auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagieren können.<br />
5. Prozess <strong>gestalten</strong><br />
Der Prozess der Umgestaltung muss erfahrbar sein. Informationen,<br />
Inszenierungen des Wandels und Zwischennutzungen sind wichtige<br />
Prozesselemente, die Veränderungen vermitteln und Anknüpfungspunkte<br />
für einen Identitätswandel bieten.<br />
6. Kreativität & Innovation zulassen<br />
Die Entwicklung <strong>neu</strong>er Kulturlandschaften braucht Avantgarde und<br />
Kreativität, Austausch zwischen Innen- und Außensicht sowie offene<br />
Entscheidungsstrukturen. Der Prozess ist so zu organisieren, dass innovative<br />
Lösungen und <strong>neu</strong>e Wege möglich werden.<br />
7. Bilder erzeugen<br />
Bilder und Entwürfe der zukünftigen Entwicklung sind wichtig als<br />
Augenöffner und Transportmittel von Zukunftsvorstellungen. Events<br />
und gebaute Bilder als Landmarken sind bereits am Anfang des Umbauprozesses<br />
unerlässlich, um Ziele und Perspektiven der Entwicklung zu<br />
manifestieren.<br />
8. Transparenz sichern<br />
Die Entwicklung von <strong>Landschaft</strong>en nach dem Bergbau muss offen und<br />
transparent sein. Der Dreiklang von umfassender Partizipation der<br />
Betroffenen, gemeinsamer Entscheidung und einer Umsetzung der<br />
Planung mit den beteiligten Akteuren ist in allen Planungsphasen zu<br />
garantieren.<br />
9. Organisationsstruktur aufbauen<br />
Die Umsetzung der Planungsziele ist durch eine handlungsfähige und<br />
ausreichend finanziell und personell ausgestattete Organisationsstruktur<br />
abzusichern. Sie übernimmt die Prozesssteuerung, etabliert Netzwerke<br />
und organisiert Finanzierungen und Förderungen. Voraussetzung<br />
dafür ist ein verbindlicher rechtlicher Rahmen, der Planungsebenen,<br />
Aufgaben und Verantwortung benennt.<br />
10. Verantwortung übernehmen<br />
Für die Wiedernutzbarmachung gilt das Verursacherprinzip. Die Aufgabe<br />
einer qualitativen und Mehrwert erzeugenden Entwicklung kann nicht<br />
auf der lokalen Ebene allein gelöst werden. Sie muss durch unternehmerische<br />
und übergeordnete öffentliche Verantwortung sowie die Kooperation<br />
zwischen Kommunen und weiteren Partnern unterstützt werden.<br />
100<br />
101
8 Lausitz 2000–2010: Die IBA Fürst-Pückler-Land thematisierte den Wandel<br />
einer ganzen Region nach dem Ende der Braunkohlewirtschaft. Hier ging es um<br />
<strong>Landschaft</strong>spflege und Industriekultur, vor allem um Verständigungs- und<br />
Lernprozesse der betroffenen Menschen.<br />
8<br />
Lage, mit dem vorhandenen Bestand drang die Ruhrgebiets-IBA überhaupt zur eigentlichen<br />
Dimension ihres Auftrags vor: Für die Bewältigung einer Epochenwende würde es<br />
nicht reichen, lediglich Phantasiemodelle und Wunschszenarien für <strong>neu</strong>e Lebensweisen<br />
zu entwerfen. Stattdessen war ein möglichst behutsamer Umgang mit jener Welt zu finden,<br />
die das gerade zu verabschiedende Zeitalter zurückgelassen hat. Recycling, das Prinzip<br />
der Wiederverwendung, war auch als ästhetische Antwort gemeint auf die – seit 1972<br />
geforderten – Normen und Moral einer ökologischen Vernunft.<br />
IBA Lausitz – Pläne schmieden<br />
im Status des Ernstfalls »Anfangs dachte man noch, dass, wenn die eine Industrie gehe,<br />
eine andere kommen werde«, erinnert Manfred Sack an die noch lange herrschende Stimmungslage<br />
im Ruhrpott, »ein Irrtum, dem man viel später nach der Vereinigung Deutschlands<br />
auch in Ostdeutschland noch einmal aufgesessen ist.«4 Das »Revier« der Ostdeutschen<br />
aber war die Lausitz, die vormalige Energieregion der DDR. Auch hier hatte eine Ära<br />
