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Unerkannte Räume

ISBN 978-3-86859-361-7

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<strong>Unerkannte</strong><br />

<strong>Räume</strong><br />

Sechs Experimente im<br />

Grenzbereich der Architektur<br />

Anja Soeder<br />

Kilian Schmitz-Hübsch<br />

Alban Janson<br />

(Hg.)


Inhaltsverzeichnis<br />

Einleitung<br />

......................................................................................................................................................................... 7<br />

Gefäß<br />

Plastik<br />

Keramische Arbeiten von Urte Reisgies................................................................................... 9<br />

Kilian Schmitz-Hübsch<br />

Gefäß .......................................................................................................................................................... 14<br />

Urte Reisgies<br />

Wege durch gefühlten Raum ...................................................................................................... 24<br />

Arno Lederer<br />

Mehr als nur Sehen............................................................................................................................. 27<br />

Gudrun Wiedemer<br />

Einraumarchitekturen....................................................................................................................... 29<br />

Kehrseite<br />

Kleidung<br />

Inside-Out – Kleidungsstücke von Studierenden der Hochschule Trier................. 33<br />

Kilian Schmitz-Hübsch<br />

Kehrseite ................................................................................................................................................... 38<br />

Beatrix Zückert<br />

Die Doppelkommunikation der manta .................................................................................. 46<br />

Doris Zoller<br />

<strong>Räume</strong> des Dazwischen .................................................................................................................. 49<br />

Wolke<br />

Musik<br />

Poème symphonique für 100 Metronome von György Ligeti ...................................... 53<br />

Alban Janson<br />

Wolke ........................................................................................................................................................... 58<br />

Christopher Dell<br />

Wolkenstruktur und Ermöglichung ............................................................................................ 66<br />

Renzo Vallebuona<br />

The Cloud, incompleted ................................................................................................................... 70


Kippfigur<br />

Tanz<br />

Auch – Choreografie von Reinhild Hoffmann ....................................................................... 73<br />

Alban Janson<br />

Kippfigur ................................................................................................................................................... 78<br />

Reinhild Hoffmann im Interview .................................................................................................. 86<br />

Oliver Kruse im Dialog ...................................................................................................................... 90<br />

Spiel<br />

Szenografie<br />

Gastmahl im Park von Wolf Gutjahr, Anja Soeder und<br />

Studierenden der FH Mainz / des KIT......................................................................................... 93<br />

Anja Soeder<br />

Spiel ............................................................................................................................................................ 98<br />

Wolf Gutjahr<br />

Szenografische Spielräume .......................................................................................................... 106<br />

Franz Xaver Baier<br />

Warum Architektur das Spielerische braucht .................................................................... 110<br />

Angelika Jäkel<br />

Räumliche Verben ............................................................................................................................... 114<br />

Kontinuum<br />

Film<br />

Photographie und jenseits von Heinz Emigholz ................................................................. 117<br />

Anja Soeder<br />

Kontinuum ............................................................................................................................................... 122<br />

Heinz Emigholz im Interview ........................................................................................................ 130<br />

Elisabeth Blum<br />

Im Rausch der schrägen Bilder ................................................................................................... 134<br />

Autoren<br />

........................................................................................................................................................................ 138<br />

Dank<br />

Impressum<br />

........................................................................................................................................................................ 140


animus vagabundus<br />

heutzutage ist bauen<br />

reine ökonomie und hält<br />

sich regellos streng<br />

an recht und gesetz<br />

mit ’nem schuss milch<br />

was sehr gesund sein soll.<br />

weiß sind die mauern<br />

trotzdem nicht mehr<br />

dafür wird farbe angerührt<br />

und es laufen der architekt<br />

und die tüchtige architektin<br />

oft zur universität, um<br />

dort berührt zu werden<br />

keine bange, der geist<br />

greift nicht stürmisch<br />

nach dir, er streift nur<br />

flüchtig deine wange.<br />

die meisten merken’s<br />

nicht mal, einige doch,<br />

nennen sich von nun<br />

an phänomenologen.<br />

doch wenige sind’s und<br />

kaum einer erbarmt sich<br />

der verfemten. stellt<br />

wieder her die verlorene<br />

ehr der katharina blum<br />

das war einst sache<br />

der guten architekten:<br />

der salonkommunisten<br />

mit den vier händen und<br />

den schwarzen zwickern.<br />

an der espressomaschine<br />

der blitzblanken oder im<br />

aufgeräumten weinkeller<br />

steht der gesellige kollega<br />

weint rotz und wasser<br />

vor glück – architektur<br />

bleibt eben trotz einigen<br />

elends perspektivisch<br />

Gerd de Bruyn


Einleitung<br />

Sokrates: Da. Ich habe eines dieser Dinge gefunden, die das Meer ausgeworfen hat;<br />

eine weiße Sache von der reinsten Weiße; geglättet, hart, zart und leicht. Sie glänzte in der<br />

Sonne auf dem geleckten Sand, der dunkel scheint, übersät mit Funken. Ich nahm sie; ich blies<br />

sie an; ich rieb sie gegen meinen Mantel, und ihre eigentümliche Form unterbrach alle meine<br />

übrigen Gedanken. (Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt) 1<br />

Die Bereitschaft, bei den Dingen, die uns in der Welt begegnen, stehenzubleiben<br />

und sich ihrer Erscheinung aufmerksam zu widmen, versetzt uns in die Lage, innezuhalten<br />

und Fragen zu stellen. Wenn wir uns auf die Eigentümlichkeit der Dinge einlassen und unsere<br />

Aufmerksamkeit darauf richten, wie sie wirken und worauf diese Wirkungen beruhen, können<br />

wir darin Themen und Fragestellungen erkennen, die unser Denken beeinflussen und in neue,<br />

unbekannte Bahnen lenken.<br />

In der Architektur von solchen spontanen Beobachtungen zu lernen und daraus<br />

neue Ansätze für das architektonische Entwerfen zu gewinnen, hat uns immer besonders<br />

fasziniert, weil wir dabei über die Grenzen dessen, was gemeinhin als Architektur gilt,<br />

hinausgehen können. In der eigenen Praxis und in der Architekturlehre versuchen wir immer<br />

wieder auszuloten, was „Architektur“ ist und welche aktuellen Erweiterungen der Begriff<br />

des „Architektonischen“ verlangt. Grundsätzlich geht es dabei um die Artikulation aller denkbaren<br />

räumlichen Verhältnisse durch architektonische Mittel. Um bestimmen zu können,<br />

was das aktuell bedeutet, müssen wir uns der Vielfalt räumlicher Phänomene und Erfahrungen,<br />

die unser Leben bestimmen, immer wieder von Neuem annehmen und daran die Zuständigkeit<br />

der Architektur orientieren.<br />

Wenn wir den Blick auf diese Weise öffnen, dann stoßen wir auch außerhalb der<br />

Architektur auf räumliche Phänomene, in denen architektonische Sachverhalte unmittelbar<br />

anschaulich werden. Diese Anschaulichkeit kann uns in Naturphänomenen begegnen oder in<br />

alltäglichen Dingen, aber auch in den Produkten anderer künstlerischer Disziplinen, die sich<br />

ebenso mit räumlichen Fragestellungen beschäftigen. Immer verlangt es aber eine besondere<br />

Aufmerksamkeit und Anstrengung, zu untersuchen, wie weit in diesen Gebieten, die eigentlich<br />

gar nicht zur Architektur gehören, dennoch Erfahrungen in einem spezifisch architektonischen<br />

Sinne gemacht werden können – nicht in metaphorischer Form oder als abstrakte Analogien,<br />

sondern auf der Ebene von greifbarer Räumlichkeit, sinnlicher Wahrnehmung und realem<br />

Erleben. Auf solchen Streifzügen durch die außerarchitektonische Wirklichkeit erschließen<br />

sich uns unerkannte <strong>Räume</strong> in doppelter Hinsicht: als reale <strong>Räume</strong> oder Raumkonstruktionen,<br />

die dazu anregen, die Möglichkeiten des architektonischen Entwerfens auszuweiten und als<br />

Denkräume, in denen wir uns klar darüber werden, was das Wesen der Architektur ausmacht.<br />

Das Vorhaben, sich mit konkreten Erfahrungsmöglichkeiten des Räumlichen in<br />

anderen Disziplinen zu beschäftigen, verlangt allerdings nach einer spezifischen Form der<br />

Auseinandersetzung. Wenn wir gemeinsam über die Wirkungsweisen und das architektonische<br />

Potenzial von räumlichen Phänomenen diskutieren wollen, müssen diese Phänomene zu-<br />

7


1<br />

2<br />

3<br />

S. 10 Urte Reisgies bei der Präsentation<br />

ihrer keramischen Arbeiten<br />

1 Körperplastik<br />

2 Handabformung<br />

3 „Wal“, Modell für eine begehbare Großplastik<br />

4 Gudrun Wiedemer vor den Nachbildungen<br />

antiker Gefäße<br />

5 Gefäße und Handabformungen<br />

4<br />

12<br />

5


Plastik<br />

Keramische Arbeiten<br />

Gefäße und Plastiken von Urte Reisgies<br />

Den Gartensaal des Karlsruher Schlosses füllen keramische Plastiken und Gefäße<br />

der Hamburger Künstlerin Urte Reisgies. Die Arbeiten sind in unterschiedlichen Werkgruppen<br />

arrangiert und werden dem Publikum von der Künstlerin der Reihe nach vorgestellt.<br />

