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np4/2013 - Verlag Neue Praxis

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<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong> Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen KindheitJo Moran-EllisKinder als soziale Akteure, Agency und sozialeKompetenz:Soziologische Reflexionen zur Frühen KindheitEinleitungHegemonialeBetonungvon »Entwicklung«Forschungen zu Kindern in ihren frühen Jahren waren in den letzten 100 Jahrenbeherrscht von einer Entwicklungsperspektive. Im Ergebnis gab es nicht nur vieleBeiträge zu Dokumentation und Theoriebildung in der Frage des Aufwachsens vonKindern (ungeachtet der auftretenden Kontroversen), sondern am Ende stand auchdie Erkenntnis, dass dieser Typus von Wissenschaft frühe Kindheit mithilfe vonProblemstellungen zu Entwicklung und Wandel kolonisierte. Qvortrup (1994: 4)hat dies als dominanten Fokus, mit dem Kinder auf ihr ›Werden‹ reduziert werdenanstelle von dem, was sie in ihrem frühen Leben als Personen sind, herausgestellt.Diese hegemoniale Betonung von ›Entwicklung‹ hat sich als gefährlich für einVerständnis von Kindheit und Kinderleben in einer übergreifenden sozialwissenschaftlichenPerspektive erwiesen. Bis in die 90er Jahre hinein hat diese Form desZugriffs durch entwicklungsmäßige Rahmungen auf das Studium von Kindernund Kindheit wenig Raum für soziologische Beiträge zur Kindheitsforschunggelassen, die andere als die Sozialisationstheorien waren. Herausgefordert wurdedies durch soziologische Arbeiten, die sich durch eine Sensibilität für Kinder alssoziale Akteure auszeichneten. Damit öffnete sich ein Raum für Forschungen, indenen die gesellschaftliche Bedeutung der Subjektivität von Kindern und derenImplikationen für Analysen und Theoriebildungen sozialer Phänomene, die sich alsdirekt relevant für Kinder und Kindheit oder als vermittelt mit Kinderleben undkindlichen Lebenswelten erwiesen, rekonstruiert werden konnte. 1 Dass diese Artvon soziologischer Perspektive sich als notwendig zeigte, verdankt sich vor allemden Studien zur mittleren Kindheit; insbesondere im Kontext der Betonung der›Stimme‹ der Kinder in der neuen Kindheitssoziologie (Thorne, 2008; McNamee/Seymour <strong>2013</strong>). Gleichwohl ist festzuhalten, dass es einige bemerkenswerte Arbeitenüber Kinder in jüngerem Alter, in denen ein weiter gefasster methodologischerRahmen genutzt wurde, gibt (vgl. Waksler, 1991; Danby/Baker, 1998a; Clark/Moss,2001; Warming 2011; Di Santo/Berman, 2012).Frühe Kindheit ist noch einmal gesondert zu betrachten, weil sie als Zeitraumgekennzeichnet ist, der ein gesetzlich bestimmter Mangel mit Bezug auf eine entscheidendeInstitution zukommt: Schule. Dadurch stellt dies ein gesellschaftliches1 Dies betrifft im Prinzip alle gesellschaftlichen Phänomene, da Kinder von Geburt an in einer Gesellschaftleben. Sie sind wie jedes andere Gesellschaftsmitglied direkt oder indirekt an der Produktionjener Phänomene beteiligt und durch sie affiziert. Kinder befinden sich niemals außerhalb derGesellschaft.304


<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong> Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen Kindheit»The child, on entering life, brings only his individualnature. Society finds itself then, with eachnew generation, faced with a virtually clean slateon which it must start anew. It is necessary that ...to the egoistic and asocial being just born,[society] must add another, capable of leadinga moral and social life« (Durkheim cited in Lamanna2002: 126-7).Entwurf einerSozialisationstheorieParsons und Bales (1955) folgten Parsons Analyse