hemmungsloser Produktivität ein Ende gefunden. Wo unlängst noch Bagger gerasselt,<br />
Schlote gequalmt, Kühltürme gedampft hatten, dräuten plötzlich Industrieruinen. Arbeitslosigkeit,<br />
Sinnkrise, Abwanderung bestimmten das soziale Klima.<br />
Vor allem in der Anfangsphase der IBA Lausitz ist auf die konzeptionelle Verwandtschaft<br />
mit der vorangegangenen Veranstaltung im Ruhrgebiet immer wieder gern verwiesen worden.<br />
Doch im ausgepowerten Braunkohleland war keine zweite IBA Emscher Park beabsichtigt,<br />
sondern in gewisser Weise deren nächste, und zwar verschärfte Stufe. Denn die<br />
Folgen des Umbruchs von 1989 in der Lausitz ähnelten dem Strukturwandel des Ruhrgebiets<br />
allenfalls tendenziell. Vollkommen unvergleichlich war insbesondere die Radikalität,<br />
mit der im Osten Deutschlands die abrupte Deindustrialisierung ganzer Landesteile in<br />
Kauf genommen wurde – einschließlich der Infragestellung fast aller bis dahin existierenden<br />
sozialen und kulturellen Gerüste. Alarmierte Sozialforscher warnten sogar, dass ohne<br />
strukturpolitische Gegensteuerung kaum noch »die Transformation der wirtschaftlichen<br />
Basis, sondern deren Erosion«5 zu erwarten sei.<br />
Auf die Lausitz mit ihrer weithin auf Braunkohle und Energieerzeugung ausgerichteten<br />
Monostruktur6 traf diese Diagnose in besonderer Weise zu. Allein in den Tagebauen<br />
124<br />
verloren zwischen 1989 und 1997 rund 85 Prozent der vormals Beschäftigten, das sind<br />
über 60.000 Kumpel, ihren Arbeitsplatz. Dass hier nicht nur ein umweltbelastender Energierohstoff<br />
massiv zurückgedrängt, sondern zugleich eine enorme technologische Modernisierung<br />
vollzogen wurde, zeigt sich besonders eindrucksvoll am 1998 fertiggestellten<br />
(und damals europaweit modernsten) Braunkohlekraftwerk in Schwarze Pumpe, das eine<br />
Bausumme von dreieinhalb Milliarden Mark verschlang, dafür aber im rollenden Schichtbetrieb<br />
nicht einmal 200 Leute benötigt, die Kantinenfrauen und den Werkschutz schon<br />
eingerechnet.<br />
Während das westdeutsche IBA-Projekt mit seinen vergleichsweise enormen materiellen<br />
Ressourcen7 sich als großangelegtes Planungsexperiment unter vielerlei Absicherungen<br />
einer Laborsituation verstehen durfte, ging es in der Lausitz nicht um das<br />
Erproben dieser oder jener Art von Zukunft, sondern vom ersten Tage an buchstäblich<br />
um die Existenz. Dem verstädterten, bevölkerungsreichen und nach wie vor finanzstarken<br />
Ballungsraum zwischen Duisburg, Bochum und Recklinghausen stehen durchaus noch<br />
manch andere Optionen künftiger Entwicklung offen. Der dünn besiedelte Landstrich zwischen<br />
Cottbus, Finsterwalde und Kamenz dagegen droht nach dem Ende seines rund 100<br />
Jahre währenden »Kohlerauschs« ziemlich übergangslos in den status quo ante zurückzufallen,<br />
in das strukturschwache und von weiterer Abwanderung gezeichnete »Hinterland«.<br />
Von Karl Ganser, dem Direktor und maßgeblichen Vordenker der IBA Emscher Park,<br />
stammt die Ermutigung, sich von solch verzweifelter Ausgangslage besonders motiviert<br />
zu fühlen: Im Grunde funktioniere eine IBA überhaupt nur, wo es einer Region so richtig<br />
schlecht geht, denn nur dort sei man bereit, ausgetretene Pfade zu verlassen. Im Bundesbauministerium<br />
hat man sich diesen Gedanken mit Blick auf die IBA Lausitz zu eigen<br />
gemacht: »Der hohe Leidensdruck in der Region führt zu einer hohen Risikobereitschaft<br />
und stellt eine Bedingung für innovative Gestaltungsansätze dar.«8 ◘ 8<br />
Die IBA als<br />
