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Freie Sicht

ISBN 978-3-86859-251-1

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Marcus Sendlinger malt klar aufgeräumte Bildkompositionen von großer farbiger Raffinesse:<br />

Farbe und Form auf höchstem ästhetischem Niveau, Schicht um Schicht aus der Tiefe<br />

des Bildraumes aufgebaut, Struktur um Struktur sauber verbunden. Man könnte meinen,<br />

seine Malerei sei ein abstrakter, geometrischer Kosmos aus dem althergebrachten, formstrengen<br />

Konstruktivismus, doch das Atelier von Marcus Sendlinger ist keine mit esoterischen<br />

Dogmen gefüllte Mönchszelle, sondern eine von Altöl geschwärzte Garage: Zwischen<br />

den Leinwänden sind überall Teile von zerlegten Motoren auszumachen, die als Ausgangspunkt<br />

für formale Bildeinfälle dienen oder als Readymades einfach ins Bild montiert werden.<br />

In seiner bildhauerischen Arbeit erweckt Sendlinger als kundiger Kenner der automobilen<br />

Vehikel historische Bikes, Autos und Wohnwagen zu neuem Leben; als Maler lässt er<br />

sich von der anorganischen Ästhetik der Maschinen zu seinen gemalten Bildkompositionen<br />

inspirieren, die Abstraktion und Realität dialektisch verklammern. Sendlingers Malerei und<br />

Installatio-nen zeugen nicht von der naiven Technophilie, von der die Gründungsväter der<br />

Moderne getragen wurden, sondern sind durchdrungen von einer Melancholie der Technik,<br />

die vom Ende des Zeitalters der Mechanik zu berichten weiß.<br />

Markus Weisbeck arbeitet im Bereich der angewandten und freien Grafik. Mit seiner Auffassung<br />

der angewandten Form steht er László Moholy-Nagy und anderen Gestaltern des<br />

Bauhaus nahe, denn seine Formensprache wurzelt in der konstruktivistischen Abstraktion,<br />

allerdings erweitert um die Erfahrungen des Minimalismus und Konzeptualismus der<br />

Gegenwart. Den anorganischen, kristallinen Formen und Strukturen, die Weisbeck für die<br />

Plakatserie zu Liam Gillicks Auftritt auf der Biennale Venedig 2009 entworfen hat, liegen<br />

keine realen dreidimensionalen Körper zugrunde, auch keine digitalen Verfremdungen,<br />

sondern reale Lichterscheinungen - energetisch aufgeladene Lichtstrahlen, gebeugt und<br />

gebrochen durch Prismen, deformieren typografische Zeichen. Die so imaginierten Formationen<br />

erinnern an Vergrößerungslinsen der Naturwissenschaftler, aber auch an Blicke<br />

in die Glaskugeln von Wahrsagerinnen, die damit Auskünfte über die Zukunft zu erlangen<br />

hoffen. Die vierte Dimension Zeit wird in diesen, die rationalen kartesischen Koordinaten<br />

auflösenden, Arbeiten als ein irreversibler Ablauf ohne umkehrbare Richtung beschworen.<br />

Auf diesen Aspekt weist auch der reflektierte rotierende Lichtstrahl der Arbeit » ... nach<br />

Joost Schmidt«.<br />

Der Maler Frank Schylla entwickelte seine Malerei gleichsam aus der Erfahrung der Optik<br />

eines Mikroskops. Seine Kunst basiert ebenfalls auf der Beobachtung der empirischen<br />

Naturprozesse, allerdings speist sich seine Bildwelt nicht aus der Physik, sondern aus den<br />

Phänomenen der Biologie und Humanmedizin, die ihm seit seiner Kindheit – und aus einem<br />

abgebrochenen Studium – vertraut sind. Auf der Leinwand erzeugt Frank Schylla mit seinen<br />

raffinierten Malverfahren einen Mikrokosmos aus Formen und Farben, der aus feinsten<br />

Binnenstrukturen und nuancierten Farbüberlagerungen besteht. Jeweils für sich betrachtet<br />

entwickeln diese Mikroteilchen eine eigene visuelle Wirkung. Aus einer gehörigen Entfernung<br />

betrachtet, schließen sie sich zu einer neuen Wirklichkeit zusammen und bieten dem<br />

Betrachter einen spannenden Einblick in poetische gefasste, abstrakte Landschaften und<br />

komplexe Formkomplikationen.<br />

Der Maler Oliver Flössel konzentriert sich in seiner Malerei auf Formphänomene und Inhalte,<br />

die nur in einem anderen, einem größeren Maßstab beobachtet werden können. Flössel<br />

arbeitet auf den Spuren des gestischen abstrakten Expressionismus, dessen Bildsprache er<br />

mit Formen aus den Straßengraffiti und mit den Attitüden des HipHop anreichert, setzt sich<br />

aber bewusst von den cremigen Farbkrusten ab, die die internationalen expressionistischen<br />

Neuwild-Maler mittels der von ihnen bevorzugten Schweinsborstenpinseln erzeugten. Flössels<br />

Bilder sind schrille, pseudopathetische Chiffren und Spuren jener psychologischen<br />

Aufgeregtheiten, die unser von Konsumzwängen der Werbung und von den Verblendungskulissen<br />

der Kulturindustrie geprägtes Leben in urbanen Unterhaltungsparadiesen hervorbringt.<br />

Es sind zugleich Versuche, im allgegenwärtigen Hintergrundrauschen der neuen<br />

