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Gemeinsam leben und lernen – Ist Inklusion normal?1

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Thomas Franzkowiak<strong>Gemeinsam</strong> <strong>leben</strong> <strong>und</strong> <strong>lernen</strong> – <strong>Ist</strong> <strong>Inklusion</strong> <strong>normal</strong>? 1<strong>Inklusion</strong> ist mit Blick auf die kommenden Jahre zu einem der zentralen Themen in der Bildungspolitik geworden.Für manche Beteiligte stellt die schulische <strong>Inklusion</strong> aller Kinder eine zukunftsweisende, einer multikulturellenGesellschaft entsprechende Zielrichtung dar, für andere hingegen eher eine nicht einlösbareVision. Beide Sichtweisen sind eng verb<strong>und</strong>en mit der jeweiligen Einschätzung davon, was als „<strong>normal</strong>“empf<strong>und</strong>en wird oder was zum „Normalzustand“ werden sollte. Im Folgenden stehen diese Fragen im Mittelpunkt:Wie entwickeln sich Normalitätsvorstellungen? Welchen Beitrag kann die Normalismus-Forschung, die der Literaturwissenschaftler Jürgen Link angestoßen hat, zum <strong>Inklusion</strong>s-Diskurs leisten?Wie hängen Vorstellungen von Normalität <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> zusammen? Wie lässt sich die Ausgangsfrage „<strong>Ist</strong><strong>Inklusion</strong> <strong>normal</strong>?“ beantworten? Welche Konsequenzen ergeben sich für die Lehrerbildung?1. Einführung„Die Gr<strong>und</strong>schule ist eine gemeinsame Schule für alle Kinder. Neben vielfältigen individuellenBegabungen treffen hier unterschiedliche soziale oder ethnische Herkunft, verschiedenekulturelle Orientierungen <strong>und</strong> religiöse Überzeugungen zusammen. Aufgabe der Schule ist es,diese Vielfalt als Chance zu begreifen <strong>und</strong> sie durch eine umfassende <strong>und</strong> differenzierte Bildungs-<strong>und</strong> Erziehungsarbeit für das gemeinsame Lernen der Kinder zu nutzen.“aus: Richtlinien für die Gr<strong>und</strong>schulen des Landes NRW (2008), S. 8 (Hervorhebungen nicht im Original)Betrachtet man diesen kurzen Auszug aus den Gr<strong>und</strong>schulrichtlinien, so lässt sich feststellen:Die Gr<strong>und</strong>schule versteht sich als Schule für alle Kinder.Diese Kinder kommen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen <strong>und</strong> Lebensbedingungenin die Schule <strong>und</strong> sollen gemeinsam <strong>lernen</strong>.Ihre Vielfalt soll als Chance betrachtet werden.1Den Begriff „<strong>Inklusion</strong>“ findet man in den aktuellen Richtlinien für nordrheinwestfälische Schulennoch nicht. Das wird sich sicher bald ändern, denn er ist hochaktuell:<strong>Inklusion</strong> ist, wie z. B. der Bayerische Lehrerinnen- <strong>und</strong> Lehrerverband kürzlich befand, das „bildungspolitischeMega-Thema dieses Jahrzehnts“. 2 Internationale Organisationen wie die VereintenNationen, die UNESCO, die OECD <strong>und</strong> die EU-Kommission setzen große Hoffnungen in eine„Reform, die die Vielfalt aller Lernenden unterstützt <strong>und</strong> willkommen heißt“ 3 <strong>und</strong> verknüpfen hoheErwartungen damit.Das Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im März 2009 verpflichtet Deutschlandwie die übrigen Unterzeichnerstaaten 4 unter anderem dazu, ein inklusives Bildungssystem zu entwickeln.Danach soll das gemeinsame Lernen von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen mit <strong>und</strong> ohne Behin-1 Erweiterter Text zu einem Vortrag an der Universität Siegen am 5.4.2011.2 http://www.mllv.bllv.de/1-2010-10-29_<strong>Inklusion</strong>.shtml (Abruf aller nachfolgend genannten Internetquellen: 5.4.11)3 UNESCO 2009, 4.4 Bis Ende 2010 hatten 155 Staaten <strong>und</strong> die Europäische Union die Konvention unterzeichnet <strong>und</strong> 97 Staaten <strong>und</strong> dieEU hatten sie ratifiziert. 83 hatten bis 2009 das Zusatzprotokoll unterzeichnet <strong>und</strong> 40 es ratifiziert. Wie die EU habenauch alle 27 EU-Mitgliedstaaten die Konvention <strong>und</strong> 17 das Zusatzprotokoll unterzeichnet.(s. http://de.wikipedia.org/wiki/UN-Konvention_%C3%BCber_die_Rechte_von_Menschen_mit_Behinderungen)