von sozialen Systemen undRollen und waren daran interessiert, eine Sozialisationstheorie zu entwerfen, diezu erklären vermöchte, mit welchen Prozessen Gesellschaften die ›richtige Art‹ vonBürgern produziere: die sich konform zu Normen und Werten der Gesellschaft, inder sie leben, verhalten und die demzufolge als kulturelle Mitglieder der Gesellschaft,in die sie hineingeboren wurden und in der sie zur Reife sich entwickelten,zu betrachten seien. Sie wollten Sozialisation als einen Prozess verstanden wissen,für den zuerst die Familie (Primärsozialisation) und dann gesellschaftliche Institutionenwie die Schule (Sekundärsozialisation) verantwortlich seien; ein Prozessmit Mechanismen der Internalisierung (Einimpfung) von gesellschaftlichen undkulturellen Normen und Werten in Kindheit und Jugend. Dieses Konzept vonSozialisation unterschied sich von dem Durkheims, da es vor allem um die personaleStabilität bei einem Verständnis von Menschen als Produkten kulturellerund gesellschaftlicher Prozesse und nicht als Ausdruck eingeborener Essenzenging. Im Sozialisationskonzept von Parsons wird die Familie als Fabrik gedacht,in der die menschliche Persönlichkeit so produziert wird, dass am Ende die stabilenerwachsenen Personen da sind, die benötigt werden, damit die Gesellschafteffektiv funktioniert (Parsons/Bales, 1955: 16). Parsons hat immerhin bemerkt,dass Sozialisation für die Erwachsenen-Gesellschaft die zentrale Unternehmungin der Kindheit darstellt, ohne dass dies auf diese Periode im Lebenslauf begrenztwäre – und seine Gesellschaftstheorie verstand dies zudem als raison d'etre für dieExistenz der bürgerlichen Kleinfamilie mit klar geschnittenen Geschlechterrollenin Industriegesellschaften:»The term socialization in its current usage inthe literature refers primarily to the process ofchild development. This is in fact a cruciallyimportant case of the operation of what arehere called the mechanisms of socialization,but it should be made clear that the term is hereused in a broader sense than the current oneto designate the learning of any orientationsof functional significance to the operation of asystem of complementary role-expectations. Inthis sense, socialization, like learning, goes onthroughout life. The case of the development ofthe child is only the most dramatic because hehas so far to go« (Parsons 1951:142).Diese Formulierung, mit der Kindheit zur wesentlichen Zeit von Sozialisation unddie Familie als wesentlicher erster Ort von Sozialisation bestimmt wurde, gewannzunehmend an Bedeutung in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sich Sorgen überdie Rekonstruktion gesellschaftlicher Ordnung in den Nachkriegsjahren in denUSA und UK mit Befürchtungen über die Ausbreitung des Kommunismus vomOstblock aus in der Politik des Kalten Krieges mischten.Während dieser Periode arbeiteten Psychologie und Soziologie mit der Figur desKindes unter dem Blick auf eine ›tabula rasa‹, von Durkheim als ›unbeschriebenesBlatt‹ benannt, als ein leeres Gehäuse also, in das von Eltern, Erziehern undanderen glaubwürdigen Erwachsenen die Werte und Normen der Gesellschaftzu füllen seien. Die Funktionalität der Gesellschaft wird durch das Gespenst desasozialen Individuums gequält:308


