Stuart Pigott: Wein Spricht Deutsch - Weingut von Racknitz
Stuart Pigott: Wein Spricht Deutsch - Weingut von Racknitz
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346 NAHE<br />
leicht pikante, vibrierende Säure. Während die Spätlese –<br />
ein Steckenpferd <strong>von</strong> Korrell, auch er nennt Helmut Dönnhoff<br />
als eines seiner Vorbilder – noch ein wenig brav im Ausdruck<br />
geraten ist, zeigt die Muskateller-Auslese beherzte mineralische<br />
Kraft, vollreife Aromen <strong>von</strong> Litschis und Wildrosen.<br />
Der Riesling Eiswein Luca – Namensgeber ist der<br />
jüngste Spross der traditionsreichen Familie, deren Geschichte<br />
vor 500 Jahren in Spanien begann – aus der Renommierlage<br />
Kreuznacher Paradies zeigt wieder das Korrell-Paradoxon:<br />
raffiniert kitzelnde Wucht ohne jegliche Schwere.<br />
Ein Wolkenkratzer mit einer gläsernen Fassade, in der sich<br />
die Weite des Himmels spiegelt, dessen Fundamente aber<br />
tief in der Erde gesichert sind.<br />
Um Fundamente, tiefe Verwurzelung, aber auch um Offenheit<br />
und Anknüpfung an den Naturweingedanken<br />
geht es auch beim <strong>Wein</strong>gut <strong>von</strong> <strong>Racknitz</strong> aus Odernheim,<br />
Disibodenberger Hof – eine echte Entdeckung! Denn die<br />
konsequent ab dem Jahrgang 2004 spontanvergorenen Rieslinge<br />
entwickeln ganz eigene Kräuter-, Würz- und Fruchtaromen.<br />
Sie haben Ecken und Kanten, benötigen Zeit zur<br />
Entfaltung und verströmen dann innere Ruhe und Festigkeit.<br />
Dazu passt, dass das junge Winzerpaar, die gelernte<br />
Önologin Luise Freifrau <strong>von</strong> <strong>Racknitz</strong>-Adams und der Ex-<br />
Finanzvorständler Matthias Adams, weder Allerweltstypen<br />
sind noch gewöhnliche Lagen bewirtschaften: Ihr Nukleus<br />
ist der Disibodenberg, wo Benediktinermönche schon vor<br />
900 Jahren <strong>Wein</strong>bau betrieben und in dessen Frauenkloster<br />
Hildegard <strong>von</strong> Bingen 40 Jahre ihres Lebens verbrachte.<br />
Kräftig, fest und straff ist der trockene Odernheimer Kloster<br />
Disibodenberg Alte Reben, in dem der Geschmack des<br />
Steins rauchig ist und Estragonkraut frisch aufgeschnittene<br />
Zitrusfrüchte und Aprikosen verziert. Dieser beeindruckende<br />
Riesling stammt aus einer terrassierten Anlage mit zum<br />
Teil uralten Sandsteintrockenmauern und einer einzigartigen<br />
Trockenrasenvegetation. Der Disibodenberg besteht<br />
aus relativ festen, grau gefärbten Sedimentgesteinen (Sandsteine,<br />
Siltsteine und geschieferte Tonsteine), die den Hunsrückschiefern<br />
ähneln. Aufgrund ihrer Härte wurden die am<br />
Disibodenberg stehenden Gesteine im Lauf der Jahrtausende<br />
<strong>von</strong> Nahe und Glan aus der Landschaft herausgearbeitet,<br />
indem benachbarte weichere Gesteinsschichten erodiert<br />
wurden. Hierdurch entstand die markante Form des Gebirgsrückens<br />
mit dem steil abfallenden <strong>Wein</strong>berg zwischen<br />
Glan und Nahe, der schon den irischen Mönch und Klostergründer<br />
Disibod fasziniert hat.<br />
Richtig hellgolden strahlen aber auch die anderen Rieslinge<br />
im Glas und schmecken wohltuend eigenständig. Verwoben<br />
duften die Aromen, zum Glück nicht anbiedernd,<br />
sondern mit dem gewissen federnden Widerstand, den<br />
man beim Trinken so genießt. Die sofort verständlichen<br />
<strong>Wein</strong>e, die sich kaum im Glas verändern, sind oft am langweiligsten!<br />
Anders jedoch die <strong>Racknitz</strong>-Rieslinge – sie fordern<br />
heraus und schmecken auch untereinander sehr unterschiedlich.<br />
Mal zart und wachsweich wie der Rosenheck,<br />
der mit seiner Rundheit und geschmeidigen Süße ein edles<br />
Rosenparfum verströmt, einen leichten ätherischen Hauch,<br />