derungen zum Regelfall werden. <strong>Inklusion</strong> hat hohe Priorität auf der Agenda der Kultusministerkonferenz5 erhalten <strong>und</strong> ist zu einem „Schlüsselbegriff“ des Ministeriums für Schule <strong>und</strong> WeiterbildungNRW 6 geworden. Ohne Gegenstimme wurde im nordrhein-westfälischen Landtag im Dezember2010 beschlossen, die „UN-Konvention zur <strong>Inklusion</strong> in der Schule umzusetzen“ – so derTitel des fraktionsübergreifenden Antrags.Elternvereine, Lehrergewerkschaften, Behindertenverbände, Berufsverbände wie der PsychologenverbandBDP, der Gr<strong>und</strong>schulverband <strong>und</strong> zahlreiche weitere Organisationen haben Positionspapiereerarbeitet, in denen sie sich deutlich für das Ziel eines inklusiven Bildungssystems aussprechen.7Also überall nur Zustimmung zum Konzept der <strong>Inklusion</strong>? Kritische Veröffentlichungen mit ebensoviel Vehemenz wie von Seiten der Befürworter gibt es ebenfalls in Deutschland, so z. B. vom Philologenverband8 wie auch von Vertretern der Realschulen 9 . Diese Gruppen lehnen den Gedankeneiner starken Ausweitung gemeinsamen schulischen Lernens im Sek<strong>und</strong>arbereich massiv ab. Esgibt weitere Kritiker – so etwa den früheren Sonderpädagogik-Professor Otto Speck 10 – die dieRealisierung schulischer <strong>Inklusion</strong> äußerst skeptisch sehen. 11 Auch in den Diskussionen mit Lehrkräften<strong>und</strong> Schulleitungen hört man häufig Unsicherheit, Angst vor Überforderung <strong>und</strong> Sorgenum die Zukunft der eigenen Schule heraus.Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde im Vergleich mit vorangegangenen Menschenrechtskonventionenbesonders schnell <strong>und</strong> mit einem sehr hohen Zustimmungsgrad fertiggestellt. Dennochstellen sich auf der Ebene der Umsetzung der Vorgaben – wie so oft in der Diskussion umBildung <strong>und</strong> Schule – die Fragen: Wird das Tempo in den nächsten Jahren eher von den Befürworternoder von den Skeptikern bestimmt werden? Wie wird sich der <strong>Inklusion</strong>s-Diskurs weiterentwickeln?<strong>Ist</strong> <strong>Inklusion</strong> mehr als eine „Modeerscheinung“; wird sie uns in den kommenden Jahrzehntenals Leitidee begleiten?2Mit dem Begriff <strong>Inklusion</strong> ist weitaus mehr verknüpft als das gemeinsame schulische Leben <strong>und</strong>Lernen von Kindern ohne <strong>und</strong> mit Beeinträchtigungen. „<strong>Inklusion</strong>“ ist international seit der UNE-SCO-Konferenz in Salamanca 1994 ein gebräuchlicher Terminus, <strong>und</strong> es existieren mittlerweile5 Vgl. das Interview mit dem amtierenden KMK-Präsidenten Ludwig Spaenle (CSU) am 22.2.2010(s. http://themendienst.didacta-koeln.de/2010/02/interview).6 Vgl. Sylvia Löhrmann (2011): http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Publikationen/Schule_NRW/Leseprobe01.pdf;s. auchhttp://www.schulministerium.nrw.de/BP/<strong>Inklusion</strong>_<strong>Gemeinsam</strong>es_Lernen/Rede_Ministerin_Gespraechskreis_<strong>Inklusion</strong>_13_12_10_-Stand_23__Februar_2011.pdf. Hier zählt die Ministerin <strong>Inklusion</strong> ausdrücklich „zu den fünf wichtigstenThemen“ des Ministeriums für Schule <strong>und</strong> Weiterbildung NRW.7 S. hierzu http://www.inklusion-olpe.de/positionspapiere.php8 http://www.dphv.de/fileadmin/user_upload/positionen/bildungspolitik/standpunkte/Profil_Artikel_<strong>Inklusion</strong>.pdf9 s. http://www.lehrernrw.de/component/content/article/54-ausgabe-12010/572-utopie-der-totalenbildungsgerechtigkeit10 Vgl. Speck (2010).11 Neben Zustimmung <strong>und</strong> Ablehnung existiert noch eine dritte Variante: Ignoranz. Das Deutsche Institut für Menschenrechteweist am 31.3.2011 (http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/presse/stellungnahmen.html) aufden Brief des Staatsministers „An die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer der öffentlichen Förderschulen im Freistaat Sachsen“vom 8. November 2010 hin, in dem er ausführt, das „sächsische Bildungssystem ist ein inklusives“. In unabhängigenStudien wird dagegen für Sachsen eine Exklusionsquote von 83,6 Prozent angegeben (Klemm 2010, 34).


zahlreiche Definitionen. Eine aus früheren Sonderpädagogikstudenten hervorgegangene Gruppe inBerlin hat sogar mit Hilfe ihrer Internetpräsenz einen Wettbewerb ins Leben gerufen, um möglichstvielfältige Definitionsversuche für <strong>Inklusion</strong> zu sammeln <strong>und</strong> zu verbreiten. 12 An dieser Stellesollen zwei Aussagen zur Terminologie genügen:Tony Booth, einer der Urheber des mittlerweile weltbekannten Index for Inclusion 13 , äußert sichwie folgt:„<strong>Inklusion</strong> ist komplex <strong>und</strong> kann nicht in einem einzigen Satz mit ein paar wohl ausgesuchtenWörtern definiert werden. Für mich ist <strong>Inklusion</strong> ein nie endender Prozess der zunehmendenTeilhabe aller Beteiligten, der Kinder, Jugendlichen <strong>und</strong> Erwachsenen.“ 14Als Zweites ein Zitat von der Homepage des Behindertenbeauftragten der B<strong>und</strong>esregierung, HubertHüppe:„<strong>Inklusion</strong> im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention bedeutet, dass allen Menschen vonAnfang an in allen gesellschaftlichen Bereichen, sowie bei allen Ereignissen eine selbstbestimmte<strong>und</strong> gleichberechtigte Teilhabe möglich ist. <strong>Inklusion</strong> verwirklicht sich im Zusammen<strong>leben</strong>in der Gemeinde - beim Einkaufen, bei der Arbeit, in der Freizeit, in der Familie, inVereinen oder in der Nachbarschaft.“ 15Im Rahmen dieses Vortrags werde ich mich im Kontext von <strong>Inklusion</strong> auf die Personengruppe vonKindern <strong>und</strong> Jugendlichen mit Beeinträchtigungen im Schulalter konzentrieren. NRW-SchulministerinLöhrmann liefert hierfür in einer aktuellen Publikation das Stichwort:3„Ziel der <strong>Inklusion</strong> ist es, das gemeinsame Leben <strong>und</strong> Lernen von Menschen mit <strong>und</strong> ohneBehinderungen als gesellschaftliche Normalform zu etablieren.“ 16„Gesellschaftliche Normalform“ – was heißt das? Den Begriff „<strong>normal</strong>“ findet man, abgesehenvom gerade zitierten Beispiel, in keiner einzigen Publikation des Schulministeriums <strong>und</strong> auch nirgendsin der UN-Behindertenrechtskonvention. Dies geschieht sicher aus gutem Gr<strong>und</strong>. Trotzdemhalte ich im Kontext von <strong>Inklusion</strong> die Frage Was ist „<strong>normal</strong>“? für wichtig.Was <strong>normal</strong> ist, lässt sich nicht konsensfähig beantworten. Wichtiger erscheint mir, sich genaudieser Problematik bewusst zu sein <strong>und</strong> sie immer wieder zu diskutieren. Wenn wir an gemeinsamesLeben <strong>und</strong> Lernen in der Schule denken, ist besondere Sensibilität für das Thema Normalitäterforderlich. Das gilt für Kinder <strong>und</strong> Jugendliche, für ihre Eltern, für die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, für12 S. http://definitiv-inklusiv.org13 Booth / Ainscow (2000): Index for Inclusion. Nähere Einzelheiten, auch zur ergänzten <strong>und</strong> überarbeiteten 3. Auflage2011 s. http://www.csie.org.uk.14 Booth (2010): Wie sollen wir zusammen <strong>leben</strong>? <strong>Inklusion</strong> als wertebezogener Rahmen für die pädagogische Praxis,8f. S. http://www.gew.de/Binaries/Binary74925/<strong>Inklusion</strong>_Werte-End.pdf?SID=2c75d8b9dfaa9ba49e14a1b9abc609a515 S. http://www.behindertenbeauftragter.de/DE/Landkarte/2Bewertung/Bewertung_node.html16 Löhrmann (2011): Auf dem Weg zur <strong>Inklusion</strong> – eine „Kultur des Behaltens“, 102.S. http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Publikationen/Schule_NRW/Leseprobe01.pdf


