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AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Rechtsprechung StrafrechtMehrfache Korrektur des RücktrittshorizontsBGH, Urteil vom 01.12.2011 (Guido Philipp Ernst) Seite 106Beurteilung der Schuldfähigkeit: Bedeutung der BlutalkoholkonzentrationBGH, Beschluss vom 29.05.2012 (Guido Philipp Ernst) Seite 111Rechtsprechung Öffentliches RechtBezeichnung eines Rechtsanwalts als „rechtsradikal“BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 (Christian F. Majer) Seite 118Betrieb eines „Bier-Bikes“ auf öffentlichen StraßenBVerwG, Beschluss vom 28.08.2012 (Jochen Heinz) Seite 124Wenn Politik auf Recht trifft…VG Stuttgart, Beschluss vom 18.06.2012 (Jochen Heinz) Seite 1282


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________ImpressumRedaktionBenjamin BaischDominique BeckAmela CausevicPius DolzerGuido Philipp ErnstRA Steffen FollnerFabian FrizRAin Karin HummelLina KammererDr. Philipp KaufmannRA Andreas LohbeckRA Dr. Christian F. Majer(Schriftleiter)RA Dr. Paul PopescuGabriel Schmidt(Stellvertr. Schriftleiter)Philipp TrautmannAnna VögeleinRAin Stephanie WalzJulian WeippertRA Marian Wieczorke(Stellvertr. Schriftleiter)Julia ZaiserHerausgeberVerein der <strong>Zeitschrift</strong> JSE e.V.c/o RA Dr. Christian F. MajerPoststraße 2D-72072 TübingenVereinsvorstand:RA Dr. Christian F. Majer(Vorsitzender)RA Marian Wieczorke(Stellvertr. Vorsitzender)Gabriel Schmidt(Schatzmeister)Guido Philipp Ernst(Ressortleiter Strafrecht)E-Mailredaktion@zeitschrift-jse.deISSN 2195-044XBeiratRA Dr. Felix E. BuchmannProf. Dr. Jörg EiseleRAin Dr. Tabea Yasmine GlemserProf. Dr. Volker HaasRA Dr. Roland Haberstroh, LL.M. (Boston University)RD Jochen HeinzProf. Dr. Antonios Karampatzos, LL.M (Tübingen)RA Prof. Rainer KirchdörferProf. Dr. Alexander ProelßProf. Dr. Gottfried SchiemannProf. Dr. Jan SchürnbrandRichter Dr. Dominik SkauradszunRiOLG a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. Rolf StürnerRiLG Dr. Felix Tausch, Mag. rer. publ.PD Dr. Christian TraulsenRA Dr. Werner WalkRA Dr. Andreas Wax, Maître en droit (Aix-Marseille)RA Prof. Dr. Gerhard Wegen, LL.M. (Harvard)MR Prof. Dr. Rüdiger Wulf4


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________RA Andreas Lohbeck ∗Die geplante Partnerschaftsgesellschaftmit beschränkterBerufshaftung – von irdischerSchwere und deutschem BerufsrechtI. Einleitung„So verleiht die sie begleitende „Haftung“der „Schuld“ gleichsam die irdischeSchwere!“ – Diesen Satz hat uns JuristenKarl Larenz hinterlassen. 1 Er drückt aus,welche Funktion dem Haftungsrechtzukommt. Das Recht tritt an dieRechtsgenossen als Pflicht heran. Notfallsunterwirft es deren Erfüllung demZwang. Soll das Zusammenleben funktionieren,müssen die RechtsgenossenPflicht und Zwang anerkennen. DenInteressenausgleich zwischen Recht,Pflicht und Zwang leisten der Gesetzgeber,die Verwaltung und die Rechtspflege.∗ Der Autor ist Rechtsanwalt im FachbereichGesellschaftsrecht/M&A im Stuttgarter Büroder Kanzlei CMS Hasche Sigle. Der Beitrag istseinem Vater Dr. iur. Eckhart Lohbeck,Rechtsanwalt in Heilbronn, in Dankbarkeit undtiefer Verbundenheit gewidmet.1 Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band 1,Allgemeiner Teil, 14. Aufl., München 1987,§ 2 IV.Die Anwaltschaft trägt hierzu wesentlichbei. § 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung(BRAO) deklariert den Rechtsanwaltals unabhängiges Organ derRechtspflege. Der Rechtsanwalt ist nach§ 3 BRAO der berufene unabhängigeBerater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten.Der Gesetzgeber verwendetdiese bedeutungsschwerenWorte jedoch nicht, um der BRAO eineschmeichelnde Widmung an ihre Adressatenvoranzustellen.Vielmehr klingt aus diesen Worten bereits,dass Rechtsanwälte besondereVerantwortung für Wohl und Weheihrer Klientel übernehmen. Deshalbhaften Anwälte für berufliche Fehlerbesonders streng. Dies gilt für den Einzelanwaltebenso wie für Sozietäten.Nun plant die Bundesregierung, Zusammenschlüssevon Anwälten alsRechtsform einer Partnerschaftsgesellschaftmit beschränkter Berufshaftung(PartG mbB) zu ermöglichen. 2 Mit derVerabschiedung des Gesetzentwurfs istim Frühjahr 2013 zu rechnen.Der folgende Beitrag zeichnet den Wegnach, der zum Gesetzentwurf führte,2 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einerPartnerschaftsgesellschaft mit beschränkterBerufshaftung und zur Änderung des Berufsrechtsder Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberaterund Wirtschaftsprüfer vom 15.08.2012,BT-Drucks. 17/10487. Der Beitrag beschränktsich auf die berufliche Situation der Rechtsanwälte.5


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________und beleuchtet rechtspolitische Aspekteder vorgeschlagenen Lösung. Dabeisteht die Frage im Mittelpunkt, ob sichdie geplante PartG mbB und die besonderePflichtenstellung des Rechtsanwaltsvereinbaren lassen. Oder andersausgedrückt: Wie schwer ist die irdischeSchwere, wenn sie im Rahmen derBerufshaftung beschränkt sein kann?II. Haftung, Schuld und irdischeSchwereDer Zusammenhang zwischen Pflicht,Pflichtverletzung, Schuld und Haftungist eines der tragenden Prinzipien desZivilrechts: Menschen machen Fehler.Ereignisse geschehen. Wenn jemanddadurch Schaden nimmt, ist die Frage,ob er diesen selbst tragen muss. Das istvon Rechts wegen der Regelfall: Casumsentit dominus. Schäden an einem Gegenstandwerden primär von dessenInhaber getragen. 3 Erst wenn und soweitein Haftungstatbestand greift,kann er seinen Schaden auf einen anderenabwälzen. 4 Das Unrecht bildet denHaftungsgrund; ein Verschulden begründetdie Schadenszurechnung. 5 DerGeschädigte kann den Schädiger not-3 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts,Band 2, Besonderer Teil, 2. Halbband, 13. Aufl.,München 1994, § 75 I 2. a); Deutsch/Ahrens,Deliktsrecht, 5. Aufl., Köln 2009, Rn. 1.4 Deutsch/Ahrens, Deliktsrecht, 5. Aufl., Köln2009, Rn. 5; Canaris, VersR 2005, 577 (581).5 Hager, in: Staudinger, BGB, Bearb. 1999, Vorbemzu §§ 823 ff Rn. 24 f.falls per Zwangsvollstreckung dazuzwingen, sein Vermögen wiederherzustellen.Larenz malt uns dafür das Bildder irdischen Schwere in die Köpfe.III. Haftung des Anwalts und haftungsbeschränkteGesellschaft – einWiderspruch?Herkömmlich lastet die Schwere besondersstark auf den Schultern desRechtsanwalts. Und herkömmlich könnenhaftungsbeschränkte Gesellschaften– salopp gesprochen –leichtfüßigerdurchs Leben gehen als natürliche Personen.1. Prinzipien der AnwaltshaftungWarum lastet die Schwere besondersstark auf den Rechtsanwälten? EinRechtsanwalt muss breite Schulternhaben, weil er – haftungsrechtlich –eine Idealfigur ist.Die Haftungsgrundlage bildet regelmäßigein zwischen Rechtsanwalt undMandant abgeschlossener Anwaltsvertrag.Verletzt der Anwalt seine Pflichten,die aus diesem Vertrag resultieren,und erleidet sein Mandant dadurch einenSchaden, schuldet der AnwaltSchadensersatz nach § 280 I 1 BGB. Diesgilt nach § 280 I 2 BGB nicht, wenn derAnwalt beweisen kann, dass ihn keinVerschulden trifft.6


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Die Haftungsgrundlage unterscheidetsich auf den ersten Blick nicht von beliebigenanderen Verträgen. Sieht manaber näher hin, werden brisante Unterschiededeutlich: Der Anwalt hat quaGesetz eine besondere Pflichtenstellung.Er überschreitet die Schwelle zurFahrlässigkeit früher als die meistenanderen Schuldner. Deshalb ist er imVergleich leichter für Schäden haftbarzu machen, die aus seiner Berufsausübungfolgen.Rechtspolitischer Hintergrund derstrengen Haftungsregeln für Rechtsanwältesind die besonderen Sorgepflichtenfür das dem Anwalt anvertrauteVermögen seines Mandanten. 6 Rechtsanwältesollen für enttäuschtes Vertraueneinstehen. Sein und Sollen liegenhier jedoch oft weit auseinander.Dass mehr Idealisierungen und wenigerrechtstatsächliche Befunde die Federführen, zeigen bereits wenige gängigeFormeln zur Anwaltshaftung: 7 „DerRechtsanwalt hat die Verpflichtung,den Mandanten umfassend und möglichsterschöpfend zu beraten.“ DerRechtsanwalt muss „blitzschnell in dermündlichen Verhandlung reagieren“,„eine umfassende Rechtsprüfung ohneRechtsirrtum vornehmen“, „auch dasGericht über dessen Irrtümer belehren“,„selbst die abgelegensten Rechtsvorschriftenkennen“, „den Mandantenauch über Möglichkeiten belehren, vondenen nicht erkennbar ist, ob sie seinenMandanten jemals bedeutsam werden“,und schließlich „immer den sicherstenund gefahrlosesten Weg beschreiten.“Die Aufzählung zeigt: Der Rechtsanwaltpflegt eine latente Nähe zur irdischenSchwere der Schuld.2. Prinzipien gesellschaftsrechtlicherHaftungsbeschränkungAnders sieht das bei den Gesellschafterneiner haftungsbeschränkten Gesellschaftaus.Bekanntlich haften juristische Personenmit ihrem eigenen Vermögen, vgl. etwa§§ 13 II GmbHG, 1 I 2 AktG. Das Vermögender Gesellschafter ist vom Vermögender Gesellschaft getrennt. 8 Die Gesellschafterhaften deshalb in der Regelnicht persönlich für Verbindlichkeitender Gesellschaft.Eine besondere Haftungsbeschränkunggilt auch für Kommanditisten. DerKommanditist hat für die Verbindlichkeitender Gesellschaft zwar mit seinemgesamten Vermögen einzustehen – aber6 Borgmann, in: Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 10. Aufl., München 2011, § 51 Rn. 3.7 Borgmann, in: Beck’sches Rechtsanwalts-Handbuch, 10. Aufl., München 2011, § 51 Rn. 2,4 f. m.w.N.8 Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck,GmbHG, 19. Aufl., München 2010, § 13 Rn. 5m.w.N.7


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Die Rechtsform der GmbH & Co. KG 13wäre deutlich besser geeignet. Ihre Anerkennungals Zusammenschluss fürRechtsanwälte hat der BGH jedoch abgelehnt.14 Handelsrechtlich steht § 161 IHGB im Wege. Hiernach setzt die KGzwingend den Betrieb eines Handelsgewerbesvoraus. Nach § 2 II BRAO istder Anwaltsberuf aber gerade kein Gewerbe.Berufsrechtlich sind gleich mehrereHindernisse zu überwinden: § 59aBRAO lässt als Sozien nur natürlichePersonen zu, § 59c II BRAO verbietetfür die Anwalts-GmbH die Beteiligungvon Rechtsanwaltsgesellschaften.Deshalb müsste der Gesetzgeber einschreitenund für die Gründung einerRechtsanwalts-GmbH & Co. KG entsprechendeVoraussetzungen schaffen.4. Haftungskrise der Freien BerufeDas Verhältnis zwischen Mandant undAnwalt durchlief in den vergangenenJahren einen schleichenden Kulturwandel.Anwälte sehen sich immer häufigerRegressforderungen ausgesetzt. 15 DasRisikomanagement ist in größerenKanzleien vielfach streng organisiert. 16Die Gründe sind vielschichtig: WährendAnwälte die steigende Komplexität vonMandaten und die unüberschaubareFlut rechtlicher Bestimmungen verantwortlichmachen, beobachten Unternehmensjuristenein gestiegenes Bewusstseinfür Haftungsfragen. 17 Jedenfallssind Unternehmen stärker als früherbereit und verpflichtet, auf mutmaßlicheFalschberatung zu reagieren. 18So ist es nicht verwunderlich, dass sich71 % der Anwälte in Deutschland im Jahr2011 dafür aussprachen, eine haftungsbeschränkteForm der Personengesellschaftfür Freiberufler einzuführen. 195. Erster BefundDamit lässt sich festhalten: Die FreienBerufe sind immer größeren undschlecht beherrschbaren Haftungsrisikenausgesetzt. Es besteht ein Bedürfnis,diese Risiken zu begrenzen. 20 Andernfallskönnte aus der Anwaltshaftungin Form der verschuldensabhängigenRichtigkeitsgewähr ein Instrumentder garantieähnlichen Schadloshaltungwerden. Eine klare, ergebnisorientierte13 Hierzu ausführlich Henssler, NZG 2011, 1121(1121 ff.); Karsten Schmidt, DB 2009, 271 (271 ff.).14 Römermann/Praß, NGZ 2012, 601 (602). Bezeichnend:Das BVerfG hatte die Verfassungsbeschwerdemangels ausreichender Begründungnicht zur Entscheidung angenommen, vgl.BVerfG, NJW 2012, 993 ff.15 Kilian, NZG 2000, 1008 (1009 f.) spricht anschaulichvon doomsday claims; vgl. ferner Jatzkowski,JUVE Rechtsmarkt 06/12, 53 (53 ff.).16 Barth, JUVE Rechtsmarkt 12/12, 40 (41 ff.).17 Jatzkowski, JUVE Rechtsmarkt 06/12, 53 (55).18 Jatzkowski, JUVE Rechtsmarkt 06/12, 53 (55).19 Kilian, NJW 2011, 3413 (3415); ders., AnwBl2012, 957 (957 ff.) unter Verweis auf eine Studiedes Deutschen Anwaltvereins und des SoldanInstituts.20 So auch die Begründung zum Gesetzentwurf(oben Fn. 2), S. 1.9


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________und nützliche Beratung könnte vonständigen Schutzmaßnahmen gegenHaftungsgefahren überlagert und damitentwertet werden. Dies ist indes nichtder Sinn der Anwaltshaftung. HaftungsbeschränktePersonenhandelsgesellschaftenstehen der Anwaltschaftnicht offen. Wer sich von der irdischenSchwere mithilfe der Anwalts-GmbH zuentfernen versucht, findet sich den genanntenNachteilen gegenüber.IV. Die Partnerschaftsgesellschaft delege lataDer Gesetzgeber hat versucht, den Bedürfnissender Freien Berufe mit der1995 eingeführten Partnerschaftsgesellschaft(PartG) gerecht zu werden. 211. Strukturmerkmale der PartnerschaftsgesellschaftDie PartG ist eine Personengesellschaftund als solche ein Unterfall der Gesellschaftbürgerlichen Rechts (GbR). Nach§ 1 IV PartGG finden §§ 705 ff. BGB aufdie PartG Anwendung, soweit dasPartGG keine abweichende Regelungtrifft.Die PartG steht nach § 1 I PartGG nurden Angehörigen Freier Berufe offen.Sie führt nach § 2 PartG einen gemeinsamenNamen. Die Rechtsform ist für21 Gesetz über PartnerschaftsgesellschaftenAngehöriger Freier Berufe vom 25. Juli 1994(PartGG), in Kraft getreten am 1. Juli 1995.den Rechtsverkehr durch den Zusatz„Partnerschaft“ oder „und Partner“kenntlich zu machen. Das Innenverhältnisder Partner untereinander istvorbehaltlich anderweitiger Regelungenim Partnerschaftsvertrag nach§ 6 PartGG weitgehend dem Recht derOHG unterstellt. Die PartG ist zur Eintragungin das Partnerschaftsregisteranzumelden. Im Außenverhältnis wirddie PartG nach § 7 I PartGG durch Eintragungin das Partnerschaftsregisterwirksam. Nach § 7 II PartGG i.V.m.§ 124 HGB tritt die Partnerschaft unterihrem Namen im Rechtsverkehr auf,kann Verbindlichkeiten eingehen undunter ihrem Namen vor Gericht klagenund verklagt werden. Sie ist demnachrechtsfähig.2. Haftung der Gesellschaft und ihrerGesellschafterDie Außenhaftung für Verbindlichkeitender Partnerschaft ist in § 8 I, IIPartGG geregelt:„(1) Für Verbindlichkeiten der Partnerschafthaften den Gläubigern neben demVermögen der Partnerschaft die Partnerals Gesamtschuldner. Die §§ 129 und 130des Handelsgesetzbuchs sind entsprechendanzuwenden.(2) Waren nur einzelne Partner mit derBearbeitung eines Auftrags befaßt, sohaften nur sie gemäß Absatz 1 für beruflicheFehler neben der Partnerschaft;10


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________ausgenommen sind Bearbeitungsbeiträgevon untergeordneter Bedeutung.“a) Grundregel der akzessorischenGesamtschuldIn Personengesellschaften ist das Gesellschaftsvermögenrechtlich gebundenesSondervermögen, das den Gesellschafternin ihrer Verbundenheit („zurgesamten Hand“) gehört. § 8 I 1 PartGGdrückt aus, was schon aus diesemGrundsatz und aus der Rechts- und Parteifähigkeitnach § 7 II PartGG folgt.Die Gläubiger können ihre Forderungengegen die Gesellschaft geltend machen.Ihnen steht das Gesellschaftsvermögenzum Begleichen der Forderungen zurVerfügung.Was sich für die OHG aus § 128 HGBergibt, enthält § 8 I PartGG ebenfalls:Alle Partner haften daneben als Gesamtschuldnerfür Verbindlichkeitender Partnerschaft. Ein Gläubiger kannalso die Gesellschaft oder gemäߧ 421 BGB beliebig viele ihrer Partnerverklagen. Er darf jedoch insgesamt nureinmal die geschuldete Leistung erhalten.Der Betrieb von Anwaltssozietäten erfordertmeist nur geringe Investitionen.Deshalb verfügen Partnerschaftsgesellschaftenin der Regel nicht über einumfangreiches Gesellschaftsvermögen.22 Die wirtschaftliche Konsequenzder in § 8 I PartGG angeordneten Gesamtschuldist deshalb gravierend. DerGläubiger muss nicht gegen die Gesellschaftvorgehen, sondern darf Ansprüchein voller Höhe gegen einen Partnergeltend machen. 23b) Sonderregel der Haftungskonzentrationfür berufliche Fehler§ 8 II PartGG schafft für berufliche Fehlereine Ausnahme zur akzessorischenHaftung aller Partner. Waren nur bestimmtePartner mit der Mandatsbearbeitungbefasst, haften neben dem Gesellschaftsvermögennur die befasstenPartner. Für alle anderen Verbindlichkeitenhaften die Partner mit ihremPrivatvermögen akzessorisch nach§ 8 I PartGG. Berufliche Fehler bildenjedoch typischerweise die größten Haftungsrisikenin Anwaltssozietäten.Die Haftungskonzentration klingt insoferngut, als das Gesetz diejenigen vonder Haftung befreien soll, die den Schadendes Mandanten nicht herbeigeführthaben. Die Regelung birgt jedoch beinäherem Hinsehen zahlreiche Tücken.Viele Zweifelsfragen sind bis heute ungeklärt,andere hat die Rechtsprechung22 Römermann/Praß, NZG 2012, 601 (603).23 Hahn/Naumann, WM 2012, 1756 (1757). Vgl.zur Gesamtschuld und zum Gesamtschuldnerregressz.B. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts,Band 1, Allgemeiner Teil, 14. Aufl., München1987, § 37.11


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________für die Anwälte nachteilig entschieden.Beispielsweise hat der BGH jüngst geurteilt,dass nach § 8 II PartGG ein Partnerselbst dann persönlich hafte, wenner erst nach Auftreten des Fehlers hinzugezogenwurde und feststeht, dass erdie Situation nicht mehr hätte rettenkönnen. 24 Auf Kausalität komme esnicht an. 25 Diese extensive Auslegungwiderspricht dem Ziel, das der Gesetzgebermit Einführung des § 8 II PartGGverfolgte. 263. Zweiter BefundDie PartG bietet keine eigentliche Haftungsbeschränkung,sondern lediglicheine Privilegierung nicht befasster Partner.Der einzelne Partner ist der irdischenSchwere genauso nah, wie wenner in einer GbR tätig wäre. Er haftet nurnicht für die beruflichen Fehler andererPartner mit.V. Rechtsformwettbewerb: PartGund britische LLPDie PartG erfreut sich gleichwohl großerBeliebtheit: In Deutschland gab esAnfang 2012 rund 3.000 Partnerschaftenvon Rechtsanwälten; dem standen 53524 BGH, NJW 2010, 1360 (1360).25 BGH, NJW 2010, 1360 (1361); a.A. teilw. dieLiteratur, vgl. Henssler, in: PartGG, 2. Aufl.,München 2008, § 8 Rn. 64 m.w.N.; dagegenHahn/Naumann, WM 2012, 1756 (1758 f.).26 Römermann/Praß, NZG 2012, 601 (602); fernerHellwig, NJW 2011, 1557 (1558).Anwalts-GmbHs gegenüber. 27 Die PartGscheint also trotz der Haftungsnachteilefür die Mehrzahl der Sozietäten gegenüberder Anwalts-GmbH vorzugswürdig.In jüngerer Zeit trat jedoch mehr oderminder überraschende Konkurrenz fürdie PartG auf den Plan: die britischelimited liability partnership, kurz: LLP. 28Anwälte können in Deutschland gemeinsamin der Rechtsform der LLP amMarkt auftreten.1. Europarechtlicher HintergrundOhne europarechtliche Einflüsse aufdas deutsche Recht wäre dies nichtmöglich gewesen. In ständiger Rechtsprechunggalt in Deutschland in Fragendes internationalen Gesellschaftsrechtsdie Sitztheorie. 29Danach werden die wesentlichen gesellschaftsrechtlichenFragen nach demRecht des tatsächlichen Sitzes der Verwaltungder Gesellschaft beantwortet.27 Vgl. Pressemitteilung der BundesrechtsanwaltskammerNr. 2 vom 30. März 2012, abzurufenunter http://www.brak.de/fuer-journalisten/pressemitteilungen-archiv/2012/presseerklaerung-2-2012/, zuletzt abgerufen am 6. Januar 2013.28 Eingeführt durch den Limited Liability PartnershipsAct 2000, der am 6. April 2001 in Krafttrat. Ähnliches gilt für die U.S.-amerikanischeLLP, die je nach Bundesstaat unterschiedlichausgestaltet ist, vgl. Weller/Kienle, DStR 2005,1060 (1060).29 Vgl. Kindler, in: Münchener Kommentar zumBGB, Band 11, 5. Aufl., München 2010, IntHGRRn. 420 ff.12


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Der Hauptzweck der Sitztheorie warder Schutz des inländischen Geschäftsverkehrsvor unseriösen Auslandsgründungen(sog. Race to the bottom) unddie Sicherstellung des numerus claususder Gesellschaftsformen. 30Die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzeseiner Gesellschaft nachDeutschland führte danach zu einemStatutenwechsel. 31 Wäre eine LLP nachDeutschland umgezogen, hätte sie ihrenRechtscharakter als LLP verloren.Denn das deutsche Recht sah keine LLPvor. Sie wäre zu einer deutschen GbRmit den entsprechenden Haftungsfolgengeworden.Der EuGH machte dieser gefestigtenRechtsprechung durch die EntscheidungenCentros im Jahr 1999, Überseeringim Jahr 2002 und Inspire Art imJahr 2003 Schritt für Schritt ein Ende. 32Der EuGH verhalf der Gründungstheoriezur Geltung, indem er urteilte, dassdie in Art. 49 bis 55 AEUV europarechtlichgarantierte Niederlassungsfreiheitauch auf in der Europäischen Uniongegründete Gesellschaften anzuwendenist, wenn diese ihren Hauptsitz in einemMitgliedsstaat haben. Der BGH hatdiese Rechtsprechung inzwischen30 Näher hierzu Kindler ebd.31 BGH, NJW 1986, 2194 (2194).32 EUGH, NJW 1999, 2027 ff. – Centros; EuGH,NJW 2002, 3614 ff. – Überseering; EuGH,NJW 2003, 3331 ff. – Inspire Art.durch verschiedene Urteile in das deutscheRecht überführt. 33Eine Gesellschaft gewinnt danach ihreExistenz aus der Gründung in einemLand. Zieht sie mit ihrem tatsächlichenVerwaltungssitz um, verliert sie nichtdie Struktureigenschaften, die ihr dasRecht des Gründungsorts verliehen hat.Auf Grundlage dieser Rechtsprechunghaben sich zahlreiche deutsche Anwaltskanzleienals britische LLP formiert,um in Deutschland Rechtsberatunganzubieten. 342. LLP im Vergleich zur PartGDie LLP ist gesellschaftsrechtlich einHybrid: Sie ist zwar formal eine Personengesellschaft(partnership), der Sachenach aber eine juristische Person (corporatebody). 3533 BGHZ 154, 185 (189); BGH, NJW 2005, 1648 ff.34 Schulze, jurisPR-HaGesR 10/2012 Anm. 1;Dahns, NJW-Spezial 2011, 574 (574); Hellwig,NJW 2011, 1557 (1558); Salger, DB 2012, 1794(1794); zweifelnd Grunewald, ZIP 2012, 1115 (1116),sowie Stellungnahme des Deutschen RichterbundesNr. 11/12, abzurufen unterhttp://www.drb.de/cms/index.php?id=765,zuletzt abgerufen am 6. Januar 2013. Kilian,NJW 2011, 3413 (3415), zählt unter den 70 größtenKanzleien in Deutschland insgesamt 25 LLPnach britischem oder U.S.-amerikanischemRecht.35 Weller/Kienle, DStR 2005, 1060 (1062 f.);Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393 (1394); Triebel/Silny,NJW 2008, 1034 (1034). Sie wird inDeutschland gleichwohl wie eine Personenge-13