Da sind zunächst vier Nachbildungen antiker Trink- und Kultgefäße – Aryballos,<br />

Alabastron, Lekythos und Krater –, die eigens für diesen Anlass interpretiert wurden.<br />

Sie sind ornamentlos, von einheitlich weißgrauer Farbe und auf einen vergleichbaren Maßstab<br />

gebracht. Die Wiederkehr elementarer Gliederungen scheint in diesen Gefäßen auf: Fuß,<br />

Körper, Henkel, Hals, Schulter. In der Beschreibung der Künstlerin wird besonders die Handhabung<br />

dieser Gegenstände hervorgehoben, das Ein- und Umfüllen, Mischen und Ausgießen,<br />

das Tragen dicht am Körper und das repräsentative Aufstellen. Ein Krug und eine<br />

seltsame Kanne vervollständigen die Gruppe der Gefäße.<br />

Die freien künstlerischen Arbeiten teilen sich in zwei weitere Werkgruppen:<br />

Die erste Gruppe bilden die Handabformungen und Körperplastiken, die aus dem Auskleiden<br />

eines imaginären Raumes zwischen Körperteilen wie Finger, Handballen, Armen und<br />

Schenkeln entstanden sind. Sie sind scheinbar ganz geschlossen und umspannen mit weich<br />

gerundeten Oberflächen einen Hohlraum, den sie zugleich verbergen. Einbuchtungen, in<br />

die bestimmte Körperteile genau hineinzupassen scheinen, laden zu einem unmittelbaren<br />

Berühren dieser Arbeiten ein. Nur eine der kleinen Handplastiken ist seitlich geöffnet<br />

und lässt zu, dass die raumumspannende Schale gleichzeitig von außen und von innen befühlt<br />

werden kann.<br />

Die zweite Gruppe umfasst Modelle für begehbare Großplastiken. Diese besitzen<br />

deutlich formulierte Öffnungen, die dem Hinein und Hinaus eine besondere Aufmerksamkeit<br />

schenken und ein imaginäres Bewohnen dieser Gefäße erdenklich machen.<br />

Gesprächsrunde<br />

Arno Lederer (Architekt), Urte Reisgies (Keramikkünstlerin),<br />

Kilian Schmitz-Hübsch (Architekt), Gudrun Wiedemer (Architektin)<br />

13


Wege durch<br />

gefühlten Raum<br />

Urte Reisgies<br />

Stellen Sie sich vor, Sie sind klein wie Gulliver im Land der Riesen. Dort entdecken Sie<br />

eine Ansammlung von seltsamen Häusern: Rundkörpern, Spiralen, Tunneln, Hörnern. Sie könnten<br />

sie tatsächlich betreten. Sie könnten hineingehen, sie durchwandern, allein oder gemeinsam.<br />

Aber: Gehe ich in einen Tunnel hinein, dessen Ende ich nicht sehen kann? Sie zögern? Dann<br />

begleiten Sie mich für einen Moment und hören Sie, wie meine „Siedlung“ entstand!<br />

Am Anfang war der Ton, dieses ursprüngliche, so einfache und doch kostbare Material,<br />

das allein diese Gedankenspiele möglich macht. Ton in der Hand zu fühlen, ihn zu formen,<br />

ist ein ganz eigenes Erlebnis: denn er nimmt unmittelbar auf, was ich darin hinterlasse. Er legt<br />

Zeugnis ab, nicht nur von mechanischen Spuren, den schlichten Abdrücken der Hände und<br />

ihrer Bewegungen, sondern ebenso davon, mit welcher Hingabe ich ihm begegne.<br />

So verstehe ich heute mehr denn je, was Thoreau meint, wenn er schreibt: „Die Erde<br />

ist kein bloßes Fragment toter Geschichte, Schicht über Schicht gelagert wie die Blätter eines<br />

Buches, das hauptsächlich von Geologen und Altertumsforschern studiert werden soll, sondern<br />

lebendige Poesie, wie die Blätter eines Baumes, welche den Blüten und Früchten voraneilen –<br />

keine fossile Erde, sondern eine lebende Erde.“ 1<br />

Ton, diese lebendige Erde, ist offen für vielfältige Wandlungen in Dinge, die unseren<br />

Alltag füllen. Aus Ton werden handliche Gefäße, technische Apparaturen oder imposante<br />

Backstein bauten. Was aber, wenn ich den Gebrauchszweck beiseite lasse und Ton aus einer<br />

rein künstlerischen Perspektive betrachte? Ich möchte Objekte entwickeln aus dem einfachen,<br />

unmittelbaren Umgang mit dem Material. Ich möchte ausloten, welche räumlich-sinnlichen<br />

Erfahrungen Ton in der Hand – und um mich herum – hervorbringen kann und welche Oberflächen<br />

dies unterstützen.<br />

Handabformungen<br />

Eine erste Gruppe meiner Plastiken bezeichne ich als „Handabformungen“. Es sind<br />

Hohlkörper aus Ton, auch wenn man auf den ersten Blick meinen könnte, sie entstünden durch<br />

einfaches Drücken und Quetschen des Materials.<br />

Hier geht es aber nicht um das Ausfüllen von Zwischenraum zu einem massiven Objekt,<br />

sondern um das Umschreiben und Markieren eines eigentlich abstrakten „Raumes“, genauer:<br />

um das Vergegenständlichen von <strong>Räume</strong>n, die aus einem Zusammenspiel von Strukturen der<br />

Hand, ihren Bewegungsmöglichkeiten in der Umgebung und meiner Wahrnehmung entstehen.<br />

<strong>Räume</strong>, wie sie uns jederzeit in fließender Veränderung ganz selbstverständlich umgeben, ohne<br />

dass wir je darüber nachdenken. Meine Plastiken umfangen diese <strong>Räume</strong> wie eine Membran.<br />

Mit Ton mache ich sie konkret, sicht- und fühlbar.<br />

24


Deshalb entstehen die Objekte in vielen kleinen Einzelschritten von Anfang an als<br />

Hohlkörper. Die Aufbautechnik, mit ihrem langsamen behutsamen Vorgehen kommt mir entgegen.<br />

Zunächst wähle ich eine „Handstellung“ aus, mit der ich mein Vorhaben beginnen möchte,<br />

und damit verbunden auch eine Geste. Ganz verschiedene Objekte sind möglich, je nachdem<br />

wie im Detail die Hand geöffnet ist, wie stark gewölbt die Fläche, wie Daumen und Finger zueinander<br />

stehen und wie weit meine Finger eine Bewegung in ihren Umraum hinein andeuten.<br />

Wulst um Wulst kleide ich die Hand mit einer dünnen Wand aus Ton aus, bis ein schalenartiges<br />

Objekt entstanden ist. Je nach Ausdruck der Geste – sich öffnend oder umfassend – bleibe ich<br />

bei der Weite, schließe die Abformung ganz oder teilweise.<br />

Die schalenartigen Objekte bilden am ehesten die Grenze zwischen unserem Körper<br />

und dem Umraum ab. Ist die Keramik erst gebrannt, kann eine Hand durch die starre, aber dünne<br />

Wandung hindurch die andere ertasten. Die geschlossenen Objekte werden zu autonomen<br />

Gegenständen, die sich uns im Betrachten und Darüberstreichen offenbaren. Wenn die Abformungen<br />

ihre Öffnungen behalten, bin ich dem nahe, was ein (Trink-)Gefäß ausmachen würde.<br />

Körperplastiken<br />

Gehe ich noch einen Schritt weiter und forme größere Bereiche meines Körpers ab,<br />

ergeben sich Objekte, die eine andere Dimension aufweisen: So entstand eine zweite Gruppe<br />

von Plastiken, die ich auf meinem Schoß gebaut habe, unter mir, sodass ich darauf liegen<br />

konnte, oder zwischen meinen gekreuzten Beinen. Die Ausdehnung dieser Objekte, die ich als<br />

„Körperplastiken“ bezeichne, richtet sich nach der Reichweite meiner Gliedmaßen.<br />

Der ungarische Tänzer und Choreograf Rudolf von Laban (1879–1958) hat dafür den<br />

Begriff „Kinesphäre“ geprägt: „Um den Körper herum befindet sich die ‚Kinesphäre‘, die Bewegungskugel,<br />

deren Umkreis man mit normal ausgestreckten Gliedmaßen ohne Veränderung<br />

des Standortes – also des Ortes, auf dem das Körpergewicht ruht – erreichen kann. Die gedachte<br />

Innenwelt dieses Bewegungsraums kann mit Händen und Füßen berührt werden, und<br />

alle ihre Punkte sind erreichbar.“ 2<br />

Auch bei diesen Abformungen geht es mir um <strong>Räume</strong>, die sich aus der Lage einzelner<br />

Körperzonen zueinander erschließen lassen. Doch während die Handabformung ein vergleichsweise<br />

kleiner verspielter Gegenstand bleibt, haben die Körperabformungen durch ihre Größe,<br />

ihre Gestalt und ihr Gewicht für den, der sich auf sie einlässt, eine unausweichliche Präsenz.<br />