und mit seiner Würze an frisch gemähtes Heu erinnert;<br />
eine Sommerwiese, auf der komischerweise <strong>Wein</strong>bergspfirsiche<br />
und rote Johannisbeeren wachsen! Mal etwas fetter,<br />
wie der Niederhäuser Kretz, der mit seinen intensiven Noten<br />
<strong>von</strong> vollreifen, süßen, eingelegten Aprikosen und Mango<br />
an den Rüdesheimer Rottland aus dem Rüdesheimer<br />
Berg erinnert. Doch dann schaut man auf das Etikett und<br />
stellt fest: nur 11,5 Volumenprozent Alkohol! Das ist für<br />
<strong>von</strong> <strong>Racknitz</strong> im trockenen und geschmacklich trockenen<br />
Bereich ein Durchschnittswert, der Rosenheck hat sogar<br />
nur 10,5 Volumenprozent Alkohol – die sanfte Cremigkeit<br />
beruht auf dem Extrakt. Und die trockene Niederhäuser<br />
Hermannshöhle hat die Würze <strong>von</strong> Vanillestängeln, Zimtsternen<br />
und Weihnachtsplätzchen. Diese <strong>Wein</strong>e singen<br />
zweifellos, und das in bester Rheinweintradition, bei entschieden<br />
niedrigem Alkohol! Damit die <strong>Wein</strong>e ihr natürliches<br />
Potenzial entfalten können, verzichtet das ambitionierte<br />
Winzerpaar auf Reinzuchthefen, Anreicherung und<br />
Schönungsmittel: »Es kommt ausschließlich organischer<br />
Dünger zum Einsatz, Herbizide sind aus den <strong>Wein</strong>bergen<br />
verbannt. Wichtig ist uns die Vitalisierung der Böden zur<br />
Stärkung der Widerstandskraft der Reben. Alte <strong>Wein</strong>berge,<br />
die ihre Sturm- und Drangphase hinter sich haben – älter<br />
als 30 Jahre sind –, werden gepflegt und erhalten.«<br />
Das neueste Projekt gilt der Rekultivierung einer der lange<br />
vernachlässigten, einst aber berühmtesten Paradelagen an<br />
der mittleren Nahe: dem Schloßböckelheimer Königsfels,<br />
wo die in diesen Breitengrade äußerst seltene Smaragdeidechse<br />
lebt. In alten Menükarten aus dem Berlin um 1900<br />
stand ein Riesling aus dem Königsfels neben den berühmten<br />
Rheingauern oder Moselrieslingen. Die Reputation war<br />
zweifellos gewaltig, doch lag das natürliche Potenzial wegen<br />
mangelnder <strong>Wein</strong>bergspflege lange Zeit brach. Als nun die<br />
besten Parzellen zum Verkauf standen, überlegte man im<br />
<strong>Wein</strong>gut <strong>von</strong> <strong>Racknitz</strong> nicht lange und erwarb knapp drei<br />
Hektar in der extremen Steillage, einer südlich ausgerichteten<br />
Vulkangestein-Geröllhalde im unteren bis mittleren Gewann.<br />
Der trocken ausgebaute Riesling Königsfels soll auf<br />
Augenhöhe mit der Hermannshöhle und dem Disibodenberg<br />
als ¾quivalent zum Großen Gewächs positioniert werden.<br />
In der Tat schmeckt bereits der Jungfernjahrgang 2005<br />
mit seinen Steinobst- und Zitrusanklängen erstaunlich und<br />
entfaltet seine virile Kraft erst im bauchigen Burgunderglas.<br />
Die feine, geradlinige Mineralität scheint derart in die Trau-
M E H R S T E I N A L S S C H E I N 347<br />
bigkeit eingewoben, als wäre das Vulkangestein mitsamt den<br />
Beeren vergoren worden.<br />
Stil ist eben auch eine Frage des Charakters und der hat<br />
sich bei Matthias Adams während 20 Jahren hingebungsvoller<br />
<strong>Wein</strong>leidenschaft mit vielen genussreichen Trinkerlebnissen<br />
geformt. Schließlich stammt er aus einer weitläufigen, dem<br />
<strong>Wein</strong> sehr verbundenen Familie und hat so unterschiedliche<br />
Winzer wie Clemens Busch aus Pünderich an der Mosel (siehe<br />
Seite 444), Holger Koch aus Bickensohl in Baden und Rudi<br />
Pichler aus Wösendorf in der Wachau kennen- und schätzen<br />
gelernt. Zusammen mit seiner Frau sieht er den <strong>Wein</strong> auch<br />
aus der Warte des Konsumenten und stellt die Trinkerfahrung<br />
ganz obenan. Das ist ganz eindeutig eine Nahe-typische,<br />
