Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ie<br />
erge<br />
W<br />
arum nicht in den <strong>Rosengarten</strong>? Nicht weit von Bozen, angenehme<br />
Tagestour, traumhaftes Panorama. So stand es in seiner<br />
E-Mail, in der er auch gleich den Ablauf vorschlug. Mit dem<br />
Auto zum Karerpass, von dort mit dem Sessellift zur Paolinahütte, danach<br />
rüber zum Vajolonpass, wo der Klettersteig zum Gipfel der Rotwand<br />
beginne. Wenn das Wetter mitspiele, schrieb er, habe man von dort<br />
„eine beeindruckende Aussicht auf die ganzen Dolomiten“. Und nach<br />
dem Abstieg könne man sich von Roberta in der Rotwandhütte bewirten<br />
lassen. Technische Ausrüstung bringe er mit. Zum Schluss: „Sollten wir<br />
uns, wie am Berg üblich, duzen, dann bin ich der Michi.“<br />
Ein Morgen im Oktober, die Luft ist kalt und feucht. Der Michi ist<br />
Michael Andres, geboren in Bruneck im Pustertal, staatlich geprüfter<br />
Berg- und Skiführer. Mitgebracht hat er Jakob Oberrauch, den Joggl.<br />
Der Michi und der Joggl sind Freunde und außerdem verwandt: Der<br />
Bruder der Großmutter des einen ist der Onkel des anderen. Oder so<br />
ähnlich. Nebel zieht über die Wiesen, während der Sessellift zur Paolinahütte<br />
hinaufrumpelt. Der Berg verhüllt. Nichts zu ahnen vom traumhaften<br />
Panorama, von majestätischen Felsmassiven, von steilen, steinernen<br />
Türmen, Spitzen und Zacken, die sich in den Himmel tasten, vom Spiel<br />
der Wolken zwischen atemberaubenden Schluchten.<br />
„Es sind nicht die höchsten Berge der Welt“, hat Reinhold Messner<br />
einmal gesagt, „auch nicht die gefährlichsten, aber bestimmt sind es die<br />
schönsten.“ Messner, logisch, der notorische Allesbesteiger und Erstdurchquerer,<br />
der international wohl bekannteste Südtiroler – der darf<br />
nicht fehlen, wenn es um die Dolomiten geht. Und auch er verweist stets<br />
auf den Kontrast zwischen sanft gewellten Almflächen und bizarren<br />
Felsformationen, der die Dolomiten so besonders macht. Ihrer Formenvielfalt<br />
wegen wurden die neun wichtigsten Teilgebiete der Dolomiten<br />
2009 zum Weltnaturerbe erklärt; wobei diese sich neben Südtirol auch<br />
auf die Nachbarprovinzen Trentino und Belluno erstrecken.<br />
„Nirgendwo“, sagt Michi, „gibt es so ein außergewöhnliches Felsgebirge.“<br />
Und Jakob ergänzt: „In den Dolomiten kannst du ein Leben lang<br />
herumsteigen, und du findest immer noch Flecken, wo du denkst, du bist<br />
auf dem Mond.“ Wenn Südtiroler über ihre Berge sprechen, dann klingt<br />
das meist wie eine Liebeserklärung. Dann rekapitulieren sie ihre schönsten<br />
Erlebnisse. Dann verlieren sie sich in Erzählungen über Schlern, Sella<br />
und Ortler, dem mit 3905 Metern höchsten Berg Südtirols. Dann ver-<br />
14 15
gleichen sie die Ästhetik der Drei Zinnen mit der der Weißkugel oder<br />
Königspitze, die Gestalt der Geislerspitzen mit der der Pfunderer Berge.<br />
Hinterher weiß man, wo die Payerhütte steht und wie man zum Riesenfernergletscher<br />
kommt – aber auch, dass die Dolomiten von jeher Grenzland<br />
waren, Herzland der Ladiner sind und ihren heutigen Namen einem<br />
Franzosen verdanken.<br />
Déodat Guy Sylvain Tancrède Gratet de Dolomieu, wie er mit vollständigem<br />
Namen hieß, war Geologe und Mineraloge. 1788 kam er nach Tirol,<br />
um das zu erforschen, was damals noch Monti pallidi genannt wurde:<br />
die bleichen Berge. Dolomieu fand versteinerte tropische Korallen<br />
auf 3000 Meter Höhe und Fossilien von Muscheln, Schneckenhäusern<br />
und sogenannten Teufelsfüßen, Steine, die an Hufe erinnern und vermutlich<br />