Ausnahmezustand Seit unerschrockene Planer sich auf die desolaten Verhältnisse realer<br />
Krisenregionen eingelassen haben, hat der Begriff Bauausstellung eine <strong>neu</strong>e Bedeutung<br />
angenommen. Ob im kaputten Berlin-Kreuzberg, ob an den verwildernden Ufern des Em-<br />
125
144 144<br />
nerei« beargwöhnte Idee ist bald in aller Munde. Schließlich<br />
gelingt für und mit Plessa nach nur sechs Wochen etwas<br />
ganz Besonderes: Ein großangelegt gestaltetes, riesiges<br />
»Blumen- und Lichtermeer«. »6000 Kerzen haben wir aufgestellt«,<br />
berichtet sie und schwärmt vom Gesamtbild. »Für<br />
uns war faszinierend, wie all die Einzelaktionen zusammen<br />
ein stimmiges Bild ergaben. Das wird als Erinnerung in den<br />
Köpfen bleiben. Und auch dieser einmalige Zusammenhalt<br />
von jung bis alt!« Ein Schritt also in die richtige Richtung.<br />
Eben dahin richtet Carola Meißner ihren Blick. Und sie sieht<br />
wieder einmal mehr – die nächsten Aktionen bereits vor Augen.<br />
Wie man eine Schleuder baut<br />
Was den Erben von dieser IBA bleibt<br />
Tina Veihelmann<br />
Die IBA Fürst-Pückler-Land bricht ihre Zelte ab und hinterlässt wenig Gebautes, aber<br />
hohe Erwartungen; das schreibt Wolfgang Kil an anderer Stelle in diesem Buch. Begreift<br />
man die IBA als Großversuch einer »Experimentalregion«, wird sich ihr Erfolg daran bemessen,<br />
wie nachhaltig ihre Projekte wirken. Und ob ihre Experimente Werkzeuge an die<br />
Hand geben, wie nach der Kohle all das möglich wird, was der Bergbau gegeben hat: Arbeit<br />
und Brot, kulturelles Selbstverständnis, Identität. Gewaltig sind diese Fragen. Seltsam undramatisch<br />
nimmt sich dazu die <strong>Landschaft</strong> aus, die an den Seitenfenstern vorüberfliegt.<br />
Wir fahren durch ein plattes Land, das unspektakulärer nicht sein könnte. Kiefern, Birken,<br />
Dörfer von Klinkerhäusern. Um von Zeit zu Zeit jäh unterbrochen zu werden durch<br />
kolossale Anblicke. Wie die Biotürme von Lauchhammer, die wie gemauerte Rätsel aus<br />
dem Nichts auftauchen. Wie die F60, ein liegender Gigant, der über dem Wald aufragt.<br />
Wir halten auf Lichterfeld zu. Eine Ausschilderung erübrigt sich. Die Besucherbrücke ist<br />
weithin sichtbar.<br />
»Groß«, sagt eine Hamburgerin, die vor uns die Stiegen der Brücke erklimmt. Mit<br />
»groß« meint sie die Aussicht. Und sie hat Recht. Was aus der Ameisenperspektive flach<br />
und einförmig wirkt, gewinnt plötzlich Raum. Der Klettwitzer See glitzert unter uns, am<br />
Horizont drehen sich Windräder, eine Brise kühlt unsere Nasen. »Von hier oben sieht<br />
unsere <strong>Landschaft</strong> schöner aus«, scherzt die Gästeführerin mit dem blauen Helm. Groß<br />
ist die Brücke und groß ist die Leistung, die die F60 möglich machte. Am Anfang stand<br />
die Idee von ein paar Visionären. Von einer <strong>Landschaft</strong>sarchitektin, ein paar Ansässigen<br />
und der Gemeindevertretung Lichterfeld-Schacksdorf. Ohne jegliche Erfahrung, wie man<br />
eine Bergbaumaschine begehbar macht, brachten sie ein erfolgreiches Projekt auf den<br />
Weg. Unterstützt durch die IBA und den Mut zum Unmöglichen. »Am Anfang hat man<br />
mich nur mitleidig angeschaut«, erzählt Michael Nadebor, früherer Bergmann, heutiger<br />
Geschäftsführer des Fördervereins. »Das ist eine Maschine«, hätten morgens am Spind<br />
seine Kumpels gesagt. »Eine großartige Maschine. Aber wer sollte einer Maschine wegen<br />
hierher reisen?« ◘ 1 › S. 146 / 147<br />
Heute sprechen die Zahlen für sich: Rund 80.000 Besucher lockt das Besucherbergwerk<br />
F60 pro Jahr nach Lichterfeld. Elf reguläre Arbeitsstellen bietet es, dazu kommen<br />