Besonders die Schoßplastiken sind Passstücke, bilden ein Gegenüber; sie gleichen<br />

einem Zwilling, den ich in meinen Armen halte; und weil sie unsere eigenen Formen, Größen und<br />

Proportionen spiegeln, sind sie uns auf Anhieb vertraut. Wir erkennen sie sofort, ertastend mit<br />

Augen, Händen und dem Körper als Ganzem. Auf dem Schoß werden sie zum Schutzschild, weil<br />

sie einen großen Teil unserer empfindlichen Körpermitte bedecken. Sie sind ein Anker in Ort und<br />

Zeit: Da sie Gewicht haben, binden sie mich nicht nur an sich selbst, sondern auch an einen fixen<br />

Platz; für eine geraume Weile verlangen sie nach ungeteilter Aufmerksamkeit. So schaffen diese<br />

Plastiken Nähe, Sicherheit und Bewusstheit. Sie können das seltene Gefühl erzeugen, eins zu sein<br />

mit dem, was um uns ist; einfach zu sein – wenn auch nur für einen kurzen friedlichen Moment.<br />

25


Einraumarchitekturen in Amerika<br />

Ein Blick über Los Angeles hinaus auf die amerikanische Architektur der Nachkriegszeit<br />

lässt Vorläufer und Zeitgenossen Gehrys erkennen, die gleichfalls spezifische regionale<br />

Wohnformen erarbeiteten. Hier spielten Einraumarchitekturen eine besondere Rolle. Eindrücklich<br />

veranschaulichten die aufgesplitteten Wohnhäuser von Louis Kahn, Robert Venturi<br />

oder Charles Moore diese Tendenz. Gehry knüpfte an diese Genealogie an: „Die ursprüngliche<br />

Idee zu dem Haus für einen Filmemacher entstammt meinem Interesse, die Grenzen meiner<br />

Möglichkeiten auszuloten. Ich dachte, dass wir mit einer Minimierung der funktionalen Aspekte,<br />

der Schaffung von Einraum-Gebäuden, das schwierigste Architekturproblem lösen könnten.<br />

Denken Sie nur an die von Einraum-Gebäuden ausstrahlende Kraft und die Tatsache, dass die<br />

besten im Laufe der Geschichte je gebauten Gebäude, Gebäude mit bloß einem Raum waren.“ 3<br />

„Keramische Urformen“ und „Finish Fetish“<br />

Es war die Keramikklasse bei Glen Lukens, über die Gehry 1952 ins Architekturstudium<br />

an der University of California eingestiegen war. Die „Keramischen Urformen“, die die Gruppe<br />

um Peter Voulkos ab 1954 am Otis Art Institute schuf, und die im „Finish Fetish“ erweitert<br />

wurden, können ihm nicht entgangen sein. 4 Hier entstanden mittels handwerklicher Meisterschaft<br />

und technischer Innovationen Skulpturen von enormer Größe sowie mittels Konstruktionsprinzipien<br />

der Architektur Gefäßassemblagen in monumentalen Maßstäben. Bei den Gefäßformen<br />

faszinierten die außergewöhnlichen Oberflächenbehandlungen. Die Glasur unterstrich<br />

die Form oder trennte sich von ihr, wobei der angebrachte geschmolzene Glasmantel erst durch<br />

das Brennen seine Wirkung entfaltete; Experimentieren war zentraler Bestandteil der Arbeit.<br />

Im „Finish Fetish“, zwischen Minimalismus und Pop, entstanden dreidimensionale, puristische<br />

Abb. 1: P. Soldner, P. Voulkos, J. Mason in Soldners M. F. A.<br />

Ausstellung, LA County Institute, Los Angeles 1956<br />

Abb. 2: P. Voulkos beim Erstellen einer Skulptur<br />

im Glendale Boulevard Atelier, Los Angeles 1959<br />

30


Objekte beziehungsweise boxes (Larry Bell), Scheibenskulpturen (Judy Chicago) und Stelen (John<br />

McCracken). Neuartige Materialien und Oberflächen, teils diaphan oder reflektierend, kamen<br />

zum Einsatz, die mit dem Ort, dem Licht, der Stimmung arbeiteten. Sie waren perfekt, robust und<br />

sinnlich zugleich. Sie beinhalteten Qualitäten, die sich in der Architektur schwer einfordern ließen.<br />

Die Keramikarbeiten inspirierten Gehry als eigenständige Urformen, die mit dem Betrachter,<br />

aber auch zueinander in Beziehung traten und als Figur-Grund-Phänomene definierte<br />

Außenräume entstehen ließen. Sie lieferten Bilder für Einraumarchitekturen als zeitgenössische<br />

Wohnformen, denn es lag nahe, die Räumlichkeiten, die sie bargen, erfahren und bewohnen<br />

zu wollen. Im Gegensatz zu den standardisierten boxes boten ihre inneren Räumlichkeiten<br />

Geborgenheit wie individuelle Rückzugsmöglichkeiten und ihre ausdrucksstarken äußeren<br />

Formen Möglichkeiten der Identifikation. Über das „Finish Fetish“ standen für Gehry zudem<br />

Oberflächen zur Verfügung, die die boxes oder Einraumgebäude zugleich als Objekt und Kontext<br />

erscheinen ließen oder mehrere von ihnen zu einer Gesamtform, einem Einraum ensemble, zusammenbanden.<br />

Potenzial von Einraumarchitekturen<br />

Über diese Referenzen konnte Gehry das räumliche Potenzial der Bauträgerarchitektur<br />

der standardisierten boxes ausloten, mit der Baukultur der Einraumarchitekturen<br />

in Zusammenhang bringen und diese in der Gegenwart verankern. Es entstanden neuartige,<br />

angemessene Wohnformen für L.A.; es waren Lösungsansätze für drei unterschiedliche<br />

Wohnnutzungen, die mit verschiedenen Teilräumen der Stadt verknüpft waren. Anhand<br />

ihrer Kubaturen, Formen und Oberflächen lässt sich aufzeigen, wie der Maßstabssprung der<br />

Nachverdichtung in Bezug auf seine äußere Form wie innere Wohnlichkeit ausgelotet und die<br />

Zwänge der Stadtstruktur mit den Wünschen der Bauherren vereinbart wurden.<br />

Davis Studio<br />

1972<br />

Danziger Studio<br />

1964–65<br />

Spiller House<br />

1979–80<br />

Tract House<br />

1978 (Projekt)<br />

Winton G. House<br />

1983–84<br />

Wagner House<br />

1978 (Projekt)<br />

Norton House<br />

1983<br />

Indiana Av. House<br />

1981<br />

Wosk Residence<br />

1982–84<br />

Schnabel House<br />

1986–89<br />

Abb. 3: Wohnformen<br />

für Landschaftsräume<br />

Abb. 4: Wohnformen für<br />

urbanisierte Suburbs<br />

Abb. 5: Wohnformen<br />

für exklusive Suburbs<br />

31


der stofflichen Hülle. „Europäer erleben diese Kleidung, die maximale Freiheit innerhalb gefälliger<br />

Formen gibt, oft als formlos und lose. Für Japaner ist der ‚Raum‘ zwischen Kleidungsstück und<br />

Körper – genannt ‚ma‘– hingegen mehr als nur eine Lücke: Er ist ein reichhaltiger Raum mit einer<br />

unberechenbaren Energie.“ 4 Für den Betrachter verändert sich das Kleidungsstück mit dem sich<br />

bewegenden Körper, Farbintensitäten und Schattenspiele werden durch die Überlagerung verschiedener<br />

Schichten sichtbar und der bekleidete Körper zeichnet sich für Momente nach außen<br />

ab, verschwindet dann aber wieder und bleibt nur angedeutet.<br />

Lässt man das Stoffliche der raumbildenden Substanzen außer Acht, so sind es in der<br />

Architektur wie in der Mode die <strong>Räume</strong> des Dazwischen, die Interaktion und Wechselwirkung<br />

mit dem Nutzer oder Betrachter möglich machen und so das eigentlich Vergleichbare von Architektur<br />

und Mode darstellen. Unter dem Aspekt der Kehrseite wurden auf dem Symposion „Das<br />

Architektonische in der Architektur“ Entwürfe von Modedesign-Studierenden der Hochschule<br />

Trier vorgeführt. Unter der Thematik Inside-Out spielen die Modeentwürfe mit der Außenund<br />

Innenseite der Kleidung als Hülle. Sie kehren bisher Verborgenes von innen nach außen,<br />

verwenden Materialien in unkonventionellen Kombinationen und lassen ungewohnte <strong>Räume</strong><br />

zwischen dem Körper und der Hülle sowie zwischen der Hülle und der Umgebung entstehen.<br />

Ich möchte hier exemplarisch auf die beiden Entwürfe von Johanna Henn und Martha<br />

Papalla näher eingehen. Der Entwurf von Johanna Henn (Abb. 1–3) spielt mit der Kleidung<br />

als Grenze zwischen Innerem und Äußerem, verweist aber vor allem in der Vorderansicht durch<br />

seine Transparenz auf die eigentliche körperbegrenzende Schicht der Haut. Auf der Höhe des<br />