Schulleitungen, für Lehramtsstudierende, ihre Ausbilder an der Hochschule – um nur einige derbeteiligten Akteure zu nennen.Ein Beispiel für die Praxisrelevanz der Bewertung von Normalität: Im Kreis Olpe diskutieren wirvielerorts momentan intensiv, wie es gelingen kann, Kinder mit besonders herausforderndem Verhaltenin der Gr<strong>und</strong>schule zu beschulen. Dies ist ein Reizthema, das viel Kraft <strong>und</strong> Kooperationsbereitschafterfordert <strong>und</strong> keine einfachen Lösungen bietet.Was <strong>normal</strong> oder a<strong>normal</strong> <strong>und</strong> was tolerierbar oder nicht mehr tolerierbar ist, wird in der Schulpraxistäglich diskutiert – <strong>und</strong> immer wieder aufs Neue. Hier ist das Aushandeln von Normalität imSinne von „Einigungen“ der Partner, wie Helmut Reiser es formuliert hat, dringend notwendig,wenn gemeinsames schulisches Lernen gelingen soll. 172. Wie entwickeln sich Normalitätsvorstellungen?„Der Begriff der Normalität ist ein terminologischer Pudding, eine breiförmige Masse, die unterder Hand erstarrt, aber schwabbelig bleibt <strong>und</strong> zerfällt, sobald man sich ihr mit einem hartenInstrument nähert. Ein definierender Zugriff hat keine Chancen. Normalität wird einemeingebrockt, man kann sie nur auslöffeln.“Hans Magnus Enzensberger 184Wir verwenden im täglichen Gebrauch immer wieder die Begriffe „<strong>normal</strong>“ <strong>und</strong> „Normalität“.Dennoch sind sie alles andere als eindeutig, wie es auch im Zitat von Enzensberger zum Ausdruckkommt. Und trotzdem spielt fast überall „Normalität“ eine wichtige Rolle, z. B. in der Medizin, inder Psychologie oder in der Politik. Dabei kann Normalität positiv oder negativ betrachtet werden– man denke nur an die Kunst oder die Musik: Sich bewusst von Normalität abzugrenzen, gehörtzum Erfolgsgeheimnis.„Es ist <strong>normal</strong>, verschieden zu sein“ 19 oder auch „Geistig behindert ist auch <strong>normal</strong>“ sind im Zusammenhangmit Behinderung oft gehörte Slogans. Sie betrachten die Normalität im Hinblick aufdas menschliche Zusammen<strong>leben</strong> positiv. Andererseits lautete ein Motto der emanzipatorischen17 Vgl. Gabriele Klein, Gisela Kreie, Maria Kron, Helmut Reiser (1987): Integrative Prozesse in Kindergartengruppen.Über die gemeinsame Erziehung von behinderten <strong>und</strong> nichtbehinderten Kindern. Verlag Deutsches Jugendinstitut1987. Online im Internet unter http://bidok.uibk.ac.at/library/klein-prozesse.html. Die Autoren schreiben u. a.: „Alsintegrativ im allgemeinsten Sinn bezeichnen wir diejenigen Prozesse, bei denen ,Einigungen' zwischen widersprüchlicheninnerpsychischen Anteilen, gegensätzlichen Sichtweisen, interagierenden Personen <strong>und</strong> Personengruppen zustandekommen. Einigungen erfordern nicht einheitliche Interpretationen, Ziele <strong>und</strong> Vorgehensweisen, sondern vielmehrdie Bereitschaft, die Positionen der jeweils anderen gelten zu lassen, ohne diese oder die eigene Position alsAbweichung zu verstehen. Einigung bedeutet den Verzicht auf die Verfolgung des Andersartigen <strong>und</strong> stattdessen dieEntdeckung des gemeinsam Möglichen bei Akzeptanz des Unterschiedlichen.“18 zitiert in: Becker, Peter/Koch, Josef (1999, 7) – Das Zitat ist entnommen aus: Enzensberger, Hans Magnus: Zur Verteidigungder Normalität. In: ders., Der fliegende Robert. Gedichte, Szenen, Essays. Frankfurt: Suhrkamp 1989, 174-192.19 Lingenauber (2003, 14) weist darauf hin, dass dieser Satz ursprünglich von Rosemary Dybwad (1985; englisch bereits1977) stammt.


„Krüppelbewegung“ der 1980er Jahre „Lieber <strong>leben</strong>dig als <strong>normal</strong>!“ Diese gerade genannten Beispielezitiert Jürgen Link (2008). Link, mittlerweile emeritierter Literaturwissenschaftler der UniversitätDortm<strong>und</strong>, hat entscheidend dazu beigetragen, Normalität theoretisch zu f<strong>und</strong>ieren. Dabeiist auch das von ihm maßgeblich beeinflusste DFG-Projekt „Leben in Kurvenlandschaften“ (abMitte der Neunziger Jahre) zu nennen, in dem auch einige Publikationen im Kontext mit Behinderungentstanden sind. Da sich im Rahmen der heutigen Fragestellung manche Querbezüge ergeben,möchte ich auf Jürgen Links Konzept des Normalismus nachfolgend wiederholt zurückkommen.20Die Begriffe <strong>normal</strong>, Normalität, Normalisierung <strong>und</strong> ihre Gegenbegriffe a<strong>normal</strong> <strong>und</strong> abnormstammen alle vom lateinischen Wort „norma“ ab. Die Norma war das Instrument der römischenBaumeister zur Bestimmung des rechten Winkels <strong>und</strong> wurde in der Folgezeit eine gebräuchlicheBezeichnung für jede Art von Regel.Die terminologische Unterscheidung von Norm <strong>und</strong> Normalität ist problematisch, wie Link (2008)feststellt. Schon allein das Wort „Norm“ hat mindestens drei sehr verschiedene Bedeutungen:1. Norm als (normative) Regel, Vorschrift, Ge- bzw. Verbot (im juristischen Sinne),2. Norm als Grenz- bzw. Schwellennorm (z. B. technische oder ökologische Grenzwerte, aberauch die „Olympia-Norm“ im Leistungssport als eine sehr hoch angesetzte Mindestleistung– sie ist das Gegenteil von Normalität, eher eine positive A<strong>normal</strong>ität),3. heute seltener <strong>und</strong> sehr missverständlich: Norm gleichgesetzt mit Normalität, z. B. wenngesagt wird, ein bestimmter IQ-Wert falle „noch in die Norm“. Hiermit ist weder eine Grenzenoch eine Regel gemeint, sondern ein sehr breiter Bereich, der die übergroße Mehrheitumfasst. Meistens wird aber auch hier eher der untere Grenzbereich betont, sodass es sichwiederum um die zweite Bedeutung, nämlich die Normalitätsgrenze handelt. 215Normativität ist gr<strong>und</strong>legend für alle menschlichen Gesellschaften – heute wie auch historisch gesehen.Normen sind dem Handeln prä-existent, d. h. sie sind dem Akteur im Voraus bekannt <strong>und</strong>sie haben, wie Link (2008, 62) formuliert, einen „juristischen Beigeschmack“. Sie können als Gesetze,als Ge- <strong>und</strong> Verbote oder als ethische Normen für unser Verhalten im Zusammen<strong>leben</strong> mit andereneine klare Orientierung bieten; bei Verstößen gegen Normen drohen Sanktionen. Dabei istdie Sichtweise binär (ein Beispiel aus der Justiz: Wurde vorsätzlich gehandelt oder nicht?).Normativität ist aber nicht mit Normalität gleichzusetzen. Normalität hat sich historisch entwickelt<strong>und</strong> ist im Gegensatz zur Normativität, die eine Erfüllungsnorm darstellt, eher eine „Orientierungskarte“.22 Link beschreibt Normalität als ein Produkt moderner Gesellschaften. Sie hat sich entwickeltmit Beginn der systematischen, massenhaften Datensammlung. Dieser umfangreiche Einsatzstatistischer Methoden zur Erhebung, Vermessung, Typisierung, zur Ermittlung von Mittelwerten<strong>und</strong> zur Darstellung von Verteilungskurven hielt im 18., besonders aber im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in Eu-20 Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass Links Normalismus-Konzept wesentlich komplexer ist, als es an dieser Stelledargestellt werden kann.21 Vgl. Link (2008, 61).22 Vgl. von Stechow (2004, 26).