Gästeführer, ein kleiner Gaststättenbetrieb und alles, was für die Organisation der Veran-<br />
145<br />
5<br />
F60 aus der Höhe 1 >
8 Das iba-tours-Team am Seenland-Modell<br />
auf den IBA-Terrassen<br />
»Canyons, Wüste und Oase«: Auf Exkursion in die noch nicht<br />
rekultivierte <strong>Landschaft</strong> des aktiven Tagebaus Welzow-Süd<br />
9 ><br />
8<br />
mit zum Beispiel, dass der Überleiter zum Senftenberger See nicht 2012 fertig wird wie<br />
angekündigt, sondern voraussichtlich erst 2013. Wer hier Pionier sei, setze sich nicht ins<br />
gemachte Nest, sagt sie. Man muss an die Idee glauben. Und durchhalten.<br />
<br />
Wenn die IBA als Experimentalregion zu verstehen ist, ist nicht allein entscheidend, ob<br />
die IBA-Projekte selbst gelingen. Von mindestens ebenso großem Interesse ist, was links<br />
und rechts von ihr entsteht. Die IBA ist von Beginn an nicht als Retterin, sondern als Katalysator<br />
angetreten. Sie will Dinge aufgreifen, unterstützen und möglich machen, bestenfalls<br />
ein Bespiel geben. Entscheidend ist nicht der große Wurf, sondern Humusbildung.<br />
Indem die Erfahrung, <strong>neu</strong>e Wege zu beschreiten und dabei weiter zu kommen, hier, da<br />
und dort gemacht wird. In kleinen wie in größeren Unternehmungen, von denen das eine<br />
oder andere glückt. Kein Gründergeist wird dabei entstehen, vielleicht aber Wissensbildung.<br />
Ein kollektiver Erfahrungsschatz, wie diejenigen, die trotz allem bleiben oder trotz<br />
allem kommen wollen, hier etwas schaffen können. Indem sie mehr Wagemut aufbringen<br />
als gewöhnlich. Mehr Netzwerkkompetenz beweisen als ein Dutzend Manager. Und mehr<br />
Vorstellungskraft als die Entdecker Amerikas.<br />
<br />
An den IBA-Terrassen in Großräschen ist die IBA noch zu sehen – die blauen Würfel<br />
mit den weißen Lettern. Aber den Staffelstab hat sie schon weitergereicht. An die Bodenbereiter,<br />
die bleiben und weitermachen. Die »iba-tours« stehen schon jetzt nicht mehr<br />
für »Touren der Internationalen Bauausstellung«, sondern für das Unternehmen eines<br />
Vaters, der Bergmann und Klempner war und jetzt Reiseleiter ist. Und für dessen Sohn,<br />
früher Soziologiestudent, jetzt Firmengründer. Begonnen hat es, als Hoika senior nach<br />
der Wende mit einem Sanitärbetrieb pleite ging und nach <strong>neu</strong>en Möglichkeiten suchte. Er<br />
kaufte einen grünen Kleinbus und dockte bei den IBA-Terrassen in Großräschen an. Als<br />
einer der ersten zeigte er Fremden das Lausitzer Seenland, das zu dieser Zeit noch eher<br />
mit Restlöchern als mit Wasser in Verbindung gebracht wurde. Er holte Sondergenehmigungen<br />
ein, direkt am Ufer zu fahren, zeigte die <strong>neu</strong>en Ausblicke, und in Großräschen<br />
begann die »Reise zum Mars.« Hoikas Ich-AG war alles andere als eine startende Rakete.<br />
Er ging Schritt für Schritt und nie weiter, als die Kräfte zuließen. Aber als die IBA ihre Zelte<br />
156<br />
abbrach, war sein Unternehmen gerade groß genug, um die IBA-Touren zu beerben. ◘ 8<br />
Er holte seinen Sohn ins Boot – weil er nicht sicher war, ob er es alleine bewältigen<br />
würde. Gemeinsam gründeten sie »iba-tours«. Was jetzt »Ihr besonderer Ausflug« heißt.<br />
Der Vater als Spezialist fürs Bodenständige – der Sohn als akademische Verstärkung. Zusammen<br />
sind sie überall.<br />
Auch jetzt tun sie keine großen Sprünge, sondern kalkulieren vorsichtig. Ihre Stärke<br />
liegt darin, dass sie alles und jeden verbinden. In diesem Raum, in dem die Strecken<br />
zwischen den Besucherhighlights weit sind, wo die Gastronomie erst am Anfang steht<br />