Unübersichtlichkeit eine Sinnhaftigkeit zu entdecken.<br />

Auch die Malerei von Erik Pfeiffer kreist um das Thema der urbanen Konsum- und Mediengesellschaft.<br />

Seine in der polyfokalen Bildsprache eines modernen Kubismus aufgebauten<br />

Bilder zeigen komplexe Stadtlandschaften: Neubauten, bunt getüncht oder bereits im<br />

Einsturz begriffen, Durchblicke auf längst ausgebrannte, ehemals blühende Landschaften,<br />

absurde Brachen, Brücken und Schreberhäuschen. Alles bizarr zerklüftet, fragmentarisiert<br />

und durcheinandergeworfen. Erik Pfeiffers Darstellungen von bewohnten Interieurs lenken<br />

den Blick auf Billigmöbel und sonstigen Tinnef aus dem Supermarkt: schöner Schein, Erosionen,<br />

Implosionen, Medienterror ... In die große Komposition mit dem schönen, modernen<br />

Titel »e:\bilder\gesehen\scherbenbrandschatzen.jp«, die Erik Pfeiffer als ein »combine<br />

painting« angefertigt hat, ist ein Kontrollmonitor integriert, der Bilder einer Beobachtungskamera<br />

ins Bild bringt, die an einem an das Tableau geschraubten Metallgestell befestigt<br />

ist.<br />

Nadine Röther und Philipp von Wangenheim bilden das Künstlerduo Röther von Wangenheim.<br />

In dieser Konfiguration entwickeln sie konzeptuelle Skulpturen mit ironischem Charakter,<br />

wie dies exemplarisch in ihrer in Schwarzlicht getauchten Installation »Undercover«<br />

zum Vorschein kommt. Hier wird eine große Anzahl von dilettantisch gekritzelten, aber<br />

gerahmten Zeichnungen auf das Kostbarste illuminiert und zum Leuchten gebracht. Es ist<br />

eine seltene Technik, aber erst kürzlich bin ich in der Hamburger Ausstellung von Roberto<br />

Matta einem Bild begegnet, das von dem großen chilenischen Maler mit speziellen Farben<br />

für eine Präsentation im Schwarzlicht angefertigt worden ist. In ihrer individuellen Arbeit<br />

widmet sich Nadine Röther der Anfertigung von Objekten aus brüchigen Materialien und<br />

von höchst fragiler Erscheinung, während Philipp von Wangenheim sich immer mehr zu<br />

einem Beatschriftsteller entwickelt hat, der als singender Rockpoet seine Texte in Form von<br />

Post-Punk-Songs in die Ohren des Publikums trägt. Philipp von Wangenheim: »Der Mann<br />

mit Rummm«.<br />

Der poetische Kosmos, den Julia Oschatz in ihren Zeichnungen, Malereien, Animationen,<br />

Installationen und Performances vor uns ausbreitet, ist eine düstere Welt, die ohne die<br />

glitzernden Oberflächen der Konsumgesellschaft auskommt. Das befremdlich anmutende<br />

Tun und Treiben der von ihr entwickelten – und meistens auch von der Künstlerin dargestellten<br />

– Protagonisten findet in merkwürdigen Maskierungen an menschenleeren Örtlichkeiten<br />

von urzeitlicher Anmutung statt. Die Imaginationen rufen dem Betrachter die<br />

existenzialistischen Miserabilitäten in Erinnerung, wie sie etwa in Becketts »Warten auf<br />

Godot« oder in Ciorans nihilistischen Aphorismen zur Sprache kommen. Doch die so traurig<br />

und pessimistisch scheinende Welt von Julia Oschatz zeigt auch die komischen Aspekte<br />

der menschlichen Existenz. Sie offenbaren sich vor allem in ihren theatralisch konzipierten<br />

Videos. Hier agiert die Künstlerin in Rollen und Verkleidungen, deren Figuren den Betrachter<br />

auch an die absurden Späße der Dadaisten denken lassen, die diese in ihrem Züricher<br />

Theater Cabaret Voltaire zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges zelebrierten. Aber auch so<br />

manches eigene Erlebnis – im wahren Leben wie im Traum – kommt einem da in den Sinn.<br />

Auch Xenia Lesniewski inszeniert raumfüllende Installationen, die sich durch das Zusammenspiel<br />

mehrerer Medien auszeichnen: starkfarbige Zeichnungen, Texte, Papierobjekte<br />

und banale Fundstücke, Neonlampen, Projektionen und Abspielgeräte von Zeichentrickfilmen<br />

laden in eine hybride Welt von großer Signifikanz ein. Das komplexe Durcheinander<br />

der hier um die Aufmerksamkeit des Betrachters wetteifernden Informationen bringt Anna<br />

Oppermans komplex geschichtete »Ensembles« in Erinnerung. Xenia Lesniewskis Installationen<br />

präsentieren sich offener, nämlich als ein vitaler, stark aufgeladener Neo-Lettrismus;<br />

sie sind bunt, sinnlich, voll sexueller Anspielungen, lesbar und zugleich auch nicht<br />

lesbar, statisch und bewegt, flächig und räumlich, digital und analog, scheinbar fröhlich<br />

und doch voll Trauer ... »Große Abstraktion« und »große Realistik«, von der einst Riegl und<br />

Kandinsky sprachen, kommen hier zusammen und verschmelzen lebendig und kraftvoll in<br />

einer vielstimmigen Wechselwirkung.<br />

14 Adam Jankowski : <strong>Freie</strong> <strong>Sicht</strong><br />

Adam Jankowski : <strong>Freie</strong> <strong>Sicht</strong> 15

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