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Der entscheidende Unterschied zurPartG liegt darin, dass die LLP als eigenesRechtssubjekt wie eine juristischePerson haftet. Jedoch liefert das englischeDeliktsrecht eine wesentlicheAusnahme zu diesem Grundsatz: Währendin Deutschland die fahrlässige Deliktshaftungbekanntlich auf die in§ 823 I BGB geschützten Rechte undRechtsgüter beschränkt ist, kennt dasenglische Deliktsrecht den tort of negligence,eine fahrlässige Vermögenshaftung.Hat der Anwalt eine persönlicheLeistungsverantwortung (assumption ofresponsibility) übernommen und verletzter die bei der Mandatsbearbeitunggeschuldete Sorgfaltspflicht (duty ofcare), haftet er für hieraus entstandeneSchäden. 36 Die Haftung folgt nicht ausder Gesellschafterstellung, sondern ausder Handlung des Anwalts.Umstritten ist, ob das englische Deliktsrechtauch auf LLP angewendetwerden kann, die in Deutschland tätigsind. Dies beurteilt sich nach dem internationalenPrivatrecht (IPR). Regelmäßigfindet nach Art. 4 Rom-II-VOdeutsches Deliktsrecht Anwendung,wenn ein Schaden in Deutschland eintritt.37sellschaft besteuert, vgl. Eilers, IStR 2008, 22(22 ff.); Kienle/Weller, DStR 2005, 1102 (1103).36 Kilian, NZG 2000, 1008 (1013).37 Servatius, in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht,1. Aufl., München 2011, IntGesR Rn. 29.Namhafte Stimmen im Schrifttum wendenhiergegen ein, durch die Anwendungdes deutschen Deliktsrechts stündendie Partner besser, als wenn dieLLP im Heimatland tätig wäre. 38 UmWertungswidersprüche aufzulösen, verfügedas IPR über das Instrument derAnpassung. 39 Die Lösung sei darin zusuchen, den tort of negligence dem englischenGesellschaftsrecht zuzuschlagen,so dass die LLP dieses Haftungskonzeptaus dem Heimatland mitbringe.40Nach überwiegender Ansicht imSchrifttum haftet ein Partner einer englischenLLP in Deutschland jedoch „lediglich“nach deutschem Deliktsrecht. 41Die Vertreter argumentieren überzeugend,das englische Deliktsrecht seiunspezifischer Bestandteil der Haftungsverfassungder LLP. Die Anwendungenglischen Deliktsrechts würdedazu führen, dass hier tätige LLPschlechter behandelt würden als einheimischeGesellschaften. Dadurch wi-38 Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393 (1395)m.w.N.39 Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393 (1396 f.),auch zur Methode der Anpassung40 Henssler/Mansel, NJW 2007, 1393 (1396 f.).41 Hellwig, NJW 2011, 1557 (1558); Dahns, NJW-Spezial 2005, 333 (334); Weller/Kienle, DStR2005, 1002 (1006 f.); sehr überzeugend Triebel/Silny, NJW 2008, 1034 (1035 f.); Schnittker/Leicht, BB 2010, 2971 (2975); Schlinker, NJW2011, 2091 (2093); Leuering, ZIP 2012, 1112 (1113);wohl auch Römermann/Praß, NZG 2012, 601(602); offen Grunewald, ZIP 2012, 1115 (1116).14


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________derspreche eine Anpassung den europarechtlichenVorgaben.3. Dritter BefundDie Tatsache, dass sich deutsche Anwaltskanzleienals LLP organisieren,beweist, dass ein Wettbewerb derRechtsformen im Gang ist und dass dieLLP den Wettbewerb teils gewinnt. Unsicherheitenbestehen jedoch wie gesehennicht nur für den Rechtsverkehr,sondern auch für die Gesellschafter einerLLP in Deutschland. Im Rechtsverkehrkann die Bedeutung des Rechtsformzusatzesschwerer beurteilt werden.Für Anwälte ist die Haftungssituationungeklärt.VI. Lösungsansatz des Gesetzgebers:Die geplante PartG mbBDie Bundesregierung hat auf diese Entwicklungenmit dem Gesetzentwurf zurEinführung der PartG mbB reagiert. 42Zentrale Norm wird der künftige§ 8 IV PartGG sein:„Für Verbindlichkeiten der Partnerschaftaus Schäden wegen fehlerhafter Berufsausübunghaftet den Gläubigern nurdas Gesellschaftsvermögen, wenn1. die Partnerschaft eine zu diesemZweck durch Gesetz vorgegebene Berufshaftpflichtversicherungunterhältund42 Siehe Fn. 2.2. ihr Name den Zusatz „mit beschränkterBerufshaftung“ oder die Abkürzung„mbB“ oder eine andere allgemein verständlicheAbkürzung dieser Bezeichnungenthält; anstelle der Namenszusätzenach § 2 Absatz 1 Satz 1 kann der Nameder Partnerschaft mit beschränkterBerufshaftung den Zusatz „Part“ oder„PartG“ enthalten.“1. Inhalt der RegelungDer erste Halbsatz schließt die Anwendungdes § 8 I PartGG aus. Eine persönlicheMithaftung der Partner für Schädenwegen fehlerhafter Berufsausübungscheidet aus. Diese Erleichterung müssensich die Partner aber durch eineerhöhte Mindestversicherung und einendem Verkehrsschutz dienendenRechtsformzusatz erkaufen.Die erhöhten Mindestversicherungssummengleichen denjenigen der bisherigenMindestsummen der Anwalts-GmbH. Im anwaltlichen Berufsrechtwird zu diesem Zweck ein neuer § 51BRAO eingeführt. Die Mindestversicherungssummepro Partner soll für jedenEinzelfall 2,5 Millionen Euro betragen.Die Gesamtleistungen des Versichererskönnen für jedes Versicherungsjahr aufden Betrag der Mindestversicherungssummemultipliziert mit der Zahl derPartner begrenzt werden. 43 Besteht die43 Salger, DB 2012, 1794 (1796): „weit übertrieben“.15


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________PartG mbB also aus 25 Partnern, mussdie Berufshaftpflichtversicherung Gesamtschädenin Höhe von 75 MillionenEuro decken. Die Haftung entfällt nur,wenn die Versicherung im Zeitpunktder schädigenden Handlung auch tatsächlichbesteht. 44 Soweit die Versicherungssummebei einem Schadensfallnicht ausreicht, haftet gegenüber Geschädigtenallein das Gesellschaftsvermögen.Aus Gründen des Gläubiger- und Verkehrsschutzesmuss die PartG mbB voneiner PartG unterscheidbar sein. Hieraufweist der besondere Rechtsformzusatzhin. 45 Von dem Zusatz „mbH“ wurdeabgesehen, weil der Rechtsverkehrdiesen Zusatz mit den Regeln derGmbH verbinden könnte, nämlich einerallgemeinen Haftungsbeschränkung aufdas Gesellschaftsvermögen. Dies könnte,so meint die Bundesregierung, Gläubigerin die Irre führen. 462. Einordnung der RegelungDie PartG mbB soll die Haftungsfrageüber eine erweiterte Versicherungslösungfür Berufsfehler lösen. Jeder Anwaltmuss eine Berufshaftpflichtversi-44 Posegga, DStR 2012, 611 (612); Römermann/Praß,NZG 2012, 601 (603).45 Kritisch Schulze, jurisPR-HaGesR 10/2012Anm. 1.46 Vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf(oben Fn. 2), S. 14. Zust. Posegga, DStR 2012, 611(613).cherung unterhalten. Die Anwälte ineiner Anwalts-GmbH erkaufen sich dieHaftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögenmit Mindestversicherungssummen.Diese Lösung soll nunauch für die Haftungsbeschränkung derPersonengesellschaft PartG mbB taugen.Das deutsche Recht hätte dann einzur LLP umgekehrtes Hybrid: Der Sachenach handelt es sich um eine Personengesellschaft,die bei Berufsfehlernden Haftungsprinzipien einer juristischenPerson folgt.VII. Rechtspolitische AnalyseEin dreifacher Befund konnte als ausschlaggebendfür die Reform ausgemachtwerden: Die Anwaltschaft befindetsich in einer Haftungskrise, dasdeutsche Gesellschaftsrecht stellt derAnwaltschaft nur begrenzt tauglicheRechtsformen bereit, die deutschenRechtsformen stehen im Wettbewerbzur britischen LLP.Die folgende Analyse soll deshalb anhandvon sieben kritischen Thesen näheruntersuchen, ob sich die PartG mbBin das System des Gesellschafts- unddes anwaltlichen Berufsrechts einordnenlässt, ob ein Regelungsbedarf bestehtund durch die neue PartG mbBgedeckt ist und ob die verschiedenengesellschaftspolitischen Interessen ausreichendberücksichtigt sind.16


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________1. These 1: Die PartG mbB läuft demSystem der Berufshaftung zuwider.An dieser These ist richtig, dass dieHaftung des einzelnen Anwalts in einerPartG mbB nicht mehr persönlich undunbeschränkt ausgestaltet sein wird.Das muss die Haftung des Anwalts alsGesellschafter allerdings schon nachgeltendem Recht nicht sein. So urteiltedas BayObLG bereits in der grundlegendenEntscheidung zur Zulassung derAnwalts-GmbH, dass die „unbeschränkteund persönliche Haftung des Rechtsanwalts… für das Berufsbild nicht mehrmaßgebend“ sei. 47 Die PartG mbB läuftdeshalb nicht gegen die Berufshaftung.Diese bleibt wie gehabt. Die PartG mbBnähert sich vielmehr von der anderen,der gesellschaftsrechtlichen Seite: 48Welche Voraussetzungen müssen vorliegen,damit die persönliche Haftungeines Gesellschafters entfällt? Die PartGmbB ist deshalb ein gesellschaftsrechtlicherAnsatz und kein Ansatz der Milderungder anwaltlichen Berufshaftung.2. These 2: Die PartG mbB ist nichtnötig.Gegen die PartG mbB wird auch eingewendet,für ihre Einführung bestehekeine rechtspolitische Notwendigkeit. 4947 BayObLG, NJW 1994, 199, 201; Hellwig, NJW2011, 1557 (1559); Walpert, ZRP 2012, 127 (127).48 Insoweit a.A. Beck, DZWIR 2012, 447 (447).49 Beuthien, ZRP 2012, 127 (127).Es hätte dem Wettbewerb am Marktüberlassen bleiben sollen, ob sich Kanzleienund Mandanten für eine LLP entscheidenoder nicht. 50Die Notwendigkeit zeigt sich jedochnicht nur an der Konkurrenz zur LLP,sondern auch am gescheiterten Versuch,Anwalts-GmbH & Co. KGs zugründen. Gewerbetreibenden steht inDeutschland seit langer Zeit die GmbH& Co. KG als haftungsbeschränkte undeinfach zu gestaltende Personengesellschaftzur Verfügung. Wenn die Haftungnicht mehr persönlich ausgestaltetsein muss, sollte Freiberuflern der Wegin eine haftungsbeschränkte Personengesellschaftnicht verschlossen bleiben.51Außerdem hat Deutschland im Wettbewerbder Rechtsformen gute Erfahrungenmit „law made in Germany“gemacht. 52 Das Beispiel der im Jahre2008 eingeführten Unternehmergesellschaft(haftungsbeschränkt) (UG) zeigtdies. 53 Bis dahin stand die gründungsstrengeGmbH mit der englischen Limitedim Wettbewerb. Seit Einführung derUG sind die Ltd.-Gründungen in50 Beuthien, ZRP 2012, 127 (127).51 Walpert, ZRP 2012, 127 (127).52 Hellwig, NJW 2011, 1557 (1558).53 Zur UG allg. Römermann, NJW 2010, 905(905 ff.).17


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Deutschland stark rückläufig. 54 Die UGentwickelte sich zum Erfolgsmodell:Zum 1. November 2012 waren inDeutschland 76.377 UG im Handelsregistereingetragen. 55 Gerade die Anwaltschaft,die als Organ der Rechtspflegefungiert, sollte nicht gezwungen sein,auf eine ausländische Rechtsform auszuweichen.56Rechtssicherheit gewährt eine deutscheGesellschaftsform besser als eine ausländische.Die ausländische Gesellschaftsformwird von Inländern zu einembestimmten Zweck genutzt. Dader Gesetzgeber diese Nutzung nichtverbieten kann, sollte er gesetzgeberischmit einem eigenen Angebot reagieren.3. These 3: Die PartG mbB ist nichtausreichend.Die geplante PartG mbB wird lediglichbei beruflichen Fehlern vor persönlicherHaftung schützen. AllgemeineVerbindlichkeiten folgen § 8 I PartGG.Dies könnte man als unzureichend ansehen.57Dass nur berufliche Fehler Gegenstandder Haftungsbeschränkung sein werden,ist jedoch gerade das Charmantean der Lösung. Allgemeine Verbindlichkeitenwerden nicht von der Berufshaftpflichtversicherungdes Anwaltsgedeckt. 58 Ein Haftungsschutz erscheintin diesem Bereich jedoch selbst nachüberwiegender Ansicht der Betroffenennicht erforderlich. Eine Befragung desDeutschen Anwaltvereins ergab, dassdie Anwaltschaft nur im Hinblick aufdie Haftung wegen beruflicher FehlerRegelungsbedarf sah. 59 Andere Verbindlichkeiten,etwa aus Kfz-Leasing, Büromieteoder Arbeitsverhältnissen, sindkalkulierbar oder fallen nicht derart insGewicht. 60 Der Gesetzgeber greift alsonur dort ein, wo es nötig ist. Damit erweistsich die PartG mbB als normensparsameLösung, die ihr Regelungszieldoch erreicht.54 Roth, in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 7. Aufl.,München 2012, Einleitung Rn. 10, wobei dieGründungen schon vor 2009 nachließen.55 http://www.rewi.uni-jena.de/Forschungsprojekt+Unternehmergesellschaft_p_15113-path-11558.html,zuletzt abgerufen am 6. Januar 2013.56 Gehring, ZIP 2012, 1118 (1118); Hellwig, NJW2011, 1557 (1558).57 Salger, DB 2012, 1794 (1795 f.); Schüppen, BB2012, 783 (784); Beck, DZWIR 2012, 447 (449);weniger scharf Grunewald, ZIP 2012, 1115 (1117);Schulze, jurisPR-HaGesR 10/2012 Anm. 1.58 Vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf(oben Fn. 2), S. 14.59 Zur Befragung vgl. Interview mit Hellwig,abgedruckt bei Lührig, AnwBl 2012, 345 (346).Salger, DB 2012, 1794 (1796). Siehe ferner denDiskussionsbericht bei Gehling, ZIP 2012, 1118(1118).60 Salger, DB 2012, 1794 (1796).18


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________reits für die Anwalts-GmbH gilt. 66 Kapitalaufbringungund Kapitalerhaltungspiegeln sich letztlich in der Pflicht,diese Versicherung auch tatsächlich zuunterhalten.Die Abkehr vom kapitalorientiertenSystem ist keine Neuerung: Bei der UGist das Mindeststammkapital auf einenEuro abgesenkt, §§ 5a I, 5 II 1 GmbHG.Eingebrachte Forderungen im Rahmenvon Kapitalmaßnahmen des Insolvenzplanssind praktisch haftungsbefreit.Wer eine Forderung in eine Eigenkapitalbeteiligungtauscht, haftet nichtmehr auf die Differenz, wenn eine eingebrachteForderung falsch bewertetwurde. 67 Der Grundsatz der realen Kapitalaufbringungwird zunehmend ausgehöhlt.68Dadurch fügt sich die PartG mbB ineine rechtspolitische Entwicklung ein,die als grundlegend bezeichnet werdenkann. Aus systematischer Sicht verändertsich die Grundlage für die Haftungsbeschränkungvon einer abstraktbilanziellenzu einer situativen Betrachtung.69 Während das klassische Konzeptein Mindestmaß an Vermögen alsHaftungsmasse sichern sollte, liegt dieEigenart der PartG mbB in der Pflichtzur vorausschauenden Absicherung derGläubiger in konkreten Schadenssituationen.Weitere Beispiele für diese Entwicklungsind § 90 Abs. 2 Satz 3 AktG,§ 64 Satz 3 GmbHG. 70Die PartG mbB verbindet damit Merkmaleunbeschränkt haftender und haftungsbeschränkterPersonengesellschaftenmiteinander. Richtig ist, dass diePartG mbB keinen Doppelgänger unterden Personenhandelsgesellschaften hat.Sie überträgt jedoch im deutschenRecht bereits vorhandene Konzepte aufdie spezifische Haftungssituation vonFreiberuflern. Insofern ist das Konzeptkein Fremdkörper im deutschen Gesellschaftsrecht.5. These 5: Die PartG mbB privilegiertdie Freien Berufe über Gebühr.Insbesondere der Deutsche Richterbundzieht in Zweifel, ob der Gesetzgeberdie Freien Berufe nicht über Gebührgegenüber Gewerbetreibenden privilegiert.71 Den Bedürfnissen könne ebensodurch eine Öffnung der GmbH & Co.KG für Freie Berufe begegnet werden.Weiterhin stehe die PartG mbB nurdenjenigen Freien Berufen offen, dieeine durch das Gesetz begründete66 Posegga, DStR 2012, 611 (612).67 Sog. debt-equity-swap.68 Römermann/Praß, NZG 2012, 601 (606).69 Römernann/Praß, NZG 2012, 601 (606); a.A.Beck, DZWIR 2012, 447 (447).70 Näher Römermann/Praß, NZG 2012, 601 (607).71 Stellungnahme des Deutschen RichterbundesNr. 11/12, abzurufen unter http://www.drb.de/cms/index.php?id=765, zuletzt abgerufen am 6.Januar 2013; ähnlich Grunewald, ZIP 2012, 1115(1117); Schulze, jurisPR-HaGesR 10/2012 Anm. 1.20


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Haftpflichtversicherung unterhalten.Darin könne ein Verstoß gegen denGleichheitsgrundsatz liegen.Schon nach geltendem Recht genießenFreiberufler weitreichende Privilegiengegenüber Gewerbetreibenden. In einerGegenüberstellung der Rechte undPflichten würde die Haftungsbeschränkungnur als einer von vielen Postenauftauchen. Die PartG mbB bedeutetlediglich eine Fortführung der Privilegierung.Daher bedeutet hier – überspitzt– der Zweifel an der PartG mbBzugleich den Zweifel am System derFreien Berufe.Überdies greift es zu kurz, auf die Vorteilezu schauen, ohne ihren Preis zuberücksichtigen. Wie ausgeführt, musssich die PartG mbB ihre Haftungserleichterungmit einem erhöhten Versicherungsschutzerkaufen. Wenn alsodie Partner einer PartG mbB privilegiertsind, sind sie es nicht „über“, sondern„gegen“ Gebühr.6. These 6: Am Ende zahlt der Mandantdie Zeche.Landet die irdische Schwere beim Geschädigten?Der Deutsche Richterbundhinterfragt, ob die Beschränkung derHaftung auf das Gesellschaftsvermögendurch die höhere Mindestversicherungssummevon 2,5 Millionen Eurovollständig ausgeglichen wird. 72Dieser Einwand stellt die Frage nachdem Schutz des Mandanten gemessenam Entfallen der persönlichen Haftung.Fraglich ist aber, ob dem Mandantendaran überhaupt gelegen und ihm damitgedient ist.Einem Geschädigten ist gleichgültig,woher die Mittel stammen, sein Vermögenwiederherzustellen. Das Mandanteninteressegeht folglich nicht inRichtung einer persönlichen Haftung,sondern der Deckung von Schäden. 73Dem Mandanten ist mit einem hohenVersicherungsschutz eher gedient alsmit der persönlichen Haftung. 74 Nachdem gesetzlichen Regelfall tritt im Falleder PartG mbB eine Verzehnfachungder bisherigen Mindestversicherungssummepro Partner ein. 75 Die Basis derDeckung wird also in der Regel erweitert.Dabei zahlt gerade nicht der Mandantdie Zeche: Das Haftungsrecht entwickeltsich immer mehr hin zu Systemen72 Stellungnahme des Deutschen RichterbundesNr. 11/12, abzurufen unterhttp://www.drb.de/cms/index.php?id=765,zuletzt abgerufen am 6. Januar 2013.73 Siehe hierzu den Diskussionsbericht bei Gehring,ZIP 2012, 1118 (1118).74 Walpert, ZRP 2012, 127 (127); Hellwig, NJW2011, 1557 (1558); Dahns, NJW-Spezial 2012, 190(190).75 Leuering, ZIP 2012, 1112 (1115).21


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________kollektiver Schadenstragung. 76 Die Versicherungslösungist ein System desAusgleichs. Dem Schadensersatz deseinen (Mandant) steht nicht ein gleichhoher Schaden des anderen (haftenderAnwalt) gegenüber. Vielmehr leistenVersicherungen eine Verteilung derSchäden auf viele Schultern. Bezahlenmuss dies zunächst die PartG mbB. Ihrfallen die höheren Prämien zur Last. 77Der Mandant zahlt die Zeche auchnicht in einem Verlust an Qualität: Dassdie Beratungsqualität und das Haftungsrisikokorrelieren, ist zu bezweifeln.Eher korrelieren die Höhe derbeim Mandanten durchsetzbaren Vergütungund der gute Ruf einer Kanzlei.Diesen erarbeitet man sich durch hoheBeratungsqualität.7. These 7: Die Kleinen hängt man,die Großen lässt man laufen.Unzweifelhaft werden die höheren Versicherungssummenhöhere Kosten fürdie zu einer PartG mbB zusammengeschlossenenAnwälte zur Folge haben.Deshalb könnte gegen die Einführungeiner PartG mbB auch einzuwendensein, die Rechtsform sei eher für Großkanzleienattraktiv und folglich Klientelpolitik.76 Instruktiv Fuchs, Deliktsrecht, 7. Aufl., Berlin2009, S. 3 ff.77 Freilich können bei höheren Kosten die Preisesteigen.Der Einwand ist faktisch richtig. 78 HöhereKosten sind eher für größere Kanzleientragbar. Die PartG mbB steht jedochrechtlich jedem Zusammenschlussvon Anwälten offen.Das Kostenargument belegt keine Ungleichbehandlung.Die Haftungsrisikenin größeren Einheiten bedingen denBedarf nach Haftungsbeschränkung.Risiken abzusichern, kostet im Systemder Berufshaftpflichtversicherungzwangsläufig Geld. Um kleineren Kanzleienden Weg in die PartG mbB durchgeringere Kosten zu ebnen, müsstenauch geringere Mindestdeckungssummengelten. Dann aber wäre zu befürchten,dass das Interesse des Mandantenan Deckung von Schäden aufder Strecke bliebe. Die Mindestdeckungssummen(und damit die höherenKosten) sind damit nicht willkürlichhochgezogene Schwellen, die kleinereEinheiten von der Rechtsform ausschließensollen. Sie dienen vielmehrdem Regelungsziel des Gesetzgebers,die Interessen von Haftungsbeschränkungeinerseits und Verkehrsschutzandererseits in Ausgleich zu bringen.An dieser Stelle spielt wiederum eineRolle, dass die PartG mbB die Fragengesellschaftsrechtlich und nicht übermilderes Berufshaftungsrecht löst. Für78 Zum Meinungsbild in der Anwaltschaft vgl.aber Kilian, AnwBl 2012, 957 (957 ff.); ders.,AnwBl 2013, 14 (14 f.).22


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Fehler ist der Anwalt berufsrechtlichhaftbar wie zuvor. Ein großer und reputationsschädigenderHaftungsfall wirdeine Großsozietät weiterhin zerreißenkönnen wie bisher. 79Anwaltliche Tätigkeit ist von Vertrauengeprägt – nach „außen“ und „innen“.Nach außen macht die PartG mbB nichtgegen Reputationsschäden immun.Nach innen ist das gegenseitige Vertrauender Partner in die Arbeit derMitpartner weiterhin essenziell.VIII. FazitDie vorgesehene Einführung einerPartG mbB ist begrüßenswert. Der Gesetzentwurfkann als Musterbeispielvon Normensparsamkeit gelten. Erkommt mit lediglich kurzen Änderungendes PartGG und der BRAO aus.Ob sich die PartG mbB am Markt etabliert,wird die Zukunft erweisen. Anwältein einer künftigen PartG mbB könntensich aber zumindest zum Teil glücklicherschätzen als zuvor. Von den besondersstrengen Pflichten und derniedrigen Fahrlässigkeitsschwelle befreitsie die PartG mbB leider nicht.Anwälte werden rechtlich weiterhin dieIdealfigur abgeben müssen. Sie könnenjedoch ein Stück mehr Beruf und Privatestrennen. Im Fall des Falles räumensie schweren Herzens ihr Büro. Zuhausewartet aber die Familie auf sie undnicht der Gerichtsvollzieher. Der Abstandzur irdischen Schwere ist gewachsen.Für Mandanten entstehen keine messbarenNachteile durch die PartG mbB.Die irdische Schwere landet nicht beiihnen.Die PartG mbB ist auch eine angemesseneAntwort auf die LLP. Sie hat nichtden Nachteil der unsicheren Haftungsfolgender LLP. Außerdem entwickeltdie PartG mbB gesellschaftsrechtlicheHaftungskonzepte weiter.79 Hahn/Naumann, WM 2012, 1756 (1756); Salger,DB 2012, 1794 (1794). Beispielsfall: BGH,NJW 2009, 2949. Hierzu Römermann, NJW2009, 2924 (2926 f.).23


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AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________RA Hartmut Kilger / RA Dr. Christian F.Majer ∗Die Ethik und die Rechtsanwälte– Zur Aufstellung von Regeln füreine Rechtsanwaltsethik –I. EinleitungDas Thema „Ethik und Anwaltschaft“beschäftigt Juristen und Gesellschaftseit dem Mittelalter. Bereits der im 13.Jahrhundert geborene Johannes v. Buchthematisiert das Verhalten des Rechtsanwaltsvor Gericht; er vergleicht dabeiden Rechtsstreit vor Gericht mit einemritterlichen Waffengang. 1 Ein wenigspäter, nämlich im Jahr 1726, ordneteKönig Friedrich Wilhelm der I. vonPreußen – auch bekannt als der „Soldatenkönig“– die Pflicht zum Tragen derAnwaltsrobe an, und zwar mit der bekannten,für Rechtsanwälte wenigschmeichelhaften Begründung: „Wirordnen und befehlen hiermit allen Erns-tes, dass die Advocati wollene schwarzeMäntel, welche bis unter das Knie gehen,unserer Verordnung gemäß zu tragenhaben, damit man diese Spitzbubenschon von weitem erkennen und sich vorihnen hüten kann.“Bis heute gilt der Rechtsanwalt weithinals geldgierig, unmoralisch und skrupellos.In einer Allensbacher Umfrageaus dem Jahr 2008 nennen 27 % derBefragten auf die Frage nach einem Beruf,vor dem sie Achtung haben, denBeruf des Rechtsanwalts (gegenüber78 % beim Arzt), was einen deutlichenVerlust darstellt. In den 90er Jahren desvergangenen Jahrhunderts lag er beinoch 37 %. 2Aber nicht nur in der Bevölkerung istder Rechtsanwalt in Misskredit geraten:auch seitens der Juristenkollegen müssenRechtsanwälte sich immer häufigerunethisches Verhalten vorwerfen lassen.So führte der Große Senat fürStrafsachen des BGH in seiner Entscheidungzur „Rügeverkümmerung“ imStrafprozess aus dem Jahr 2007 3 unteranderem eine angeblich veränderte Berufsethikals Argument für die Änderungder Rechtsprechung des BGH an. 4∗ Hartmut Kilger ist Rechtsanwalt und Fachanwaltfür Sozialrecht in Tübingen und war Präsidentdes Deutschen Anwaltsvereins (DAV).Christian F. Majer ist Rechtsanwalt in der KanzleiMajer und Kollegen in Tübingen und Lehrbeauftragteran der Universität Konstanz.1 Siehe dazu Kannowski, NJW 2008, 713 ff.2 http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/prd_0802.pdf, Abruf am 6.12.2012.3 BGH, NJW 2007, 1419.4 Siehe dazu etwa mit Recht ablehnend ausneuerer Zeit Bertheau, NJW 2010, 973. Bemerkenswertist neben der pauschalen Verunglimp-25