und die Planung einer Zwei-Tages-Tour mit Übernachtung noch eine Herausforderung<br />
ist. Ihre Touren planen sie so, dass sowohl Besucherriesen wie die F60 auf der Strecke<br />
liegen als auch seltene Schönheiten. Orte, die so selten besucht werden, dass Führungen<br />
nur nach Absprache stattfinden. So können die Hoikas »Geheimtipps« anbieten – und<br />
die Betreiber können mit festen Gästen rechnen. Die Experimentalregion ist ja durchaus<br />
reich an Besonderheiten. Nur mangelt es an vielem. An Hotels zum Beispiel. Die wiederum<br />
um kalkulierbare Belegungen ringen. Es ist wie ein Spiel, in dem Teile fehlen. Nur<br />
wer klug kombiniert, kommt weiter. »Natürlich konkurrieren wir um Gäste«, sagt Sören<br />
Hoika. »Nur haben wir verstanden, dass wir gerade hier sehr gut miteinander kooperieren<br />
müssen. Sonst haben wir überhaupt keine Chance.«<br />
<br />
Die IBA wird bald Geschichte sein. Was bleibt, sind ihre Erben. Bevor es Abend wird,<br />
fahren wir noch einmal nach Welzow. Ein Mannschaftstransportwagen holt uns ab, und<br />
mit dröhnendem Motor geht es los – mitten in die <strong>Landschaft</strong>en, für die die Lausitz in<br />
den letzten Jahren bekannt geworden ist. Die bizarren Bergformationen, jähen Schluchten,<br />
sandigen Weiten. Die lokalen Akteure heißen hier »excursio«, dahinter steht der Bergbautourismusverein<br />
der Stadt Welzow. Eine Handvoll Ansässiger hat ihn gegründet. »Wir<br />
wollten Welzow entwickeln, als wir vor sechs Jahren begannen«, erinnert sich Vorstandsmitglied<br />
Gundula Stede. »Und fragten uns: Was ist Welzow, wenn man den Tagebau nicht<br />
sieht?« »Excursio« legte einen steinigen Weg zurück, um dort anzukommen, wo sie heute<br />
sind. Im aktiven Tagebau, neben laufenden Baggern, führen sie Touren. Was keiner für<br />
möglich hielt, geht.<br />
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6<br />
Paradies 2<br />
Sieben Inszenierungen<br />
Jürg Montalta<br />
»Paradies 2« war das Kernthema von sieben Kunstprojekten, die in der Zeit von 2007 bis<br />
2010 entstanden. Im Jahr 2011 bekam »Paradies 2« den Bundeskulturpreis 1. Aus den Geschichten,<br />
die ich nun erzähle, möge sich jede Leserin und jeder Leser ein eigenes Bild<br />
darüber machen, wie ich an dieses Projekt herangegangen bin, wie es wirkte und was es<br />
bewirkte. Und ich hoffe, »Paradies 2« macht anderen Menschen Mut, ein Kunstprojekt in<br />
dieser Dimension zu probieren.<br />
Der Anfang war im Oktober 2003, da kam ich zum ersten Mal nach Großräschen. Ich stand<br />
auf den IBA-Terrassen und blickte von dort aus in die Grube des ehemaligen Tagebaus<br />
Meuro. Mir stockte fast der Atem. So eine <strong>Landschaft</strong> hatte ich zuvor noch nie gesehen.<br />
Ein riesiges, bis zum Horizont reichendes Durcheinander an bizarren Hügeln, klaffenden<br />
Erdrissen mit verschiedenen Sanden und Schichten, Tälern und kargem Grün. Im Rahmen<br />
einer »Sinnlichen Tagebauerkundung« stieg ich hinein in dieses narbige Land, um noch<br />
näher dran zu sein, um mehr zu sehen.<br />
Ich sah die zerrissene <strong>Landschaft</strong>, die mich zugleich schockierte und faszinierte. Ich<br />
fühlte Geschichte und Geschichten. Was war hier, 120 Kilometer südlich von Berlin, in<br />
den vergangenen Jahrzehnten passiert? Was für einen gewaltigen Eingriff hat der Mensch<br />
in die Natur gewagt, welche unglaublichen Kräfte hat er dafür in Bewegung gesetzt? Wie<br />
geht es diesen Menschen heute, nach der Braunkohle, in dieser Region? Welche Träume,<br />
Wünsche und Visionen haben sie? Ich wollte es wissen, Antworten finden.<br />
Im Herbst 2007 begann ich mit meiner Mitarbeiterin Kerstin Gogolek eine sechsmonatige<br />