<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong> Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen KindheitKindlichesHandelnzweckvoll undeffektiv?bestimmte Aktionen entschieden haben. Dies scheint die Vorstellung von Agencyauf bestimmte kognitive und linguistische Entwicklungsstände einzugrenzen unddemzufolge Kinder in vorsprachlichem Alter oder andere, für die das Sprechvermögenproblematisch ist, auszugrenzen. Da Giddens dies mit seiner Vorstellungvon ›Mensch sein‹ verknüpft, würde eine logische Ausdehnung dieser Position zurFolge haben, dass diejenigen, denen dies mangelt, die Menschlichkeit abgesprochenwird. Wir können hier erkennen, wie Giddens Konzept vom ›Mensch sein‹ durchdie Figur des Erwachsenen, der die Absicht und Macht zu handeln hat, präformiertwird – die Figur des rationalen, verantwortlichen Individuums der Moderne. Treffendiese Konzeptualisierungen von Agency zu, befinden sich Kinder dann außerhalbder Felder von Agency und ›Mensch sein‹, wenn ihre Handlungen nicht als intentionaloder in Verbindung mit der Vorstellung, auch auf der Basis von kognitivenFähigkeiten oder sozialer Imaginationskraft anders handeln zu können, wahrgenommenwerden. Der Anspruch der Kindheitsforschung bezüglich der Agency-Problematik steht damit potenziell in einem fundamentalen Spannungsverhältniszur Agency-Konzeptualisierung von Giddens Soziologie. Wenn wir akzeptieren,dass Agency im Zentrum der Vorstellung von ›Mensch sein‹ steht, dann widersprechensich die Vorstellung Kindern als Menschen im Sinne von ›Werdenden‹ (umQvortrups Bestimmung zu nutzen) und die Überzeugung, es müsse möglich sein,Kinder als Handelnde zu betrachten. Wenn Agency zudem die Vorstellung einerzweckbestimmten Handlung einschließt, dann muss den Handlungen von KindernZweckmäßigkeit zugesprochen werden. In welchem Ausmaß ist es aber nötig,anzunehmen, Handelnde müssten fähig sein zu erklären, was sie tun? In welchemAusmaß ist Giddens diskursive Komponente eine kritische Bedingung für die Vorstellungvon ›handlungsmächtig‹ sein? Wenn diese Voraussetzung entfällt, bleibt esdann möglich, kindliches Handeln als zweckvoll und effektiv zu betrachten, sogar imFalle von Kindern in frühen Jahren? Die Antwort auf diese Fragen ist ein simples›Ja‹; und dies schließt auch die frühen Jahre ein. Seit James und Prout ihren Bandvor zwei Jahrzehnten veröffentlicht haben, hat es zahlreiche empirische Studiengegeben, die Aktionen und Interaktionen von Kindern dokumentieren und analysieren(exemplarisch und neu Olli et al. 2012, vgl. die Beiträge in den ZeitschriftenChildhood und Children and Society) oder die Forschungen verkörpern, in denenKinder als Individuen, ausgestattet mit der Fähigkeit, handlungsmächtig zu sein,vorgestellt werden – und dies mit Bezug darauf auch bereits in sehr jungen Jahrendiese Fähigkeit in ihrem Alltagsleben zu zeigen. Die einzige Barriere stellt danndie Frage dar, ob kleine Kinder – zwischen zwei und fünf Jahren etwa – in einerWeise zweckvoll agieren, die sich aufschlüsseln lässt. Es gibt hier ein instruktivesBeispiel: Lam und Pollard (2006) haben das Engagement zweier Kinder oder eherihren Mangel an Engagement im Umgang mit einer vom Erzieher/Lehrer gestelltenAufgabe im Kindergarten analysiert:»Both of these children were reluctant to do prewritingexercises. They avoided it by putting theexercises to the bottom of their priority duringactivity time until the teachers ›caught‹ them.When the teachers addressed them individually,they avoided it by drifting around pretending toget the pre-writing exercises from the shelf ...Throughout the year, they eventually masteredthe skills [that the pre-writing exercises weredesigned to support – JME] but they were amongthe last few children to finish the pre-writing exercises.This example shows that these children …were active, creative and strategic practitionersin the classroom« (Lam/Pollard, 2006: 135).312