opa <strong>und</strong> in Amerika Einzug - u. a. in der Medizin, in der Psychologie, der Anthropologie wie auchin der Politik.Link (2008, 63) bezeichnet die modernen westlichen Länder als „verdatete Gesellschaften“ <strong>und</strong> dieGesamtheit der statistischen Verfahren, die Normalität <strong>und</strong> damit zugleich auch Abweichungenerfassen sollen, als „Normalismus“.Kennzeichnend für Normalität in Abgrenzung von Normativität sind folgende Charakteristika: 23Sie beruht auf Statistik <strong>und</strong> Durchschnittswerten. Typische Beispiele sind Normalmaße,Normalwerte, Normalgrößen.Es gibt ein breites Mittelfeld, den „Normalbereich“ (<strong>normal</strong> range) <strong>und</strong> an den Enden derVerteilung immer weniger Individuen.Im Gegensatz zur Normativität werden Normen erst im Nachhinein, also nach der Bildungeiner statistischen Mitte, wirksam.Normalität <strong>und</strong> Normativität können, wie Elisabeth von Stechow (2004, 26) feststellt, auch gleichzeitigexistieren: Normativ betrachtet ist eine Abtreibung aus juristischer, ethischer <strong>und</strong> religiöserSicht unzulässig. Im „alltäglichen“ Umgang hiermit wie auch aus der Perspektive der Frauenbewegunggilt Abtreibung allerdings mehr oder weniger als akzeptabel.Ein weiterer – auch für meine heutige Fragestellung – bedeutsamer Aspekt, den Link hervorhebt:Normalität kann Normativität weder aufheben noch ersetzen; sie beeinflusst sie aber stark. Sokönnen beispielsweise veränderte Haltungen zur Sexualität oder gegenüber Menschen mit Behinderungenzu einer veränderten Normativität <strong>und</strong> dann auch zu gesetzlichen Anpassungsprozessenführen. 246Für die Schulpraxis wie auch für die theoretische Auseinandersetzung mit Normalität ist eine Kernfragedie Grenzziehung: Was gilt noch als <strong>normal</strong>, <strong>und</strong> wo fängt die Randzone des A<strong>normal</strong>en an?Hier lassen sich zwei <strong>normal</strong>istische Strategien ausmachen, die zentral für Links Normalismuskonzeptsind:der Proto<strong>normal</strong>ismus <strong>und</strong>der flexible Normalismus.Beide Strategien basieren auf einer Annahme, die auf den französischen Physiologen Broussais 25wie auch den Mitbegründer der Soziologie, Auguste Comte 26 , zurückgeht, nämlich dass Normalität<strong>und</strong> A<strong>normal</strong>ität keine Gegensatzpaare sind. Vielmehr gibt es fließende Übergänge in beide Richtungen.2723 Vgl. Link (2008, 63); Dederich (2007, 133); von Stechow (2004, 26f.); Lingenauber (2008, 161).24 Vgl. Link (2008, 63).25 François Broussais (1772-1838) war ein französischer Mediziner.26 Auguste Comte (1798-1857) war Mathematiker, Philosoph <strong>und</strong> gilt als Mitbegründer der Soziologie.27 Hier gibt es auch Bezüge zu Aaron Antonovskys Konzept der Salutogenese, nach dem Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheit aufeinem Kontinuum liegen <strong>und</strong> jeder Mensch ges<strong>und</strong>e <strong>und</strong> kranke Aspekte aufweist.


Abb. 1: Proto<strong>normal</strong>ismus 28Die proto<strong>normal</strong>istische Strategie ist historisch betrachtet die ältere Strategie. 29 Sie lässt sichdurch folgende Eigenschaften kennzeichnen:Die Normalitätszone ist sehr stark komprimiert.Um Abschreckung <strong>und</strong> Undurchlässigkeit zu gewährleisten <strong>und</strong> zugleich Angst vorDe<strong>normal</strong>isierung abzubauen, werden die Normalitätsgrenzen wie Mauern starr <strong>und</strong> enggesetzt. Es gibt also eine klare Trennung: Hier wir – dort die Anderen.Der Bereich der A<strong>normal</strong>ität ist als Folge des knapp bemessenen Normalbereichs breit<strong>und</strong> führt zwangsläufig zur Exklusion <strong>und</strong> möglicherweise zur Zuweisung zu Sondereinrichtungenwie Gefängnissen, Heimen oder Erziehungsanstalten. Das Menschenbild desNationalsozialismus zeigt ein besonders erschreckendes Beispiel für Proto<strong>normal</strong>ismus,bei dem der Ausschluss aus dem Normalbereich bis zur Ermordung führen kann.Ob ein Individuum innerhalb oder außerhalb des Normalfeldes verortet wird, wird durchvorab festgelegte Normen von außen bestimmt. 307Proto<strong>normal</strong>ismus führt nach Link (1997, 78) häufig dazu, dass Menschen eine „Fassaden-Normalität“ entwickeln: Äußerlich verhalten sie sich so, dass sie dem Normalfeld zugeordnet werdenkönnen, während sie heimlich Verhaltensweisen zeigen, die in den Bereich der A<strong>normal</strong>itätfallen. 3128 Abbildung entnommen aus: Lingenauber (2008); s. http://bidok.uibk.ac.at/library/lingenauber-<strong>normal</strong>itaet00.jpg29 Vgl. von Stechow (2004, 32): Im 19. <strong>und</strong> in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war die proto<strong>normal</strong>istische Strategieabsolut dominant. – S. zum Folgenden auch: Link (2008, 65ff.); Dederich (2007), 135; Lingenauber (2008, 162f.).30 Vgl. auch Michel Foucault (1926-1984, Philosoph, Soziologe u. a.), der auf die Außenlenkung <strong>und</strong> Disziplinierung <strong>und</strong>die damit verb<strong>und</strong>ene Macht hinweist.31 Als Beispiel wird hier der Kinsey-Report zum Sexualverhalten der US-Amerikaner in den 1940er Jahren angeführt.