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Infolgedessen wird seit einiger Zeit dieAufstellung von Regeln der anwaltlichenBerufsethik diskutiert; hierzu hatdie Bundesrechtsanwaltskammer(BRAK) ein Diskussionspapier entworfen.Der folgende Beitrag nimmt zu diesemund zur Frage der generellen Sinnhaftigkeitsolcher Ethik-Regeln Stellung.II. Einführung in das anwaltlicheBerufsrechtDas Berufsrecht der Rechtsanwälte istgeregelt in der Bundesrechtsanwaltsordnung(BRAO) sowie der konkretisierenddazu von der Satzungsversammlungerlassenen Berufsordnung (BORA).Sie regeln neben den Voraussetzungender Zulassung zur Rechtsanwaltschaft(§§ 8 ff. BRAO) und Bestimmungenüber die Selbstverwaltungsorgane derRechtsanwälte (Anwaltskammern undAnwaltsgerichtshöfe, §§ 60 ff. BRAO)und dem anwaltsgerichtlichen Verfahren(§§ 116 ff. BRAO) auch besonderePflichten der Rechtsanwälte. Grundpflichtensind nach § 43 BRAO die Unabhängigkeit,die Verschwiegenheit, dieSachlichkeit, das Verbot der Vertretungwiderstreitender Interessen, die Sorgfaltfung der Rechtsanwälte in diesem Zusammenhangvor allem, dass die materielle Wahrheitsich oftmals ohne weiteres aus dienstlichenErklärungen der übrigen Beteiligten ergebensoll, wohingegen man dem Verteidiger dannfolglich ein bewusst unwahres Vorbringen vorwirft.bei Behandlung ihm anvertrauter Vermögenswerteund die Pflicht zur Fortbildung.Besondere Beschränkungengelten für den Rechtsanwalt hinsichtlichder Werbung, welche nach § 43bBRAO sachlich über die Berufstätigkeiterfolgen muss; nähere Vorschriften zurKonkretisierung enthalten §§ 6 ff. BO-RA. Der Rechtsanwalt ist verpflichtet,Beratungshilfemandate zu übernehmen(§ 49a BORA), seine (gesetzliche odervertraglich vereinbarte) Vergütung unterliegtBeschränkungen (§ 49b BRAO),er muss eine Berufshaftpflichtversicherungabschließen (§ 51 BRAO) und darfsich mit Angehörigen anderer Berufenur nach Maßgabe des § 59a BRAO zusammenschließen.III. Rechtspflicht und Ethik1. Schwierig zu fassen ist in diesem Zusammenhangdie Ethik-Dimension anwaltlichenHandelns. Genannt werdenzum Teil Bereiche wie das Verbot derVertretung widerstreitender Interessen,die Pflicht zur Fortbildung, der Umgangmit Erfolgshonoraren, das Werberechtsowie Fragen der Kanzleiorganisation. 5Diese Aufzählung zeigt exemplarisch,wie schwer die Anwaltsethik in einzelneBereiche zu fassen ist. Die von Hensslergenannten Bereiche betreffen nämlich5 So Henssler, AnwBl. 2008, 721 ff. Siehe zurDiskussion um einen Ethik-Kodex sogleichunter IV.26


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________die Ethik im eigentlichen Sinne teilweiseüberhaupt nicht, wie etwa die Fragender Kanzleiorganisation, teilweise nuram Rande. 6 Letzteres betrifft beispielsweisedie Pflicht zur Fortbildung: unethischist es allenfalls, dem Mandantendurch fehlende Rechtskenntnisse Schadenzuzufügen, nicht aber, von Drittenangebotene Kurse nicht zu belegen. 72. Andere Akzente setzt das Papier derBundesrechtsanwaltskammer zur Ethik-Debatte. 8 Es nennt als Werte, welche inden §§ 43, 43a BRAO und §§ 2,3 BORAangelegt sind, die Unabhängigkeit, dieVerschwiegenheit, das Verbot der Vertretungwiderstreitender Interessen„mit den Werten der Geradlinigkeit,Loyalität und Zurückstellung eigenerInteressen“, die Gewissenhaftigkeit „mitden Werten Hingabe, Sorgfalt, Vorsicht,Kompetenz und Transparenz“, dieSachlichkeit „mit den Werten Mäßigung,Distanz zur Sache, Wahrhaftigkeit,Professionalität“ sowie die sozialeVerantwortung „mit der Pflicht, Zugangzum Recht zu gewähren und der Bereitschaftzu ehrenamtlichem Engagementsowie der Verantwortung für- unduntereinander“. Als weitere Bereiche6 Ebenso Hellwig, AnwBl. 2009, 465 (471).7 Siehe zur Fortbildungspflicht etwa Dahns,NJW-Spezial 2006, 333 ff.; Kellner, NJW 2002,1372.8 Abrufbar unter http://www.rechtsanwaltskammerduesseldorf.de/aktuelle-hinweise/neupage/,Abruf am6.12.2012. Zustimmend dazu Ignor, NJW 2011,1537 ff.nennt das Papier „Menschlichkeit mitder Bereitschaft zur Folgenverantwortung,Fairness, Höflichkeit und Kollegialität“und zuletzt „die Integrität innerhalbund außerhalb des Berufs, zu derdie Rechtschaffenheit gehört“.Im Folgenden werden die Bereiche weiterkonkretisiert. Viele Ausführungendarin verdienen Zustimmung, andereallerdings auch Widerspruch. ManchePunkte, die das ethische Handeln inbesonderer Weise betreffen, sind darinleider gar nicht aufgeführt.Im Einzelnen gilt:a) Zustimmung verdienen die Ausführungenzur Unabhängigkeit einesRechtsanwalts. Insbesondere die Mahnungan anwaltliche Arbeitgeber, angestellteRechtsanwälte nicht nur zur bloßenZuarbeit einzusetzen (A.5.), verdientbesondere Erwähnung, da dieseinen weit verbreiteten Missstand darstellt.b) Weitgehende Zustimmung verdienenauch die Ausführungen zum Verbotwiderstreitender Interessen, wobei bisweilenSelbstverständlichkeiten angebrachtwerden.c) Zustimmung verdienen die Ausführungenzur Gewissenhaftigkeit in Teilen.Richtig ist es, auch für das Masseninkassoeine Kanzleiorganisation zufordern, die die „besonderen Anforde-27


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________rungen an die Sorgfalt, Transparenzund Kompetenz anwaltlicher Tätigkeiterfüllt“. Das wird in der Praxis oftmalsmissachtet.Schwierigkeiten wirft jedoch die geforderteOrientierung der Rechtsanwältehinsichtlich ihrer Fortbildung an denAnforderungen für Fachanwälte auf(C.2.b.). Nach § 15 FAO muss ein Fachanwalt„kalenderjährlich auf diesemGebiet wissenschaftlich publizieren o-der an anwaltlichen Fortbildungsveranstaltungenhörend oder dozierend teilnehmen“.Inwiefern eine wissenschaftlichePublikation auf einem beliebigenGebiet die Fachkompetenz des Rechtsanwaltsgenerell erhöht, bleibt beispielsweiseunklar. Unklar bleibt auch,welche Fortbildungen ein Generalistbesuchen soll. Nicht zuletzt ist die einseitigeOrientierung an Fortbildungsveranstaltungenfragwürdig. EinRechtsanwalt muss selbstverständlichdie neueste Rechtsprechung und Gesetzgebungbei der Mandatsbearbeitungbeherrschen; in welcher Weise ersich diese aber aneignet, muss ihm ü-berlassen bleiben, zumal angesichts derKosten derartiger Veranstaltungen. 9Richtig ist sicherlich, dass zu einer gewissenhaftenMandatsführung „dassorgfältige Abwägen von Prozessrisikenund des Für und Wider von Vergleichen9 Siehe zu den leider bislang kaum betontenwirtschaftlichen Aspekten unter VI.ohne Rücksicht auf Honorarinteressen“gehört (C.III.d.) und dass der Rechtsanwalt„über die Interessen seinesMandanten hinaus auch die Folgen seinesHandelns für den Mandanten, aberauch dessen Gegner, Dritte und dasGemeinwohl“ bedenkt (C.III.c.). An dieserStelle wäre eine Ergänzung dahingehenddringend angebracht, dass derRechtsanwalt nicht allein die wirtschaftlichenInteressen des Mandanten,sondern dessen Interessen insgesamt zuberücksichtigen hat, was in der Praxisleider oft missachtet wird. Zu diesenzählen auch die psychische Belastungeines Mandanten durch den Rechtsstreitoder sein Verhältnis zu seinerFamilie in einer familienrechtlichenAuseinandersetzung. Diese Aspektekönnen es gebieten, auf die Führungeines Rechtsstreites zu verzichten odereinen solchen durch Abschluss einesVergleichs zu beenden, freilich nurnach Rücksprache mit dem Mandanten.Entgegen einem verbreiteten Irrtumgebieten übrigens Honorarinteressen inder Regel trotz der Einigungsgebührnicht den Abschluss eines Vergleichs,sondern dessen Ablehnung: weit höhereHonorare sind zu erzielen, wenn einzunächst außergerichtlich geführterRechtsstreit in einen gerichtlichen ü-berführt wird oder ein Urteil erstrittenwird und sodann Rechtsmittel eingelegtwerden; der Abschluss eines Vergleichsist ja auch in der Berufungsinstanzmöglich.28


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Die Pflicht, neben den Mandanteninteressennoch Drittinteressen zu berücksichtigen,darf allerdings nicht die oftzu beobachtende Unsitte legitimieren,dass sich Rechtsanwälte über den Willenihrer Mandanten hinwegsetzen undselbst definieren, welches Handeln imInteresse ihres Mandanten liegt, zumalwenn ein Mandant einen Rechtsstreitvermeiden oder beenden will. EinRechtsanwalt ist Vertreter und Beraterseines Mandanten und nicht sein Vormundoder Betreuer; daran ändert auchseine Stellung als „Organ der Rechtspflege“(§ 1 BRAO) nichts. 10d) Sicher richtig ist die Forderung unterC.3.a., dass „nicht nur“ wirtschaftlicheInteressen das Handeln des Rechtsanwaltsbestimmen dürfen. Die folgendeFormulierung, „im Zweifel“ sei den Interessendes Mandanten und derRechtspflege Vorrang einzuräumen, istzumindest missverständlich: selbstverständlichist stets den Interessen desMandanten sowie der Rechtspflege Vorrangvor den eigenen wirtschaftlichenInteressen einzuräumen. Richtig ist natürlichauch das Postulat, der Rechtsanwaltdürfte eine Hauptverhandlungnicht aus Gebühreninteressen in dieLänge ziehen (3.b.); allerdings fragt essich, ob das Standesrecht der richtigeOrt ist, diesem Missstand zu begeg-10 Siehe dazu etwa Augstein, NStZ 1981, 12 ff.;Jaeger, NJW 2004, 1 ff.; Streck, AnwBl 2012, 388ff.nen. 11 Der Zusammenhang mit demGebührenrecht gilt insbesondere auchfür die häufig zu beobachtende und zuRecht monierte Unsitte, den erkennbarbedürftigen Mandanten nicht über dieMöglichkeit der Beratungshilfe aufzuklären.12e) Zu begrüßen ist auch die Betonungdes Gebots der Sachlichkeit (D.1.), 13welches in der anwaltlichen Praxis immerhäufiger missachtet wird. Ein legitimesInteresse daran, unsachlicheFormulierungen zu verwenden, bestehtin keinem Fall, auch dann nicht, wenndas Verhalten der Gegenseite zur EmpörungAnlass gibt, wie das Papier zutreffendbetont (D.1.b.). Sie sind in jedemFall der Stellung des Rechtsanwaltsals Organ der Rechtspflege unwürdig.Allerdings stößt eine Ahndung solcherVerstöße durch die Anwaltskammernauf gewisse Schwierigkeiten. An dieserStelle sind auch die Gerichte dazu aufgerufen,Verstöße gegen das Sachlichkeitsgebotdurch anwaltliche Schriftsätzein den jeweiligen Prozessen zu rügen.11 Siehe zum Zusammenhang mit dem anwaltlichenGebührenrecht unten V.12 Siehe dazu eingehend unter V.13 Siehe zu diesem BVerfG, NJW 1988, 191;BVerfG, NJW 1991, 2274. Das BVerfG lässt dabeieinen weiten Spielraum auch für unsachlicheÄußerungen und sieht eine Ahndung erst beistrafbaren Beleidigungen für zulässig an.29


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Eine Selbstverständlichkeit ist auch dieBetonung der Pflicht zur Wahrhaftigkeitund das Verbot der Lüge (D.2.),zumal in diesem Bereich auch dieGrenze zur Strafbarkeit wegen Prozessbetrugesnicht fern ist. Die Justiziabilitätanwaltlicher Verstöße gegen dieWahrheitspflicht ist allerdings hinsichtlichder Strafbarkeit des Rechtsanwaltesinsoweit eingeschränkt, als hier besonderesubjektive Anforderungen gelten. 14Die Ausführungen zur Zulässigkeit deranwaltlichen Werbung geben im Wesentlichenden Stand der Gesetzgebung(§ 43b BRAO, §§ 6-10 BORA) undRechtsprechung 15 zu diesem, im Anschlussan die durch Entscheidungendes BVerfG eingeläutete Liberalisierungviel diskutierten Thema 16 wieder.Fraglich ist aber, ob Richtlinien für einenEthik-Kodex tatsächlich geeignetesedes materiae für das anwaltlicheWerberecht sind. Sicherlich ist irreführendeund unsachliche Werbung in gewisserWeise unethisch, allerdings giltdies für wettbewerbswidriges Verhalten14 Siehe dazu etwa Joecks, in: Münchener Kommentarzum StGB, § 27 Rn. 52.15 Etwa BVerfG, NJW 2004, 2656; BVerfG, NJW2000, 1635; BVerfG, NJW 2000, 3195; BGH, NJW2003, 504; BGH, NJW 2002, 2642. Zu einemmöglichen Verstoß gegen die EMRK sieheEGMR, NJOZ 2009, 1248.16 Siehe dazu beispielsweise Grunewald/Henssler,NJW 2003, 1099; Horn, NJW 2007, 1413 ff.; Moellers/Mederle,WRP 2008, 871 ff.; Remmertz, NJW1997, 2785; Steinbeck, NJW 2003, 1481 ff.allgemein, nicht nur für solches derRechtsanwälte. Die Diskussion um E-thik-Richtlinien droht jedenfalls durcheine Aufnahme dieser umfangreichenund diffizilen Thematik überfrachtet zuwerden.f) Zutreffend betont das Papier auch diesoziale Verantwortung des Rechtsanwalts.Die Aufforderung, pro bono undehrenamtlich tätig zu werden, lässt allerdingseinen weiten Spielraum undkann daher auch nur als Appell verstandenwerden. Eine wie auch immergeartete Kodifizierung hin zu einerPflicht zu solchen Tätigkeiten (entsprechendder Pflicht zur Übernahme vonBeratungshilfemandaten gemäß § 49aBRAO) würde erhebliche Schwierigkeitenhervorrufen.IV. Zur Diskussion um einen Ethik-KodexUnabhängig von der sachlichen Richtigkeitoder Unrichtigkeit der Ausführungenim Thesenpapier der BRAK istallerdings die Frage zu stellen, inwieweitdie ethischen Maßstäbe schriftlichniedergelegt oder überhaupt Regelnaufgestellt werden sollten. Insbesondereder Deutsche Anwaltverein nimmtaus grundsätzlichen Erwägungen hiereine entgegengesetzte Position ein. 1717 Siehe die Stellungnahme des DAV vom18.7.2011, abrufbar unter http://anwaltverein.de/downloads/stellungnahmen/SN40BRAK-30


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Die Problematik wird sofort deutlich,wenn man sich die oben zur Pflicht derFortbildung getroffene Feststellungnoch einmal vor Augen hält: „unethischist es allenfalls, dem Mandanten durchfehlende Rechtskenntnisse Schadenzuzufügen“. Das allerdings kann auchals Aussage verstanden werden, die mitEthik überhaupt nichts zu tun hat.Denn es ist selbstverständlich eine klareVerletzung des Anwaltsvertrags, einMandat mit fehlenden Rechtskenntnissenzu betreiben. Die Schadensfolgenlassen sich leicht mit juristischen Mittelnbewältigen – es ist gar nicht erforderlich,das fehlende Berufsethos zubemühen. Nimmt man diese Aussageernst, stellt sich gebieterisch die Frage,wozu Ethik überhaupt benötigt wird.Wer noch die – vom BVerfG am 14.7.1987 18 kassierten – alten Standesrichtlinienkennt und erlebt hat, wird dieseBedenken nicht leicht vom Tisch wischen.Sie führten ja nicht nur zu einerkleinkarierten Kontrolle nutzloser Verhaltensanweisungen;vor allem ihrRechtscharakter war signifikant. Eshandelte sich ursprünglich nur um dieaufgeschriebene (angebliche) Wirklichkeit:verdiente Repräsentanten der Anwaltschaft(damals fast ausschließlichHerren) hatten niedergelegt, wie sichnach ihrer Ansicht ein anständiger An-DiskussionspapierAnwaltsethik.pdf (Abruf am3.1.2012).18 BVerfGE 76, 196.walt verhalte. Ausdrücklich sollte dasErgebnis keine Rechtsquelle sein. Dasso produzierte Sammelsurium mutiertenach und nach aber genau dazu: bei derAuslegung des § 43 BRAO galten dieStandesrichtlinien als eine Art antizipiertesSachverständigengutachten.Und so wurden sie auch angewandt:wer gegen die Standesrichtlinien verstieß,handelte berufsrechtswidrig. DiesemSpuk haben die „Bastille“-Entscheidungen des BVerfG zu Rechtein Ende bereitet.Zu einer Neuauflage darf es nicht mehrkommen. Aber es kommt dazu, wennman Regeln zu formulieren beginnt. Siewerden zumindest in Deutschland sofortfröhlich administriert, sowie sieaufgestellt sind. Und dann hat manwieder genau das, was man nicht wollte:eine Rechtsquelle – dann allerdingswieder (wie damals) ohne geordneteoder gar demokratische Legitimation.Dabei ist der Ausweg doch so einfach:was man für regelungspflichtig hält, dasmag man in die Berufsordnung (BRAOoder BORA) schreiben. Will man dasnicht, dann ist das ins Auge gefasst Projektoffensichtlich nicht regelungsbedürftig.Dann sollte es unterbleiben –andernfalls entsteht wieder neben derRechtsordnung ein Graubereich, der dieFreiheit ohne Rechtfertigung einschränkt.Tertium non datur: es gibtnichts im Zwischenraum zwischenRechtsregeln und Regelabwesenheit.31


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Insbesondere hat die Ethik dort keinenPlatz.Nimmt man diese Haltung ein, dannstellt sich die Frage, wozu man Ethiküberhaupt braucht. Beruht sie auf einerüberflüssigen Mode? Durchaus nicht.Drei Beobachtungen sind angebracht:Es geht gar nicht um Ethik. Ethik bezeichnetman auch als „praktische Philosophie“,da sie sich mit dem menschlichenHandeln befasst. Es soll hier abernicht philosophiert, sondern die Praxisbeeinflusst werden. Tatsächlich geht esum die Frage, welches Berufsethos vonAnwälten erwartet werden kann.Die Frage nach dem Berufsethos beginntdort, wo Regeln aufhören. Existierteine Regel, dann ist sie zu befolgen.Erst wenn sie fehlt, stellt sich dieFrage, was dann das richtige Handelnsei.Erst recht stellt sich die Frage nach demBerufsethos, wenn sich vorhandene Regelnwidersprechen. Im Konflikt widerstreitenderRechtsregeln hat sich dasberufliche Ethos zu bewähren. Dieskann durchaus auch dazu aufrufen, gegeneine Rechtsregel zu verstoßen –gerade weil sie verantwortungsbewusstausgeübtem Berufsethos widerspricht.Es könnte der Eindruck entstehen, dieFrage nach dem beruflichen Ethos stellesich in seltenen Grenzbereichen. Davonkann keine Rede sein, sie ist täglicherBegleiter. Alle Rechtsregeln können diesich täglich entwickelnde, bunte Wirklichkeitnicht erfassen. Überall tun sichständig Leerräume auf, die von noch sosorgfältig erarbeiteten Rechtsregelnnicht abschließen erfasst werden, undwo letztlich nichts anderes gefragt ist,als das eigene Gewissen. Dass konträreRechtsregeln den Anwalt vor immerneue Konflikte stellen, ist Berufserfahrung.In dieser Situation verlässt dasäußere Gerüst den Handelnden – esbleibt nur, was er in sich selbst vorfindet.Und schlimm wird es nur, wenndort nichts vorgefunden werden kann.Die Freiheit stellt einen hohen Anspruchan die eigene Verantwortung. Jemehr sie in rechtliche Regeln – schriftlichoder nicht schriftlich – eingebundenwird, umso mehr wird Freiheit reduziert.Aber gerade die Freiheit desprofessionellen Dienstleisters ist das,was dem Interesse des Vertretenen oderder Gerechtigkeit dient.Deswegen gibt es eine ganz andere Methode,sich mit „Ethik“ zu befassen. Siezielt auf das Verantwortungsbewusstseinund das Gewissen jedes Berufsträgers.Das ist nur in einem dialektischenProzess möglich, der darin besteht, Situationenaufzuzeigen, in denen sichein berufsethisches Problem stellt, undanschließend zu diskutieren, welcheVerhaltensweise der eine oder der an-32


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________dere für richtig hält. Nicht die Problemlösungdes Einzelfalles ist das Ziel, sonderndie Bereitstellung des notwendigenProblembewusstseins. Diesen Wegbeschreitet der Deutsche Anwaltvereindadurch, dass er auf Anwaltstagungenund inzwischen in jedem Heft des Anwaltsblattssolche Situationen zur Debattestellt.Das Zitat der Spitzbuben mit denschwarzen Mänteln stammt aus absolutistischenZeiten. Es belegt gerade dieses:dass Ethik nicht mehr von obenverordnet werden kann. Und bezüglichder Allensbacher Adressaten (und dem„Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm desI. von Preußen) dürfte feststehen, dasssie ihre Ansicht über die Anwälte spätestensdann nachhaltig ändern, wennsie in einer Notsituation an einen kundigenAnwalt geraten. Es ist ja geradedas Problem, dass sie von ihm dannnicht Berufsethos, sondern klare Vertretungihrer Interessen erwarten.V. Anwaltliche Ethik und GebührenrechtSo richtig es ist, die Stellung desRechtsanwalts von der sonstiger unternehmerischtätiger Personen abzugrenzenund seine Verantwortung als Organder Rechtspflege zu betonen, so notwendigist es auch, die Kehrseite dieserStellung zu betrachten. Wenn einemRechtsanwalt die Verpflichtung auferlegtwird, Beratungshilfemandate anzunehmen(§ 49a BAO), muss auch dafürgesorgt werden, dass ein Rechtsanwalt,der viele solcher Mandate bearbeitet,wirtschaftlich arbeiten kann. Gerade inärmeren Regionen Deutschlands odereinzelnen Bezirken von Großstädtentätige Rechtsanwälte haben oft ein ü-berwiegend von geringem Einkommenlebendes Klientel; die Mehrheit ihrerMandate besteht aus ProzesskostenundBeratungshilfemandaten. Nachdem bisherigen Gebührenrecht ist esihnen kaum möglich, eine Anwaltskanzleisamt Personal wirtschaftlich zubetreiben. 19 Das in weiten Teilen derBevölkerung vorherrschende Klischeedes Rechtsanwalts als Top-Verdienerentspricht in dieser Pauschalität nichtder Realität. Sehr gut verdienendenRechtsanwälten vorwiegend in internationaltätigen wirtschaftsrechtlich ausgerichtetenKanzleien steht eine Massevon Rechtsanwälten gegenüber, dienicht selten zu unangemessen niedrigenLöhnen beschäftigt werden, 20 oderin ihrer Einzelkanzlei wirtschaftlichums Überleben kämpfen, auch wenn in19 Immerhin sind Bestrebungen im Gange, dasseit 1994 unveränderte Gebührenrecht den gestiegenenKosten anzupassen, das BMJ hat dazueinen Gesetzesentwurf vorgelegt (abrufbar unterhttp://www.bmj.de/SharedDocs/<strong>Download</strong>s/DE/pdfs/RegE_2_KostRMoG.pdf?__blob=publicationFile, Abruf am 8.1.2013. Die Regelungen könnenhier nicht im Einzelnen besprochen werden;siehe zum Entwurf etwa Winkler, NJ 2012,241 ff.20 Siehe dazu etwa AnwGH NRW, NJW 2008,126; Seul, NJW 2002, 197 ff.33