Erkundungstour zu allen IBA-Projekten, um diese, die jeweilige <strong>Landschaft</strong> sowie<br />
die Menschen dort kennen zu lernen. Wir führten über 300 Gespräche. Sie bildeten die<br />
Grundlage für das Kunstprojekt »Paradies 2«. Unsere erste Station war damals Welzow,<br />
die Stadt am aktiven Tagebau.<br />
Auf Erkundungsreise trafen wir die Welzowerin Gudrun Jentsch. »Ich liebe meine Heimat«,<br />
sagte sie uns. »Doch ich bin hin und her gerissen zwischen dem Kohleabbau, den<br />
nötigen Arbeitsplätzen und gleichzeitig diesem Raubbau an der Natur. Das bewegt viele<br />
von uns.« Sie habe ein Stück Straße aufgehoben, ein Stück der letzten Straße zu dem Ort,<br />
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7 15 Mal trafen sich polnische und deutsche Bürger in »Hörkreisen«. Darin erzählten die Teilnehmer über ihr Leben<br />
in und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt. Hier beim Treffen in der Ruine der Fara Gubińska.<br />
Ich erinnerte mich an einen afrikanischen Kanon »Amma i bu o iei«, den mir vor 30 Jahren<br />
eine Schauspielerin beigebracht hatte. Die Melodie war für alle leicht zu lernen. So sangen<br />
wir den Kanon jedes Mal nach dem Hörkreis. Die Stimmung wurde dadurch wieder<br />
leichter und fröhlicher. Auf Wunsch einer Teilnehmerin erkundigte ich mich nach dem<br />
Sinn von »Amma i bu o iei«. Ich erfuhr schließlich, dass die »Forest People« diesen Kanon<br />
singen. Dieser Stamm lebt im kongolesischen Dschungel. Wenn die Einwohner spüren,<br />
dass sie die Verbindung zu Gott verloren haben, dann singen sie diesen Kanon solange, bis<br />
sie das Gefühl haben, wieder in Kontakt gekommen zu sein – manchmal Tag und Nacht<br />
ohne Unterbrechung.<br />
Die Steuerung der Projekte war sehr wichtig, da sie an oft weit auseinanderliegenden Orten<br />
stattfanden. Deshalb organisierten wir an jedem Ort einmal im Monat eine Bürgerversammlung.<br />
In Schlabendorf erklärte Ina Lange vor versammelter Runde: »Die Art und<br />
Weise, wie diese Treffen hier mit Ihnen ablaufen, habe ich so noch nie zuvor erlebt.« Wie<br />
sie das meine, fragte ich sie. »Als Sie anfangs zu Beginn jeder Versammlung die ›Minute<br />
der Stille‹ vorschlugen, wusste ich nicht, was das soll. Jetzt aber kann ich mir keine Sitzung<br />
mehr ohne diese Minute vorstellen. Und wenn wir reden, gibt es untereinander einen<br />
größeren Respekt, weil Sie streng darauf achten, jeden aussprechen zu lassen – jeden, egal<br />
wo er herkommt und was er ist.« Das machte mich sehr froh, denn ich fühlte mich in dem,<br />
wie ich mit den Menschen zusammenarbeite, bestätigt.<br />
Konflikte, die offenbar über Jahrhunderte hinweg schwelten, entdeckten wir in einigen Gesprächen<br />
in Plessa. Vor sehr langer Zeit wurde der Ort durch Streitigkeiten des herrschenden<br />
Adelsgeschlechtes geteilt und über fast zwei Jahrhunderte getrennt verwaltet. Später<br />
entstand eine Kluft zwischen den Bauern im Südteil und den Arbeitern im Nordteil. Die<br />
heutige Durchgangsstraße bildete eine Art Grenze. Seit 1897 wurde im Norden von Plessa<br />
Braunkohle gefördert. Später entstanden eine Brikettfabrik, ein in seiner ursprünglichen<br />
Bausubstanz erhaltenes Braunkohlekraftwerk und in den 60er Jahren des vergangenen<br />
Jahrhunderts ein großes Kulturhaus als Veranstaltungsort für die ganze Region. Als denkmalgeschützte<br />
Objekte gehören sie heute der Gemeinde Plessa.<br />
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10 »Auf zu <strong>neu</strong>en Ufern! Eine fast utopische Licht- und Klangskulptur«:<br />
Tausende Taschenlampen bildeten eine Perlenkette aus Licht.