Brustbeins öffnet sich das teils durch dichte Stofflichkeit geschlossene Gewand und wird durch<br />

ein bodenlanges zartes Chiffonkleid ergänzt, welches zwischen dem Betrachter und dem<br />

Abb. 1–3: Entwurf von Johanna Henn<br />

50


weiblichen Körper einen Raum begrenzt und diesen dezent verschleiert. Das aus schwarzem<br />

dichtem Baumwollstoff gefertigte Oberteil wirkt gepolstert und lässt so den oberen Rückenund<br />

Schulterbereich seiner Trägerin kompakt und beinahe beladen wirken. Das Kleid lebt vom<br />

Kontrast dieses schwer wirkenden rucksackartigen Oberteils und der nach unten bis zum Boden<br />

reichenden nahezu schwebenden Hülle.<br />

Im Gegensatz dazu mutet der Entwurf von Martha Papalla (Abb. 4–6) weniger leicht<br />

an. Seine Materialität und die Wahl der Accessoires erinnern an einen schweren Mantel oder<br />

eine Uniform. Seine Verspieltheit und Weiblichkeit erhält das Gewand, indem es die schweren<br />

Details wie Polster, Reißverschlüsse und Verstärkungen offenlegt und nach außen kehrt.<br />

Durch das Drapieren des Stoffes öffnet sich das Kleid und lässt an Bauch und Rücken die<br />

Haut hervor blitzen und beim Gehen die Beine erscheinen. Es entstehen neue <strong>Räume</strong> zwischen<br />

dem Kleid und den ursprünglichen Inlays. Reißverschlüsse werden zu offenen Kanten, außen<br />

liegende Taschen betonen die weibliche Form der Hüften und bieten sich der Trägerin zum<br />

Gebrauch an. Indem das Innere nach außen gekehrt wird, werden plötzlich Anforderungen<br />

des Inneren sichtbar, wie zum Beispiel die Stabilität und Halt bietenden Verstärkungen (Uniform).<br />

Dadurch ergeben sich über die Ästhetik hinaus auch neue Möglichkeiten der Nutzbarkeit.<br />

Die Schichtung der Kleider, die <strong>Räume</strong> und Transparenzen, die zwischen den einzelnen<br />

Schichten der Gewänder entstehen, werden vor allem in der Bewegung für die Tragende<br />

spürbar und den Betrachtenden sichtbar. Kleidung ist ebenso wie Architektur ein vielschichtiges<br />

System und unterliegt dem „Twin Phenomenon“ zweier angrenzender Seiten unterschiedlicher<br />

Bedingungen: den Anforderungen der Trägerin nach innen und der Wirkung und dem Schutz<br />

nach außen gegenüber der Umwelt.<br />

Abb. 4–6: Entwurf von Martha Papalla<br />

51


Kraft, Spannung, Energie<br />

Für die Beziehung zwischen den Körpern sind Kräfteverhältnisse<br />

entscheidend: Zug und Druck, Stützen und Lasten, Kraft<br />

und Gegenkraft. In den Bewegungen der Tänzerinnen war ein breites<br />

Spektrum unterschiedlicher Kräfte wirksam, angefangen vom sanften<br />

Anlehnen und Aufeinanderstützen über alle Arten von Drücken,<br />

Schieben, Ziehen und Tragen bis hin zu den extrem energiegeladenen<br />

Bewegungen des Wegstoßens oder -schleuderns. Auch in scheinbar<br />

ruhigen Positionen konnte man eine Spannung zwischen den Körpern<br />

wahrnehmen, die mit ihrer Haltung, der Ab- oder Hinwendung und<br />

dem Abstand zwischen ihnen variierte.<br />

Auf vergleichbare Art nehmen wir zwischen Baukörpern unwillkürlich<br />

eine Beziehung wahr. Sie besteht nicht nur in einem dynamischen<br />

Verhältnis zwischen verschiedenen Größen, sondern auch in<br />

der unterschiedlichen Dichte des Zwischenraums. Je nach Abstand<br />

steigert oder verringert sich der Druck zwischen ihnen, sie ziehen sich<br />

an oder stoßen sich ab. Dafür sind sowohl Anordnung und Gestalt<br />

der Bauwerke entscheidend als auch das bewegte Geschehen um sie<br />

herum und zwischen ihnen.<br />

So ist auch der Raum um ein Gebäude, zwischen Baukörpern<br />

und innerhalb von Wänden nicht homogen, sondern wird von Energien<br />

beherrscht, die wir als Kräftefeld wahrnehmen. Anlagerungs fähige<br />

Formen können aneinander anschließen, dynamische Formen benötigen<br />

Spielraum. Ein Zylinder hat eine abstoßende, sich vordrängende<br />

Wirkung, seine abstrahlende Kraft dehnt sich konzentrisch<br />

aus; ebenso nehmen andere Baukörper ihrem Formcharakter entsprechend<br />

auf den Umraum Einfluss. Gebäude „besetzen“ einen Raum,<br />

markieren und verteidigen ihn. Auch ein Innenraum ist durch die<br />

Beziehungen zwischen Wänden, Ecken und Zentrum, durch die Lage<br />

von Öffnungen und Bewegungsbahnen durchgliedert von Gradienten<br />

in einem Feld von Kräften. Als eine Form architektonischer Dynamik<br />

richten Bau körper sich auf, lagern, lehnen oder schmiegen sich aneinander.<br />

Körper und <strong>Räume</strong> suggerieren eine Bewegtheit, verhaken,<br />

verklammern sich, stülpen sich ein, aus oder ineinander und führen<br />

gleichsam Gesten aus. Diese Kräfte haben nicht nur den Charakter<br />

einer Analogie oder Metapher, sondern wir können sie unmittelbar<br />

wahrnehmen, wenn wir ihnen mit unserem eigenen Körper selbst ausgesetzt<br />

sind. So kann man etwa zwischen zwei Bauwerksfassaden<br />

in ein Spannungsfeld geraten, das von den Bauwerken wie von gegnerischen<br />

Fronten beherrscht wird. Manche Gebäude fordern einen<br />

Respektabstand, andere bieten einen Dialog an.<br />

Wir müssen in diesem<br />

Stück sehr konzentriert<br />

sein, um zu spüren,<br />

was die Partnerin jetzt<br />

macht, ohne sie direkt<br />

zu sehen: Ob sie näher<br />

zu mir kommt, ob ich<br />

möchte, ja oder nein,<br />

ob ich auch ein Stück<br />

näher komme oder<br />

mich entfernen will. Es<br />

ist alles Spannung.<br />

(Hsuan Cheng)<br />

Obwohl die eine da<br />

stand, die andere dort,<br />

hat man gemerkt, die<br />

halten sich zusammen<br />

fest, eine Art Spannung:<br />

Wann lässt sie<br />

jetzt wohl los?<br />

(Beatrix Zückert)<br />

Zwischen uns besteht<br />

die ganze Zeit eine<br />

Kraftmessung: Wer gibt<br />

mehr, wer weniger, wer<br />

gibt nach? Damit spielen<br />

wir: Wer ist stärker?<br />

(Hsuan Cheng)<br />

Mich hat die Kunst, den<br />

Raum zu beleben, zu<br />

verändern, fasziniert, den<br />

Raum auf bestimmte Art<br />

zu thematisieren und mit<br />

einer gewissen Ladung<br />

zu hinterlassen. Wenn<br />

die Bühne am Ende leer<br />

ist, nach der Performance,<br />

bleibt eine Spannung<br />

in der Luft. Wie Rilke<br />

über Rodin sagte: Es ist<br />

als sei gerade eine Frau<br />

da gewesen.<br />

(Renzo Vallebuona)<br />

80


Wird Architektur aber in verkürzter Sicht so aufgefasst,<br />

dass sie vor allem praktischen Zwecken zu dienen habe, dann hat<br />

dieser eingeschränkten Rolle auch unser Körper zu entsprechen.<br />

Darüber hinausgehende ästhetische oder atmosphärische Qualitäten<br />

werden dann fast nur über die visuelle (eventuell auch die akustische)<br />

Wahrnehmung vermittelt.<br />

Aber erst durch die Haptik spüren wir den eigenen Leib<br />

im Widerstand zu anderen Körpern, die Berührung bringt uns in Kontakt<br />

zur Stofflichkeit von Gegenständen und tendiert im Unterschied<br />

zur distanzierenden Kontrollfunktion des Auges zu einer affektiven<br />

Teilhabe, die Architektur bekommt „Biss“. Damit sich unsere ganze<br />

Körperlichkeit entfalten kann, braucht es eine Art der Architektur,<br />

die mit ihren körperlichen Massen unserem eigenen Körper in einer<br />

Wechselwirkung begegnet, die uns mit ihrer körperlichen und stofflichen<br />

Präsenz und den davon ausgehenden Kräften so dynamisch<br />

aktiv entgegentritt wie ein lebendiger Akteur, und uns damit zu Mitakteuren<br />

im Wechselspiel von Raum und Körper macht.<br />

Eine Architektur, die dem Rechnung trägt, macht Widerstand<br />

und Konfrontation oder Druck und Sog als unmittelbare körperliche<br />

Wirkung erlebbar, sie erlaubt unserem Körper raumgreifende Bewegung<br />

und enthält daneben <strong>Räume</strong>, in die man sich einschmiegen kann,<br />