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________den letzten Jahren insoweit eine Besserungfestzustellen ist. Berufseinsteigernohne entsprechende <strong>Examen</strong>sergebnissesind gute Verdienstmöglichkeitenmeist verwehrt, Voraussetzung für einegut bezahlte Stelle in der Anwaltschaftsind fast durchgängig Prädikatsexaminabzw. die Note „vollbefriedigend“. Dieimmer wieder publizierten Zahlen zumDurchschnittsverdienst eines Rechtsanwaltshaben deswegen nur eine begrenzteAussagekraft. Der Gesetzgeber,welcher dem Rechtsanwalt wegen seinerStellung besondere Schranken auferlegtund besondere Anforderungen anihn stellt, muss gleichzeitig auch dafürsorgen, dass ein Rechtsanwalt wirtschaftlicharbeiten kann. So berechtigtKlagen über den Verfall der Sitten inder Anwaltschaft im Hinblick auf ihreBerufsethik sein mögen, so muss dochauch berücksichtigt werden, dass wirtschaftlicheExistenznot einen Verstoßgegen die Berufsethik häufig nahe legt,auch wenn ihn dies nicht rechtfertigt.Die Funktion des Gebührenrechts beschränktsich aber nicht darauf, einwirtschaftliches Auskommen zu ermöglichen,sondern es hat auch darüberhinaus Lenkungsfunktion. Wenn imPapier der BRAK beklagt wird, dassStrafverteidiger aus wirtschaftlichenGründen in einem Verfahren möglichstviele Verhandlungstage zu bekommenversuchen, so gehören die Regelungen,welche die Gebühren nach den Verhandlungstagenbemessen, auf denPrüfstand.Insgesamt ist das anwaltliche Gebührenrechteine viel geeignetere Materieals ein ohnehin kaum justiziabler Ethik-Kodex.VI. FazitSo richtig viele Ausführungen im Papierder BRAK auch sein mögen: die Aufstellungvon Ethik-Regeln für die Anwaltschaftist aus grundsätzlichen Erwägungenabzulehnen. Ethisches Handelnlässt sich nicht in einem Regelwerk erfassen,ethisches Handeln ist geradedann gefragt, wenn Regeln nicht existieren.Viele Ausführungen des Papiersbetreffen zudem Selbstverständliches,der Verstoß gegen die aufgezähltenMaximen ist bereits durch das geltendeRecht erfasst. Eine Lenkungswirkunggegenüber unerwünschten Erscheinungenin der Praxis lässt sich außerdemdurch einen Ethik-Kodex kaum erreichen,hier ist das anwaltliche Gebührenrechtder viel besser geeignete Hebel.Die Frage nach der Berufsethik ist keineMode, die kommt und wieder vergeht.Ihre Aktualität ist notwendige Folgeeiner wachsenden Orientierungslosigkeitder Gesellschaft einerseits und einerimmer komplexer werdenden Wirklichkeitandererseits. Die verantworteteEigenentscheidung ist gefragter denn je34


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Ass. jur. Alexander Segmiller ∗Grundstücksschenkungnach inszeniertemSelbstmordversuchSachverhalt: 1(A)nastasia stammt aus einer ehemalsreichen Aristokratenfamilie, die in denWirren der Zeit viel von ihrem Reichtumeingebüßt hat. Unter anderem istdie Stadtvilla, die zugleich das Geburtshausvon As Vater (V)ictor ist, nichtmehr in Eigentum und Besitz der Familie.Der neue Eigentümer ist der Unternehmer(U)lrich. Zum großen Glückvon V haben sich A und U bei einemgesellschaftlichen Ereignis für gehobene∗ Der Autor ist Wissenschaftlicher Mitarbeiterder Eberhard-Karls-Universität Tübingen amLehrstuhl für Bürgerliches Recht, DeutscheRechtsgeschichte und Juristische Zeitgeschichte,Handels- und Gesellschaftsrecht (ProfessorDr. Jan Thiessen).1 Die nachfolgende Hausarbeit wurde in derÜbung für Anfänger im Zivilrecht an der UniversitätTübingen im Wintersemester 2012/13gestellt. Ihr Schwerpunkt liegt auf Problemendes Allgemeinen Teils des BGB. Sie eignet sichdaher insbesondere zur Wiederholung desStellvertretungs- und Anfechtungsrechts, sowieder gesetzlichen Formvorschriften. Siehe hierzuauch die didaktischen Beiträge zum Stellvertretungsrechtvon Lorenz, JuS 2010, 382 ff., 771 ff.sowie zum Anfechtungsrecht von Cziupka, JuS2009, 887 ff. und Büchler, JuS 2009, 976 ff.Kreise kennen und lieben gelernt. Da Ainzwischen schwanger ist, plant dasPaar zu heiraten. A, die weiß wie sehr Vam Geburtshaus der Familie hängt, bittetU, ihrem Vater V doch das Grundstücksamt Haus zu schenken. U ist davonwenig begeistert und lehnt denVorschlag ab. Als alles Bitten und Bettelnnichts nützt, beschließt A, denDruck zu erhöhen: Nachdem sie eineleere Packung Schlaftabletten, eine angebrochenePackung mit brechreizhemmendenMitteln im Bad ausgelegtund eine Flasche Wein auf dem Couchtischplatziert hat, legt sie sich auf dieCouch und wartet auf das Eintreffen desU. Als dieser nach Hause kommt,nimmt A eine unnatürlich verkrampfteHaltung ein. Wie erhofft, glaubt U, seineGeliebte A habe einen Selbstmordversuchunternommen. Der von U herbeigerufeneHausarzt konnte zwar keineakute Lebensgefahr feststellen,meint aber, dass A unter erheblichemStress stünde. Auf Nachfrage des U belügtihn A, indem sie ihm erzählt, dasssie den Druck, den ihr Vater auf sie bezüglichder „Sache mit der Stadtvilla“ausübe, nicht mehr aushalte, sie könnedaher in Zukunft für nichts garantieren.U, der zwar an der Geschichte mit Vzweifelt, weil ihm die Beziehung zwischenVater und Tochter immer sehrgut schien, entschließt sich aus Sorgeum sein ungeborenes Kind und das Lebender A, die Stadtvilla auf V zu übertragen.Diesen Entschluss teilt er A36


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________auch mit. An der Übertragung derStadtvilla ist V nicht beteiligt, A nimmtseinen Platz ein, wobei sie, damit ihreLüge nicht entlarvt wird, sich selbsteine Vollmachtsurkunde ausstellt.Hierzu fälscht sie gekonnt die Unterschriftdes V. In der Folge wird V alsEigentümer in das Grundbuch eingetragenund bezieht die Stadtvilla, wobeier, aufgrund entsprechender Aussagender A, annimmt, dass U ihn nur ausLiebe zu A in der Villa wohnen lässt.Von seiner Eigentümerstellung oderdem vorhergehenden Verhalten seinerTochter A hat er keine Kenntnis. Nachdem Einzug des V in die Villa heiratenA und U. Als kurz nach der Hochzeitdas gemeinsame Kind geboren wirdund keine weiteren Anzeichen fürSelbstmord der A bestehen, ist U erleichtert,dass alles geklappt hat. Leidernicht für lange, denn drei Jahre späterverliebt sich U neu und verlässt A imMai 2011. Obwohl die beiden sich daraufhinihre Hochzeitsgeschenke zurückgeben,erklärt U gegenüber A aufgrundseines schlechten Gewissens, obder Beendigung ihrer Beziehung, dasser auf die Rückgabe der Villa verzichte.Als sich die beiden im Juli 2012 zufälligerweisewiedersehen, kommt es zumStreit. Dabei entfährt A der Satz: „Wegeneinem wie dir hätte ich mich niemalsumgebracht, du weißt gar nichts,ich habe dir alles nur vorgespielt“. Indiesem Moment erst wird U klar, dass Aihren Selbstmordversuch nur inszenierthat. Umgehend setzt er ein Schreibenan V auf, indem er die Geschehnisseschildert und erklärt, dass er die Übereignungder Villa aufgrund des vorgetäuschtenSuizidversuchs der A für„Null und nichtig“ erachte und sofortdie Rückübereignung verlange. Daraufhinstellt V seine Tochter A zur Redeund erfährt erst jetzt von seiner Eigentümerstellungund den Vorgängen, diedazu geführt haben. Obwohl er vomVerhalten seiner Tochter schockiert ist,will er die wiedergewonnene Stadtvillanicht hergeben. Er schreibt zurück, dasser seiner Tochter nicht in den Rückenfallen wolle und ihr damaliges Verhaltenbillige. Außerdem habe U, so habees ihm A, als er sie zur Rede stellte, gesagt,dass er, U, nach der Trennungselbst geäußert habe, auf die Stadtvillaverzichten zu wollen.Aufgabe: In einem umfassendenRechtsgutachten sind die Ansprüchedes U gegen V auf Herausgabe desGrundstücks zu prüfen.Bearbeitervermerk: Die Vorschriftender Grundbuchordnung (GBO) sind vonder Prüfung ausgeschlossen.37


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Gutachten:A. Anspruch aus § 985 BGBU könnte einen Anspruch auf Herausgabedes Grundstücks gegen V gem.§ 985 BGB haben. Dies setzt voraus,dass U Eigentümer des Grundstücksund V unberechtigter Besitzer ist.I. Eigentum des U?Ursprünglich war U Eigentümer desGrundstücks. Er könnte sein Eigentumjedoch durch Übereignung und Eintragungan V gem. §§ 873 I, 925 I 1 BGBverloren haben. Voraussetzung ist diewirksame Auflassung, die Eintragungins Grundbuch und die Berechtigungdes U.1. Wirksame AuflassungZweifelhaft ist bereits, ob eine wirksameAuflassung vorliegt. Dazu müsstenV und U zwei kongruente Willenserklärungen,gerichtet auf den Eigentumswechsel,abgegeben haben. U hat diesbezüglichseinen Willen erklärt. Vselbst aber hat keine Willenserklärungabgegeben. Er könnte jedoch durch Awirksam vertreten worden sein (§ 164 I 1BGB). A müsste im Namen des V eineWillenserklärung mit Vertretungsmachtin den Rechtsverkehr entäußerthaben.a) Wirksame StellvertretungZwar gibt A eine Willenserklärung imNamen des V, gerichtet auf die Auflassungdes Grundstücks, ab, jedoch könntedie erforderliche Vertretungsmachtfehlen.aa) VollmachtsurkundeEine Bevollmächtigung durch V ist zukeinem Zeitpunkt erfolgt. Die eigenmächtigeAusstellung einer Vollmachtsurkundeerfüllt den Tatbestanddes § 172 I BGB nicht.bb) RechtsscheinvollmachtAnzudenken wäre die Möglichkeit entwedereiner Duldungs- oder einer Anscheinsvollmacht.Beide Alternativenerfordern jedoch, dass V in zurechenbarerWeise den Rechtsschein einer wirksamenBevollmächtigung der A setzt.Da V erst durch das Schreiben des Uvon der Fälschung seiner Unterschrifterfährt, kann davon keine Rede sein.b) ZwischenergebnisA ist falsus procurator. Die Auflassungserklärungist schwebend unwirksam.c) Genehmigung gem. § 177 I BGBDie Auflassung könnte aber durch dienachträgliche Zustimmung des V gem.38


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________§§ 177 I, 182 BGB wirksam werden. 2 LautSachverhalt will V die Stadtvilla behaltenund billigt daher das Verhalten derA. Der Erklärungstatbestand der Genehmigungist damit erfüllt. Fraglich istindes, ob die Genehmigung überhauptnoch möglich ist und weiter, ob sienicht auch ausnahmsweise der Formdes Rechtsgeschäfts bedarf, auf welchessie sich bezieht (§ 182 II BGB).aa) Möglichkeit der Genehmigung?Im Schreiben des U an V könnte bereitsein Widerruf des Vertretergeschäfts(der Auflassung) gem. § 178 S. 1 BGB zusehen sein. Dafür muss der andere Vertragsteilhinreichend deutlich erklären,dass er aufgrund eines Mangels der Vertretungsmachtdas Vertretergeschäftwiderruft. 3 U hat aber vom Mangel derVertretungsmacht noch keine Kenntnis.Er hat nach dem Gespräch mit A lediglicherkannt, „dass A ihren Selbstmordversuchnur inszeniert hat“. Das Schreibendes U an V kann daher nicht alsWiderruf ausgelegt werden.2 Gut vertretbar ist es auch, die Genehmigungzunächst im Ergebnis dahinstehen zu lassenund die Prüfung der Anfechtung vorzuziehen,da wenn diese greift, die Genehmigung derAuflassung gegenstandslos geworden ist.3 Schramm, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 178 Rn. 8.bb) Ausnahmsweise: Formbedürftigkeitder Genehmigung?Grundsätzlich ist die Genehmigungformlos möglich (§ 182 II BGB). Zu erwägenwäre jedoch, ob nicht die Formvorschriftdes § 925 I BGB den Gesetzeswortlautdes § 182 II BGB einschränkt.4Eine Ansicht 5 sieht in § 182 II BGB einenParallelfall zu § 167 II BGB. Soll ein eigentlichformbedürftiges Rechtsgeschäftformlos genehmigt werden, sokomme es darauf an, welche Funktionder Formvorschrift des zu genehmigendenRechtsgeschäfts zugrunde liegt. Istjene als Warnhinweis gedacht, sei dieGenehmigung formbedürftig. Diene dieFormvorschrift hingegen bloßen Dokumentationszwecken,sei die Genehmigungformlos möglich.4 In der Praxis wäre der vorliegende Fall kaumdenkbar. Für die Eintragung ins Grundbuchbedarf die schriftliche Vollmacht grundsätzlichzusätzlich noch der öffentlichen Beglaubigung,§ 29 I 1 GBO. Fehlt diese, so kann sie zwar„durch eine in öffentlicher oder öffentlich beglaubigterForm abgegebene sog. Vollmachtsgeständniserklärung“nachgeholt werden (BGH,NJW 1959, 883), jedoch ist das im Sachverhaltnicht geschehen. Unterstellt man ein ordentlichund gewissenhaft arbeitendes Grundbuchamt,unterbleibt die Eintragung und damit die Eigentumsübertragung.Die Vorschriften derGrundbuchordnung sind aber laut Bearbeitervermerkvon der Prüfung ausgeschlossen.5 Medicus, BGB AT, 10. Aufl., S. 404 Rn. 976, S.386 Rn. 929; Flume, BGB AT Band II, 4. Aufl., S.890 (§ 54.6b), S. 860 ff. (§ 52.2b).39


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Vorliegend wird von der Formvorschriftdes § 925 I BGB abgewichen. Tritt dieSchutz- und Warnfunktion des § 925 IBGB aufgrund der Formvorschrift des§ 311b I 1 BGB bzw. hier des § 518 I 1 BGBin den Hintergrund und dient dasFormerfordernis in § 925 I BGB vor allem„dem Ausschluss möglicher Unsicherheitenfür den Grundbuchvollzug“,indem „klare Unterlagen für die Grundbucheintragung“geschaffen werden, 6wäre die formlose Genehmigung möglich.Erblickt man demgegenüber denZweck des § 925 I BGB auch im Schutzbzw. der Warnung des Erklärenden, 7 sowird man eine Formbedürftigkeit bejahenmüssen.Die Gegenansicht 8 lehnt unabhängigvom Zweck der Form des zu genehmigendenRechtsgeschäfts eine Formbedürftigkeitder Genehmigung ab. DieSituation des Genehmigenden sei nichtmit der des Vollmachtgebers vergleichbar,da ein wirksamer Schutz des Vertretenenauch nicht durch die Formbedürftigkeitder Genehmigung erreichtwerde. Der Schutz würde vielmehr überden Vertreter vermittelt. Eine Parallele6 Kanzleiter, in: Münchener Kommentar zumBGB, 5. Aufl., § 925 Rn. 1.7 Stürner, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 925 Rn. 1.8 Schramm, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 177 Rn. 38; Bayreuther, in: MünchenerKommentar zum BGB, 6. Aufl., § 182Rn. 22; Gursky, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011,§ 182 Rn. 23, 27; Leptien, in: Soergel BGB, 13.Aufl., § 182 Rn. 5; BGH, NJW 1994, 1344 (1345)m.w.N. zu beiden Ansichten.zu § 167 II BGB scheide damit aus. Auchwürde aufgrund der Vielzahl von Formvorschriftenmit Warnfunktion die Regelungdes § 182 II BGB praktisch überflüssig.Für eine solche Rechtsfortbildungcontra legem bestehe kein evidenterRechtsnotstand. 9 In der hier zu bearbeitendenSachverhaltskonstellationwäre die Auflassungserklärung damitwirksam genehmigt worden. 10Der klare Wortlaut des Gesetzes unddie praktische Irrelevanz der Fragestellung11 verbieten eine teleologische Reduktiondes § 182 II BGB. Hinzukommt, dass im vorliegenden Fall dasRechtsgeschäft für den Vertretenenzumindest unmittelbar lediglich rechtlichvorteilhaft ist. Die Genehmigung istdamit nicht formbedürftig.d) ZwischenergebnisDie Auflassung ist durch Genehmigungdes V ex tunc wirksam.e) Anfechtung durch UDurch sein an V gerichtetes Schreibenkönnte U seine Willenserklärung, gerichtetauf die Übereignung des Grundstücks,angefochten haben.9 Gursky, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011, § 182Rn. 23, 27.10 OLG Brandenburg v. 29.06.2010 – 5 Wx 35/09.11 Bei Grundstücksgeschäften ist ohnehin eineschriftliche Vollmacht durch öffentliche oderöffentlich beglaubigte Urkunde nachzuweisen,§ 29 I 1 GBO.40


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________aa) AnfechtungsgrundU könnte anfechten, wenn ihn V zurAbgabe der Auflassungserklärung durchwiderrechtliche Drohung oder arglistigeTäuschung veranlasst hat (§ 123 IBGB). 12aaa) Anfechtung gem. § 123 I Alt. 2 BGBV selbst hat U nicht bedroht. Ein tauglicherAnfechtungsgrund könnte aber iminszenierten Selbstmordversuch der Aliegen, da U um das Leben seines ungeborenenKindes und der A fürchtete.Damit ist die Frage aufgeworfen, obauch die Drohung eines Dritten zurAnfechtung berechtigt.(1) Teleologische Einschränkung der Anfechtungbei Drohung durch Dritten?In Sonderkonstellationen führe die Anfechtung,gegründet auf die Drohungdurch einen Dritten, zu unbilligen Ergebnissen:Kenne der Erklärungsempfängerdie Anfechtbarkeit, so werde ermit dem Bedrohten schon gar keinRechtsgeschäft schließen bzw. diesesvon einer teureren Gegenleistung abhängigmachen, was bei Konstellationen,in denen der Bedrohte ein Interes-12 Im Gegensatz zu § 119 BGB, der das dinglicheRechtsgeschäft in der Regel nicht erfasst, wirktdie Täuschung bzw. Drohung normalerweiseauch auf den Übereignungsvorgang ein (vgl.Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 24; Faust, BGB AT, 2.Aufl., S. 180 [§ 22 Rn. 10]).se am Zustandekommen des Vertragshat, nachteilig sein könne. Zu denkensei hier an Lösegeldfälle, in denen derBedrohte Kredit bei seiner Bank sucht,um dem Drohenden das Gefordertezukommen zu lassen. Der Erpresstekönnte den Kreditvertrag anfechten,mit der Folge, dass die Bank auf demSchaden sitzen bleibt, sofern der Täternicht gefasst wird. Um dies zu verhindern,soll die ratio des § 123 II BGB zurteleologischen Reduktion des § 123 IAlt. 2 BGB herangezogen werden. Solangealso der unbeteiligte Vertragspartnerdurch den Vertragsschluss keineSchutzpflichten gegenüber dem Bedrohtenverletzt, sei eine Anfechtungausgeschlossen. 13Gegen diese Auffassung spricht aber,dass der Begriff der Schutzpflichten sicherstens nur im Einzelfall bestimmenlässt 14 und zweitens eine Verletzung dieKenntnis bzw. die fahrlässige Unkenntnisder Bedrohungslage voraussetzt.Praktisch wird damit auf das Kennenoder Kennenmüssen der Drohung abgestellt,mithin wird der Fall der Drohungin den Anwendungsbereich des § 123 IIBGB mit aufgenommen. Ein solches13 Zu dieser Mindermeinung siehe: S. Martens,AcP 207 (2007), 371 (380, 386, 396 ff.).14 So bleiben auch die Ausführungen vonS. Martens (aaO, 397) hierzu vage, wenn erdavon spricht „die Reichweite solcher Schutzobliegenheiten“genauer zu bestimmen um „Wertungswidersprüchezum allgemeinen Programmvorvertraglicher Schutzpflichten zu vermeiden“.41


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Vorgehen ist aber de lege lata nichtmöglich. 15 Die Intention des historischenGesetzgebers und der Umkehrschlussaus § 123 II BGB, der die Anfechtungaufgrund widerrechtlicher Drohunggerade nicht erfasst, sprechen dafür,den Erklärenden vor einer unzulässigenWillensbeeinflussung möglichstgut zu schützen. Es bleibt also bei dergesetzlichen Ausgangslage. Auch diedurch einen Dritten begangene Drohungberechtigt den Vertragspartner,seine Willenserklärung anzufechten. 16(2) Widerrechtliche DrohungDem Verhalten der A müsste ein entsprechenderDrohcharakter entnommenwerden können. Dazu muss demErklärenden zumindest eventualvorsätzlichein Übel in Aussicht gestelltwerden, auf welches der Drohende Einflusshat oder zu haben vorgibt. 17 DasÜbel muss nicht explizit, sondern kannauch konkludent in Aussicht gestelltwerden. 18 Darauf, ob die Drohung realist oder ein bestimmtes Gewicht hat,kommt es nicht an, entscheidend ist die15 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 115.16 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 115; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 123 Rn. 68; Hefermehl,in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 123 Rn. 42.17 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 97.18 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 100; BGH, NJW 1988,2599 (2601); NJW 1955, 877.Sicht des Bedrohten. 19 Durch die Lüge,ihr Vater mache ihr Druck wegen derSache mit der Stadtvilla, die Behauptungsie wisse einfach nicht mehr weiterund könne für nichts garantieren,sowie den vorgetäuschten Selbstmordversuchentsteht bei U der Eindruck,dass A sich und dem ungeborenen Kinddurch einen nochmaligen Selbstmordversuchschaden würde, wenn er nicht,durch die Übertragung des Hauses aufV, den Druck von A nähme. Dieser Eindruckist von A bewusst erweckt worden.Sie handelte damit vorsätzlich.Die Drohung mit Selbstmord müsstewiderrechtlich sein. Das ist dann derFall, wenn entweder das Drohmittel,der verfolgte Zweck selbst oder in Relationzum Mittel unter Zugrundelegungder guten Sitten und des Grundsatzesvon Treu und Glauben als verwerflichanzusehen sind. 20 Vorliegend verstößtbereits die Drohung mit Selbstmordgegen die guten Sitten. 21 Selbst wennman dies anders sähe, 22 stellt jedenfalls19 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 102; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 123 Rn. 66.20 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 103; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 123 Rn. 72; Hefermehl, in:Soergel BGB, 13. Aufl., § 123 Rn. 44.21 Rauscher, Familienrecht, 2. Auflage, Rn. 158;Balz, Lebenserhaltung als Haftungsrund, S. 181.22 Hierüber lässt sich durchaus mit Blick aufdas Selbstbestimmungsrecht des Einzelnenstreiten, vgl. Kühl, in: Kimura/Moser von Fils-42


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________die damit einhergehende Gefährdungdes ungeborenen Kindes ein rechtswidrigesDrohmittel dar. Die Drohung istwiderrechtlich.(3) Kausalität & FinalzusammenhangDie Drohung müsste ferner kausal fürdie Abgabe der Auflassungserklärunggewesen sein. Der Drohende muss denBedrohten zur Abgabe einer Willenserklärungbestimmt haben. 23 Daran könnteman hier zweifeln, da A keine konkreteForderung an U gestellt hat, 24 Ualso aus eigener Überlegung die Auflassungerklärt hat. Grundsätzlich scheideteine Kausalität damit aus, selbst wenndie Überlegung in einer Zwangslageentstanden ist. 25 Allerdings gilt dieseck, Universalitätsanspruch und partikulareWirklichkeiten, S. 49 (61).23 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 112; Faust, BGB AT,2. Aufl., S. 182 (§ 22 Rn. 17).24 Die andere Ansicht ist vertretbar. Möglicherscheint es, eine konkludente Drohung anzunehmen,wenn man auf das vorherige Fordernder A nach Übertragung der Villa abstellt undauf die Lüge nach dem Selbstmordversuch, Vwürde Druck ausüben.25 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 113; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 123 Rn. 71; OLG Karlsruhev. 12.12.2003 – 14 U 34/03, NZA-RR 2005, 186(187); Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 123Rn. 43; RGZ 59, 351 (353); Paulus, Digesten4.2.21: „Wenn eine [Freigelassene], die wegenUndankbarkeit gegenüber ihrem Freilasser beanspruchtwird und die weiß, daß sie wirklich undankbarwar, dem Freilasser, weil ihr Status inGefahr ist, etwas übereignet […], findet das Ediktkeine Anwendung, weil sie selbst die Furcht beisich erregt hat.“ (abgedruckt und übersetzt:dann nicht, wenn der Drohende dieZwangslage gerade zur Erlangung derWillenserklärung schafft. 26 Darüberhinaus muss die Zwangslage geschaffenworden sein, um den Bedrohten zurAbgabe einer bestimmten Willenserklärungmit einem konkreten Inhalt zuveranlassen (objektiv finaler Zusammenhangzwischen Drohung und Erklärung).27 Die A hat die Zwangslage geschaffen,um den U zur Abgabe derAuflassungserklärung zu bewegen. Damitwar die Drohung kausal für die Abgabeder Willenserklärung. Gleichzeitigist damit der finale Zusammenhangzwischen der Schaffung einer Zwangslageund der Abgabe einer bestimmtenWillenserklärung (der Auflassung) e-tabliert.(4) ZwischenergebnisDer Anfechtungsgrund der widerrechtlichenDrohung liegt vor.bbb) Anfechtung gem. § 123 I Alt. 1 BGBV selbst hat U nicht getäuscht. In demvon A vorgespielten Selbstmordversuchkönnte aber eine Täuschung des U liegen,wenn sich V die Handlungen der Azurechnen lassen muss.Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler, Corpus IurisCivilis Band II, S. 357).26 Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 123Rn. 43; RG, Recht 1927, Nr. 2196.27 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 99, 114; Hefermehl, in:Soergel BGB, 13. Aufl., § 123 Rn. 50.43