Abb. 2: Flexibler Normalismus 32Die flexibel-<strong>normal</strong>istische Strategie ist dem Proto<strong>normal</strong>ismus genau entgegengesetzt:Ihr Ziel ist eine dynamische, maximale Ausweitung des Normalbereichs.Die Grenzen sind weicher <strong>und</strong> durchlässiger; die Grenzzone ist breiter. Dadurch kann dieEinbeziehung möglichst vieler Subjekte in den Normalbereich erleichtert werden. 33Das Individuum hat mehr Autonomie <strong>und</strong> ist aktiver beteiligt an der Herstellung von Normalität(Link spricht hier von „Selbst-Normalisierung“). Dabei orientiert sich der Einzelnestets an der Mitte, die über Meinungsumfragen, soziologische Studien, Politbarometer u. a.Erhebungen immer wieder neu ausgelotet wird. 34Grenzen bestehen allerdings nach wie vor <strong>und</strong> somit weiterhin ein Feld außerhalb derNormalität – auch wenn es leichter möglich ist, am Rande der Normalitätsgrenze zu <strong>leben</strong><strong>und</strong> die Grenze in den Normalbereich hinein zu überschreiten.8Die Frage der Grenzziehung bleibt in Theorie <strong>und</strong> Praxis immer prekär. Letzten Endes muss sie, wieLink feststellt (2008, 68), symbolisch festgelegt werden. Die Markierung der Grenze ist also mitIntuition <strong>und</strong> Willkür behaftet. Es bleibt umstritten, ab welchem Punkt oder Grad (Beispiel: Schweregradbei Behinderungen) sich selbst der flexible Normalismus überfordert sieht; Link nennt hierals Beispiel potenziell fremd- oder selbstagressives Verhalten (ebd.).Ein kleines Zwischenfazit: Will man Normalität näher untersuchen, so kann das Normalismus-Konzept von Jürgen Link eine wertvolle Unterstützung sein. Dies belegen auch die im Rahmen desDortm<strong>und</strong>er Projekts erschienenen Publikationen, die sich mit dem Zusammenhang von Normalität<strong>und</strong> Behinderung befasst haben. 3532 Abbildung ennommen aus Lingenauber (2008); s. http://bidok.uibk.ac.at/library/lingenauber-<strong>normal</strong>itaet01.jpg33 Beispiele hierfür: Homosexualität, aber auch im Behindertenbereich das „Normalisierungsprinzip“ bzw. auf Schulebezogen das Integrationsprinzip (vgl. Link 2008, 66). – Dederich (2007, 135) weist allerdings darauf hin, dass es auchnegative Aspekte des Flexiblen Normalismus geben kann, z. B. in Fragen der Sterbehilfe oder bei der Abtreibung vonKindern mit Down-Syndrom nach positiver Pränataldiagnostik. Hier werden zwar Toleranzen erweitert, aber ohneethische oder juristische Maßstäbe anzulegen.34 Vgl. von Stechow (2004, 34).35 Vgl. Lingenauber (2003/2008); Schildmann (2004); von Stechow (2004).


Kommen wir nun zu der Frage3. Wie hängen Vorstellungen von Normalität <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> zusammen?Zur Annäherung an diese Fragestellung möchte ich die grafischen Darstellungen von Lingenauber(2008) zu den beiden vorgestellten Normalismus-Strategien erneut aufgreifen. Ich werde sieSchaubildern gegenüberstellen, die in den letzten Jahren in vielfältigen Variationen im Rahmen derIntegrations- bzw. <strong>Inklusion</strong>sdebatte zum Einsatz gekommen sind. 36 Dabei handelt es sich nicht umein historischen Phasen entsprechendes Entwicklungsmodell, sondern – wie Hans Wocken verdeutlicht– um „Qualitätsstufen der Behindertenpolitik <strong>und</strong> –pädagogik“. 379Abb. 3: Proto<strong>normal</strong>ismus, Exklusion <strong>und</strong> SeparationBetrachtet man das „proto<strong>normal</strong>istische Normalfeld“ in Anlehnung an Link, so wird sofort eineParallele zur Darstellung von Exklusion deutlich. Viele Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mit Behinderungenwurden in Deutschland, seit es Schulen gibt <strong>und</strong> bis weit in die zweite Hälfte des letzten Jahrh<strong>und</strong>erthinein, systematisch vom Schulbesuch ausgeschlossen. Je nach Ausprägung der Beeinträchtigung(z. B. bei Schwerstbehinderten) stand eine Einschulung vielfach zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion,d. h. den betreffenden Kindern wurde jegliches Recht auf Schulbildung abgesprochen. 38Es lassen sich aber auch Bezüge zu einer Separierung von Schülern mit besonderen Förderbedürfnissenherstellen. Seit Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erhalten Kinder mit Behinderungen Zugang zuschulischer Bildung – allerdings ausgegliedert in den Bereich der A<strong>normal</strong>ität <strong>und</strong> institutionalisiertin separaten Sonderschulen. Auch in dieser Sicht bestehen zwei klar voneinander zu trennende36 S. zu den vier Schaubildern zur Exklusion, Separation, Integration <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> z. B. Hinz (2006, 11). In der vorliegendenForm stammen sie von der Internetseite www.inklusion-olpe.de.37 S. Wocken (2010, 216ff.). Die verschiedenen Stufen wurden erstmals 1997 von dem Schweizer Alois Bürli (1997)beschrieben.38 Auf die „Extinktion“, die Auslöschung von „<strong>leben</strong>sunwertem Leben“, auf die Wocken (2010, 217f.) mit Recht imHinblick auf die NS-Zeit aufmerksam macht, kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Hier liegt eineextreme Form des Proto<strong>normal</strong>ismus vor.