Elemente, die uns Widerstand bieten und wieder loslassen. Im Wechsel<br />

von Widerstand und Tuchfühlung sich selbst zu spüren, ermöglicht eine<br />

Eigenerfahrung von ganzheitlicher leiblicher Verfügung über räumliche<br />

Verhältnisse.<br />

Mir wurde klar, wie<br />

diese ganz elementaren<br />

menschlichen<br />

Bewegungsformen, von<br />

einander umgarnen,<br />

umarmen, aufeinander<br />

tragen, anlehnen, lasten,<br />

abnehmen, unsere<br />

grundlegende Position<br />

in der Architektur in<br />

allen Richtungen schon<br />

vertreten haben. Die<br />

Bewegungsabläufe,<br />

die Sie uns dargeboten<br />

haben, sind das, was<br />

von uns Menschen in<br />

die bauliche Sprache<br />

unserer Umgebung<br />

übersetzt worden ist.<br />

(Oliver Kruse)<br />

Kippen<br />

Solche Wirkungen sind aber nicht eindeutig festgelegt. Für<br />

unsere Wahrnehmung kann die eine in die andere umschlagen. Das<br />

Konkave ist die Kehrseite des Konvexen. Ziehen ist komplementär zum<br />

Schieben, Tragen komplementär zum Lasten. Kraft und Gegenkraft<br />

bedingen sich. Was zur einen Seite als Druck wirkt, macht sich zur<br />

anderen als Sog bemerkbar.<br />

Im getanzten Duett lässt die Bewegung der Tänzerinnen eins<br />

ins andere umschlagen, beide stehen in ständiger Wechselwirkung.<br />

Man kann die beiden Körper als Paar und zugleich getrennt wahrnehmen,<br />

als zusammenhängende Masse, aus der sich Einzelkörper als<br />

„Gestalten“ herauslösen. Als „Skulptur“ stellen sie etwas Gebautes dar,<br />

starr und fest, das sich aber im nächsten Augenblick wieder verlebendigt<br />

und auflöst. Zwischendurch wieder zurücktretend in ein schwer<br />

In diesem Sinne<br />

kommt man dann zu<br />

der Ausrichtung, wie in<br />

einem Haus, das sich<br />

selbst zugewandt ist<br />

oder das nach außen<br />

in bestimmte Richtungen,<br />

in die Diagonale<br />

schaut. Deswegen<br />

sind in der Architektur<br />

der Dialog und<br />

die Bezugnahme der<br />

Baukörper untereinander<br />

wesentlich durch<br />

das Sich-anschauen,<br />

das Ausrichten auf das<br />

Umfeld oder aufeinander<br />

geprägt.<br />

(Oliver Kruse)<br />

81


Reinhild Hoffmann<br />

im Interview<br />

mit Alban Janson, Kilian Schmitz-Hübsch, Anja Soeder<br />

Wir haben Ihr Stück Auch ohne den Vorspann gesehen, in dem durch einen<br />

Kreidekreis ein abgezirkelter Raum als Grundfläche für den Tanz definiert wurde.<br />

Aber auch hier war der Raum begrenzt durch Zuschauerreihen auf beiden Seiten. Was<br />

bedeutet dieser begrenzte Raum für die Aufführung? Und welche Funktion haben die<br />

beiden Stühle in dem Stück?<br />

Je nach Aufführungsort und Thematik ist mein Umgang mit Raum sehr unterschiedlich.<br />

Wenn ein Stück festgelegt ist, gibt es ein Raummaß durch das Schrittmaterial, das man<br />

nicht wesentlich vergrößern oder verkleinern kann. Hier war der Raum – der ja keine Bühne<br />

ist, sondern ein Festsaal –, den Sie als Vortragssaal von beiden Seiten genutzt haben, schon<br />

durch seine Architektur und die Zuschaueranordung von allen Seiten begrenzt. Der Kreis, von<br />

dem Sie sprechen, war hier vollkommen unnötig. Der Gedanke bei Aufführungen in offenen<br />

<strong>Räume</strong>n war aber, dass die Tänzerinnen sich zu Beginn den Raum durch den Kreis definieren<br />

und dabei während sie ihn ziehen nicht merken, dass sie sich einschließen und aus diesem<br />

Raum nicht mehr heraus können. Das ist auch der Kern der Aussage dieses Stücks, dass beide<br />

in einer Abhängigkeit sind, aus der sie sich nicht lösen können.<br />

Die beiden Stühle bilden eigentlich so etwas wie einen Ort, den jeweils eine der<br />

beiden Tänzerinnen besitzt. Jede hatte einen Ausgangspunkt und konnte zurückkehren zu<br />

diesem Platz. Es war ihr eigener Ort in diesem Raum.<br />

In Ihrem Stück sind im Wechselspiel von Anziehung und Widerstand, von<br />

Nähe und Entfernung zwischen den Personen Energien und Kräfte wirksam. In welcher<br />

Form wird der Raum in dieses Kräftespiel einbezogen beziehungsweise wie werden<br />

die Kräfte im Raum und in der Zeit sichtbar?<br />

Es gibt ja durch die zwei Positionen der Stühle zwei Rückzugsorte – und damit eine Entfernung<br />

zwischen den beiden. Das ganze Stück spielt mit Annäherung und dann wieder mit Trennung.<br />

Manchmal geht die Annäherung so weit, dass es zu einer Verschmelzung der beiden Körper<br />

kommt, eine Nähe entsteht, in der es manchmal eine Dominanz in der Bedrängung gibt, sodass<br />

eine stärkere oder schwächere Energie notwendig ist, um sich wieder zu trennen. Die ganze Spannung<br />

baut sich über den Umgang mit Zeit auf. Es gibt eine Stelle in Auch, in der die eine Tänzerin<br />

von der anderen weggeschleudert wird und sich mit einer ungeheuren Schnelligkeit auf einen Stuhl<br />

begibt, um sich dann als Antwort über die Schulter der anderen zu schmeißen. Mit solchen Momenten<br />

von Angriff und Abwehr oder Angezogen- und Abgestoßensein haben wir gearbeitet – in<br />

sehr unterschiedlichen energetischen Vorgängen. Auf diese Weise wurde der Raum zwischen den<br />

beiden ständig verändert. Im Tanz gibt es immer das Zusammenspiel von Raum, Zeit und Energie.<br />

86


Das Kräftemessen in dem Stück hat ja etwas von den Zeitverhältnissen eines<br />

Zweikampfes, wo die Bewegungen ganz schnell ineinander greifen, aber auch wieder<br />

stillstehen, als Innehalten und Konzentration auf das erneute Zusammentreffen.<br />

Ja, das atmet ständig. Es ist nie ein Stillstand. Beim Innehalten wird Zeit scheinbar<br />

angehalten, doch geht sie weiter. Die Form friert ein und dennoch verändert sie sich;<br />

ein innerer Raum wird wahrnehmbar, der in den sichtbaren Konturen pulsiert. Und aus diesem<br />

pulsierenden „Ruhemoment“ entsteht ja wieder etwas, das auch Bewegung ist. Das Anhalten<br />

arbeitet innerlich. Wenn ich das nicht in mir herstellen kann, dann wird es nur ein Abwarten.<br />

Sie können das vergleichen mit der Pause in der Musik, in der etwas nachklingt und die oft der<br />

spannungsgeladenste Moment ist. Man kann vielleicht sagen, dass in der Architektur der<br />

Leerraum zwischen zwei sich gegenüber stehenden ungleichen Kanten einer Pause entspricht<br />

und so ein Spannungsfeld herstellt.<br />

Solche Pausen sind mir wichtig, weil ich dadurch auch den Betrachter in den Zustand<br />

der Fragen mit einbeziehen kann – wie werden die Tänzerinnen sich jeweils entscheiden? Wie<br />

würde ich mich entscheiden? Wenn ich diesem Augenblick Zeit gebe, dann kann ich die Spannung,<br />

die zwischen den beiden Personen auf der Bühne ist, auch auf die Zuschauer übertragen.<br />

Betrachten Sie eigentlich, wenn Sie eine Choreografie entwickeln, vor allem<br />

die Figur des Körpers, oder gibt es auch Momente, wo man tatsächlich den Konturverlauf<br />

des Zwischenraums (siehe Zeichnung) betrachtet?<br />

Figur aus dem<br />

Stück Auch<br />

Bei der Figur, auf die Sie sich beziehen, ist die Spannung zwischen beiden, die sich<br />

festhalten, aber auseinander streben und dabei an die Grenze ihrer Kräfte gehen, das eigentliche<br />

Anliegen. Die Energie will ja irgendwo hin. Das können sie in Gebäuden sicherlich auch<br />

machen, dass man sieht, das Gebäude strebt irgendwo hin. Es muss aber eine Balance haben,<br />

sonst kippt es. Es braucht einen Kontrapunkt.<br />

87


Warum Architektur<br />

das Spielerische braucht<br />

Franz Xaver Baier<br />

SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL<br />

SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL<br />

SPIEL SPIEL SPIEL als Grundelement der Architektur SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL SPIEL<br />