basisdemokratische Riesling-Sicht der Dinge!<br />
Wenn es ein Manko bei <strong>von</strong> <strong>Racknitz</strong> gibt – der Jungfernjahrgang<br />
des Winzerpaars war immerhin erst 2003, und <strong>von</strong><br />
Null auf Hundert geht es auch an der Nahe nicht –, dann ist<br />
es eine mitunter zu ausgeprägte Restsüße, die den Geschmack<br />
des Bodens und die Ausdruckskraft im trockenen<br />
Bereich manchmal einen Tick kaschiert. Leider mussten für<br />
den Jahrgang 2005 die alten Holzfässer wegen Qualitätsmängeln<br />
ausrangiert werden; was Adams sehr bedauert,<br />
denn er besinnt sich gern auf altes handwerkliches Wissen –<br />
allerdings »unter Nutzung neuzeitlicher Erkenntnisse und<br />
kontinuierlicher Infragestellung dessen, was über die Jahre<br />
gelehrt worden ist«.<br />
Offenheit, der Blick über den Tellerrand, alles immer wieder<br />
zu hinterfragen und nicht schnellen Moden gedankenlos<br />
hinterherzulaufen – diesen Weg sind über Jahrzehnte auch<br />
Winzer vom Kaliber eines Helmut Dönnhoff oder Werner<br />
Schönleber gegangen. Und so wird auf dem <strong>Wein</strong>gut in<br />
Odernheim ständig und manchmal sogar ermüdend lange<br />
darüber diskutiert, was sinnvoll ist – oder eben auch nicht.<br />
In jedem Fall ist die Konzentration auf das Wesentliche,<br />
nämlich den Riesling und die ganzheitliche Synthese zwischen<br />
Tradition und Moderne der richtige Weg. Die zu Beginn<br />
erwähnten »Drei <strong>Wein</strong>heiligen <strong>von</strong> der Nahe« hätten<br />
sicherlich auch heute ihre Freude an der Nahe gehabt: Nicht<br />
nur an den Von-<strong>Racknitz</strong>-Rieslingen, sondern auch an der<br />
Entwicklung der Region insgesamt – und an der des einstigen<br />
Prüflings Helmut Dönnhoff insbesondere.<br />
Nahe in Zahlen<br />
Rebsorte 1981 2005 Trend<br />
Gesamtrebfläche 4528 ha 4119 ha ò<br />
Weiße Rebsorten<br />
insgesamt<br />
98,61% = 4465 ha 74,29% = 3060<br />
ha<br />
Riesling 21,16% = 958 ha 25,2% = 1038 ha æ<br />
òò<br />
Müller-Thurgau 28,75% = 1302 ha 13,87% = 571 ha òò<br />
Bacchus 5,15% = 233 ha 3,98% = 164 ha ò<br />
Faberrebe 2,98% = 135 ha 0,9% = 37 ha òò<br />
Kerner 6,54% = 296 ha 5,32% = 219 ha ò<br />
Optima 0,97% = 44 ha 0,29% = 12 ha òò<br />
Ortega 0,49% = 22 ha 0,39% = 16 ha ò<br />
Morio-Muskat 1,26% = 57 ha 0,27% = 11 ha òò<br />
Huxelrebe 1,15% = 52 ha 0,51% = 21 ha òò<br />
Ruländer (Grauer<br />
Burgunder)<br />
2,69% = 122 ha 4,83% = 199 ha æ<br />
Silvaner 16,23% = 735 ha 7,02% = 289 ha òò<br />
Weißburgunder 1,3% = 59 ha 4,81% = 198 ha ææ<br />
Chardonnay k. A. 0,85% = 35 ha<br />
Scheurebe 6,49% = 294 ha 3,5% = 144 ha òò<br />
Ehrenfelser 0,75% = 34 ha 0,39% = 16 ha òò<br />
Gewürztraminer 0,35% = 16 ha 0,59% = 24 ha æ<br />
Sonstige 2,34% = 106 ha 1,6% = 66 ha ò<br />
Rote Rebsorten<br />
insgesamt<br />
1,39% = 63 ha 25,71% = 1059<br />
ha<br />
Cabernet Sauvignon k. A. 0,36% = 15 ha<br />
Domina k. A. 0,27% = 11 ha<br />
ææ<br />
Dornfelder 0,07% = 3 ha 11,29% = 465 ha ææ<br />
Dunkelfelder 0,02% = 1 ha 0,63% = 26 ha ææ<br />
Blauer Frühburgunder k. A. 0,34% = 14 ha<br />
Merlot k. A. 0,39% = 16 ha<br />
Regent k. A. 2,43% = 100 ha<br />
Blauer Spätburgunder 0,4% = 18 ha 5,92% = 244 ha ææ<br />
Blauer Portugieser 0,8% = 36 ha 2,89% = 119 ha ææ<br />
Mit der der <strong>Wein</strong>gesetzgebung <strong>von</strong> 1901 begann man die<br />
<strong>Wein</strong>e unter ihrem Herkunftsnamen zu vermarkten, und<br />
Prof. Dr. Helmut Kalinke beziffert die Ertragsrebfläche 1903<br />
auf 3140 Hektar..<br />
Saint Laurent 0,02% = 1 ha 0,41% = 17 ha ææ<br />
Sonstige 0,09% = 4 ha 0,78% = 32 ha ææ<br />
Quelle: Der deutsche <strong>Wein</strong>- und Getränkemarkt in Zahlen, Bd. I, <strong>von</strong> Prof.<br />
Dr. Helmut Kalinke, Geisenheim, 1985.