von einem urzeitlichen Krebs stammen. Diese Berge, so Dolomieus<br />
Schlussfolgerung, mussten einem Ozean entwachsen sein, als die<br />
europäische und die afrikanische Kontinentalplatte zusammenstießen.<br />
Entstanden vermutlich im Trias, vor 200 bis 250 Millionen Jahren. Und<br />
Dolomieu fand ein Gestein, das wissenschaftlich vor ihm noch keiner<br />
ergründet hatte und nach ihm benannt wurde – Dolomit, ein Kalksediment,<br />
das statt mit Kalzium mit Magnesium durchzogen ist und deshalb<br />
einen gelblichen, mitunter rötlichen Farbton aufweist.<br />
Unterhalb der Südwestwand der Rotwand, auf dem Weg zum Vajolonpass:<br />
Gras, das nach Käse duftet. Im Kies Hufspuren einer Gämse.<br />
Daneben ein Brunnen. Joggl sagt, man müsse bei jedem Brunnen drei<br />
Schluck Wasser trinken. Das bringe, alte Bauernweisheit, Glück. An der<br />
Rotwand, so Michi, könne man an der Farbe des Gesteins gut erkennen,<br />
wo der Fels brüchig oder fest sei, ob er sich also gut zum Klettern eigne<br />
oder eben nicht. Auch an der Rotwand, so der Joggl, sei schon „Klettergeschichte“<br />
geschrieben worden. Der Himmel ist inzwischen klar und<br />
strahlend blau. Im Eggental staut sich der Nebel wie Sahne. Die Gipfelkette<br />
des Latemar ragt heraus, es sieht aus, als würde sie schweben.<br />
Man kann schon verstehen, warum die Dolomiten eine Welt der Sagen<br />
und Märchen sind. Wer in ihre steinerne Wildheit blickt, kann darin<br />
aller lei märchenhafte Figuren erkennen. Buckelige Hexen. Bärtige Zwerge.<br />
Fabeltiere. Von jeher ist die Natur hier tief in die Fantasie der Menschen<br />
eingedrungen. Im Sellastock, heißt es, gehe ein wilder Mann mit<br />
einer flammenden Leiter umher. Im Kreuzkofel hause ein Drache. Und<br />
am Pfunderer Höhenweg brüllten die Seen. Man erzählt sich von Dolasilla,<br />
der kriegerischen Bergkönigin, von gräulichen Nebelgespenstern,<br />
die Pelendrons genannt werden, und bleichen Wasserfrauen, den Yarines,<br />
und von der Striona, der Oberhexe mit ihrer Wackelnase.<br />
Jeder Ort hat seine Geschichte. Die Geschichte des <strong>Rosengarten</strong>s handelt<br />
von Laurin, dem Zwergenkönig, der eine Tarnkappe besaß, die ihn<br />
unsichtbar machte. Sein Zaubergürtel verlieh ihm die Kraft von zwölf<br />
Männern. Im Gartl, einem Schuttkar zwischen <strong>Rosengarten</strong>spitze, Laurinswand<br />
und den Vajolet-Türmen, soll er gelebt haben, in einem Garten<br />
voller Rosen. Liebe, Raub, Flucht, Kampf und Verrat – all das gehört<br />
zum Drama um den Zwergenkönig, das mit Laurins Fluch endet, dass<br />
die Rosen nie wieder blühen sollen, weder am Tag noch in der Nacht.<br />
Weil er aber die Dämmerung vergessen hatte, glühen die Felsen noch<br />
heute, was die Ladiner „Enrosadüra“ nennen.<br />
In Serpentinen, über Schotter und Gerölll führt der Weg hinauf zum<br />
Vajolonpass. Sie sehen sich nicht oft, der Michi und der Joggl. Arbeit,<br />
Arbeit, Arbeit. „Die Berge“, sagt Michi, dessen Firma Wander-, Kletterund<br />
Skitouren anbietet, aber auch Reisen in Länder wie Bhutan, Grönland<br />
oder Kirgisien, „die Berge geben mir mein inneres Gleichgewicht<br />
zurück.“ Joggl meint: „Klar, es ist ein Klischee, aber in den Bergen wird<br />
der Kopf frei.“ Aber die Berge, sagen beide, seien für Südtiroler auch<br />
ein Ort der Begegnung. Weshalb auch sie unterwegs über die kleinen<br />
und großen Dinge des Lebens palavern. Joggls Schwester hat geheiratet.<br />
Michi konnte nicht kommen. Er hat sich zum 50. Geburtstag eine Reise<br />
in die Karibik und zu den Galápagos-Inseln geschenkt. Und so erzählt<br />