1<br />

Das Spielerische als Phänomen durchzieht alle Bereiche des Lebens. Es wird deshalb<br />

auch von Philosophie, Soziologie, Ästhetik, Wirtschaftswissenschaften, Musik, Sport,<br />

Unterhaltung und vielen weiteren Bereichen angewandt beziehungsweise untersucht. Die<br />

mit dem Spielerischen verbundenen Begriffe sind unter anderem: Spiel, spielen, Spielraum,<br />

Spieler, mitspielen, Spielregeln, etwas aufs Spiel setzen, verspielen, bespielen, abspielen etc.<br />

Wenn wir in unserem Verhalten Spiel haben, dann können wir eine Handlung meistens<br />

auf die eine oder andere Weise ausführen. Spiel heißt hier: Wir können zwischen mehreren<br />

Möglichkeiten wählen und können sogar das Unmögliche möglich machen. Jemand, der<br />

dagegen wenig oder gar kein Spiel hat, wird eher als gehemmt, verklemmt und eindimensional<br />

wahrgenommen. Diplomatie, Flirt, Charme, Humor, ja das Leben überhaupt braucht Spiel.<br />

Deshalb kann gesagt werden: „Die erste Evidenz, die wir uns da verschaffen müssen, ist, dass<br />

Spiel eine elementare Funktion des menschlichen Lebens ist, so dass menschliche Kultur ohne<br />

ein Spielelement überhaupt nicht denkbar ist.“ 1<br />

Eine ambitionierte Kulturtheorie wird also das Spiel mindestens wie folgt aufnehmen:<br />

„Jede Bestimmung von Kultur muss auch heute noch die traditionellen Momente enthalten.<br />

Kultur muss sich als Pflege im Sinne des alten Verständnisses von Ackerbau ver stehen lassen,<br />

als Pflege natürlicher ebenso wie als Pflege künstlicher Zusammenhänge […]. Sie muss sich als<br />

Vergleich verstehen lassen im Sinne jenes modernen […] Begriffsverständnisses von Kultur, das<br />

auf die Entdeckung des Verschiedenen im Ähnlichen im Verschiedenen […] abstellt. Zu Pflege,<br />

Verehrung und Vergleich kommt jedoch noch ein viertes Moment, und das ist das Moment des<br />

Spiels. Kultur ist immer auch Spiel in jenem genauen Sinne, den man diesem Wort im Anschluss<br />

an Bateson, aber auch Derrida geben kann: eine Metakommunikation, die alle Kommunikation<br />

begleitet und Kommunikation dadurch sowohl ermöglicht wie auch auf ein anderes ihrer selbst<br />

verweist. Man kann Kultur als Einheit dieser vier Momente Pflege, Verehrung, Vergleich und<br />

Spiel beschreiben. Die Einheit dieser vier Momente liegt darin, dass sie alle auf Operationen abstellen,<br />

die auf etwas zielen, was ihnen nie ganz, nie wirklich erreichbar ist, was aber als genau<br />

dieses nie ganz Erreichbare das Motiv dessen ausmacht, was Kultur ist.“ 2<br />

Es gehört zur Kultur, dass sich Menschen „Bedeutungswelten“ erzeugen, durch die<br />

sie sich konstituieren und mit Anderem verbinden – und es gehört ebenso zur Kultur, dass sie<br />

110


sich diese Konstitutionen auch ansichtig und durchsichtig machen. Kultur in einem tieferen<br />

Sinn also „greift durch auf eine Ebene, auf der Handlungen und Kommunikationen nicht nur<br />

tun, was sie tun, sondern sich als das, was sie tun, gleich mitvorführen. […] Kultur ist Konstitutionserfahrung.<br />

Und sie ist dies prinzipiell immer in zwei Varianten, nämlich einmal als Feier<br />

des Konstituierten, als Absicherung, Bestätigung, Verneigung und Besiegelung, und ein anderes<br />

Mal als Kritik des Konstituierten, als Überschreitung, Zweifel, Unbehagen und Verwerfung. In<br />

beiden Formen […] geht Kultur über das jeweils gesellschaftlich Vorliegende hinaus und nicht<br />

hinaus zugleich. […] Wenn sie vorkommt, macht sie das, was ist, verfügbar als Variante seiner<br />

selbst. Kultur ist insofern auch Kunst, aber sie ist als diese Kunst prinzipiell in allen sozialen<br />

Situationen und Systemen verfügbar, während die Kunst im engeren Sinne sich mehr und mehr<br />

auf die Funktion der Kommunikation von Wahrnehmung konzentriert. Auch diese Kunst ist ein<br />

Moment von Kultur, aber doch zugleich etwas anderes, weil es auf Experimente mit der Form<br />

der Gesellschaft, der Kopplung zwischen sozialen Systemen und psychischen Systemen in der<br />

Umwelt der Gesellschaft ankommt.“ 3<br />

Im Alltag sieht die Bedeutung des Elements Spiel dann folgendermaßen aus: Da<br />

Menschen Situationswesen 4 sind, die sich in jedem Augenblick nicht nur auf Situationen und<br />

Bedeutungswelten einstellen und diese gestaltend und mitgestaltend zu „ihren“ Situationen<br />

machen müssen, um leben zu können, vielmehr diese geradezu generieren müssen, ist das<br />

Spielerische ein überlebenswichtiges Element. Es kommt zur Anwendung im Dialog mit unterschiedlichen<br />

Umgebungen, im vorausschauenden Probehandeln, im Ausprobieren verschiedener<br />

habitueller Programme und natürlich im Gestalten und Entwerfen jeder Art. Dass hierin<br />

jederzeit auch Probleme und Krankheiten entstehen können liegt auf der Hand. Denn eine<br />

Einschränkung des Spielerischen – und das kann gerade auch durch Architektur geschehen –<br />

kann dazu führen, dass die lebenswichtige Symbiose von Mensch und Umgebung verhindert,<br />

unterdrückt wird. Aus medizinischer Sicht kann hier folgerichtig behauptet werden: „Erzeugen<br />

von Wirklichkeit und Erzeugen von Gesundheit gehen Hand in Hand; Gesundsein vollzieht<br />

sich als ständiger Auf- und Umbau der konkreten Beziehungen zwischen Lebewesen und<br />

Umgebung, welche die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse ermöglichen. Daher stellt die<br />

Summe der geglückten Beziehungen zwischen einem Lebewesen und seiner Umgebung (das<br />

heißt der Beziehungen, die Bedürfnisbefriedigung und ‚Selbstverwirklichung‘ ermöglichen)<br />

eine befriedigende individuelle Wirklichkeit für den Menschen dar. Auf den kürzesten Nenner<br />

gebracht ist also allgemeines Gesundsein das Meistern des Auf- und Umbaus der individuellen<br />

Wirklichkeit – allgemeines Kranksein gestörte Wirklichkeitsbildung.“ 5<br />

Es ist nur konsequent, dass ein Mensch im Spiel des Lebens als „Akteur“ gesehen<br />

wird, der über „generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht“ verfügt<br />

und nicht „bloßes Objekt sozialer Strukturen“ ist. 6 Der in solcherweise gestaltende Akteur<br />

(sowohl als Gestalter wie als Nutzer) ist aber im Alltag nicht gänzlich frei, da er in zahlreichen<br />

Gewohnheiten, Wahrnehmungsmustern, Verhaltensmustern, Formensprachen etc. gefangen<br />

ist. Diese spielerisch zu durchdringen, zu befragen, Klischees und sinnentleerte Formen aufzulösen<br />

und zu experimentieren, ist jederzeit eine Forderung des Spiels, um die Lebendigkeit<br />

des Lebens zu gewährleisten.<br />

111


Heinz Emigholz<br />

im Interview<br />

mit Anja Soeder<br />

An der Serie Photographie und jenseits arbeiten Sie seit 1983 und es sind inzwischen<br />

mehr als 30 Filme zusammengekommen. Die Struktur der Filme ist fast<br />

immer gleich: Ein bedeutendes architektonisches Lebenswerk wird komplett in chronologischer<br />

Reihenfolge mit statischen Bildern bei laufender Kamera gezeigt. Haben<br />

sich dennoch Ihr Zugang zu den Gebäuden und damit auch das Aufnahmemuster über<br />

die Zeit der vielen Filme verändert?<br />

Die Serie Photographie und jenseits befasst sich nur in Teilen mit Architektur. Es<br />

geht auch um Schrift, Zeichnung, Malerei, Fotografie und Skulptur, also um menschliche<br />

Gestaltungsanstrengungen allgemein. Es sind aber inzwischen acht lange und 64 kurze Filme<br />

geworden, die sich speziell mit Architektur beschäftigen. Sie sind nicht immer streng monografisch,<br />

auch keineswegs enzyklopädisch angelegt, obwohl die Filme zu den Bauten von<br />

Adolf Loos, Rudolph Schindler, Robert Maillart, Bruce Goff, Pier Luigi Nervi und Auguste Perret<br />

das im Rahmen des Möglichen versuchen. Sullivans Banken zeigt dagegen nur die letzten<br />

acht Bauwerke Louis Sullivans. Es geht aber in allen Filmen um Auswahl und Entscheidungen.<br />

Sowohl was die Objekte anbelangt, als auch die Gestaltung der einzelnen Einstellungen.<br />