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________(1) Ausschluss der Anfechtung § 123 II 1BGB 28Da V erst nach der Trennung der EheleuteA und U von dem vorgetäuschtenSelbstmord der A erfährt, könnte eineAnfechtung mangels Kenntnis bzw.fahrlässiger Unkenntnis des V ausscheiden.Voraussetzung dafür ist, dasseine empfangsbedürftige Willenserklärungabgegeben und die Täuschungdurch einen Dritten verübt wurde. DieAuflassungserklärung ist eine empfangsbedürftigeWillenserklärung. Fraglichist nur, ob A Dritte im Sinne des§ 123 II BGB ist.Dritter im Sinne des § 123 II BGB istnicht jede Person außer dem Erklärungsempfänger.29 Zur Definition derPerson des „Dritten“ werden unterschiedlicheAnsätze vertreten. 30 Egal,welcher Meinung man folgt: ein Vertreterdes Erklärungsgegners ist niemalsDritter. 31 Dies gilt auch dann, wenn derVertreter keine Vertretungsmacht besaß,der Geschäftsherr aber später das28 Dieser Prüfungspunkt kann ebenso gut amEnde geprüft werden.29 Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 123Rn. 32.30 Siehe hierzu die Nachweise bei Armbrüster,in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl.,§ 123 Rn. 64; Hefermehl, in: Soergel BGB, 13.Aufl., § 123 Rn. 32.31 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 63; Hefermehl, in: SoergelBGB, 13. Aufl., § 123 Rn. 32; BGH, NJW 1956,705; RGZ 72, 133 (136); RGZ 61, 207 (212).geschlossene Rechtsgeschäft genehmigt.32 A handelte zunächst als falsusprocurator, jedoch wurde das von ihrabgeschlossene Rechtsgeschäft späterdurch V genehmigt (siehe A. I. 1. c.). Aist daher nicht als Dritte im Sinne des§ 123 II 1 BGB anzusehen.(2) Arglistige (widerrechtliche 33 ) TäuschungDer Täuschende müsste vorsätzlichbeim Getäuschten einen Irrtum überobjektiv nachprüfbare Umstände erregt,bestärkt oder aufrechterhalten haben. 34Die Täuschung kann durch aktivesHandeln, ausdrücklich oder konkludent,sowie durch Unterlassen geschehen.35 Auch rein tatsächliche Handlungengenügen. 36 Die von A aufgebauteKulisse (Tablettenpackungen, Alkohol)vermittelte U, wie von A geplant underhofft, die irrige Vorstellung, A habeversucht, sich selbst das Leben zu neh-32 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 63; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 123 Rn. 51; Hefermehl, in:Soergel BGB, 13. Aufl., § 123 Rn. 32; RGZ 76, 107(108 f.). Schon angedeutet in: RGZ 72, 133 (137).33 Dem Kriterium der Widerrechtlichkeitkommt im vorliegenden Fall keine eigenständigeBedeutung zu. Anders ist dies, wenn demTäuschenden ein „Recht auf Lüge“ zusteht (vgl.Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 18 m.w.N.).34 Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 123Rn. 2 f.35 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 27.36 Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 123Rn. 5.44


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________men. Die Inszenierung des vorgetäuschtenSelbstmords ist eine arglistige Täuschung.(3) KausalitätDurch den Irrtum müsste U zur Abgabeeiner Willenserklärung veranlasst wordensein. Dies ist gegeben, wenn derErklärende ohne die Täuschung nichtoder jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunktdie Willenserklärung abgegebenhätte. 37 An der Kausalität fehlt es aber,wenn der Getäuschte die Täuschungdurchschaut 38 oder mit ihr gerechnethat. 39 Laut Sachverhalt wusste U, dasskeine akute Lebensgefahr bestandenhatte und dass das Verhältnis zwischenA und ihrem Vater V sehr gut war. Allerdingserkennt er die Täuschung erstJahre später. U hat weder mit einerTäuschung gerechnet, noch hat er siedurchschaut. Ihm ist lediglich fahrlässigeUnkenntnis der Täuschung vorzuwerfen.Eine solche schadet jedochnicht. 40 Wer zweifelt und verfügt, zeigt37 Singer, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011, § 123Rn. 45; Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl.,§ 123 Rn. 20; RG v. 20.02.1930 – IV 150/29, JW1931, 1358 (1359); v. 07.01.1911 – II 128/10, JW 1911,275.38 BGH, NJW 1971, 1795 (1798).39 Singer, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011, § 123Rn. 45.40 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 123 Rn. 22; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 123 Rn. 45; Hefermehl, in:Soergel BGB, 13. Aufl., § 123 Rn. 20; BGH, NJW1971, 1795 (1798); RG, JW 1911, 275. A.A. nochBGH, NJW 1992, 1506 (1507).gerade, dass er dennoch irrt. Der Irrtumdes U war kausal für die Abgabe seinerWillenserklärung.ccc) ZwischenergebnisDie Auflassungserklärung ist sowohlaufgrund arglistiger Täuschung als auchwegen widerrechtlicher Drohung anfechtbargem. § 123 I BGB.bb) Anfechtungserklärung § 143 I BGBDas Schreiben des U an V könnte alsAnfechtungserklärung auszulegen sein(§§ 133, 157 BGB). Dazu muss das Wort„anfechten“ nicht verwandt werden. Esgenügt, dass sich aus der Willenserklärungeindeutig entnehmen lässt, dassder Anfechtende seine Willenserklärungaufgrund eines Willensmangelsnicht mehr gelten lassen will. 41 In seinemSchreiben gibt U klar zu erkennen,dass er die Übertragung des Grundstücksals „Null und nichtig“ ansiehtund aufgrund des Verhaltens der Ahieran nicht mehr gebunden seinmöchte.Problematisch könnte jedoch sein, dassU nicht geltend macht, hieran „von Anfangan“ nicht mehr gebunden sein zuwollen. Teilweise wird dies verlangt, dafür den Anfechtungsgegner sonst nichterkennbar sei, ob es sich um eine Anfechtungserklärungoder die Ausübung41 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 143 Rn. 2.45


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________eines anderen Gestaltungsrechts handelt.42 Einem juristischen Laien ist dieseUnterscheidung jedoch unbekannt. Umüberflüssigen Formalismus zu verhindern,ist, wie sonst auch, nach dem objektivenEmpfängerhorizont (§§ 133, 157BGB) auszulegen. U will sich hier vondem Rechtsgeschäft lösen und trägt VTatsachen vor, die eine Anfechtungrechtfertigen. Ein schützenswertes Interessedes V an einer anderen Auslegungist nicht zu erkennen. Die Anfechtungwurde wirksam erklärt.cc) Anfechtungsfrist § 124 I BGBDie Anfechtung muss aber innerhalbder Jahresfrist des § 124 I BGB erklärtwerden. Der Beginn der Frist bestimmtsich gem. § 124 II BGB. Er unterscheidetsich bei widerrechtlicher Drohung undarglistige Täuschung.aaa) Widerrechtliche DrohungDie Jahresfrist beginnt mit dem Zeitpunkt,in dem die Zwangslage endet(§ 124 II Alt. 2 BGB). Entscheidend dafürist, dass sich der Bedrohte nichtmehr bedroht fühlt, also ein rein subjektiverMaßstab. 43 Die Zwangslage desU ist bereits mit der Geburt des gemeinsamenKindes kurz nach derHochzeit entfallen, da sich keine weiterenSelbstmordanzeichen bei A zeigen.Eine Anfechtung, gestützt auf eine widerrechtlicheDrohung vier Jahre später,ist nicht mehr möglich.bbb) Arglistige TäuschungDie Anfechtungsfrist beginnt in diesemFall erst mit Entdeckung der Täuschung.Notwendig ist positive Kenntnisder Unrichtigkeit der zur Täuschungvorgenommenen Akte. Erforderlich ist,dass der Getäuschte bestimmte Behauptungenüber die Täuschung aufstellenkann. Der Verdacht, getäuscht wordenzu sein, genügt genauso wenig wie dasUnterlassen sich aufdrängender Nachforschungen.44 Positive Kenntnis erlangtU erst im Juli 2012. Die Anfechtungder Willenserklärung wegen arglistigerTäuschung ist noch möglich.ccc) ErgebnisDie Anfechtung wegen widerrechtlicherDrohung ist nicht mehr, die Anfechtungwegen arglistiger Täuschung hingegennoch fristgerecht möglich.42 Zum Streitstand mit Nachweisen siehe: Segmiller/Dachs,JSE 2011, 46 (65 f.). Abrufbar unter:http://www.zeitschrift-jse.de/files/JSE_1.pdf#page=47(Stand: 20.09.2012).43 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 124 Rn. 4; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 124 Rn. 5; Hefermehl, in:Soergel BGB, 13. Aufl., § 124 Rn. 3; RG v. 29.10.1928 – V. 618/27, JW 1929, 242 (243).44 Armbrüster, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl., § 124 Rn. 3; Singer, in: Staudinger,BGB, Neub. 2011, § 124 Rn. 4; Hefermehl, in:Soergel BGB, 13. Aufl., § 124 Rn. 2 (jeweilsm.w.N.).46


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________dd) Zulässigkeit einer AnfechtungDer Anfechtung aufgrund arglistigerTäuschung könnte jedoch die Bestätigungdes angefochtenen Rechtsgeschäftsgem. § 144 I BGB entgegenstehen.Bestätigt werden kann ungeachtetdes Anfechtungsgrundes jedes anfechtbareRechtsgeschäft. Voraussetzung ist,dass die Anfechtung im Zeitpunkt derBestätigung nicht bereits erklärt wurde,die Anfechtungsfrist noch nicht abgelaufenist und der Bestätigende die Anfechtbarkeitseiner Willenserklärungkennt oder sie zumindest für möglicherachtet (sog. Bestätigungswille). 45Nach der Trennung von A äußert U,dass er auf die Rückgabe der Stadtvillaverzichten wolle. Zu diesem Zeitpunktist weder die Anfechtung erklärt nochdie Anfechtungsfrist für die arglistigeTäuschung abgelaufen.aaa) BestätigungserklärungGleichgültig ist, ob die Bestätigung expliziterklärt wird oder sich aus schlüssigemHandeln ergibt, wobei im letzterenFall strengere Anforderungen an dieBestätigung gestellt werden. 46 DieRechtsprechung nimmt eine konkludenteBestätigung nur an, wenn „jedeandere den Umständen nach einigerma-45 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 144 Rn. 2 (m.w.N.).46 Roth, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011, § 144Rn. 5.ßen verständliche Deutung dieses Verhaltensausscheidet“. 47 Vorliegend kannim Hinblick auf den Kontext, in demdie Erklärung des U erfolgt (Rückgabeder Hochzeitsgeschenke), ein entsprechendesErklärungsbewusstsein des Ubereits bezweifelt werden.Abhängig davon, ob die Bestätigungserklärungals empfangsbedürftige odernicht empfangsbedürftige Willenserklärungverstanden wird, hat dies unterschiedlicheKonsequenzen. Ist die Willenserklärungnicht empfangsbedürftig,so kommt es nur auf den Willen desErklärenden an (§ 133 BGB). Ist die Bestätigungserklärungempfangsbedürftig,so ist eine Auslegung nach dem objektivenEmpfängerhorizont geboten (§ 157BGB).Mit Blick auf die Rechtsicherheit desAnfechtungsgegners soll die Bestätigungserklärungempfangsbedürftigsein. 48 Ausgehend von der Entstehungsgeschichteder Norm 49 ist die Bestätigungserklärungaber als nicht emp-47 BGH, NJW 1990, 1106.48 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 144 Rn. 4; Roth, in: Staudinger, BGB,Neub. 2011, § 144 Rn. 4; Medicus, BGB AT, 10.Aufl., S. 221 Rn. 534; Larenz/Wolf, BGB AT, 9.Aufl., S. 802 (§ 44 Rn. 28).49 Protokolle zu § 113 BGB (S. 276), abgedrucktin: Mugdan, Materialien zum BGB, S. 731: Damalswurde bewusst der Zusatz „gegenüber demAnfechtungsgegner“ gestrichen.47


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________fangsbedürftig anzusehen. 50 Das Rechtsicherheitsargumentverfängt nur dann,wenn der Anfechtungsgegner um dieAnfechtbarkeit des Rechtsgeschäftsweiß oder diese für möglich hält, dennnur dann besteht überhaupt eine Unsicherheit.Kennt der Anfechtungsgegnerden Willensmangel des Rechtsgeschäftsnicht, dann gewinnt er durch den Zugangder Bestätigung nichts. Er mussschließlich davon ausgehen, dass dieWillenserklärung seines Geschäftspartnerswirksam ist.Soweit eine Willenserklärung nichtempfangsbedürftig ist, bestimmt sichderen Inhalt allein nach dem wirklichenWillen des Erklärenden (§ 133 BGB). Zuprüfen ist somit, ob U mit Bestätigungswillenhandelte. 5150 Wendtland, in: BeckOK-BGB, § 144 Rn. 5;Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 144 Rn. 1,3; Flume, BGB AT Band II, 4. Aufl., S. 569 (§31.7); Larenz/Wolf/Neuner, BGB AT, 10. Aufl., S.493 (§ 41 Rn. 169); RGZ 68, 398 (399 f.); RG, JW1911, 359.51 Folgt man der anderen Ansicht und sieht inder Bestätigungserklärung eine empfangsbedürftigeWillenserklärung, müsste nach demobjektiven Empfängerhorizont (§ 157 BGB) ausgelegtund zusätzlich der Zugang erörtert werden.Die Auslegung kann dahinstehen, da es amZugang fehlt. Dieser hängt davon ab, ob AEmpfangsvertreterin oder Botin ist. MangelsVollmacht scheidet eine Empfangsvertretungaus. Die Bestätigungserklärung als einseitigesRechtsgeschäft unterliegt damit den Rechtsfolgendes § 180 S. 3 BGB. Die Bestätigungserklärungist regelmäßig wirkungslos (Schilken, in:Staudinger, BGB, Neub. 2009, § 180 Rn. 9) bzw.entfaltet Rechtswirkung erst, wenn der falsusbbb) BestätigungswillenU, der die Anfechtbarkeit wegen arglistigerTäuschung zum Zeitpunkt seinerErklärung nicht kannte, handelte ohneErklärungsbewusstsein. Fraglich ist, obdie Erklärung des U trotz möglicherweisefehlendem Erklärungsbewusstseinals Bestätigung der anfechtbarenAuflassungserklärung verstanden werdenkann. Dies hängt maßgeblich davonab, welche Bedeutung man demBestätigungswillen beimisst.Ein Teil der Literatur 52 sieht hierin keineFrage des subjektiven Willens, sondernknüpft daran an, wie ein objektiverEmpfänger die Erklärung verstehendurfte. Wird demnach nicht deutlich,dass erkannte Wirksamkeitszweifelausgeräumt werden sollen, so liegtschon gar keine Bestätigung vor. Wirddies deutlich, so kann eine Bestätigungnur über eine Anfechtung gem. § 119BGB vernichtet werden. Legt man dieErklärung des U gem. §§ 133, 157 BGBaus, so gelangt man zum Ergebnis, dassA die Äußerung des U als Bestätigungdes anfechtbaren Geschäfts verstehendurfte.procurator sie an den Vertretenen, als Bote,weitergibt (Medicus, BGB AT, 10. Aufl., S. 406Rn. 983). Zwar gibt A, als sie V alles beichtet,die Willenserklärung des U weiter, jedoch warV bereits ein Widerruf, in Gestalt des Schreibensdes U, zugegangen (§ 130 I 2 BGB).52 Medicus, BGB AT, 10. Aufl., S. 219 Rn. 531;Roth, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011, § 144Rn. 8.48


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Gegen die Auslegung der Bestätigungserklärunggem. §§ 133, 147 BGB sprichtaber, dass es sich, wie gezeigt, geradenicht um eine empfangsbedürftige Willenserklärunghandelt. Einer Auslegunggem. § 157 BGB bedarf es nicht, da esgerade keinen schützenswerten Empfängergibt.In der Folge ist nur entscheidend, obder Erklärende bereits dann mit Bestätigungswillenhandelt, wenn er dasRechtsgeschäft nur für möglicherweiseanfechtbar hält, 53 oder ob positiveKenntnis der Anfechtbarkeit 54 erforderlichist.Bindet man den Erklärenden bereitsdann an seine Erklärung, wenn er mitder Möglichkeit rechnet, dass sich seinGegenüber betrügerisch verhalten hatund sich daraus möglicherweise einAnfechtungsrecht ergibt, so wird einähnliches Ergebnis erreicht wie im Falldes potentiellen Erklärungsbewusstseins.Da vorliegend aber kein schützenswerterRechtsverkehr betroffensein kann (nicht empfangsbedürftigeWillenserklärung), ist nicht einzusehen,53 Hefermehl, in: Soergel BGB, 13. Aufl., § 144Rn. 2; Enneccerus/Nipperdey, BGB AT, 15. Aufl.,Band I Halbband 2, S. 1229; RGZ 68, 398 (401);RGZ 128, 116 (119).54 Wendtland, in: BeckOK-BGB, § 144 Rn. 3;Faust, BGB AT, 2. Aufl., S. 186 (§ 23 Rn. 7);Flume, BGB AT Band II, 4. Aufl., S. 569 (§ 31.7);BGH, NJW 1990, 1106; NJW 1958, 177; Busche, in:Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl., § 144Rn. 7 (m.w.N.).warum der Erklärende, auch wenn ihmFahrlässigkeit zur Last gelegt werdenkönnte, an seine Erklärung gebundensein soll. Erforderlich ist daher, dass derErklärende Kenntnis von der Anfechtbarkeitdes Rechtsgeschäfts habenmuss. Dies ist dann der Fall, wenn derAnfechtungsberechtigte die tatsächlichenUmstände, aus denen sich seinAnfechtungsrecht ergibt, kennt undzumindest weiß, dass er aufgrund dieserUmstände etwas gegen das Rechtsgeschäftunternehmen kann (Laienwertung).55U, der den vorgetäuschten Selbstmordder A als solchen nicht erkannte, hatkeine Kenntnis der die Anfechtung begründendenUmstände und daher auchkeine Kenntnis seines Anfechtungsrechts.2. ZwischenergebnisEine Bestätigung des anfechtbarenRechtsgeschäfts gem. § 144 I BGB durchU ist nicht erfolgt. U hat durch sein anV gerichtetes Schreiben die Auflassungserklärungwirksam angefochten.Die Auflassungserklärung ist damitrückwirkend unwirksam. U ist Eigentümerdes Grundstücks geblieben.55 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 144 Rn. 7 (m.w.N.).49


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________II. V als Besitzer?V ist Besitzer der Stadtvilla gem. § 854BGB.III. Berechtigung zum Besitz, § 986BGBDer Schenkungsvertrag 56 könnte zugunstendes V ein Recht zum Besitzbegründen. Das ist dann der Fall, wennder Schenkungsvertrag ein Eigentumserwerbsanspruchbegründet und eineBesitzübertragung auf den Beschenktenbereits stattgefunden hat. 571. Entstehung des EigentumserwerbsanspruchsDie Entstehung eines Eigentumserwerbsanspruchssetzt voraus, dass derSchenkungsvertrag wirksam zustandegekommen ist. Hierfür sind zwei aufeinanderbezogene Willenserklärungennotwendig. 5856 Die Schenkung der Stadtvilla an V ist keineehebezogene/unbenannte Zuwendung. Sie liegtnur dann vor, wenn ein Ehegatte dem anderenetwas zuwendet. U und A sind aber zum Zeitpunktder Schenkung noch nicht verheiratetund die Übertragung des Grundstücks erfolgtan V (zur Rechtsfigur der ehebezogenen Zuwendung:J. Koch, in: Münchener Kommentarzum BGB, 6. Aufl., § 516 Rn. 60 ff.).57 Siehe hierzu: Baldus, in: Münchener Kommentarzum BGB, 5. Aufl., § 985 Rn. 16.58 J. Koch, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 516 Rn. 14 (m.w.N.).a) Fehlende VertretungsmachtProblematisch ist abermals die fehlendeVertretungsmacht der A (siehe A. I. 1.a)). Das Rechtsgeschäft könnte jedochdurch nachträgliche Genehmigung desV ex tunc gem. §§ 177 I, 184 I BGB wirksamgeworden sein. In diesem Rahmenstellt sich wieder die Frage nach derFormbedürftigkeit der Genehmigung,da das Schenkungsversprechen gem.§ 518 I 1 BGB der notariellen Beurkundungbedurft hätte. Der Formzwang des§ 518 I 1 BGB bezweckt zwar nur denSchutz des Schenkers, sodass die Annahmegrundsätzlich formlos möglichist, jedoch gilt dies dann nicht, wenndie Annahme aus anderen Gründen,hier § 311b I 1 BGB, formbedürftig ist. 59Aus den bereits dargelegten Gründen(siehe A. I. 1. c.) ist aber die Ansicht, die§ 182 II BGB teleologisch reduzierenmöchte, abzulehnen. Im Ergebnis istdie Genehmigung auch hier formlosmöglich.b) Mangelnde Form des SchenkungsversprechensDa das Schenkungsversprechen seinerzeitnicht notariell beurkundet (§ 518 IBGB) wurde, könnte sich eine Formnichtigkeitaus § 125 S. 1 BGB ergeben.Dies ist nicht der Fall, da der Formmangeldurch die Eintragung ins59 J. Koch, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 518 Rn. 4.50


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Grundbuch geheilt wurde (§ 518 IIBGB).c) ZwischenergebnisDer Eigentumserwerbsanspruch ist zunächstwirksam entstanden.2. Untergang des Eigentumserwerbsanspruchsa) Widerruf der Schenkung, § 530BGBU könnte durch Schreiben an V dieSchenkung widerrufen haben. Dazumüsste der Beschenkte eine schwereVerfehlung gegenüber dem Schenker zuverantworten haben, die groben Undankzum Ausdruck bringt.Fraglich ist zunächst, welches Verhaltendes V eine schwere Verfehlung begründet.In Betracht kommt ein Tun,eine Unterlassen oder die Zurechnungdes Verhaltens eines Dritten. 60Beachtet werden muss jedoch, dass aufgrunddes Normzwecks und der Systematikdes § 530 BGB die schwere Verfehlungnach der Schenkung bzw. nachAbgabe des Schenkungsversprechenserfolgt sein muss. Geschützt ist nur dieErwartung, für ein Geschenk bzw. dasVersprechen eines solchen keinen Un-60 J. Koch, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 530 Rn. 5 f.; Wimmer-Leonhardt, in:Staudinger, BGB, Neub. 2005, Rn. 8 ff.dank zu erhalten. 61 Es handelt sich umeinen Spezialfall des Wegfalls der Geschäftsgrundlage(§ 313 BGB). 62 Erst„durch die Annahme des Schenkungsantragstritt der Beschenkte in jenes ‚Pietätsverhältnis‘,das es gerechtfertigt erscheinenlässt, eine Obliegenheit zurUnterlassung grober Undankbarkeit zubegründen“. 63Jedes Verhalten des V bzw. alle ihmzurechenbaren Handlungen der A vorder Abgabe des Schenkungsversprechenscheiden damit als schwere Verfehlungenaus. Nicht angeknüpft werden kanndaher an die Duldung der Täuschungbzw. den inszenierten Selbstmordversuch,da diese zeitlich vor Abgabe desSchenkungsversprechens liegen. Überdiesfehlt dem V jegliche Kenntnis vonden Handlungen der A. Eine sittlichePflicht zum Einschreiten kann ihmnicht auferlegt werden. 64V könnte aber durch das „Behalten desGrundstücks“ eine schwere Verfehlung61 J. Koch, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 530 Rn. 1.62 Muscheler, AcP 203 (2003), 469 (499), dervon „moralischer“ Geschäftsgrundlage spricht.63 Muscheler, AcP 203 (2003), 469 (499).64 Selbst wenn man dies anders sähe, läge jedenfallsim Verhalten des V kein grober Undankgegenüber U. Dieser würde voraussetzen,dass „der Beschenkte bei seiner Verfehlung dieSchenkung und die Eigenschaft des Verletztenals Schenker“ kennt (J. Koch, in: MünchenerKommentar zum BGB, 6. Aufl., § 530 Rn. 7).Siehe auch: Wimmer-Leonhardt, in: Staudinger,BGB, Neub. 2005, Rn. 19.51


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________begangen haben. Nähme man dies an,so wäre jedoch § 530 BGB überflüssig.Der Beschenkte müsste, um der Rechtsfolgezu entgehen, diese vorwegnehmen,indem er das Geschenk zurückgibt.Vertretbar ist allenfalls, dass sich V einerschweren Verfehlung schuldig gemachthat, indem er das Verhalten derA anschließend billigt. V müsste sichaber auch grob undankbar gegenüber Uverhalten haben. Abzuwägen sind allesittlichen und moralischen Umständedes Einzelfalls, 65 insbesondere „die Beschaffenheit,Bedeutung und Motiveder Schenkung sowie Anlass und Artder Verfehlung“ sowie das Verhaltendes Schenkers. 66Die Stadtvilla ist ein erheblicher Vermögenswert,der aufgrund der Sorgeum das Leben von Frau und Tochterverschenkt wird. Von V geht jedochkeine Gefahr für die psychische Stabilitätder A aus, wie U auch zutreffenderkennt. Die Schenkung beruht ausschließlichauf den Fehlvorstellungendes U, die dem V jedoch nicht zuzurechnensind. V hat nach dem Schreibendes U zwei Reaktionsmöglichkeiten:Entweder er billigt das Verhaltenseiner Tochter oder er verweigert dieGenehmigung der Stellvertretung durchA. Die Verweigerung der Genehmigungist gleichbedeutend mit der Rückgabe.Sie kann nicht verlangt werden. Alternativzu fordern, das Verhalten derTochter moralisch zu sanktionieren,indem diese „verstoßen“ wird, ist Vkaum zumutbar, da er ihr näher stehtals seinem ehemaligen SchwiegersohnU.Selbst wenn man dies anders sähe,müsste im Schreiben des U eine Widerrufserklärunggem. § 531 BGB liegen.Erforderlich ist, dass der Widerrufsgrunderkennbar ist. 67 Der Widerruf isteine empfangsbedürftige Willenserklärungund wird daher gem. §§ 133, 157BGB nach dem objektiven Empfängerhorizontausgelegt. Die Erklärung des Uschildert aber lediglich die Geschehnissedie zur Schenkung führten. Die Billigung,als Anknüpfungspunkt für dieschwere Verfehlung und den grobenUndank, erfolgt erst in Reaktion hierauf.Die für V erkennbaren Umstände(Inszenierung des Selbstmordversuchs,Duldung der Täuschung) sind keineWiderrufsgründe im Sinne des § 530BGB.Ein Widerruf der Schenkung gem. § 530BGB ist nicht erfolgt.65 BGH, NJW 1983, 1611 (1612); NJW 1984, 2089(2090); NJW 1999, 1623 (1624).66 Wimmer-Leonhardt, in: Staudinger, BGB,Neub. 2005, § 530 Rn. 18.67 Wimmer-Leonhardt, in: Staudinger, BGB,Neub. 2005, § 531 Rn. 1.52