der eine von der Hochzeit und der andere von Echsen und Riesenschildkröten,<br />
bis wir am Vajolonpass ankommen, wo man steht und staunt und<br />
keine Worte findet für den grandiosen Blick hinüber zum Kesselkogel<br />
und hinunter ins Fassatal.<br />
Nach einer kurzen Rast geht es hinein in den Klettersteig. Michi packt<br />
Gurte, Seil und Klettersteigsets aus. Dazu ein paar Grundregeln: nie<br />
ohne Helm. Schuhe mit Profilgummisohle, wetterfeste Funktionskleidung,<br />
Handschuhe. „Es gehört zum guten Ton“, sagt Joggl, „eine gute<br />
Ausrüstung zu haben.“ Er sagt es nicht nur, weil er eine Firma führt, die<br />
all das verkauft. „Der Südtiroler gibt lieber Geld für den Berg aus als für<br />
ein schnelles Auto.“ Wieder ist das Wetter umgeschlagen. Wieder graue<br />
Wolken, Nebel im Tal. Michi sagt: „Nicht in den Berg lehnen, aufrecht<br />
gehen, gleichmäßig treten, nicht übermütig werden.“<br />
16 17
Klackklack machen die Karabiner. Mit einem Surren gleiten sie über<br />
das Stahlseil des Klettersteigs. Krustiger Schnee knirscht unter den<br />
Schuhen. Feuchter Fels. Fast senkrecht geht die Wand in die Tiefe, hinein<br />
in ein fahles Nichts. Am grauen Himmel tanzen pechschwarze Dohlen.<br />
Von Stein zu Felsvorsprung zu Stein. Dann noch ein kurzes steiles Stück,<br />
über einen schmalen Grat führt der Weg zum Gipfelkreuz, 2806 Meter.<br />
Roda de Vaèl heißt die Rotwand bei den Ladinern. Michi sinniert darüber,<br />
„wie schön das klingt“, während Joggl den Rucksack auspackt. Es<br />
gibt Sextener Bergkäse, sardischen Wildschweinspeck und Waffeln von<br />
Loacker, hergestellt in Unterinn auf dem Ritten, von denen es heißt, es<br />
gebe keine besseren. Und plötzlich sind Wolken und Nebel wieder weg,<br />
und man schaut tatsächlich in die ganzen Dolomiten hinein.<br />
Der Michi kennt hier jeden Berg mit Namen und hat fast jeden schon<br />
bestiegen. Sein Favorit ist der Heiligkreuzkofel, auch weil er von da hinunterschauen<br />
kann ins Gadertal, wo die Familie der Mutter herkommt.<br />
Joggl beschreibt, wie das, was man jetzt im Spätherbst vor sich hat, im<br />
Winter aussehen wird. Wenn alles mit Schnee überzogen sein wird wie<br />
Zuckerguss. Wenn man an Skiern entlang gewaltiger Felsen ins Tal gleiten<br />
kann – kalte Luft im Gesicht, Rausch der Geschwindigkeit. „Die<br />
totale körperliche Erfahrung“, sagt der Joggl. Dazu passt, dass der Michi<br />
sagt: „Das Herzstück meiner Arbeit ist die Bergsteigerei, aber meine<br />
wahre Leidenschaft sind die Skitouren.“<br />
Auch die schönste Bergtour muss einmal ein Ende finden. Wie hat ein<br />
weiterer berühmter Südtiroler Bergsteiger gesagt? „Der Gipfel gehört<br />
erst dir“, so Hans Kammerlander, „wenn du wieder unten bist, vorher<br />
gehörst du ihm.“ Hinunter über dürres Gras, fahle Flechten, über Felsplatten<br />
und Steinbrocken. Ein Abstieg mit Herausforderungen. Nach<br />
einigen Felsspalten geht es hundert Meter entlang der senkrecht abfallenden<br />
Teufelswand, danach hinauf zu einem kleinen Plateau mit Blick<br />
auf den Fensterlturm, einem Felsklotz mit einem Loch wie ein Fenster.<br />
Noch eine lange, diesmal sehr enge Felsspalte. Schließlich auf steinigen<br />
Serpentinen hinunter zur Rotwandhütte, wo Roberta Silva, die Wirtin,<br />
schon wartet. Bei Roberta gibt es Cappuccino, einen richtig guten Apfelstrudel<br />
und zum Abschied einen Grappa. Zurück zur Paolinahütte, zum<br />
Sessellift. Bei der Rückfahrt nach Bozen ist es schon da, dieses Gefühl,<br />
das der Joggl schon zur Begrüßung beschworen hatte: „Wer die Dolomiten<br />
einmal erlebt hat, kommt nie wieder von ihnen los.“<br />
18<br />
19