<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong> Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen KindheitkindlicheInteraktionenim Raum desKindergartenszu welchen sie aus dem direkten Blick der Erzieher(innen) im Raum gelangen(können). Danby und Baker (1998b) argumentieren mit Bezug auf Grenzen einestraditionellen pädagogischen Verständnisses über die Bedeutung von Kinderspiel:»Young children are routinely propelled into playsituations where they are sometimes out of sightand out of earshot of the teachers. What goes onin those play situations is the very serious workof constructing social order« (Denzin, 1982;Goodwin, 1985, 1990).»On close inspection this work turns out to be intricateand itself orientated to a recognition thatthere is more than one social order to manage.«(Danby and Baker, 1998b: 157).Sie halten fest, dass das, was Kinder erreichen können, durch strukturelle undmaterielle Bedingungen des Settings begrenzt wird – wie die Präsenz von Erwachsenen,die sich in kindliches Handeln einmischen – und betonen, dass ihre eigeneempirische Studie zu kindlichen Interaktionen im Kindergarten zeige, »wie KinderGebrauch von diesen strukturellen Bedingungen (Möglichkeit und Realität derIntervention durch Erzieher(innen)) als Material für ihre Arbeit an der sozialenOrganisation machen« (1998b: 157). In ihrer detaillierten Untersuchung kindlicherInteraktionen im Raum des Kindergartens, die mit Hilfe einer Konversationsanalyseper Video aufgenommener Episoden realisiert wurde, fanden sie folgendes heraus:Wenn ein Kind aufgrund von Peer-Interaktionen (beim Spiel »Auto« oder »Mamaund Papa« etwa) verärgert war, identifizierte die Erzieherin das weinende Kind alsein Problem, das man über eine Wiederherstellung guter Beziehungen zwischenden spielenden Kindern ›zu lösen‹ hatte; dabei wurde die Verantwortung für denÄrger und das folgende Insistieren auf Versöhnung, den ›schuldigen Parteien‹zugeschrieben, die sich sodann entschuldigen sollten oder aufgefordert wurden,das weinende Kind mit einer Umarmung zu trösten. Die schlussendliche Lösungsahen Erzieher(innen) darin, dass Kinder ›nett miteinander spielen‹ und das aufgebrachteKind integrieren sollten. Danby und Baker weisen jedoch darauf hin,dass dies alles ein Problem aus der Sicht von Erzieher(inne)n darstellt, die »von derErwartung von Kooperation und Harmonie ausgehen, die in den Räumen früherKindheit existieren solle« (1998b: 182).Aus kindlicher Sicht auf soziale Ordnung ist das Problem komplexer. In einerInteraktionssequenz mit drei Jungen – Connell, David und John – begann Connellin der Folge des Konfliktes über seine Beteiligung am Spiel mit den anderen beidenin einem bestimmten Bereich des Kindergartens zu weinen. Connells Weinenveranlasste die Erzieherin auf der Bildfläche zu erscheinen und einzugreifen.Sie versuchte, den weinenden Connell zu beruhigen und die Gruppenharmoniewiederherzustellen. Nachdem sie wieder von der Bildfläche verschwunden war,organisierten die Jungen ihren eigenen Ansatz, die Gruppenordung wiederherzustellen,indem David, jenseits der Hörweite der Erzieherin deutlich machte, dasser der Größte sei und damit mehr Rechte als die beiden anderen habe, die jüngerals er seien. David und John widersetzten sich zugleich der Sorgearbeit, die dieErzieherin ihnen im Rahmen ihrer Intervention abverlangt hatte. Auf den Punktgebracht lässt sich festhalten, was Danby und Baker beobachteten: Obwohl die Erzieherinin diese und andere Geschehnisse eingriff und eine Harmonie restaurierenwollte, suchten die Kinder ihre eigenen Lösungen immer dann, wenn sie wiedervon der Bildfläche verschwunden war. Dies geschah, indem sie entweder die vonder Erzieherin begonnene Sorgearbeit aufnahmen – aber in einer abgewandeltenWeise – oder die früheren Interaktionsbedingungen wiederherstellten, ohne dabei316


Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen Kindheit<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong>aber weiteren Ärger zu verursachen und dadurch für die Erzieherin auffällig zuwerden. Danby und Baker folgerten, dass die Kinder sorgfältig ihre Handlungeninszenierten, nachdem die Erzieherin wieder aus dem Spiel war. Dies spreche sehrstark dafür, dass es »eine Disjunktion zwischen der sozialen Ordnung der Kinderund der der Erzieherinnen gebe« (1998b: 181).Während es für Kinder in der mittleren Kindheit inzwischen durchgesetzt ist,sie als soziale Akteure und mit Handlungsvermögen ausgestattet zu betrachten,haben die entwicklungspsychologische und die sozialisatorische Perspektive imBereich der frühen Kindheit unsere Aufmerksamkeit von in Handlungen ausgedrücktemHandlungsvermögen, ihrer Position als sozialen Akteuren und ihrenunterschiedliche Ressourcen – Reden eingeschlossen –, die sie zur Unterstützungihrer Interaktionszwecke einsetzen, abgelenkt. Das ist zum Teil auf einen Mangel anAnerkennung für das zurückzuführen, was in frühkindlichen Interaktionen ›vor sichgeht‹. Wenn Kinder nicht als soziale Akteure betrachtet werden, dann führt dies zueiner ideologischen Abwertung der Legitimität bestimmter Arten von Ressourcen,die Kinder einsetzen – wie etwa Weinen – und zu einer hegemonialen Interpretationvon kindlichem Handeln als Produkt von bzw. Material für Entwicklungsprozesseoder das Sozialisationsprojekt. Sewell (1992) jedoch argumentiert, alle Mitgliedereiner Gesellschaft – wie »notleidend oder unterdrückt« auch immer – verfügtenüber einige Ressourcen, die sie für sich zu mobilisieren imstande seien. Zudem seizu bedenken, dass es, »wenn man menschliche Wesen als Handelnde verstehe, dazugehöre, sie als bemächtigt durch den Zugang zu der einen oder anderen Ressourcezu begreifen« (1992: 7). Bedenkt man dies, dann sind die empirischen und theoretischenFragen, die wir in Bezug auf kleine Kinder zu stellen haben, nicht allein auf dieArt von sozialer Akteurschaft im Rahmen von besonderen Interaktionen gerichtet,oder darauf, welche Art von sozialer Kompetenz beim Widerstand gegen sozialeOrdnungen eingesetzt wird, wessen soziale Ordnung die Vorherrschaft zukommt,sondern auch darauf, welche Art von Ressourcen Akteure in bestimmten Settingsaus sich herausholen, um ihre eigene Agency unter Beweis zu stellen. Diese Fragenumfassen alle Arten von Akteuren in einem Setting, Kinder und Erwachsene, unddas Setting selbst. Die Rolle von Entwicklung ist nur insofern relevant, als diesvon Akteuren und Setting als relevant erachtet wird.Relevanz des Ansatzes für Politik und frühe KindheitAm Beginn dieses Textes stand die Frage, inwiefern die Rahmung von Kindern alssoziale Akteure und die Erforschung ihrer Fähigkeit, handlungsmächtig zu sein,auf Kinder in den frühen Jahren ihres Lebens ausgedehnt werden könne. Ich habeherausgestellt, dies sei eine bedeutende Frage, da bislang im Allgemeinen das Lebenkleiner Kinder über weite Strecken aus der Sicht der herrschenden Paradigmenvon Entwicklung, Familialismus und Sozialisation erforscht und theoretisiert wurde.Diese dominanten Diskurse und Perspektiven lassen die soziologischen Bereichedes Lebens junger Kinder unerforscht und unberücksichtigt. Wenn die Konzepte»sozialer Akteur« und »Agency« für die frühe Kindheit genutzt werden (sollen),so erfordert dies jedoch eine genaue Prüfung der Frage, was diese Konzepte beinhalten,um deren Relevanz und Angemessenheit für das Leben kleiner Kindereinschätzen zu können.HegemonialeInterpretationvonkindlichemHandeln317