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________b) AnfechtungDurch das an V gerichtete Schreibendes U könnte dieser den Schenkungsvertragjedoch angefochten haben. AlsAnfechtungsgrund kommt abermalsnur die arglistige Täuschung gem.§ 123 I BGB in Betracht.Fraglich ist jedoch, ob U auch denSchenkungsvertrag, also das schuldrechtlicheGeschäft anfechten wollte.Grundsätzlich sind die VerpflichtungsundVerfügungsgeschäfte abstrakt voneinanderwirksam und die Anfechtungdes einen bewirkt nicht die Unwirksamkeitdes anderen. Leiden jedochbeide Rechtsgeschäfte an einem Fehler,68 so können selbstverständlich beideRechtsgeschäfte angefochten werden.Vorliegend ist auch das Schenkungsversprechenaufgrund der arglistigenTäuschung durch A zustande gekommen.69Zu prüfen bleibt, ob die Anfechtungserklärung,welche im Schreiben des U zusehen ist, dahingehend verstandenwerden kann, dass diese auch denSchenkungsvertrag betreffen soll. Dagegenscheint zu sprechen, dass U ex-68 In diesem Zusammenhang wird auch vonsog. Fehleridentität gesprochen (vgl. Chr. Berger,in: Jauernig BGB, Buch 3 VorbemerkungenRn. 14).69 Der Prüfungsaufbau folgt dem gleichen Musterwie oben und beinhaltet dieselben Probleme,sodass auf eine erneute Darstellung verzichtetwird.plizit nur die „Übereignung“ anfichtund „Rückübereignung“ verlangt. Indesist zu berücksichtigen, dass es sich beiU um einen juristischen Laien handelt,die Auslegung seiner Anfechtungserklärungalso nicht am Wortlaut haftenbleiben darf, sondern darüber hinausdie allgemeinen Auslegungsregelungenanzuwenden sind. 70 Die Auslegunggem. §§ 133, 157 BGB ergibt, dass U seinGrundstück samt Stadtvilla zurückverlangt,was aber scheitern würde, bliebeder Schenkungsvertrag bestehen. Aufder anderen Seite ist bei V, dem Empfängerder Anfechtungserklärung, keinschutzwürdiges Vertrauen darauf, dassU nur das dingliche Rechtsgeschäft anficht,erkennbar. U hat damit denSchenkungsvertrag durch Anfechtungex tunc vernichtet, was zum Untergangdes Eigentumserwerbsanspruchs führt.3. ZwischenergebnisV ist nicht zum Besitz der Stadtvillaberechtigt.IV. ErgebnisU hat einen Anspruch auf Herausgabedes Grundstücks gegen V gem. § 985BGB.70 Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB,6. Aufl., § 143 Rn. 2.53


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________B. Anspruch aus § 894 BGBU könnte gegen V einen Anspruch aufGrundbuchberichtigung gem. § 894BGB haben. 71I. GrundbuchunrichtigkeitIm Grundbuch ist V als Eigentümer desGrundstücks mit der Stadtvilla eingetragen.U ist jedoch nach wie vor Eigentümerdes Grundstücks (siehe A. I.). Diedingliche Einigung (Auflassung) wurdedurch Anfechtung unwirksam. 72 Diewirkliche Rechtslage weicht damit vonder Grundbuchlage ab, das Grundbuchist unrichtig.II. Beeinträchtigung des UZusätzlich erforderlich ist, dass das Eigentumsrechtdes wahren Eigentümersdurch die falsche Grundbuchlage beeinträchtigtist. 73 Dies ist hier anzunehmen,da aufgrund des § 892 BGB V demgutgläubigen Erwerber gegenüber alsEigentümer gilt. Würde V die Stadtvillaveräußern, so verlöre U als wahrerRechtsinhaber sein Eigentum an dengutgläubigen Dritten.III. VerzichtDem Anspruch des U könnte seine eigeneErklärung, auf die Rückgabe derStadtvilla zu verzichten, entgegenstehen.1. Erklärung als Verzicht gem. § 397 IBGBDas negative Schuldanerkenntnis erfasstnur den Verzicht auf einen schuldrechtlichenAnspruch. 74 Der Grundbuchberichtigungsanspruchist eindinglicher Anspruch. 75 Auf ihn kanndaher nicht verzichtet werden. 762. Pactum de non petendoDenkbar wäre, in der Äußerung des Ueine Vereinbarung dahingehend zu sehen,dass er auf die Geltendmachungdes Grundbuchberichtigungsanspruchsverzichtet hat. In der Folge stünde Veine Einrede 77 gegen die Geltendmachungdieses Anspruchs zu. Für einesolche Absprache fehlt U jedoch bereitsdas Erklärungsbewusstsein. Dies ergibtdie Auslegung seiner Aussage gem.§§ 133, 157 BGB. Da er von seinem An-71 Der Anspruch ist nicht durch § 985 BGB ausgeschlossen(Baldus, in: Münchener Kommentarzum BGB, 5. Aufl., § 985 Rn. 48).72 Siehe hierzu: Kohler, in: Münchener Kommentarzum BGB, 5. Aufl. § 894 Rn. 7, 13.73 Kohler, in: Münchener Kommentar zum BGB,5. Aufl. § 894 Rn 19; Stürner, in: Soergel BGB,13. Aufl., § 894 Rn. 13.74 Schlüter, in: Münchener Kommentar zumBGB, 6. Aufl. § 397 Rn. 1.75 Kohler, in: Münchener Kommentar zum BGB,5. Aufl. § 894 Rn. 1; Stürner, in: Soergel BGB,13. Aufl., § 894 Rn. 1, 20.76 RG v. 05.10.1921 – V. 55/21, JW 1922, 218;Gursky, in: Staudinger, BGB, Neub. 2011, § 894Rn. 130.77 Stürner, in: Jauernig BGB, § 397 Rn. 6.54


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________fechtungsrecht keine Kenntnis, geschweigedenn es ausgeübt hatte, wussteer zum Zeitpunkt der Erklärung auchnoch nicht, dass er einen Anspruch aufGrundbuchberichtigung hat. Genausowenig hätte er wissen können, dass seineAussage vom objektiven Empfängerhorizontaus als pactum de non petendoaufgefasst werden könnte. U wolltedurch die Erklärung gar keine Rechtsfolgeherbeiführen. Daher ist für V keineentsprechend Einrede entstanden. 78IV. ErgebnisU hat ebenfalls einen Anspruch aufGrundbuchberichtigung gem. § 894BGB gegen V.C. Anspruch aus § 812 I 1 Alt. 1 BGBU könnte einen Anspruch gegen V aufHerausgabe des Grundstücks gem.§ 812 I 1 Alt. 1 BGB haben. 79V hat Besitz und eine mit der materiellenRechtslage nicht übereinstimmendeGrundbuchposition 80 am Grundstückdurch die Leistung des U (bewusste undzweckgerichtete Mehrung fremdenVermögens) ohne Rechtsgrund (Schenkungsvertragist aufgrund der Anfechtungunwirksam) erlangt.U hat einen Anspruch gegen V auf Herausgabedes Besitzes am Grundstückmit der Stadtvilla bzw. auf Grundbuchberichtigung(sog. schuldrechtlicherGrundbuchberichtigungsanspruch) 81gem. § 812 I Alt. 1 BGB.78 Sieht man dies anders, müsste die Stellungder A als Vertreterin/Botin problematisiertwerden. Das pactum de non petendo ist einVertrag (zweiseitiges Rechtsgeschäft). Das Angebothierzu müsste dem V grundsätzlich zugehen.Ordnet man A als Vertreterin ohne Vertretungsmachtein, so wäre das pactum de nonpetendo schwebend unwirksam. Vor der Genehmigungdurch V erklärt U konkludent denWiderruf, in dem er in seinem Schreiben dieStadtvilla zurückverlangt (§ 178 I BGB). Gehtman hingegen davon aus, dass A kein Angebotim Namen des V über ein pactum de non petendoangenommen hat, wäre sie bestenfallsEmpfangsbotin, mit der Folge, dass das AngebotV erst zugeht, als A ihm alles beichtet. Zuvor istaber durch das Schreiben des U bereits ein Widerrufdes Angebots eingegangen ist (§ 130 I 2BGB). Zur Situation beim einseitigen Rechtsgeschäftgegenüber einem vollmachtlosen Vertreter:Fn. 51.79 Auch vertretbar ist es, auf § 812 I 2 Alt. 1 BGBals Anspruchsgrundlage abzustellen mit demArgument, dass durch die Anfechtung derRechtsgrund nur nachträglich entfällt (zumStreitstand: Lorenz, in: Staudinger, BGB, Neub.2007, § 812 Rn. 88 m.w.N.). Bearbeiter, die einenSchenkungswiderruf für zulässig erachtethaben, gelangen über die Rechtsgrundverweisungdes § 531 II BGB zu einem Bereicherungsanspruchgem. § 812 I 2 Alt. 1 BGB (vgl. J. Koch,in: Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl.,§ 531 Rn. 4 m.w.N.).80 Auf das Eigentum darf hier nicht abgestelltwerden, da dieses gerade nicht erlangt wurde(siehe A. I.).81 Schwab, in: Münchener Kommentar zum BGB,5. Aufl., § 812 Rn. 10 (m.w.N.).55


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________D. GesamtergebnisU hat einen Anspruch gegen V aufRückgabe des Grundstücks gem.§§ 985, 812 BGB und Zustimmung zurBerichtigung des Grundbuchs gem.§ 894 BGB.56


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AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Ass. jur. Dr. Patrick Hinderer / Ref. jur.Carolin Brenner ∗Gemischtes AllerleiHinweise:Die vorliegende Probeexamensklausuraus dem Strafrecht stellt eine Klausurdar, wie sie auch im Ersten juristischenStaatsexamen durchaus vorkommenkönnte. Insbesondere in Baden-Württemberg konnte in den letzten Jahrenausgemacht werden, dass <strong>Examen</strong>sklausurenin der Ersten juristischenStaatsprüfung aus mehreren Gerichtsentscheidungenzusammengesetzt werden.Da hierzulande nur noch eine Klausurim Strafrecht geschrieben wird, wirdregelmäßig versucht, sowohl AT- alsauch BT-Probleme in einer Klausur abzufragen(Ausnahmen gibt es natürlichstets). Die hier gestellte Klausur beginntdaher mit Problemen aus dem AllgemeinenTeil des StGB wie der Notwehr, derEinwilligung und dem Behandlungsab-∗ Die Autoren sind Mitarbeiter am Lehrstuhlfür Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophievon Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. mult. KristianKühl. Die Klausur wurde an der UniversitätTübingen u.a. im Sommersemester 2011 im E-xamensklausurenkurs für die Erste juristischeStaatsprüfung gestellt. Der Notendurchschnittlag bei 6,2 Punkten, die Durchfallquote bei34 %.bruch (zu Grunde liegt BGH, NJW 2010,2963), hat dann im zweiten Teil das Vortäuscheneiner Straftat gem. § 145d StGBzum Gegenstand (zu Grunde liegt OLGOldenburg, NStZ 2011, 95), führt die Bearbeitermit der EG-richtlinienkonformenAuslegung des Betrugstatbestands aufunbekanntes Terrain – hier ist systematischeArgumentation und nicht Wissengefragt – und schließt mit einem klassischenStPO-Problem, der sog. Spontanäußerung.Sachverhalte:Teil I.K liegt seit 4 Jahren im Wachkoma. Siewird in einem Pflegeheim über einenZugang in der Bauchdecke (PEG-Sonde)künstlich ernährt. Dem von K mündlichfür einen solchen Fall geäußertenWunsch entsprechend bemüht sichderen Tochter T, die auch zur Betreuerinder K bestellt wurde, um die Einstellungder künstlichen Ernährung. ZwischenT und dem behandelnden Arztbesteht Einvernehmen, dass der Abbruchder künstlichen Ernährung demwirklichen Willen der K entspricht.Nach Auseinandersetzungen mit derHeimleitung kommt es zu einem Kompromiss,wonach das Heimpersonal sichnur noch um die Pflegetätigkeiten imengeren Sinne kümmern soll, währendT die Ernährung über die Sonde einstellen,die erforderliche Palliativversor-58


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________gung durchführen und ihrer Mutter imSterben beistehen soll. Als T jedoch dieNahrungszufuhr über die Sonde beendet,weist die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmensam nächsten Tagdie Heimleitung an, die künstliche Ernährungumgehend wieder aufzunehmen.T wird ein Hausverbot für den Fallangedroht, dass sie sich hiermit nichteinverstanden erklären sollte. RechtsanwaltR erteilt der T jedoch noch amgleichen Tag den Rat, den Schlauch derPEG-Sonde unmittelbar über derBauchdecke zu durchtrennen, was die Tsodann auch tut. Nachdem das Heimpersonaldies bereits nach einigen weiterenMinuten entdeckt und die Heimleitungdie Polizei eingeschaltet hat,wird K eine neue PEG-Sonde gelegt unddie künstliche Ernährung wieder aufgenommen.K stirbt zwei Wochen spätereines natürlichen Todes.Teil II.Eines späten Abends wird die untereScheibe der gläsernen Eingangstür zumGeschäft des A beschädigt. Ein Anwohnerbemerkt dies und wartet auf die vonihm informierte Polizei. Als diese eintrifft,lässt sie zur Eigentumssicherungdie untere Glasscheibe der Eingangstürvollständig herausschlagen und stattdesseneine Holzplatte anbringen. Amnächsten Tag gibt A bei der Polizeiwahrheitswidrig an, es sei nicht nur dieTürscheibe beschädigt, sondern auchWare aus seinem Geschäft entwendetworden. Eine Aufstellung des Gestohlenenwill er nachreichen. Der ermittelndePolizeibeamte ändert in der Ermittlungsaktedaraufhin die Bezeichnungder Tat von „Sachbeschädigung” in„schwerer Diebstahl”. Als er wiederumam nächsten Tag Ermittlungen am Tatortund eine Vernehmung des A durchführenwill, trifft er diesen nicht an. Beider Zeugenvernehmung des A am Folgetaggibt dieser, der sich gegen Einbruchsdiebstahlversichert glaubt, bewusstwahrheitswidrig an, ihm seiendurch die beschädigte Tür im Einzelnenbezeichnete Waren im Wert von insgesamtrund 9.500,00 € entwendet worden.Als ihm der Polizeibeamte vorhält,dass nach den bisherigen Ermittlungenein Einbruchsdiebstahl nicht stattgefundenhaben könne, bricht A die Vernehmungab. In der Folgezeit kommt esnicht zu weiteren Ermittlungen.Teil III.Als der leichtgläubige A abends mit seinemHandy im Internet surft, klickt erauf einen Werbebanner für ein kostenpflichtigesAnwendungsprogramm, diesog. „Solarium-App“. Es wird ein Werbevideoabgespielt, in dem sich dreijunge Männer unterhalten. In dem Clipmeint einer der jungen Männer: „Washaltet ihr eigentlich von Sonnen mitdem Handy? Ich war am Anfang ja auchskeptisch, aber dann habe ich es pro-59


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________biert! Und es funktioniert mit 100%Bräunungsgarantie, echt! Einfach dieApp runterladen und schon morgensiehst du die ersten Resultate!“ Der A,der in letzter Zeit ganz schön bleichgeworden ist, will sich diese Chancenicht entgehen lassen und lädt sich dieApp zum Preis von 19,99 € auf seinHandy. Tatsächlich steckt hinter derWerbung der Unternehmer D, derweiß, dass die App völlig wirkungslosist. Am Ende des Monats wird das Kontodes A mit 19,99 € neben den regulärenHandykosten belastet. Der Telefonanbieter,dem A eine Einzugsermächtigungerteilt hat, lässt das Geld dem Dzukommen. Zwar hat sich der A seinHandy jeden Tag – wie in der Anleitungangegeben – 30 Minuten vors Gesichtgehalten, braun geworden ist er abernicht.Aufgabe: Wie haben sich R, A und Dnach den Strafvorschriften des StGBstrafbar gemacht?Teil IV.A erscheint von sich aus bei der Polizeiund gesteht dem Beamten P1 schon ander Pforte, einen versuchten Totschlagund eine gefährliche Körperverletzungbegangen zu haben. A wird daraufhinvon den zwei weiteren KriminalbeamtenP2 und P3 zur ärztlichen Untersuchunggefahren, um den A bei der Fahrtnoch ein bisschen weiter auszuhorchen.Während der Fahrt erzählt A weitereEinzelheiten zum Tathergang.Frage: Können die Aussagen von P1, P2und P3 im Prozess verwertet werden?Bearbeitungshinweise: Beachten Sie§ 1901a BGB, folgende Vorschriften desUWG sowie die angefügte EG-Richtlinie.§ 1 UWG – Zweck des GesetzesDieses Gesetz dient dem Schutz der Mitbewerber,der Verbraucherinnen undVerbraucher sowie der sonstigen Marktteilnehmervor unlauteren geschäftlichenHandlungen. Es schützt zugleich dasInteresse der Allgemeinheit an einemunverfälschten Wettbewerb.§ 3 UWG – Verbot unlauterer geschäftlicherHandlungen(1) Unlautere geschäftliche Handlungensind unzulässig, wenn sie geeignet sind,die Interessen von Mitbewerbern,Verbrauchern oder sonstigen Marktteilnehmernspürbar zu beeinträchtigen.(...)§ 16 UWG – Strafbare Werbung(1) Wer in der Absicht, den Anscheineines besonders günstigen Angebots hervorzurufen,in öffentlichen Bekanntmachungenoder in Mitteilungen, die für60


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________einen größeren Kreis von Personen bestimmtsind, durch unwahre Angabenirreführend wirbt, wird mit Freiheitsstrafebis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafebestraft.(....)RICHTLINIE 2005/29/EGKAPITEL 1 – ALLGEMEINE BESTIM-MUNGENArtikel 1 – Zweck der RichtlinieZweck dieser Richtlinie ist es, durch Angleichungder Rechts- und Verwaltungsvorschriftender Mitgliedstaaten überunlautere Geschäftspraktiken, die diewirtschaftlichen Interessen der Verbraucherbeeinträchtigen, zu einem reibungslosenFunktionieren des Binnenmarktsund zum Erreichen eines hohenVerbraucherschutzniveaus beizutragen.Artikel 2 – DefinitionenIm Sinne dieser Richtlinie bezeichnet derAusdrucka) "Verbraucher" jede natürliche Person,die im Geschäftsverkehr im Sinne dieserRichtlinie zu Zwecken handelt, die nichtihrer gewerblichen, handwerklichen oderberuflichen Tätigkeit zugerechnet werdenkönnen;b) "Gewerbetreibender" jede natürlicheoder juristische Person, die im Geschäftsverkehrim Sinne dieser Richtlinieim Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichenoder beruflichen Tätigkeithandelt, und jede Person, die im Namenoder Auftrag des Gewerbetreibendenhandelt;c) "Produkt" jede Ware oder Dienstleistung,einschließlich Immobilien, Rechteund Verpflichtungen;d) "Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehrzwischen Unternehmen undVerbrauchern" (nachstehend auch "Geschäftspraktiken"genannt) jede Handlung,Unterlassung, Verhaltensweiseoder Erklärung, kommerzielle Mitteilungeinschließlich Werbung und Marketingeines Gewerbetreibenden, die unmittelbarmit der Absatzförderung, dem Verkaufoder der Lieferung eines Produktsan Verbraucher zusammenhängt;(…)Artikel 3 – Anwendungsbereich(1) Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktikenim Sinne des Artikels 5zwischen Unternehmen und Verbrauchernvor, während und nach Abschlusseines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.(…)61


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________KAPITEL 2 – UNLAUTERE GE-SCHÄFTSPRAKTIKENArtikel 5 – Verbot unlauterer Geschäftspraktiken(1) Unlautere Geschäftspraktiken sindverboten.(2) Eine Geschäftspraxis ist unlauter,wenna) sie den Erfordernissen der beruflichenSorgfaltspflicht widersprichtundb) sie in Bezug auf das jeweilige Produktdas wirtschaftliche Verhalten des Durchschnittsverbrauchers,den sie erreichtoder an den sie sich richtet oder desdurchschnittlichen Mitglieds einerGruppe von Verbrauchern, wenn sicheine Geschäftspraxis an eine bestimmteGruppe von Verbrauchern wendet, wesentlichbeeinflusst oder dazu geeignetist, es wesentlich zu beeinflussen.(3) Geschäftspraktiken, die voraussichtlichin einer für den Gewerbetreibendenvernünftigerweise vorhersehbaren Artund Weise das wirtschaftliche Verhaltennur einer eindeutig identifizierbarenGruppe von Verbrauchern wesentlichbeeinflussen, die aufgrund von geistigenoder körperlichen Gebrechen, Alter oderLeichtgläubigkeit im Hinblick auf diesePraktiken oder die ihnen zugrunde liegendenProdukte besonders schutzbedürftigsind, werden aus der Perspektiveeines durchschnittlichen Mitglieds dieserGruppe beurteilt. Die übliche und rechtmäßigeWerbepraxis, übertriebene Behauptungenoder nicht wörtlich zu nehmendeBehauptungen aufzustellen,bleibt davon unberührt.(…)Lösungsvorschlag:Teil I.R könnte sich infolge des der T erteiltenRates zum Durchtrennen des Sondenschlauchswegen Anstiftung zum versuchtenTotschlag gemäß §§ 212 I, 22,23 I Var. 1, 26 StGB 1 strafbar gemachthaben.I. Tatbestand1. Teilnahmefähige HaupttatEs müsste eine vorsätzliche, rechtswidrigeTat der T vorliegen. T könnte einenversuchten Totschlag begangen haben.Anmerkung: Es muss hier eine Inzidentprüfungder Tat der T erfolgen. Einesolche musste auch der BGH im Originalfalldurchführen, da T rechtskräftigwegen unvermeidbaren Verbotsirrtums1 Alle Paragraphen im Folgenden ohne Gesetzesangabensind solche des Strafgesetzbuches.62


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________freigesprochen wurde. Nur RechtsanwaltR ging in die Revision.a. VorprüfungDie Tat der T wurde nicht vollendet,der Versuch ist wegen des Verbrechenscharaktersdes Totschlags i.S. von§ 12 I strafbar, § 23 I Hs.1.b. Tatbestandaa) T müsste Tatentschluss hinsichtlichder Tötung der K gehabt haben. K warals Wachkomapatientin ein tauglichesTatobjekt eines Totschlages, da dasmenschliche Leben nach h.M. bis zumHirntod eines Menschen geschütztwird. 2 Dieser war im vorliegenden Falle– des Wachkomas der K – noch nichteingetreten. Bei Durchtrennen der Magensondehandelte T mit dolus directusersten Grades, da sie dem Leben ihrerMutter ein Ende setzen wollte, um derenmündlich geäußerten Willen zuentsprechen. Das Durchtrennen derMagensonde durch T stellt dabei bereitsnach seinem äußeren Erscheinungsbildein aktives Tun und nicht nur ein Unterlassender weiteren Nahrungszufuhrdar. Folglich handelte T mit Tatentschlusshinsichtlich der Tötung der K.bb) T setzte nach allen vertretenen Ansichtendurch die Ausübung der Tö-2 Lackner/Kühl, StGB, 27.Aufl., Vor § 211 Rdnr. 4;Fischer, StGB, 59. Aufl., Vor § 211 Rdnr. 14 ff.tungshandlung zur Tatverwirklichungunmittelbar an. 3c. Rechtswidrigkeitaa) T könnte wegen Nothilfe zu Gunstendes K gem. § 32 gerechtfertigt sein.(1) Es müsste eine Nothilfelage vorgelegenhaben. Die Wiederaufnahme derkünstlichen Ernährung entgegen demmündlich geäußerten Willen der Kkönnte einen gegenwärtigen rechtswidrigenAngriff darstellen. Von der Heimleitungbzw. dem Pflegepersonal wirddurch die Wiederaufnahme der Nahrungszufuhrin die körperliche Integritätund das Selbstbestimmungsrechtder Patientin eingegriffen.Problem: Fraglich ist, ob die Wiederaufnahmeder künstlichen Ernährungein rechtswidriger Ein- bzw. Angriff ist.Die Beendigung der künstlichen Ernährungdurch das Unterlassen der T müsstezunächst zulässig und somit nichtselbst rechtswidrig gewesen sein. Diesesog. passive indirekte Sterbehilfe erfülltdie anerkannten Voraussetzungen füreinen rechtmäßigen Behandlungsabbruch.4 Dabei kam es hier auf den wirklichenausdrücklich geäußerten Willen3 Gute Übersicht zum Streitstand bei Beulke,KK III, 3. Aufl., Rdnr. 109.4 BGHSt 37, 376; BGH, NJW 2010, 2963, (2965);Fischer, StGB, 59. Aufl., Vor § 211 Rdnr. 32 ff.;Kühl, <strong>Jura</strong> 2009, 881 (885 f.).63


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________der K an, der vor Eintritt ihrer Einwilligungsunfähigkeitzweifelsfrei festgestelltworden war. Zwischen der BetreuerinT und dem behandelnden Arzt bestandüberdies Einvernehmen, dass derAbbruch der künstlichen Ernährungdem Willen der Patientin entsprach.Unter diesen Voraussetzungen durftedie Fortsetzung der künstlichen Ernährungnach den allgemein geltendenGrundsätzen unterlassen werden, ohnedass eine betreuungsgerichtliche Genehmigungerforderlich oder veranlasstgewesen wäre. 5Die Heimleitung oder das Pflegepersonalsind weder durch den Heimvertragnoch durch die Gewissensfreiheit(Art. 4 I GG) gerechtfertigt. Beide möglichenRechtfertigungsgrundlagen gebenweder der Heimleitung noch demPflegepersonal das Recht, sich über dasSelbstbestimmungsrecht der Patientenhinwegzusetzen und eigenmächtig inderen verfassungsrechtlich verbürgtesRecht auf körperliche Unversehrtheiteinzugreifen. 6 Folglich lag ein gegenwärtigerrechtswidriger Angriff derHeimleitung bzw. des angewiesenenPflegepersonals in der Wiederaufnahmeder künstlichen Ernährung vor.5 BGH, NJW 2010, 2963 (2965).6 BGHZ 163, 195 (200) m.w.N.; BGH, NJW 2010,2963 (2965); Hufen, NJW 2001, 849 (853); Ingelfinger,JZ 2006, 821 (829); Lipp, FamRZ 2004, 317(324); Uhlenbruck, NJW 2003, 1710 (1711 f.).(2) Es lag aber keine taugliche Nothilfehandlungi.S. des § 32 vor. Die vorliegendeVerteidigungshandlung der Trichtete sich hier nicht gegen Rechtsgüterdes Angreifers, die den tatsächlichenWillen der K missachtenden Pfleger,sondern gegen das Leben der Angegriffenenselbst. 7 Eine Nothilfe scheidetdaher aus.bb) Auch eine Rechtfertigung wegenNotstandes gem. § 34 kommt nicht inBetracht. Unerheblich ist zwar, dasssich der Eingriff gegen denselbenRechtsgutträger, welchem die gegenwärtigeGefahr (für die Rechtsgüter derkörperlichen Unversehrtheit und desSelbstbestimmungsrechts) i.S. von § 34droht, richtet. 8 Jedoch soll der Eingriffdes handelnden Pflegepersonals dashöchstrangige Rechtsgut, das Leben derK, schützen. Dieses überwiegt das von Tgeschützte Erhaltungsgut, das Selbstbestimmungsrechtder Patientin. 9cc) Ein Rechtfertigungsgrund könnteaber aus dem Patientenwillen abgeleitetwerden, die künstliche Ernährungabzubrechen bzw. ihre Fortsetzung zuunterlassen. 10 Vorliegender Fall weist7 BGH, NJW 2010, 2963 (2965).8 BGH, NJW 2010, 2963 (2965); Fischer, StGB,59. Aufl., § 34 Rdnr. 7.9 BGH, NJW 2010, 2963 (2965).10 BGH, NJW 2010, 2963 (2965); Eser, in: Schönke/Schröder,StGB, 28. Aufl., Vor § 211 Rdnr. 28aff.; Fischer, StGB, 59. Aufl., Vor § 211 Rdnr. 43;Kühl, <strong>Jura</strong> 2009, 881 (885 f.).64