Gruppen: auf der einen Seite die sogenannten „<strong>normal</strong>en“ Kinder in allgemeinen Schulen an, aufder anderen Seite die „behinderten“ Kinder, für die der Besuch einer speziell auf sie zugeschnittenenSchule den Normalfall darstellt.Abb. 4: Flexibler Normalismus <strong>und</strong> IntegrationVergleicht man diese beiden Darstellungen (wiederum im Hinblick auf Kinder mit besonderemFörderbedarf), so fällt beim Schaubild zum „flexibel-<strong>normal</strong>istischen“ Normalfeld die breitere <strong>und</strong>z. T. geöffnete Grenze auf, die eine Einbeziehung außenstehender Subjekte zulässt. Diese Öffnungkommt in der Darstellung von Integration nicht zum Ausdruck; die Grafik macht aber mehreresdeutlich:1. Es gibt im Gegensatz zum Proto<strong>normal</strong>ismus keine klare, fixierte Trennung von „Normalen“<strong>und</strong> „A<strong>normal</strong>en“.2. Ein Teil der Kinder mit Behinderungen wird ins Normalfeld aufgenommen.3. Innerhalb dieses Feldes bilden diese Kinder eine Subgruppe, die sich aus der Diagnose <strong>und</strong>dem Etikett „sonderpädagogischer Förderbedarf“ ergibt. D. h., auch wenn die Schüler inderselben Schule <strong>lernen</strong>, lassen sich immer noch zwei unterschiedliche Gruppen ausmachen.4. Schließlich bleibt einem anderen – in Deutschland immer noch dem weitaus größeren –Teil der Gesamtgruppe der Kinder mit erhöhten Förderbedürfnissen der Eintritt zum „NormalfeldAllgemeine Schule“ versagt. Sie werden nach wie vor in Sondereinrichtungen beschult.3910Kommen wir nun zur <strong>Inklusion</strong>. Jürgen Link (1996; 2008) spricht neben dem Proto<strong>normal</strong>ismus <strong>und</strong>dem flexiblen Normalismus noch eine dritte Variante an, die er Trans<strong>normal</strong>ismus nennt. Hier findeteine „radikale Überdehnung“ des flexiblen Normalismus statt. Das Normalfeld löst sich ganzauf <strong>und</strong> lässt keine Grenzen mehr erkennen. Link bezieht sich beispielhaft auf die kulturrevolutionärenStudentengruppen der 1968er Jahre (1996, 32f.). Die beiden Wegbereiter der Integrations-39 Vgl. Klemm (2010, 9): Die <strong>Inklusion</strong>squote der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf liegt im b<strong>und</strong>esweitenSchnitt bei 34% (Gr<strong>und</strong>schule) bzw. bei 15% (Sek<strong>und</strong>arstufe I).


pädagogik Hans Eberwein <strong>und</strong> Georg Feuser lösen die Kategorie Normalität im Zusammenhang mitBehinderung ganz vom Durchschnittskriterium bzw. der überwiegenden Mehrheit der Fälle. 40Abb. 5: Trans<strong>normal</strong>ismus <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> 41Auch wenn sie es nicht so wie Link benennen: Sowohl Eberwein als auch Feuser setzen sich vorallem seit den 1990er Jahren sehr für die Einrichtung eines neuen, trans<strong>normal</strong>istischen <strong>und</strong> grenzenlosenBildungs<strong>normal</strong>feldes ein. Hier verschmelzen diskursiv das sonderpädagogische, das allgemeinpädagogische<strong>und</strong> das integrationspädagogische Normalfeld zu einer Einheit. Den Maßstabdieses neuen Feldes bilden unbegrenzte, individuelle Normalitäten. In dieser Sicht ist es genauso<strong>normal</strong> behindert zu sein, wie es <strong>normal</strong> ist, nicht behindert zu sein. Zugleich wird die Behinderungskategoriebei diesem neuen Verständnis von Normalität überflüssig: Wenn Kategorisierung,Etikettierung, die Feststellung von Behinderungsgraden nicht mehr die Voraussetzung für die Zugehörigkeitzum Normalfeld bilden, ist das Merkmal „Behinderung“ nicht mehr entscheidend. Ressourcenkönnen dann unabhängig von individuellen Behindertenklassifizierungen für das „Gesamtsystemder Vielfalt“, wie Eberwein es nennt, gewährt werden. 42Beide Autoren streben eine Systemtranszendenz an, also eine gr<strong>und</strong>legende Veränderung desSchulsystems: Eine separate, aber auch eine integrative Beschulung für nur einen Teil der Kindermit besonderen Förderbedürfnissen soll es auf die Dauer nicht mehr geben. Ihre Zielsetzung stehtsomit in Übereinstimmung mit der UN-Behindertenrechtskonvention.11Mit dem Bild vom Trans<strong>normal</strong>ismus lassen sich, wie Link feststellt, im Sinne von Ernst Bloch Vorstellungen„konkreter Utopien“ aufzeigen <strong>und</strong> erproben. 43 Insofern ist ein Bezug zum <strong>Inklusion</strong>sdiskursherstellbar – auch wenn die Frage noch nicht gelöst ist, wie sich <strong>Inklusion</strong> herstellen lässt.Alle drei Strategien, also Proto<strong>normal</strong>ismus, flexibler Normalismus <strong>und</strong> Trans<strong>normal</strong>ismus könnendie Diskussion über Normalität befruchten. Man muss sich allerdings im Klaren darüber sein: Siehängen eng zusammen <strong>und</strong> lassen sich als Idealtypen nicht trennscharf betrachten. Hinzu kommt,dass ein völlig grenzenloses trans<strong>normal</strong>istisches Normalfeld schwer vorstellbar ist.40 Vgl. Lingenauber (2003) in ihrer Analyse der Publikationen von Eberwein <strong>und</strong> Feuser.41 Abbildung entnommen aus: http://bidok.uibk.ac.at/library/lingenauber-<strong>normal</strong>itaet.html.42 Vgl. Lingenauber (2003, 173ff.).43 S. Link (1996, 32f.; 2008, 71).