<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong> Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen KindheitBedeutungenfür Politik und<strong>Praxis</strong>Führt man etwa aus, was das Konzept von Agency beinhaltet, wie es von Giddensentfaltet wird, dann wird deutlich, dass es nicht ›ganzheitlich‹ in eine Soziologiefrüher Kindheit importiert werden kann und die Frage sozialer Kompetenz vonhöchster Relevanz ist. Die Klärung der Frage, ob eine Handlung zielgerichtet sei,muss wie auch die nach der Art von Handlung sowie die nach der Performanz insozialen Ordnungen von Settings (samt Folgen) mithilfe harter empirischer Arbeitangegangen werden. Dies stellt keine Differenz zu dem dar, was im Falle andererGruppen von sozialen Akteuren nötig ist, um die Frage nach deren Fähigkeitenund strukturellen Bedingungen zu klären, unter denen sie leben und handeln undangesichts derer sie handlungsmächtig sind. Kleine Kinder könnten jedoch infolgevon drei Mechanismen viel größeren Begrenzungen unterliegen als viele anderegesellschaftliche Gruppen: Das eine ist die Institutionalisierung ihres Lebens;das zweite ist die intergenerationell vermittelte Dominanz in ihren Beziehungen,innerhalb derer ihnen die Position sich entwickelnder Akteure zugewiesen wird,so dass alle ihre Handlungen als Material für Lernen und Korrekturen reinterpretiertwerden; das dritte ist ihr begrenzter Zugang zu Ressourcen, die sie zurUnterstützung ihrer eigenen Absichten einsetzen. Dagegen gibt es überzeugendeempirische Nachweise der Fähigkeit kleiner Kinder, sozial kompetent in höchstkomplexen und sozial geordneten Weisen zu handeln, in Settings, die mehrebenenmäßigoperieren und soziale Ordnungen herstellen. Dies geht einher mit demVerweis auf die Bedeutung struktureller Begrenzungen dieser Fähigkeit in denverschiedenen Settings, in denen sie leben. Zusammenhänge zwischen diesenBereichen sind verantwortlich für Erfolge oder Fehlschläge individueller Kindermit Bezug auf ihre Handlungsfähigkeit. Wenn man dies anerkennt, versteht manin einer soziologischen Weise sowohl ihre Position als soziale Akteure als auch dieBedeutung dieser Positionierung im Rahmen der Herstellung sozialer Ordnungen.Wenn man diese Position vertritt, stellt sich die Frage nach deren Bedeutung fürPolitik und <strong>Praxis</strong>. Mit den Ansätzen von sozialem Akteur und sozialer Kompetenzeröffnen sich Gelegenheiten, die Kindern eigenen Perspektiven auf ihr Leben inPolitik und Interventionen einzubinden, um zu einem reicheren und nuancierterenVerständnis jener Probleme zu gelangen, mit denen Politik und <strong>Praxis</strong> in Bezug auffrühe Kindheit befasst sind. So lässt sich etwa zeigen, dass es der neu auftretendenBetonung der Bedeutung von frühkindlicher Erziehung/Bildung und Sorge in einemeuropäischen Kontext an jenen Einsichten mangelt, die sich in den Arbeiten vonEvans und Fuller (1998), Stephen (2003), Stephenson (2009) und Cremin und Slatter(2004) auffinden lassen, wenn es um die Erforschung kindlicher Wahrnehmungenihrer Kindergärten und ihrer Erlebnisse wie Erfahrungen in Kindertagesstättengeht. In ähnlicher Weise würde eine Politik der Armutsbekämpfung von einembesseren Verständnis der Armutserfahrung von Kindern in Kindergärten profitieren(Ridge, 2011), und die Forschung zu Kindern eigenen Perspektiven auf ihr Wohlbefinden,wie von Crivello et al. (2009) vorgelegt, stellt einen äußerst wertvollenBeitrag zur Analyse sozialer Probleme und von Politikentwicklung dar. Gillespie(2012) hat gezeigt, wie die Einbindung von Kindern in Stadtplanung nicht nur diePlanung verbessert, sondern auch das theoretische Verständnis von städtischenRäumen und Plätzen.In einer noch herausfordernden Weise zeigt Marchant (<strong>2013</strong>), dass Kinder imAlter von zwei Jahren in der Lage sind, vor Gericht als Opfer von Gewalt und/oder sexueller Ausbeutung auszusagen. Abschließend lässt sich mit Hilfe von318