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________jedoch die Besonderheit auf, dass diedirekt auf die Lebensbeendigung abzielendeHandlung ein aktives Tun undkein Unterlassen darstellt. Das zunächsterfolgte bloße Einstellen künstlicherErnährung ist schon wegen seinesäußeren Erscheinungsbildes, jedenfallsaber nach dem Schwerpunkt des strafrechtlichrelevanten Verhaltens, nichtals aktives Tun, sondern als Unterlassenund damit als „passives“ Verhalten anzusehen.Das Durchtrennen der Magensondehingegen ist nach diesen Kriterienjedoch als aktives Tun zu qualifizieren.Anerkannt ist die rechtfertigende Wirkungder Einwilligung bisher nur imFall der sog. passiven Sterbehilfedurch Unterlassen. 11 Ein solcher Fallliegt hier jedoch nicht vor.Vorliegend handelt es sich aber umeine passive Sterbehilfe durch aktivesTun. Aktives Handeln im natürlichenSinne sollte aber nach der früherenRspr. stets als rechtswidriges Tötungsdelikti.S. der §§ 212, 216 strafbarsein, in das nicht eingewilligt werdenkonnte. 1211 BGHSt 37, 376; Fischer, StGB, 59. Aufl., Vor§ 211 Rdnr. 33 ff., 58; Rengier, BT I, 15. Aufl., § 7Rdnr. 5; Kühl, <strong>Jura</strong> 2009, 881 (885 f.).12 BGHSt 37, 376 (379); BGH, NStZ-RR 2006,270; Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl.,Vor § 211 Rdnr. 23 ff.; Fischer, StGB, 59. Aufl.,Vor § 211 Rdnr. 33 ff.; Kühl, <strong>Jura</strong> 2009, 881 (884).Problem: Fraglich ist, ob eine Rechtfertigungdurch Einwilligung im Fall derpassiven Sterbehilfe durch aktives Tunmöglich ist.Gegen eine rechtfertigende Wirkung derEinwilligung in einen aktiven Behandlungsabbruchspricht schon das Verständnisdes § 216. Danach ist selbst dieTötung auf Verlangen, die ein kriminellesMinus zur Tötung nach Einwilligungdes späteren Opfers darstellt, strafbar. 13Für die rechtfertigende Wirkung einerEinwilligung in die passive Sterbehilfedurch aktives Tun spricht jedoch dermit dem Erlass des Dritten Gesetzes zurÄnderung des Betreuungsrechts am27.09.2009 eingefügte § 1901a BGB undder Sinn und Zweck dieses sog. Patientenverfügungsgesetzes.14 Hierdurchwurde die zivilrechtliche Rechtslageinsofern geändert, als dass der Gesetzgeberden betreuungsrechtlichen Rahmeneiner am Patientenwillen orientiertenBehandlungsbegrenzung festgelegthat. Das Patientenverfügungsgesetzhatte vor allem auch zum Ziel, RechtsundVerhaltenssicherheit zu schaffen. 15Diese vorrangig das Zivilrecht betreffendeÄnderung muss auch Auswirkungenauf das Strafrecht, vorliegend aufdie Beurteilung der Sterbehilfe, haben.13 Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 216 Rdnr. 1m.w.N.14 BGH, NJW 2010, 2963 (2965).15 BT-Drs. 16/13314, S. 3 f. u. 7 f.65


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________§ 1901a BGB ist Ausdruck des verfassungsrechtlichgarantierten Selbstbestimmungsrechtsi.S. des Art. 2 GG,welches das Recht zur Ablehnung medizinischerBehandlungen und gegebenenfallsauch lebensverlängernderMaßnahmen umfasst. 16 Der Gesetzgeberhat entschieden, dass der Wille einesaktuell einwilligungsunfähigen Patientenunabhängig von Art und Stadiumseiner Erkrankung verbindlich seinund den Betreuer sowie den behandelndenArzt binden soll, § 1901a IIIBGB. 17Ebenfalls in teleologischer Hinsicht istzu beachten, dass die Grenze zwischenerlaubter Sterbehilfe und einer strafbarenTötung nach §§ 212, 216 nicht sinnvollnach Maßgabe einer naturalistischenUnterscheidung von aktivem undpassivem Handeln bestimmt werdenkann. Probleme ergaben sich insofernschon aus der fragwürdigen Umdeutungeines tatsächlich aktiven Verhaltens,etwa beim Abschalten eines Beatmungsgeräts,in ein „normativ verstandenesUnterlassen“ – mit dem Ziel, diesesVerhalten als „passive Sterbehilfe“rechtlich legitimieren zu können. 18 DieEinordnung, ob ein Abschalten der Ge-16 BGH, NJW 2010, 2963 (2965).17 S. hierzu auch BT-Drs. 16/8442, S. 11 f.; Diederichsen,in: Palandt BGB, 71. Aufl., § 1901a Rdnr.16 ff., 29.18 S. hierzu noch die st. Rspr. in BGHSt 40, 257(265 f.) m.w.N., jetzt jedoch: BGH, NJW 2010,2963 (2966 f.).räte als Unterlassen gewertet werdenkann, war dogmatisch problematischund konnte teilweise von bloßen Zufällenabhängen.Es ist deshalb aus Rechtssicherheitsgründensinnvoll und erforderlich, jedesVerhalten, das mit einer solchen Beendigungeiner ärztlichen Behandlung imZusammenhang steht, gleich zu behandeln.Denn wenn ein Patient das Unterlasseneiner Behandlung verlangenkann, muss dies gleichermaßen auchfür die aktive Beendigung einer nicht(mehr) gewollten Behandlung gelten. 19Die drei Voraussetzungen für eine straflose„Sterbehilfe durch Behandlungsunterlassung,-begrenzung oder -abbruch“sind nach dieser neuen BGH-Rechtsprechung: 20 (1) Die betroffenePerson muss lebensbedrohlich erkranktsein. (2) Die betreffende (zu beendende)Maßnahme muss medizinisch zurErhaltung oder Verlängerung des Lebensgeeignet sein. (3) Eine durch Einwilligunggerechtfertigte Sterbehilfemuss objektiv und subjektiv unmittelbarauf die medizinische Behandlungbezogen sein.Diese neu gefassten Voraussetzungenfür eine aktive indirekte Sterbehilfe unddamit für eine Rechtfertigung liegenhinsichtlich des Handelns der T vor.19 BGH, NJW 2010, 2369.20 BGH, NJW 2010, 2369 (2967 f.).66


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________2. ZwischenergebnisT ist folglich aufgrund des Patientenwillensder K gerechtfertigt. Sie hat sichnicht wegen versuchten Totschlagsstrafbar gemacht.II. ErgebnisR ist mangels rechtswidriger Haupttatnicht wegen Anstiftung der T zur versuchtenTötung der K strafbar.Anmerkung: Eine weitere Möglichkeit –nur bei guter anders lautender Argumentationhinsichtlich der Rechtswidrigkeitdes Handelns der T – ist es, im Rahmender Schuld zu einem Verbotsirrtum der Tzu gelangen. Nach Einholung von anwaltlichemRat könnte dieser hier auchals unvermeidbar bewertet werden.Dennoch bliebe eine Strafbarkeit des Rdann bestehen, da es sich wegen der limitiertenAkzessorietät bei der Anstiftungweiterhin um eine teilnahmefähigeHaupttat handeln würde.Im BGH-Fall wurde dem R ein versuchterTotschlag in Mittäterschaft vorgeworfen.Die berufliche Beziehung zwischen Rund T war im Originalfall von längererDauer und R begleitete die T vollumfänglich.Dies lässt sich vorliegend jedochnicht dem Sachverhalt entnehmen.Teil II.A könnte sich durch seine gegenüberdem ermittelnden Polizeibeamten geäußertenAngaben hinsichtlich dervermeintlich gestohlenen Ware wegenVortäuschens einer Straftat gem. § 145d INr.1 strafbar gemacht haben.I. Tatbestand1. ObjektivA müsste eine rechtswidrige Tat i.S. des§ 11 I Nr. 5 bei einer zur Entgegennahmevon Anzeigen zuständige Stelle vorgetäuschthaben. A hat durch die unwahreBehauptung gegenüber der Polizei, ihmseien Waren entwendet worden, dietatsächlich begangene Sachbeschädigung(§ 303 I) zu einem tatsächlichnicht vorliegenden Einbruchsdiebstahl(§§ 242 I, 243 I 2 Nr. 1) „aufgebauscht“und folglich durch das Hinzudichtenweiterer Umstände die wirklich begangeneStraftat verfälscht. Diese als „Täuschungmit Wahrheitskern“ beschriebeneFallkonstellation 21 bereitet besondereProbleme i.R. des § 145d I. Für dieBeurteilung der Strafbarkeit dieses Verhaltensist der Strafzweck des § 145dheranzuziehen.§ 145d I Nr. 1 dient als Ergänzung zu§ 164 dem Schutz der inländischenstaatlichen Rechtspflege und soll – als21 Siehe hierzu ausführlich Krümpelmann, ZStW96 (1984), 999.67


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________abstraktes Gefährdungsdelikt ausgestaltet– die ungerechtfertigte und somitsinnlose Inanspruchnahme des Verfolgungsapparatesund der damit verbundenenSchwächung der Verfolgungsintensität,die durch das Lenken der behördlichenErmittlungen in eine falscheRichtung erfolgt, verhindern. 22Problem: Fraglich ist, ob die erforderlicheabstrakte Gefährdung i.S. des § 145ddurch das „Aufbauschen“ der Sachbeschädigungzu einem Einbruchsdiebstahleingetreten ist und diese somit als„Vortäuschung“ qualifiziert werdenkann.Nach einer (sehr täterfreundlichen)Minderheitsmeinung ist das Tatbestandsmerkmaldes Vortäuschens i.S.des § 145d I Nr. 1 nur dann zu bejahen,wenn sich das geschilderte angeblicheund das tatsächliche Geschehen nicht –auch nicht nur partiell – überschneiden.23 Da A mit seiner unwahren Behauptungnicht das Vorliegen einerneuen Tat im prozessualen Sinne vorspiegelte,ist A nach dieser Ansichtnicht nach § 145d I Nr. 1 strafbar.Die etwas restriktivere Rechtsprechungverlangt, dass die unrichtigen Angaben22 BGHSt 6, 251 (255); Lackner/Kühl, StGB, 27.Aufl., § 145d Rdnr. 1; Fischer, StGB, 59. Aufl.,§ 145d Rdnr. 2; Hecker, JuS 2011, 81.23 Rudolphi/Rogall, in: SK-StGB, 2009, § 145dRdnr. 18 ff.; wohl auch Wessels/Hettinger, BT I,34. Aufl., Rdnr. 710.der Tat ein „völlig anderes Gepräge“gaben und es folglich faktisch zu einemerhöhten Ermittlungsaufwandkam, da nur so dem Schutzzweck derNorm Rechnung getragen werden könne.Vorliegend ist der Tatbestand nachdieser Meinung deshalb nicht erfüllt,weil das Verhalten des A keinen oderzumindest keinen nennenswert höherenErmittlungsaufwand hervorrief. Diefalschen Angaben des A waren nachden nach Tatbegehung sofort festgestelltenTatumständen als solche objektivungeeignet, nennenswerte Ermittlungsmaßnahmenauszulösen und tatendies auch nicht. Der Polizei war aufGrund der festgestellten Tatumstände,nämlich der Anwesenheit des die Beschädigungdes Türglases meldendenZeugen am Tatort bis zum Eintreffender Polizei und wegen der geringenGröße des in die Scheibe geschlagenenLoches, von Anfang an bekannt, dasskein Einbruch in den Laden stattgefundenhatte.Zwar erfolgte das Aufsuchen des Tatortessowie die Vernehmung des A durchden ermittelnden Polizeibeamten,nachdem A seine erste falsche Angabegemacht hatte, jedoch war dem Polizeibeamtenschon zu diesem Zeitpunkt,wie dessen A entgegengehaltener Vorhaltzeigt, bewusst, dass infolge der amTatort festgestellten Türbeschädigungkein Diebstahl hätte stattfinden kön-68


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________nen. 24 Folglich hat sich A nach Ansichtder Rechtsprechung nicht nach § 145d INr.1 strafbar gemacht.Die herrschende Lehre hingegen stelltvor dem Hintergrund des mit einerTathandlung nach § 145d I Nr. 1 einhergehendenGefährdungspotenzials i.S.des Schutzzwecks der Norm darauf ab,ob die „aufgebauschte” Darstellung geeignetist, die Strafverfolgungsbehördezu einem Ermittlungsaufwand zu veranlassen,der erheblich über demjenigenliegt, der zur Aufklärung der tatsächlichbegangenen Straftat erforderlichwäre. 25 Zwar war der Polizei vonAnfang an bekannt, dass aufgrund deram Tatort vorgefundenen Umständeein Einbruchdiebstahl nicht habe stattfindenkönnen, sodass ein zusätzlicherErmittlungsaufwand nicht stattgefundenhat. Jedoch waren die Äußerungendes A, er sei nicht Opfer einer Sachbeschädigung,sondern eines Einbruchsdiebstahlsgeworden, aufgrund desscheinbaren Vorliegens eines schwererenDeliktes generell geeignet, einenerheblich höheren Ermittlungsmehraufwandzu veranlassen. 26 Hierfür24 So auch die Argumentation des OLG Oldenburg,dargestellt von Hecker, JuS 2011, 81.25 BayOLG, NJW 1988, 83; OLG Hamm, NStZ1987, 558 (559); OLG Karlsruhe, MDR 1992, 1166;Fischer, StGB, 59. Aufl., § 145d Rdnr. 5 ff.; Rengier,BT II, 14. Aufl., § 51 Rdnr. 4 ff.; Zopfs, in:MK-StGB, 2. Aufl., § 145d Rdnr. 23, 25.26 So die Argumentation von Hecker, JuS 2011,81.spricht bereits objektiv, dass die vorgespiegelteTat nach §§ 242, 243 I Nr. 1 alsOffizialdelikt von Amts wegen zu verfolgenist, während es sich bei der tatsächlichbegangenen Tat nach § 303 Ilediglich um ein Antrags- bzw. Privatklagedelikthandelt (vgl. § 303c ; § 374 INr. 6 StPO). Folglich ist ein Vortäuscheni.S.d. § 145d I Nr.1 nach der h.M.zu bejahen.Stellungnahme: Der zuerst genannteAnsatz vermag nicht zu überzeugen, daer dem Schutzzweck der Norm nichthinreichend Rechnung trägt. Soferntatsächlich eine Straftat begangen wurde,würden die Strafverfolgungsbehördenhiernach bei jeder auch noch sogroben Entstellung der Tatschilderungschutzlos gestellt und müssten folglichhinnehmen, dass Ermittlungen veranlasstwerden, die die Behörden zusätzlicherheblich belasten. 27Nicht überzeugend ist auch die Ansichtder Rechtsprechung, da hiernach § 145d INr. 1 in die Nähe eines Erfolgsdeliktsgerückt werden würde. Dass das Verhaltendes A keinen zusätzlichen Ermittlungsaufwandauf Seiten der Polizeihervorgerufen hat, da dieser von Anfangan bekannt war, dass kein Einbruchbegangen worden ist, ist für dieErfüllung des § 145d I Nr. 1 bedeutungslos.Darauf, ob die Vortäuschung ir-27 OLG Hamm, NStZ 1987, 558 (559); Zopfs, in:MK-StGB, 2. Aufl., § 145d Rdnr. 25.69


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________gendeinen Erfolg gehabt hat, insbesonderedie Behörde unnötig tätig gewordenist, kommt es aufgrund der Qualifizierungdes § 145d als abstraktes Gefährdungsdeliktnicht an. 28Entscheidend muss daher vielmehrsein, ob die Vortäuschung des A, er seinicht nur Opfer einer Sachbeschädigung,sondern eines Einbruchsdiebstahlsgeworden, generell geeignet ist,einen erheblichen Ermittlungsmehraufwandzu veranlassen. Wie bereitsoben erläutert, hat A somit nach derüberzeugenden h.M. eine Straftat i.S.des § 145d I Nr.1 vorgetäuscht.2. SubjektivA handelte auch vorsätzlich.II. Rechtswidrigkeit und SchuldA handelte rechtswidrig und schuldhaft.III. ErgebnisA hat sich somit gemäß § 145d I Nr. 1strafbar gemacht.Teil III.D könnte durch das Verkaufen der „Solarium-App“eines Betrugs zum Nachteildes A gemäß § 263 I schuldig sein.I. Tatbestand1. Täuschung über TatsachenZunächst müsste A von D über Tatsachengetäuscht worden sein. Tatsacheist jeder Vorgang oder Zustand, derdem Beweis zugänglich ist. 29 Die Wirksamkeitbzw. Unwirksamkeit der Appist eine der Nachprüfung zugänglicheTatsache. Trotz marktschreierischerReklame hat er in den Anzeigen nichtlediglich ein persönliches Werturteilabgegeben, sondern könnte über nachprüfbareTatsachen getäuscht haben. 30Täuschung ist jede Handlung, die durchEinwirkung auf das innere Vorstellungsbildeines anderen eine Fehlvorstellungüber Tatsachen erzeugt. 31 EineTäuschungshandlung könnte vorliegendin dem Verkaufsangebot der wirkungslosen„Solarium-App“ liegen.28 Rengier, BT II, 13. Aufl., § 51 Rdnr. 2; Zopfs,in: MK-StGB, 2. Aufl., § 145d Rdnr. 40; Hecker,JuS 2011, 81.29 Fischer, StGB, 59. Aufl., § 263 Rdnr. 6; Cramer/Perron,in: Schönke/Schröder, StGB, 27.Aufl., § 263 Rdnr. 8.30 BGHSt 34, 199; vgl. auch Tiedemann, in: LK-StGB, 12. Aufl., § 263 Rdnr. 15; Wessels/Hillenkamp,BT 2, 33. Aufl., Rdnr. 496.31 BGH, NJW 2001, 2187; Lackner/Kühl, StGB, 27.Aufl., § 263 Rdnr. 6.70


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________a. Bisherige Auslegung von Täuschungund Irrtum bei § 263 IDer BGH musste einen ähnlichen Fallentscheiden, in dem ein Anbieter Abmagerungs-und Verjüngungspillen sowie„Haarverdicker“ und „Nichtraucherpillen“vertrieb. 32 Der BGH bejahtein diesem Fall eine Täuschung, da derAnbieter über die Wirksamkeit der angebotenenPräparate getäuscht habe.Auch sei ein Irrtum bei den Opfern erzeugtworden. Für die deutsche Betrugsdogmatikwar und ist bisher nochunerheblich, inwiefern das Opferleichtgläubig oder sogar extrem leichtgläubigist und damit die Täuschung beisorgfältiger Prüfung erkennbar gewesenwäre. Leichtgläubigkeit oder Erkennbarkeitder Täuschung bei hinreichendsorgfältiger Prüfung schließt dieSchutzbedürftigkeit der potentiellenOpfer und damit gegebenenfalls eineTäuschung nicht aus. 33 Der deutscheTäuschungsschutzstandard ist sehr opferfreundlich.Geschützt wird auch der„exquisit Dumme“. 34b. Auslegung im Lichte der EG-RichtlinieAnmerkung: Fraglich ist, ob schon andiesem Punkt eine Einschränkung desBetrugstatbestandes möglich bzw. erforderlichist. Eine andere Möglichkeit wäre,beim Tatbestandsmerkmal Irrtumanzusetzen. Der BGH hat in BGHSt 34,199 das „Problem des leichtgläubigenOpfers“ auf der Irrtumsebene behandelt.Da die RLuG aber von den unlauterenGeschäftspraktiken spricht, ist es dogmatischpräziser, das Problem bei derTäuschungshandlung abzuarbeiten (soauch schon Kühl ZStW 1997, 777 (784)).Das Institut der gemeinschaftsrechtskonformenAuslegung nationalerRechtsnormen, das allgemein anerkanntist, 35 soll für eine Anpassung derinnerstaatlichen Rechtsanwendung andie Wertungsvorgaben des Gemeinschaftsrechtssorgen und dessen Geltungsanspruchsichern. 36 Mit § 263 istder Rahmen für die Unterbindung derin der Richtlinie 2005/29/EG genanntenunzulässigen Handlungen bereitgehalten.Allerdings ist dieser Rahmen dannüber die richtlinienkonforme Auslegungauszufüllen.32 BGHSt 34, 199; Vgl. auch den ähnlichen Fallbei Hecker, Fallsammlung zum Europäischenund Internationalen Strafrecht – Juristische<strong>Examen</strong>sklausuren, 2012, 89 ff.33 BGHSt 34, 199; BGH, NStZ-RR 2004, 110 (111).34 Samson, JA 1978, 469 (471).35 Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung,S. 128; Satzger, Europäisierung, S. 518.36 Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl., § 10Rdnr. 1; vgl. dazu auch Schramm, ZJS 2010, 615(617 ff.).71


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Problem: Fraglich ist, wie eine richtlinienkonformeAuslegung des Tatbestandsmerkmals„Täuschung“ erfolgenkann.Die Richtlinie 2005/29/EG beschreibtunlautere Geschäftspraktiken inArt. 5 II RLuG. Verboten sind danachHandlungen, die den Erfordernissender beruflichen Sorgfaltspflicht widersprechenund die in Bezug auf das jeweiligeProdukt das wirtschaftlicheVerhalten des Durchschnittsverbrauchers,den sie erreichen oder an den siesich richten […], wesentlich beeinflussenoder dazu geeignet sind, dieses wesentlichzu beeinflussen.Im Umkehrschluss daraus folgt, dassalle Handlungen, die keine unlauterenGeschäftspraktiken darstellen, nachGemeinschaftsrecht zulässig sind. Esmuss wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts– bzw. wegen der Pflichtzur richtlinienkonformen Auslegung –also zur Straffreiheit all jener Verkaufspraktikenkommen, deren Sanktionierunggegen das Gemeinschaftsrechtverstieße. 37Voraussetzung für eine taugliche Täuschungshandlungist demnach vorliegend,dass durch die Handlung dasVerhalten eines Durchschnittsverbrauchersbeeinflusst werden kann.37 So bereits Soyka, wistra 2007, 129.Für die EG-Richtlinie wird das europäischeVerbraucherleitbild zugrunde gelegt.In seinen Entscheidungen stelltder EuGH immer wieder fest, dass esdarauf ankommt, „wie ein durchschnittlichinformierter, aufmerksamerund verständiger Durchschnittsverbrauchereine Angabe wahrscheinlich“versteht. 38 Folglich muss durch dasTäuschungsverhalten ein durchschnittlichinformierter, aufmerksamer undverständiger Durchschnittsverbraucherin die Irre geführt werden.Wenn also nur solche Verhaltensweisenverboten sind, die sich eignen, einendurchschnittlich informierten, aufmerksamenund verständigen Durchschnittsverbraucherin die Irre zu führen,dann müssen alle Verhaltensweisen,die hierzu nicht geeignet sind, erlaubtsein und dürfen nicht durch nationalesRecht mit Strafe bedroht werden,somit keine Täuschung darstellen.Anderenfalls entstünde ein Widerspruchzwischen § 16 UWG und § 263 I;denn würde § 263 I nicht eingeschränkt,würde die wettbewerbsrechtlicheErlaubnis des § 16 UWG wiedernivelliert. Mit anderen Worten: lautereGeschäftspraktiken sollen erlaubt seinund nicht über § 263 I sanktioniert und38 EuGH, JuS 2000, 76; EuGHE 1995 I, 3599(3629) Rdnr. 34, 36 – Kommission/Deutschland,Sauce hollondaise; EuGHE 1995 I, 1923 (1944)Rdnr. 24 – Mars; EuGHE 1998 I, 4657 (4691).72


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________damit rein faktisch wieder verbotenwerden.c. StellungnahmeEine Anpassung des Strafrechts an dieeuroparechtlichen Vorgaben ist zwingend.39 Dass es hierbei grundsätzlichauch dazu kommen kann, dass strengerenationale Dogmatik aufgeweichtwird – wie hier der strenge § 263 I, derkeinen viktimologischen Ansatz aufweist–, muss als Konsequenz aus derHarmonisierung der verschiedenenRechtsordnungen hingenommen werden.Im Übrigen wird der verminderteOpferschutz, da das „exquisit dummeOpfer“ aus dem Schutzbereich des § 263herausgenommen wird, darüber wiederin gewissem Maße aufgefangen, als dereuropäische Gesetzgeber die demVerbraucher zugemutete erhöhte Eigenverantwortlichkeitdurch die vermehrteEinführung von Informationspflichtenauf Anbieterseite abzufedernversucht. 40Gut vertretbar ist es daher, hier eineEinschränkung des § 263 anzunehmen.Geschützt wird bei richtlinienkonformerAuslegung eben nicht mehr39 Der BGH erkennt dies an und nimmt selbstrichtlinienkonforme Auslegungen strafrechtlicherTatbestände vor; bspw. in BGH, NStZ 2011,411 prüft dieser i.R.d. Bestimmung der Strafbarkeitnach § 16 UWG die Vereinbarkeit seinerAuslegung des Verbraucherbegriffes mit demeuroparechtlichen Verbraucherleitbild.40 Soyka, wistra 2007, 127 (129).der „exquisit Dumme“. Müsste es sichdem Durchschnittsverbraucher aufdrängen,dass die „Solarium-App“ niefunktionieren kann, liegt keine unlautereWerbung und damit keine Täuschungvor. Das Angebot des D ist sooffensichtlich nicht wahr, dass ein besonnener,durchschnittlich informierter,aufmerksamer und verständigerDurchschnittsverbraucher nicht davonin die Irre geführt werden kann. A, derleichtgläubig ist, hätte erkennen könnenund müssen, dass das Angebot desD sich nicht erfüllen lässt.Andererseits ist der dem Betrugstatbestand§ 263 zugrunde liegendeVerbraucherbegriff möglicherweise umfassender.Da der europäische Verbraucherbegriffeinerseits den Anwendungsbereichder Richtlinie über unlautereGeschäftspraktiken begrenzt, andererseitsaber die im Übrigen einschlägigeRichtlinie zur Angleichung derRechts- und Verwaltungsvorschriftender Mitgliedstaaten über irreführendeWerbung (RL 84/450/EWG, ABl. L 250,17) nur einen Mindest-, aber keinenHöchstschutz vorgibt, ist ein Widerspruchzum Gemeinschaftsrecht nichtbegründet; denn eine Verstärkung desVerbraucherschutzes über den Standardder Richtlinien hinaus ist mit demGemeinschaftsrecht vereinbar. 4141 So die im Zusammenhang beachtenswerteEntscheidung des BGH, NStZ 2011, 411 mit Ver-73