4. Zurück zur Ausgangsfrage: <strong>Ist</strong> <strong>Inklusion</strong> „<strong>normal</strong>“?Normalität zu definieren, das haben wir gesehen, ist äußerst problematisch. Wer von denjenigen,die sich der Gruppe der „Normalen“ zugehörig fühlen, kann für sich das Recht in Anspruch nehmendarüber zu entscheiden, wer noch zu dieser Gruppe zählen darf <strong>und</strong> wer nicht?, fragt CorMeijer, der Direktor der European Agency for Development in Special Needs Education. 44Die Frage „<strong>Ist</strong> <strong>Inklusion</strong> <strong>normal</strong>?“ möchte ich so beantworten: Es kommt darauf an!1. Es kommt darauf an, wo <strong>und</strong> wem wir diese Frage stellen:Norweger würden sie sicher mit JA beantworten. An norwegischen Schulen ist gemeinsames Leben<strong>und</strong> Lernen aller Kinder seit Langem üblich. Sonderschulen sind seit den 1980er Jahren fastvöllig abgeschafft; die Regelschulen haben sich auf eine „Pädagogik der Vielfalt“ eingestellt <strong>und</strong>ein durchdachtes Unterstützungssystem geschaffen.2. Es kommt darauf an, für welche Altersgruppe wir fragen:In Berlin <strong>und</strong> in Bremen gehen deutlich über 90% der Kinder mit besonderem Förderbedarf in Kindertageseinrichtungenfür alle Kinder. Hier sind die Weichen gestellt, dass <strong>Inklusion</strong> mehr <strong>und</strong>mehr zum Regelfall werden kann. Anders sieht es aus, wenn man sich den Sek<strong>und</strong>arbereich ansieht:Nicht einmal Berlin <strong>und</strong> Schleswig-Holstein kommen über eine Quote von 40%. Für dieMehrzahl der deutschen Sek<strong>und</strong>arschüler mit einer Behinderung liegt schulische <strong>Inklusion</strong> noch inweiter Ferne.3. Es kommt darauf an, wie weit entwickelt eine Schule <strong>und</strong> ihr Umfeld ist:Auch in Deutschland gibt es eine Reihe von Schulen, an denen die Frage ohne Zögern bejaht würde.Beispiele sind die bisherigen Preisträger des Jakob-Muth-Preises bzw. des Deutschen Schulpreises(so u. a. die Sophie-Scholl-Schule Gießen oder die Waldhofschule Templin nördlich vonBerlin). Für diese Schulen ist <strong>Inklusion</strong> kein einmal erreichtes Ziel, aber ein Leitbild, an dem sie sichorientieren. Auf der anderen Seite fürchten viele Lehrer <strong>und</strong> Schulleiter von Förderschulen um denFortbestand ihrer Schule <strong>und</strong> lehnen schon allein deshalb die Idee der <strong>Inklusion</strong> ab.124. Es kommt darauf an, für wen <strong>Inklusion</strong> „<strong>normal</strong>“ sein soll.Betrachtet man Kinder ohne <strong>und</strong> mit besonderem Förderbedarf, so stellt sich die Frage „Normaloder a<strong>normal</strong>“ i. d. R. gar nicht erst – vorausgesetzt, sie er<strong>leben</strong> das Zusammensein aller Kinderbereits im Kindergarten als etwas Selbstverständliches, das sich in der Schulzeit fortsetzt. „An denKindern kann’s nicht liegen“, hat dementsprechend auch Irmtraud Schnell in ihrer Untersuchungzum Stand des gemeinsamen Lernens festgestellt. 45Auch für Eltern gilt: Je länger die Erfahrungen mit <strong>Gemeinsam</strong>em Unterricht, umso höher die Zufriedenheithiermit <strong>und</strong> umso weniger wird die Zusammengehörigkeit der Schüler in Frage gestellt.4644 S. http://www.european-agency.org/news/news-files/cor-meijer.pdf45 Vgl. Schnell (2006); http://bidok.uibk.ac.at/library/schnell-schule.html46 Vgl. Demmer-Dieckmann/Preuss-Lausitz; http://www.akgem-berlin.org/index.php?menuid=24&reporeid=25.


Damit möglichst viele Lehrkräfte <strong>lernen</strong>, <strong>Inklusion</strong> in der Schule als „Normalform“ (Löhrmann2011) zu empfinden <strong>und</strong> zu er<strong>leben</strong>, ist eine veränderte Lehrerbildung erforderlich. Mit ein paarAnmerkungen hierzu möchte ich meinen Vortrag beschließen.5. Konsequenzen für die LehrerbildungDas EU-Projekt Teacher Education for Inclusion 47 befasst sich mit folgenden zentralen Fragen:1. Was für Lehrkräfte brauchen wir für eine inklusive Gesellschaft in der Schule des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts?2. Welche gr<strong>und</strong>legenden Kompetenzen benötigen LehrerInnen im Zusammenhang mit inklusiverBildung <strong>und</strong> Erziehung?In diesem Projekt geht es darum, europaweite Empfehlungen für die 1. Phase der Lehrerbildung zuentwickeln, vor allem für die Lehrkräfte an allgemeinen Schulen. Im Frühjahr 2012 sollen dieseEmpfehlungen zusammen mit einem „Profile of Inclusive Teachers“ in Brüssel vorgestellt werden.Über die KMK <strong>und</strong> die B<strong>und</strong>esländer werden sie dann auch in Deutschland verbreitet werden.Erfolgversprechende <strong>Inklusion</strong> in der Schule erfordert auf Seiten der Lehrer weitaus mehr alsFachwissen. Dementsprechend sind im LehrerInnen-Profil vier „core values“ gr<strong>und</strong>legend: 481. Wertschätzung der Vielfalt der Schüler – Alle sind willkommen <strong>und</strong> eine Bereicherung2. Unterstützung aller Lernenden3. Kooperation mit anderen (im Team, mit Familien, in Netzwerken)4. Professionelle Weiterentwicklung <strong>und</strong> <strong>leben</strong>slanges Lernen (LehrerInnen als reflexionsfähigePraktiker)13Jedem dieser vier Bereiche werden Kompetenzen zugeordnet, zu denen es jeweils drei Elementegibt, die näher beschrieben werden:- Einstellungen <strong>und</strong> Überzeugungen,- Wissen <strong>und</strong> Verständnis,- Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten.Das Lehrerprofil ist noch in Bearbeitung. Manche seiner Bestandteile finden sich unabhängig hiervonauch bei Hans Wocken. Vor sechs Jahren hielt er in Hamburg einen Vortrag mit dem Titel „AllgemeineSonderpädagogin oder Besondere Allgemeinpädagogin?“. 49 Darin weist er auf die unbedingtnotwendige Annäherung der Sonder- <strong>und</strong> Regelpädagogik hin. Er zeigt zugleich, in welcheRichtung sich die Lehrerbildung weiterentwickeln sollte. Dies führt er 2011 in seinem Aufsatz über„Sonderpädagogen in der <strong>Inklusion</strong>“ weiter aus. Hieraus abschließend wichtige Kompetenzen fürLehrkräfte in inklusiven Settings:47 Projekthomepage: http://www.european-agency.org/agency-projects/teacher-education-for-inclusion.48 Vgl. die „basalen beliefs“ bei Wocken (2011, 208), die er auch als „inklusivpädagogisches Ethos“ bezeichnet.49 S. Wocken (2005).