Diese Einstellungen sind eine Abfolge festgezurrter Blicke auf die zu filmenden Ensembles. Sie<br />

dokumentieren jeweils ein kleines Paket Realzeit, in der am Ort der Handlung alles Mögliche<br />

geschehen kann. Das Bild bewegt sich zwar meistens nicht, aber im Bild bewegt sich alles,<br />

auch wenn es nur die Luft ist, deren Bewegungen sich auf hochauflösenden Bildern abzeichnet.<br />

Die Anzahl der Filme hat sich durch diverse thematische Zellteilungen ergeben. 1993 plante<br />

ich einen einzigen Film zum Thema Architektur. Im Laufe der Zeit wurden wuchernde und<br />

notgedrungen anonyme Gestaltungsensembles mehr und mehr zu meinem Thema. Durch<br />

Reduktion auf eine autoriale Architektur ist für mich das Ganze unserer architektonischen<br />

Realität nicht zu beschreiben oder darzustellen. Ich finde es immer notwendiger, eine anonyme<br />

Situation zu beschreiben, die zwar in all ihren Einzelheiten mit den Insignien einer<br />

Autorschaft versehen ist, deren vielteiliger Gestaltungswille aber angesichts des Ganzen und<br />

seiner Zusammenhänge nahezu tragisch zu nennen ist. Der einzelne Gestalter beginnt, sich<br />

inmitten dieser Ensembles wie im Mythos als Sisyphos zu empfinden.<br />

Sie bieten mit Ihrer Art der filmischen Darstellung des gebauten Raumes eine<br />

Architekturbetrachtung, die sich einem linearen Kontinuitätsprinzip von räumlichen<br />

Abfolgen mitunter stark widersetzt. (Zum Beispiel in dem auf dem Symposion gezeigten<br />

Ausschnitt „Brücke über den Bohlbach“ aus Maillarts Brücken). Der Zuschauer rekonstruiert<br />

sich stattdessen die Bauwerke aus den realistischen Einstellungen und den<br />

imaginären Verhältnissen, die im Kopf entstehen. Können Sie in diesem Zusammenhang<br />

130


Ihren Begriff von Rekonstruktion etwas genauer ausführen? Es gibt unzählige Möglichkeiten,<br />

einen Raum abzubilden. Wie finden Sie die richtige Einstellung?<br />

Bei einem dreidimensionalen und von vielen Perspektiven her einzusehenden,<br />

simultan existierenden Gebilde von einem „Kontinuitätsprinzip“ der Anschauung auszugehen,<br />

halte ich für gewagt, ja sogar für unmöglich. Es sei denn man befolgt irgendwelche Vorschriften<br />

im Ablauf, die mir aber angesichts der Logik des Dreidimensionalen absurd vorkommen<br />

würden. Die räumliche Abfolge in der Darstellung muss notgedrungen immer eine fiktive<br />

sein und beruht auf bestimmten Entscheidungen. Und diese Entscheidungen für bestimmte<br />

Kameraeinstellungen oder „Blicke“ (wie ich das lieber nenne) beziehen sich auf das Wesen<br />

und den Kern der Bauwerke, also auf ihre Kraftfelder. Im Falle der Brücken waren es immer<br />

die Punkte, an denen sie mit dem Boden verankert sind und sich in der Landschaft abstützen<br />

und einfügen, wie sie die Kräfte seitlich mit ihren Bögen in diese Punkte umlenken und wie<br />

sie die Fahrbahnen oder Wege auf diesen Bögen abstützen. Die Betrachtung dieser Punkte<br />

lässt sich nicht vermeiden, wenn man der Brücke gerecht werden will beziehungsweise sie<br />

durch Betrachtung begreifen oder „rekonstruieren“ will. Die filmische Sequenz ist eine Meditation<br />

über das Wesen der jeweiligen Brücke. Die filmischen Einstellungen sollten eine nachvollziehbare<br />

Reihenfolge bilden, die dieses Wesen in der Addition entstehen lässt. Vorstellbar sind<br />

aber immer wieder neue Reihenfolgen. Die von mir gewählten Blicke und ihre Abfolge machen<br />

eben meine Autorschaft aus. Sonst könnte der Film ja auch von einer Maschine für Google<br />

Streetview hergestellt worden sein.<br />

Im Symposion haben Sie beschrieben, dass Sie die Ausgangsarchitektur<br />

betrachten und sagen: „Ich will auf den gestalteten Raum ein durchgestaltetes Bild<br />

setzen.“ An was orientieren Sie sich dabei? Bei was setzen Sie am Raum an? Welche<br />

Aspekte sind Ihnen wichtig? Können Sie einen persönlichen Vergleich anstellen<br />

zwischen einem Gebäude vor und nach seiner filmischen Überarbeitung?<br />

Der zitierte Satz beschreibt eine Tatsache, nämlich die, dass die Objekte meiner<br />

Betrachtung in der Architekturserie zweifelsohne gestaltete und keine naturgegebenen sind.<br />

Sie nehmen selbst eine wie auch immer geartete menschliche Haltung zu ihrer Umwelt ein.<br />

Wenn ich mich in meiner Kameraarbeit zu einem Bauwerk in Beziehung setze, kommentiere<br />

ich damit zugleich auch die Haltung, die das Bauwerk zu seiner Umgebung und zu seiner<br />

Bauaufgabe einnimmt. Der notwendige Akt der Entscheidung kommt in der filmischen Arbeit<br />

dabei einer Analyse gleich. Ich laufe nicht an etwas vorbei oder verdränge etwas, sondern ich<br />

wiederhole in gewisser Weise das, was ich sehe, in meinen Bildern. Ich vollziehe es nach und<br />

erforsche es mit Blicken und werte diese Blicke dann auf ihren Gehalt hin. Ich mag von einem<br />

Gebäude vor der Filmarbeit fasziniert gewesen sein, danach habe ich es gewissermaßen im<br />

biblischen Sinne „erkannt“. Das ist meistens ein Akt der Liebe, endet aber manchmal in interesselosem<br />

Wohlgefallen.<br />

131


Autoren<br />

Franz Xaver Baier (Architekturphänomenologe)<br />

Autor und Professor für Architektur (art + design<br />

research) an der Hochschule München.<br />

http://www.berlinlueften.de/<br />

Elisabeth Blum (Architektin, Autorin)<br />

Architekturstudium und Promotion (Le Corbusiers<br />

Wege) an der ETH Zürich. Gastdozentin und Assistenzprofessorin<br />

an der Architekturabteilung der ETH<br />

Zürich. Dozentin an der Zürcher Hochschule der<br />

Künste (ZHdK). Jüngste Veröffentlichungen:<br />

Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen<br />

Wahrnehmung (2010).<br />

http://cloud-cuckoo.net/fileadmin/issues_en/issue_31/artikel_blum.pdf<br />

Gerd de Bruyn (Architekturtheoretiker)<br />

Studium der Literatur- und Musikwissenschaft. Gaststudent<br />

Architekturklasse der Frankfurter Städel -<br />

schule bei Günter Bock; Architekturteam AAM zusammen<br />

mit Berthold Reßler und Robert March. 1989–<br />

1992 Chefredakteur der Baukultur (DAI); seit 2000<br />

Mitglied Redaktionsbeirat der BDA-Zeitschrift Der<br />

Architekt; seit 2001 Professor für Architekturtheorie<br />

und Leiter des Igma, Universität Stuttgart; seit 2008<br />

im wissenschaftlichen Beirat der Edition Architektur-<br />

Denken des transcript Verlags; seit 2009 kommissarischer<br />

Leiter des IZKT und Vertrauensdozent der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