Moran-Ellis, Soziologische Reflexionen zur Frühen Kindheit<strong>np4</strong>/<strong>2013</strong>Forschungen aus dem Bereich der Disability-Studien die Annahme korrigieren,Kinder müssten erst über bestimmte linguistische Fähigkeiten verfügen, bevorsie soziale Akteure sein bzw. ihre Handlungen im Rahmen von Sozialkompetenzund Agency verstanden werden können. Von besonderer Relevanz ist hier derBeitrag von Davies (1998), der über die Bedeutungswelten von Kindern mit Lernschwierigkeitenforschte sowie der von Badham (2004), der über den Beitrag vonKindern zur Entwicklung von Forschungsfragen arbeitete. Wie sich zeigt, gibt esvielfältige Beiträge zur Forschung mit kleinen Kindern; kreative Methoden wurdeneingesetzt, um ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Perspektiven zu erforschen, umihren Status als soziale Akteure und ihren Umgang mit sozialer Kompetenz undihren Handlungszielen zu entziffern. Gleichwohl scheint es immer noch so, dassüberzeugende Argumente gegen jenes Ver- und Beschweigen gebraucht werden,welches aus der Anwendung des Entwicklungsdenkens resultiert.Schlussendlich gibt es ein Beispiel für eine direkte Übertragung von Forschungsergebnissenin politische Empfehlungen mit der Studie von Connolly et al. (2002),in der das kulturelle und politische Bewusstsein von Kindern im Alter zwischen dreiund sechs Jahren in Nordirland erforscht wurde. Die Autoren fanden heraus, dass esentscheidend war, Kinder vom Alter von wenigstens drei Jahren an zu ermutigen,»Differenz und kulturelle Vielfalt wertzuschätzen und zu respektieren« (2002: 6);dabei an negativen sektirerischen Stereotypen und Vorurteilen zu arbeiten, stelltesich als relevant ab einem Alter der Kinder von fünf Jahren an heraus.FazitMit der Idee, Kinder seien handlungsmächtig, muss sorgfältig umgegangen werden,damit sichergestellt ist, dass die Forschung sich gehaltvoll mit dem Zusammenspielvon intergenerationeller Ordnung, anderen Machtbeziehungen und den Folgenstruktureller Bedingungen befasst. An dieser Stelle mag eine Vorstellung übersoziale Kompetenz ebenso nützlich sein wie das Konzept von Agency, wenn es alseine Weise, zweckvolle Handlungen zu konzeptualisieren, verstanden wird, aberohne die Notwendigkeit der diskursiven Zurechenbarkeit durch einen individuellenAkteur. Während modernistische Perspektiven auf Kindheit das Kind irgendwozwischen Natur und Kultur lokalisieren, haben unsere Ansätze schließlich anzuerkennen,dass Kinder handeln und sich vom Beginn ihres Lebens an in einersozialen Welt befinden und darin leben, so dass unsere Forschungsmethoden sichdaran zu orientieren haben.Wenngleich die Agency- und Kompetenzperspektive immer als eine empirisch zudiskutierende Problematik verortet wird, ist es doch wichtig anzuerkennen, dass mitdieser Sicht ein Klima geschaffen wird, in dem die Erlebnisse und Welterfahrungenvon Kindern einen Zugewinn nicht allein für das Verstehen besonderer Phänomenein einer umfassenderen Weise, sondern auch für den Zweck gewinnen, das Lebenvon Kindern, wie es von Kindern in der Gegenwart erfahren wird, einzubinden,um darauf Pläne und Aktionen aufzubauen, die ihr Leben und die Bedingungenfür die ganze Gesellschaft verbessern.(Übersetzung aus dem Englischen von Heinz Sünker)319


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