Heterogenitätskompetenz (die Normalität der Vielfalt der Schüler ist hervorstechendstesMerkmal von <strong>Inklusion</strong>),Erziehungskompetenz,Unterrichtskompetenz,Diagnosekompetenz,Förderungskompetenz,kooperative Kompetenz,systemische Kompetenzen (Beratung , Schulentwicklung, Netzwerke).Die lesenswerten Ausführungen von Hans Wocken wie auch die demnächst erscheinenden Publikationender European Agency zum Projekt Teacher Education for Inclusion machen es deutlich:Nicht nur die Vielfalt der Schüler, sondern auch vielfältigere Aufgaben <strong>und</strong> Kompetenzen werdenden Schulalltag der Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer künftig immer mehr bestimmen. Daraus ergibt sich fürangehende Lehrkräfte eine spannende Herausforderung: Sie dürfen <strong>und</strong> müssen selbst aktiv daranmitwirken, dass <strong>Inklusion</strong> überall in Deutschland zum „Normalfall“ werden kann.Literatur (Abruf aller Internetquellen: 5.4.2011)Becker, Peter/Koch, Josef (1999): Wenn Abweichungen definiert <strong>und</strong> behandelt werden sollen. In: Becker,Peter /Koch, Josef (Hrsg.; 1999): Was ist <strong>normal</strong>? Juventa: Weinheim, München.14Booth, Tony (2010): Wie sollen wir zusammen <strong>leben</strong>? <strong>Inklusion</strong> als wertebezogener Rahmen für die pädagogischePraxis, 8f. (http://www.gew.de/Binaries/Binary74925/<strong>Inklusion</strong>_Werte-End.pdf?SID=2c75d8b9dfaa9ba49e14a1b9abc609a5).Booth, Tony / Ainscow, Mel (2000): Index for Inclusion. Centre for Studies on Inclusive Education: Universityof Manchester. (Informationen zur 3. Auflage 2011: http://www.csie.org.uk.)Bürli , Alois (1997): Sonderpädagogik international. Vergleiche, Tendenzen, Perspektiven. Luzern: EditionSZH.Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur <strong>und</strong> Behinderung. Eine Einführung in die Disablity Studies.Transcript: Bielefeld.Hinz, Andreas (2006): Segregation – Integration – <strong>Inklusion</strong>. Zur Entwicklung der <strong>Gemeinsam</strong>en Erziehung.In: GEW Berlin (Hrsg.; 2006): Von der Integration zur <strong>Inklusion</strong>. GEW: Berlin, 6-19.Kelle, Helga / Tervooren, Anja (Hrsg.; 2008): Ganz <strong>normal</strong>e Kinder. Heterogenität <strong>und</strong> Standardisierungkindlicher Entwicklung. Juventa: Weinheim, München.Klein, Gabriele / Kreie, Gisela / Kron, Maria / Reiser, Helmut (1987): Integrative Prozesse in Kindergartengruppen.Über die gemeinsame Erziehung von behinderten <strong>und</strong> nichtbehinderten Kindern. Verlag DeutschesJugendinstitut 1987. (Auch online im Internet unter http://bidok.uibk.ac.at/library/kleinprozesse.html).Klemm, Klaus (2010): <strong>Gemeinsam</strong> <strong>lernen</strong>. <strong>Inklusion</strong> <strong>leben</strong>. Bertelsmann: Gütersloh.


Lingenauber, Sabine (2003): Integration, Normalität <strong>und</strong> Behinderung. Eine <strong>normal</strong>ismustheoretische Analyseder Werke (1970-2000) von Hans Eberwein <strong>und</strong> Georg Feuser. Leske + Budrich: Opladen.Lingenauber, Sabine (2008): Normalität. In: Lingenauber, Sabine (Hrsg.; 2008): Handlexikon der Integrationspädagogik,Band 1, Kindertageseinrichtungen. Projekt Verlag: Bochum/Freiburg, 160-168.(s. auch http://bidok.uibk.ac.at/library/lingenauber-<strong>normal</strong>itaet.html)Link, Jürgen (1997): Versuch über den Normalismus. Westdeutscher Verlag: Opladen.Link, Jürgen (2008): Zum diskursanalytischen Konzept des flexiblen Normalismus. In: Kelle, Helga/ Tervooren,Anja (Hrsg.; 2008): Ganz <strong>normal</strong>e Kinder. Heterogenität <strong>und</strong> Standardisierung kindlicher Entwicklung.Juventa: München, Weinheim, 59-72.Löhrmann (2011): Auf dem Weg zur <strong>Inklusion</strong> – eine „Kultur des Behaltens“. Schule NRW, 3/2011, 102-107.(s. auch http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Publikationen/Schule_NRW/Leseprobe01.pdf)Lütz, Manfred (2009 5 ): Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. GütersloherVerlagshaus: Gütersloh.Schildmann, Ulrike (2004): Normalismusforschung über Behinderung <strong>und</strong> Geschlecht. Eine empirische Untersuchungder Werke von Barbara Rohr <strong>und</strong> Annedore Prengel. Leske + Budrich: Opladen.Schnell, Irmtraud (2006): An den Kindern kann’s nicht liegen… - Zum aktuellen Stand gemeinsamen Lernensvon Mädchen <strong>und</strong> Jungen mit <strong>und</strong> ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in der B<strong>und</strong>esrepublikDeutschland. (http://bidok.uibk.ac.at/library/schnell-schule.html)Speck, Otto (2010): Schulische <strong>Inklusion</strong> aus heilpädagogischer Sicht. Reinhardt: München.15UNESCO (2009): <strong>Inklusion</strong>: Leitlinien für die Bildungspolitik. Deutsche UNESCO-Kommission: Bonn.von Stechow, Elisabeth (2004): Erziehung zur Normalität. Eine Geschichte der Ordnung <strong>und</strong> Normalisierungder Kindheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.Waldschmidt, Anne (1998). Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im VerhältnisBehinderung <strong>und</strong> Normalität. Soziale Probleme. Zeitschrift für soziale Probleme <strong>und</strong> soziale Kontrolle,9(1/2), 3-25. (s. auch http://www.soziale-probleme.de/01_20Waldschmidt_20-_20Flexible_20Normalisierung_20oder_20stabile_20Ausgrenzung_201-1998_1_.pdf)Wocken, Hans (2005): Allgemeine Sonderpädagogin oder Besondere Allgemeinpädagogin? Vortrag auf demSymposion des Instituts für Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg am 22. Juni 2005.(http://www.hans-wocken.de).Wocken, Hans (2010): Integration & <strong>Inklusion</strong>. Ein Versuch die Integration vor der Abwertung <strong>und</strong> die <strong>Inklusion</strong>vor Träumereien zu bewahren. In: Stein, Anne-Dore / Krach, Stefanie / Niediek, Imke (Hrsg.; 2010):Integration <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume <strong>und</strong> Perspektiven. Klinkhardt:Bad Heilbrunn, 204-234.Wocken, Hans (2011): Sonderpädagogen in der <strong>Inklusion</strong>. Was sie schon können, was sie noch <strong>lernen</strong> <strong>und</strong>was sie wieder ver<strong>lernen</strong> müssen. In: Wocken, Hans (2011): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen –Baupläne – Bausteine. Edition Hamburger Buchwerkstatt Feldhaus: Hamburg, 199-242.

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