http://www.uni-stuttgart.de/igma/<br />

Christopher Dell (Theoretiker, Musiker, Komponist)<br />

Lehrte Architekturtheorie u. a. an der Universität der<br />

Künste Berlin und der Architectural Association,<br />

London. 2008–2010 Vertretungsprofessur für Stadttheorie<br />

am Lehrstuhl „Urban Design“ an der Hafen-<br />

City Universität Hamburg. Gastprofessur an der TU<br />

München. Sein Forschungsinteresse gilt Praxen und<br />

Organisationsverläufen der zeitgenössischen Stadt.<br />

Gründer und Leiter des ifit, Institut für Improvisationstechnologie,<br />

Berlin. Monografien u. a.: Tacit<br />

Urbanism, Rotterdam 2009, REPLAYCITY, Berlin 2011,<br />

Promotion mit Die improvisierende Organisation,<br />

Bielefeld 2012, Ware: Wohnen!, Berlin 2013,<br />

Das Urbane, Berlin 2014.<br />

http://www.christopher-dell.de/<br />

Heinz Emigholz (Filmemacher)<br />

Filmemacher, Künstler und Autor. 1993–2013 Lehrstuhl<br />

für Experimentelle Filmgestaltung, Universität<br />

der Künste Berlin und Mitbegründer des dortigen<br />

Instituts für zeitbasierte Medien und des Studiengangs<br />

Kunst und Medien. Seit 2012 Mitglied der Akademie<br />

der Künste Berlin. Zahlreiche Ausstellungen,<br />

Vorträge und Publikationen.<br />

https://www.pym.de/<br />

Wolf Gutjahr (Szenograf)<br />

Szenografiestudium bei Johannes Schütz, Theresia<br />

Birkenhauer, Günther Förg und Hans Belting an der<br />

Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe; seit<br />

1995 freier Szenograf und Bühnenbildner. Seit 2013<br />

Professor für Szenografie an der Hochschule Mainz,<br />

Fachbereich Gestaltung.<br />

http://www.wolfgutjahr.de/; http://ia.hs-mainz.de/<br />

Reinhild Hoffmann (Choreografin)<br />

Sie gehört zu den Wegbereitern des deutschen<br />

Tanztheaters. Ihr Oeuvre umfasst über 30 Solo- und<br />

Gruppenwerke. Ihre Ausbildung erhielt sie an der<br />

Folkwang-Hochschule unter der Leitung von Kurt<br />

Jooss. 1978–1986 Leitung des Bremer Tanztheaters<br />

und 1986–1995 des Tanztheaters am Schauspielhaus<br />

Bochum. Seit 1995 arbeitet sie als freischaffende<br />

Choreografin und als Regisseurin im Musiktheater.<br />

http://www.reinhildhoffmann.de/<br />

Angelika Jäkel (Architektin)<br />

Architektur- und Philosophiestudium in Stuttgart und<br />

London. Dissertation zum Thema „Gestik des Raumes.<br />

Zur leiblichen Kommunikation zwischen Benutzer<br />

und Raum in der Architektur“. Forschungs- und Publikationstätigkeiten<br />

zu Wahrnehmungstheorie, Methodik<br />

und Begrifflichkeit der Architektur; Lehrtätigkeiten<br />

im Bereich Grundlagen der Architektur. Als freie<br />

Architektin tätig mit den Schwerpunkten Recherche,<br />

Inszenierung, Partizipation und Kommunikation.<br />

Seit 2012 verantwortlich für Forschung in der Lehre<br />

am Institut Entwerfen, Kunst und Theorie des KIT.<br />

http://www.angelikajaekel.de<br />

Alban Janson (Architekt)<br />

Studium der Architektur und der freien Kunst in<br />

Darmstadt, Karlsruhe und Frankfurt/Main; 1977–1979<br />

Stadtplanungstätigkeit in Tansania; seit 1981 Tätigkeit<br />

als freier Künstler; 1984–1994 Professur für Gestaltungslehre<br />

an der Fachhochschule für Technik Stuttgart;<br />

seit 1989 Büro für Architektur und Stadtplanung<br />

in Partnerschaft mit Sophie Wolfrum; ab 1994 Leiter<br />

des Lehrstuhls für Grundlagen der Architektur an der<br />

Universität Karlsruhe (KIT); Forschung und Publikationen<br />

zu einer Phänomenologie der Architektur.<br />

138


Oliver Kruse (Künstler)<br />

1988–1991 Studium der bildenden Kunst bei Erwin<br />

Heerich; 1991–1992 Postgraduate Diploma in Art History,<br />

Royal Society of Arts, London; 1992–1993 Masters Degree<br />

in Fine Art, Sculpture, Chelsea College of Art, London; seit<br />

1996 Mitglied und seit 2013 Vorsitzender des Vorstands<br />

der Insel Hombroich Foundation; seit 2005 Professor an<br />

der Peter Behrens School of Architecture, Düsseldorf; seit<br />

2009 Member of the Board of Architecture Omi, New York;<br />

Oliver Kruse lebt und arbeitet in Köln und Hombroich.<br />

http://www.oliverkruse.de/<br />

Arno Lederer (Architekt)<br />

1976 Architekturdiplom; 1976–1979 bei Ernst Gisel in<br />

Zürich und BHO in Tübingen; ab 1979 selbst. Architekt<br />

in Stuttgart und Karlsruhe; ab 1985 Zusammenarbeit<br />

mit Jórunn Ragnarsdóttir; 1985–1990 Professor an der<br />

Fachhochschule für Technik in Stuttgart; 1990–2005<br />

Professor an der Universität Karlsruhe am Lehrstuhl<br />

für Baukonstruktion und Entwerfen; ab 1992<br />

Zusammenarbeit mit Marc Oei; 1997–2005 Leiter des<br />

Lehrstuhls für Gebäudelehre Universität Karlsruhe; ab<br />

2005 Leiter des Instituts für Öffentliche Bauten und<br />

Entwerfen an der Universität Stuttgart.<br />

http://www.archlro.de/<br />

Urte Reisgies (Keramikkünstlerin)<br />

1980–1988 Studium an der Hochschule für bildende<br />

Künste Hamburg mit den Schwerpunkten Keramik,<br />

Fotografie, Architektur; 1985 Kunsthalle Baden-Baden,<br />

Annemarie- und Will-Grohmann-Stipendium; 1986<br />

„Bauen mit Lehm“ auf dem Kampnagelgelände in<br />

Hamburg: begehbare Großplastik; 1992 „Kunstwege“,<br />

Kunstverein Lingen; 1993 „Aorta“, begehbare Großplastik<br />

aus Weidengeflecht, Kunstverein Lingen; seit<br />

1993 eigenes Keramikatelier in Hamburg-Eimsbüttel.<br />

http://www.urte-keramik.de/<br />

Kilian Schmitz-Hübsch (Architekt)<br />

1990–1998 Architekturstudium an der Universität der<br />

Künste Berlin; verschiedene Bürotätigkeiten in Berlin;<br />

Gründung eines eigenen Architekturbüros in Bingen/<br />

Rhein; seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im<br />

Fachgebiet Bauplanung und seit 2009 im Fachgebiet<br />

Grundlagen der Architektur, KIT.<br />

Anja Soeder (Architektin)<br />

Architekturstudium an der Kunstakademie Stuttgart<br />

und der Bartlett School, London; Tätigkeit bei SANAA<br />

und Atelier Bow-Wow, Tokio; Ausstellungsgestaltung bei<br />

HG Merz Architekten, Stuttgart; seit 2005 Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin im Fachgebiet Grundlagen der Architektur,<br />

KIT. 2007 Executive MBA an der Zollverein School<br />

of Management and Design, Essen; seit 2007 freie<br />

Mitarbeit bei B612 Konzeptionelles Gestalten, Stuttgart.<br />

Renzo Vallebuona (Architekt)<br />

Architekturstudium an der TU Darmstadt, Diplom<br />

bei Prof. Max Bächer; Architekturbüro O. M. Ungers,<br />

Frankfurt; Büro Gregotti Associati, Mailand; Head<br />

Designer Büro J. Stirling & M. Wilford Ass., Berliner<br />

Nierderlassung; Pitton / Vallebuona Architetti, Udine,<br />

Italien; Nägeli / Vallebuona Architekten, Berlin; seit<br />

2000 vast-Architekten GbR-Vallebuona & Steger Architekten,<br />

Düsseldorf; Visiting Professor an der GSD,<br />

Harvard University, USA; Gastdozent ETH Zürich;<br />

Visiting Professor an der AA, London; seit 2011 Professur<br />

Fachgebiet Konstruktive Entwurfsmethodik,<br />

Institut Entwerfen und Bautechnik, KIT Karlsruhe.<br />

http://www.vast-architekten.com/<br />

Gudrun Wiedemer (Architektin)<br />

Studium der Architektur und des Konzeptionellen Entwerfens<br />

in Stuttgart, Delft und Frankfurt (Städelschule);<br />

Masterstudium der Architektur (SCI-Arc) und Tätigkeit<br />

als Architektin bei Frank Gehry, Dagmar Richter und<br />

Eric Moss in Los Angeles; seit 2000 Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin im Fachgebiet Bauplanung, KIT. 2008<br />

Dissertation „Grenzen des Kontextualismus: Die frühe<br />

Architektur Frank Gehrys und Los Angeles in den<br />

1960–1980er Jahren als Kontext.“<br />

Doris Zoller (Architektin und Stadtplanerin)<br />

Architekturstudium an der Staatlichen Akademie der<br />

Bildenden Künste in Stuttgart, an der ETSA in Barcelona<br />

und am Berlage Institute in Rotterdam. 2003 Zoda<br />

Architects zusammen mit Andrew Dawes in München<br />

und London. 2003–2010 Assistentin am Lehrstuhl für<br />

Städtebau und Regionalplanung an der Technischen<br />

Universität in München. 2010–2014 Leitung des<br />

Forschungsprojektes „Ground Floor Interface“ für die<br />

Wüstenrot Stiftung. Promotion zur selben Thematik<br />

an der TU München.<br />

http://www.doriszoller.com<br />

Beatrix Zückert (Bekleidungsgestalterin)<br />

Studium Bekleidungsgestaltung an der FHTW Berlin.<br />

2000 Diplomvorbereitung in Ayacucho (Peru); Entwurf<br />

und Anfertigung von nativen Geweben in Kooperation<br />

mit indianischen Indigenas. 2000 Diplom „Indianische<br />

Identität und ihre Widerspiegelung in der Kleidung“<br />

bei Prof. M. Oppel und Prof. W. Sailer. Mitwirkung<br />

im Atelier arché, Berlin. Seit 2004 eigenes Atelier<br />

zb_kleidung, Berlin.<br />

http://www.zbkleidung.de/<br />

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