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Falls einer richtlinienkonformen Einschränkungdes Tatbestandes mit einerentsprechenden Argumentation und(wohl) auf der Linie des BGH nicht gefolgtwird, ist weiter zu prüfen.2. IrrtumD müsste durch die Täuschung einenIrrtum bei A erzeugt haben. Darunterist jede Abweichung der Vorstellungvon der Wirklichkeit zu verstehen. 42Diese Voraussetzung liegt vor, da A vonder Wirksamkeit der „Solarium-App“ausgeht.3. VermögensverfügungEine Vermögensverfügung, d.h. jedesTun, Dulden oder Unterlassen, das unmittelbarzu einer Vermögensminderungführt, 43 des A liegt vor. Der Abschlusseines Kaufvertrages als rechtsgeschäftlicheWillenserklärung ist eineVermögensverfügung i.S. des § 263. 44weis auf BT-Drs. 16/10145, S. 11 f. und Sosnitza,in: Piper/Ohly/Sosnitza, Gesetz gegen den unlauterenWettbewerb, 5. Aufl., § 2 Rdnr. 85.42 Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl., § 263 Rdnr. 18;Fischer, StGB, 59. Aufl., § 263 Rdnr. 54; Wessels/Hillenkamp,BT 2, 33. Aufl., Rdnr. 508.43 BGHSt 14, 170; Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl.,§ 263 Rdnr. 22; ; Wessels/Hillenkamp, BT 2, 33.Aufl., Rdnr. 620 ff.44 BGHSt 21, 112 f.; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 263Rdnr. 71; Tiedemann, in: LK-StGB, 12. Aufl.,§ 263 Rdnr. 173.4. VermögensschadenAufgrund der Vermögensverfügungmüsste dem A ein Vermögensschadenentstanden sein. Nach h.M. erleidet dasVermögen einen Schaden, wenn seinwirtschaftlicher Gesamtwert durch dieVerfügung des Getäuschten vermindertwird, 45 wenn also nicht nur eine Vermögensvermehrungausbleibt, 46 sondernentweder die Aktiven ihrem Wertnach verringert werden oder neue Verbindlichkeitenentstehen, ohne dassdiese Einbuße durch einen unmittelbarenZuwachs voll ausgeglichen wird(sog. Gesamtsaldierung). 47 Hier kommtdurch den Abschluss des Kaufvertragesausschließlich das Vorliegen eines sog.Eingehungsschadens in Betracht, deraber eine schadensgleiche Vermögensgefährdungvoraussetzt. 48 Eine solcheist i.R.d. Eingehungsbetruges gegeben,wenn durch betrügerische Absicht eineVerbindlichkeit begründet wird, bei derzur Zeit des Abschlusses des Verpflichtungsgeschäftesbereits feststeht, dassdieser nur eine minderwertige Gegenleistunggegenübersteht. 49 Dies ist vorliegendaufgrund der Wirkungslosigkeit45 BGHSt 16, 220; BGH, NStZ 1997, 32; 1999, 353.46 BGH, NJW 1985, 2428; 1991, 2573; OLG Köln,NStZ 2000, 481.47 Fischer, StGB, 59. Aufl., § 263 Rdnr. 90.48 Hierzu sehr ausführlich Fischer, StGB, 59.Aufl., § 263 Rdnr. 176.49 BGHSt 15, 24 (26 f.); 45, 1 (4); Fischer, StGB,59. Aufl., § 263 Rdnr. 176.74


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________der Solarium-App bei einem Kaufpreisvon € 19.99 zu bejahen.Eine schadensgleiche Vermögensgefährdungkönnte jedoch aufgrund derMöglichkeit des A zur Anfechtung bzw.Widerruf des Vertrages ausgeschlossensein.Problem: Fraglich ist, wie sich ein etwaigesAnfechtungsrecht bzw. Widerrufsrechtauf die Beurteilung der schadensgleichenVermögensgefährdungauswirkt.a. AnfechtungsrechtDas Anfechtungsrecht aus § 123 BGBsteht einem Schaden nach ganz h.M.nicht entgegen. 50 Andernfalls würdengerade die Hauptfälle des Betrugs ausdem Tatbestand herausgenommen. DieAnfechtung wegen arglistiger Täuschungwäre zwar binnen Jahresfristmöglich und würde den Vertrag auch extunc beseitigen, jedoch bliebe die Beweispflichtund damit das Prozessrisikobei A. Des Weiteren bestimmt sich dieStrafbarkeit des D ausschließlich fürden Zeitpunkt der tatbestandsmäßigenHandlung, folglich bei Abschluss desKaufvertrages zwischen D und A. Zudiesem Zeitpunkt lag keine geldwerteKompensation des D für die von A eingegangeneVerbindlichkeit vor. Folglichgenügt der Beurteilung einer konkretenVermögensgefährdung die abstrakteMöglichkeit der Schadensverhinderungnicht. 51 Etwas anders kann nur danngelten, wenn der Getäuschte Kenntnisvon den Umständen hat, die ihm dieMöglichkeit geben, den drohendenSchaden jederzeit, ohne Mitwirkungdes Täters und ohne erheblichen zeitlichenund finanziellen Aufwand zu verhindern.Dies ist vorliegend nicht derFall. Es liegt also trotz der Anfechtbarkeitdes Verpflichtungsgeschäftes sowieder Widerrufsmöglichkeit eine konkreteVermögensgefährdung vor.b. WiderrufsrechtA hätte seine Willenserklärung auchwiderrufen können. Ein Widerrufsrechtkönnte sich aus §§ 312 I Nr. 1, 355 I 1BGB ergeben. Jedoch kann auch einsolches aus den gleichen Gründen wiebei der Möglichkeit der Anfechtung desVertrages nicht zum Ausschluss desVermögensschadens führen (s. 4.a.).Folglich liegt infolge des Vertragsabschlusseseine schadensgleiche Vermögensgefährdungvor. Diese wurde mitder Abbuchung vom Konto des A zumErfüllungsschaden. Die Abbuchungstellt jedoch aufgrund der Bejahung desEingehungsbetruges ausschließlich eineVertiefung des Schadens dar.50 BGHSt 21, 384; 22, 89; 23, 300.51 Hierzu ausführlich Satzger, <strong>Jura</strong> 2009, 518 ff.75


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________5. VorsatzD handelte mit Wissen und Wollenhinsichtlich der objektiven Tatbestandsmerkmale.6. BereicherungsabsichtD handelte auch mit Bereicherungsabsicht.Er wollte sich durch den Verkaufder wirkungslosen App einen Vermögensvorteilverschaffen.7. Rechtswidrigkeit der Bereicherungund Vorsatz diesbezüglichDie Rechtswidrigkeit der Bereicherungliegt vor, wenn sie der materiellenRechtsordnung widerspricht. 52 Der Anspruchdes D ist nicht durchsetzbar, daA eine rechtsvernichtende Einwendunggem. §§ 123 I, 142 I BGB geltend machenkann. D handelte auch diesbezüglichmit Wissen und Wollen.II. Rechtswidrigkeit und SchuldRechtfertigungsgründe oder Entschuldigungsgründesind nicht ersichtlich.III. Ergebnis (sofern keine richtlinienkonformeTatbestandseinschränkungvorgenommen wurde)D ist strafbar wegen Betruges gemäߧ 263 I.52 Statt vieler BGHSt 19, 206; Lackner/Kühl,StGB, 27. Aufl., § 263 Rdnr. 61.Teil IV. 53A. Zeugenvernehmung des P1Die Aussage des P1 könnte möglicherweisenicht verwertbar sein. Dazumüsste zunächst gegen ein Beweiserhebungsverbotverstoßen worden sein. Eskönnte ein Verstoß gegen § 136 I 2 StPOvorliegen. Grundsätzlich ist der Beschuldigtevor seiner Vernehmung gemäߧ 136 I 2 StPO zu belehren. EineVernehmung liegt aber nur vor, wennder Vernehmende dem Beschuldigten„in amtlicher Eigenschaft gegenübertrittund in dieser Eigenschaft von ihm Auskunftverlangt“. 54Das Geständnis des A auf der Polizeiwachegegenüber P1 hat dieser aber imRahmen einer „Spontanäußerung“ außerhalbeiner Vernehmung gemacht.Einigkeit besteht darin, dass solcheSpontanäußerungen durch Vernehmungdes Vernehmungsbeamten alsZeugen in das Verfahren nach §§ 48 ff.StPO uneingeschränkt eingeführt undverwertet werden können. 55 Begründetwird dies damit, dass eine Beschuldigtenbelehrungfaktisch unmöglich war.Da kein Erhebungsverbot wegen eines53 Stark verkürzt BGH, NJW 2009, 3589; mitähnl. Abwandlung von Heintschel-Heinegg, JA2010, 231; vgl. auch Hinderer, JA 2012, 115 ff.54 BGHSt 40, 211 (213); 42, 139 (145); dazu auchRoxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26.Aufl., § 25 Rdnr. 11.55 Beulke, StPO, 11. Aufl. 2010, § 7 Rdnr. 118m.w.N.76


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Verstoßes gegen § 136 I 2 StPO vorliegt,ist die Aussage des P1 verwertbar.hinzuwei-Aussageverweigerungsrechtsen“. 56Diese Ausklammerung der sog. Spontanäußerungenaus dem Vernehmungsbegriffmuss aber begrenzt werden.B. Zeugenvernehmung P2 und P3Hinsichtlich der Angaben des A vor P2und P3 ist ein Verstoß gegen § 136 IStPO zu bejahen. Zum Zeitpunkt derFahrt zur ärztlichen Untersuchung bestandnämlich bereits ein so starkerTatverdacht gegen A, dass eine Belehrungi.S.v. § 136 I 2 StPO zwingend hätteerfolgen müssen.Dass A die Angaben nicht auf ein gezieltesBefragen hin – d.h. nicht i.R.e.Vernehmung nach der oben genanntenDefinition –, sondern von sich aus gemachthat, kann daran nichts ändern.Dass Spontanäußerungen grds. vollverwertbar sind, darf von den Ermittlernnicht gezielt ausgenutzt werden,um Belehrungspflichten zu umgehen.Eine solche gezielte Umgehung liegtaber nach Ansicht des BGH nahe, wennsich „Polizeibeamte nach einem Spontangeständnisüber einen erheblichenZeitraum Einzelheiten der Tat berichtenlassen, ohne den Beschuldigten auf seinDieses Erhebungsverbot führt wegenVerstoßes gegen § 136 I StPO auch zueinem Verwertungsverbot.Bei Ausbleiben der Belehrung ist nachder Rechtsprechung des BGH grundsätzlichvon einem Verwertungsverbotauszugehen. 57 Dies macht jedoch nichtdie im Einzelfall vorzunehmende Abwägungentbehrlich (Abwägungslehre).Ausgangspunkt ist die Rechtskreistheorie.58 Da § 136 I StPO den Beschuldigtenschützt, spricht zunächst grds. mehr fürein Verwertungsverbot. Hier ist zwardas im Raum stehende Delikt sehrschwer, das Interesse an der Aufklärungdamit hoch. Die Verletzung des strafrechtlichenGrundsatzes, dass der Beschuldigtesich nicht belasten muss unddarauf auch hingewiesen werden muss,darf jedoch nicht – und schon gar nichtwie hier bewusst und gezielt – umgangenwerden.C. ErgebnisDie Angaben von P1 können verwertetwerden; die Angaben von P2 und P356 So die Argumentation bei BGH, NJW 2009,3589.57 BGHSt 38, 214; vgl. auch Monka, in: Beck -scher Online-Kommentar StPO, Edition 15, §136 Rdnr. 21 m.w.N.58 Dazu Hinderer, JA 2012, 115 (117 f.) m.w.N.77


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________können nicht im Strafprozess gegen Averwertet werden.78


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Haftung in „Herausforderungsfällen“ bei vorsätzlichherbeigeführtem Schaden durch die PolizeiBGH, Urteil vom 31.01.2012 – VI ZR 43/111. Der Halter eines Kraftfahrzeuges, der sich der polizeilichen Festnahme durchFlucht unter Verwendung seines Kraftfahrzeuges entzieht, haftet unter demGesichtspunkt des Herausforderns sowohl nach § 823 Abs. 1 BGB als auch nach§ 7 StVG für einen bei der Verfolgung eintretenden Sachschaden an den ihn verfolgendenPolizeifahrzeugen, wenn dieser Schaden auf der gesteigerten Gefahrenlageberuht und die Risiken der Verfolgung nicht außer Verhältnis zu derenZweck stehen. (amtlicher Leitsatz)2. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Fahrer eines Polizeifahrzeuges zumZwecke der Gefahrenabwehr vorsätzlich eine Kollision mit dem fliehendenFahrzeug herbeiführt, um es zum Anhalten zu zwingen. (amtlicher Leitsatz)3. Der Anspruch auf Ersatz des dabei an den beteiligten Polizeifahrzeugen entstandenenSachschadens kann nach § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG auch als Direktanspruchgegen den Haftpflichtversicherer des Fluchtfahrzeuges geltend gemachtwerden. (amtlicher Leitsatz)Sachverhalt (vereinfacht):Der A wollte sich einer Verkehrskontrolledurch Flucht entziehen, wobei erhierbei eine Polizeibeamtin verletzte.Die Polizei nahm die Verfolgung überdie Autobahn auf. A wechselte mehrfachdie Fahrstreifen, überholte knappund befuhr auch den Standstreifen.Hierbei kam es zu einigen gefährlichenSituationen. Um den Flüchtigen zustoppen, entschloss sich die Polizei, mitzwei Fahrzeugen den Verkehr zu verlangsamen,während ein um Hilfe gebetenerLKW-Fahrer den Standstreifenblockierte. A versuchte zwischen denbeiden Polizeifahrzeugen hindurch zufahren. Hierbei wurde er (vorsätzlich)von einem noch hinter ihm fahrendenPolizeifahrzeug gerammt und an derLeitplanke zum Stehen gebracht. Durchdas Auffahren des Polizeiwagens aufdas Fahrzeug des A wurden auch dieübrigen Polizeifahrzeuge beschädigt. Vist der Haftpflichtversicherer des A undwird vom Land L auf Schadensersatz inunstreitiger Höhe von 17.000 € für die79


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Schäden an den Polizeiwagen in Anspruchgenommen. Besteht dieser Anspruch?Falllösung:Das Land L hat gegen V einen Anspruchauf Schadensersatz in Höhe von 17.000 €gem. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, wennein solcher Anspruch zunächst gegen Abesteht.I. Anspruch des L gegen A gem. § 823Abs. 1 BGBVoraussetzung für einen Anspruch desL gegen A gem. § 823 Abs. 1 BGB ist,dass der A eines der dort genanntenRechte oder Rechtsgüter mindestensfahrlässig verletzt hat. Eine Eigentumsverletzungin Form der Beschädigungenan den Polizeiwagen liegt unproblematischvor. Fraglich ist allerdings, ob dieseEigentumsverletzung dem A zugerechnetwerden kann. Denn unmittelbareUrsache war nicht eine Handlungdes A, sondern das vorsätzliche Auffahrendurch einen Polizeiwagen. Für dieZurechnung in solchen „Herausforderungsfällen“hat der BGH bestimmteKriterien entwickelt und auch im konkretenFall eine Zurechnung bejaht:„Nach der Rechtsprechung des erkennendenSenats kann jemand, der durchvorwerfbares Tun einen anderen zuselbstgefährdendem Verhalten herausfordert,diesem anderen dann, wenn dessenWillensentschluss auf einer mindestensim Ansatz billigenswerten Motivationberuht, aus unerlaubter Handlungzum Ersatz des Schadens verpflichtetsein, der infolge des durch die Herausforderunggesteigerten Risikos entstandenist […]. Eine auf solcher Grundlageberuhende deliktische Haftung ist insbesonderein Fällen bejaht worden, in denensich jemand pflichtwidrig der (vorläufigen)Festnahme oder der Feststellungseiner Personalien durch Polizeibeamteoder andere dazu befugte Personendurch die Flucht zu entziehen versuchtund diesen Personen dadurch Anlassgegeben hat, ihn zu verfolgen, wobei siedann infolge der durch die Verfolgunggesteigerten Gefahrenlage einen Schadenerlitten haben […].Voraussetzung für eine deliktische Haftungist in solchen Fällen stets, dass derin Anspruch genommene Fliehende seinenVerfolger in vorwerfbarer Weise zuder selbstgefährdenden Reaktion herausgeforderthat […]. Dabei muss sichdas Verschulden insbesondere auch aufdie Verletzung eines der in § 823 Abs. 1BGB genannten Rechtsgüter erstrecken,d.h. der Fliehende muss sich bewusstgewesen sein oder zumindest fahrlässignicht erkannt und bei der Einrichtungseines Verhaltens pflichtwidrig nichtberücksichtigt haben, dass sein Verfolgeroder durch diesen ein unbeteiligter Dritterinfolge der durch die Verfolgung ge-80


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________steigerten Gefahr einen Schaden erleidenkönnte […].“Dies ist vorliegend der Fall. Es ist keinesfallsuntypisch, dass ein Fliehendervon der Polizei auch unter Inkaufnahmevon Sachschäden gestoppt wird, umdadurch andere Verkehrsteilnehmer zuschützen und die Strafverfolgung sicherzu stellen. Für A war also nicht nur vorhersehbar,dass ihn die Polizei verfolgenwird, sondern auch, dass es dabeimöglicherweise zu Eigentumsverletzungenim Sinne des § 823 Abs. 1 BGBkommen kann.Um in solchen Herausforderungsfällendie Haftung nicht ausufern zu lassen,nimmt der BGH eine Verhältnismäßigkeitsabwägungvor und prüft, ob daseingesetzte Mittel zum erstrebtenZweck noch in einer angemessenen Relationsteht. Konkret in unserem Fallalso, ob es angemessen war, den A unterInkaufnahme von Sachschäden zustoppen:„Wesentlicher Gradmesser für eine Herausforderungzur Verfolgung mit derÜberbürdung des gesteigerten Verletzungsrisikosauf den Fliehenden ist insbesonderedie angemessene Mittel-Zweck-Relation, nach der die Risiken derVerfolgung und der Beendigung derFlucht nicht außer Verhältnis zu demZiel der Ergreifung des Fliehenden stehendürfen, weil ansonsten die Schädigungnicht mehr in den Schutzbereich derHaftungsnorm fällt […].Der Versicherungsnehmer der Beklagtenhat sich nach den Feststellungen desBerufungsgerichts einer Verkehrskontrolleentzogen, dabei eine Polizeibeamtinverletzt und sich danach über vieleKilometer hinweg mit den ihn verfolgendenPolizeifahrzeugen mit hoher Geschwindigkeiteine Verfolgungsjagd mitmehrfachem Fahrstreifenwechsel unterMitbenutzung des Standstreifens geliefert.Da von diesem rücksichtslosen Verhalteneine erhebliche Gefahr für andereVerkehrsteilnehmer ausging, stand dieEntscheidung, die Flucht durch eine Kollisionmit dem Fluchtfahrzeug auf dieerfolgte Art zu beenden, nicht außerVerhältnis zu dem Ziel der Beendigungder Flucht und der Ergreifung des Fliehenden.“Zudem müsste A auch fahrlässig gehandelthaben. Wie bereits oben bei derZurechnung festgestellt wurde, war fürA die Reaktion der Polizei vorhersehbar.Fahrlässigkeit ist damit unproblematischgegeben. Dazu der BGH:„Nach den Feststellungen des Berufungsgerichtswusste der Versicherungsnehmerder Beklagten, dass er verfolgtwird, und musste auch damit rechnen,dass für seine Verfolger und ihre Fahrzeugebei seiner Fahrweise nicht nur eingesteigertes Risiko bestand, während derVerfolgungsfahrt einen Schaden zu er-81


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________leiden, sondern auch bei einer Beendigungder Flucht durch eine bewusst herbeigeführteKollision mit dem Fluchtfahrzeug.Bei einer Verfolgungsjagd, wiesie im Streitfall stattgefunden hat, ist esnicht fernliegend, dass die Polizeibeamtenerforderlichenfalls auch Schäden anden Polizeifahrzeugen in Kauf nehmen,um den Flüchtenden zu stoppen undSchlimmeres zu verhindern.“Damit hat L gegen A einen Anspruchgem. § 823 Abs. 1 BGB auf Zahlung von17.000 €. Dieser kann gem. § 115 Abs. 1S. 1 Nr. 1 VVG direkt gegen V geltendgemacht werden.II. Anspruch des L gegen A gem. § 7Abs. 1 StVGVoraussetzung für einen Anspruch gem.§ 7 Abs. 1 StVG ist, dass eines der dortgenannten Rechte oder Rechtsgüter beidem Betrieb eines Kraftahrzeugs verletztworden ist.Fraglich ist allerdings, ob der Schaden„bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs“entstanden ist. Hierfür ist nicht etwaerforderlich, dass es sich um einen ordnungsgemäßenBetrieb des Kraftfahrzeugshandelt. Sinn und Zweck des § 7Abs. 1 StVG ist es gerade, die anderenVerkehrsteilnehmer von allen von derGefahrenquelle Kraftfahrzeug verursachtenSchäden frei zu halten.„Ein Schaden ist demgemäß bereits dann‚bei dem Betrieb‘ eines Kraftfahrzeugsentstanden, wenn sich in ihm die vondem Kraftfahrzeug ausgehenden Gefahrenausgewirkt haben, d.h. wenn bei derinsoweit gebotenen wertenden Betrachtungdas Schadensgeschehen durch dasKraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist[…]. Erforderlich ist aber stets, dass essich bei dem Schaden, für den Ersatzverlangt wird, um eine Auswirkung derjenigenGefahren handelt, hinsichtlichderer der Verkehr nach dem Sinn derHaftungsvorschrift schadlos gehaltenwerden soll, d.h. die Schadensfolge mussin den Bereich der Gefahren fallen, umderentwillen die Rechtsnorm erlassenworden ist […].“Ein wie hier vorliegender Auffahrunfallist eine typische Gefahr, die beim Betriebeines Kraftfahrzeugs entsteht.Dass der Auffahrunfall von den Polizistenvorsätzlich herbeigeführt wurde, isteine Frage der Zurechnung, die obenbereits bejaht wurde.Da keine höhere Gewalt im Sinne des§ 7 Abs. 2 StVG vorliegt, hat L gegen Aeinen Anspruch gem. § 7 Abs. 1 StVG,der gem. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG direktgegen V geltend gemacht werdenkann.82


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Hinweise:Geht es um einen Unfall mit einemKraftfahrzeug, sollte der Klausurbearbeiter– neben der bekannten Anspruchsgrundlagedes § 823 Abs. 1 BGB – immerauch an die Gefährdungshaftungstatbeständein den §§ 7, 18 StVG gegen Halterund Fahrzeugführer denken. Zudemsind Klausurkonstellationen nicht selten,in denen (wie hier) ein Direktanspruchgegen die Haftpflichtversicherunggeprüft werden soll. Dieser ergibtsich für die Kfz-Haftpflicht aus § 115Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG. Freilich ist § 115Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG nur der Einstieg indie Klausur. Im Übrigen muss schwerpunktmäßiggeprüft werden, ob überhauptein Anspruch besteht (vgl. denWortlaut des § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG„seinen Anspruch auf Schadensersatz“).(Ref. jur. Dr. Julius Forschner)83


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Rückforderung zu viel gezahlter Abschleppkostenbei Abtretung an das AbschleppunternehmenBGH, Urteil vom 06.07.2012 – V ZR 268/11, NJW 2012, 3373Der Anspruch auf Rückzahlung überhöhter Abschleppkosten richtet sich auchdann gegen den gestörten Grundstücksbesitzer, wenn dieser seinen Schadensersatzanspruchgegen den Störer an das Abschleppunternehmen abgetreten hat(Leitsatz).Sachverhalt (vereinfacht):F stellte sein Fahrzeug auf dem Grundstückdes E im Bereich einer – deutlichals solcher gekennzeichneten – Feuerwehrzufahrtab. E hat mit dem AbschleppunternehmerU einen Vertraggeschlossen, in dem sich U verpflichtet,unbefugt abgestellte Fahrzeuge vomGrundstück des E zu entfernen. Als Gegenleistunghat E alle Ansprüche gegendie unberechtigt Parkenden abgetreten.U setzte das Fahrzeug des F um undteilte ihm den Standort erst nach Zahlungvon 270 € Abschleppkosten mit. Fhält diese Kosten (zutreffend) für überhöhtund verlangt von U Rückzahlungder zu viel gezahlten 130 €.Besteht der Anspruch des F gegen U?Einleitung:Die Vielzahl zu Abschleppkosten ergangenenBGH-Entscheidungen lassendarauf schließen, dass sich das „Befreien“privater Parkflächen von unberechtigtgeparkten Fahrzeugen inzwischenzu einer lukrativen Industrie entwickelthat. Häufig werden hierfür überhöhteAbschleppkosten verlangt, die der Kfz-Halter aber faktisch zu zahlen gezwungenist, weil er sonst den Standort seinesAutos nicht erfährt. Die andereMöglichkeit, den Unternehmer auf Bekanntgabedes Standorts zu verklagen,wäre deutlich zu zeitaufwendig, so dasssich in der Praxis das Prozessrisiko aufden Kfz-Halter verlagert, der gezwungenist, den zu viel gezahlten Betragzurückzufordern. In der vorliegendenSituation stellt sich für den betroffenenKfz-Halter insbesondere die Frage desrichtigen Anspruchsgegners. Im konkretenFall hatte der Kfz-Halter denBetrag vom Abschleppunternehmer Ueingeklagt. Ein Fehler, wie der BGHnunmehr klarstellte.84


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Falllösung:Anspruch des F gegen U aus § 812 I 1Var. 1 BGBVoraussetzung für einen Anspruch desF gegen U gem. § 812 I 1 Var. 1 BGB ist,dass U von F etwas durch Leistung ohnerechtlichen Grund erlangt hat.I. Etwas erlangtU hat von F Abschleppkosten in Höhevon 270 € erlangt.II. Ohne rechtlichen GrundDie Abschleppkosten waren 130 € zuhoch angesetzt. U hatte also nur einenAnspruch gegen F in Höhe von 140 €.Die 130 € zu viel bezahlte Abschleppkostenhat U damit ohne rechtlichenGrund erlangt.III. Durch Leistung des FFraglich ist jedoch, ob er diese Abschleppkostenauch durch Leistung desF erlangt hat. Bei unbefangener Betrachtungsweisewäre dies unproblematischzu bejahen, da F an U gezahlt hat.Der Leistungsbegriff des Kondiktionsrechtsist jedoch weitaus komplexer, alses auf den ersten Blick scheint. In Abtretungssituationenstellt sich namentlichdie Frage, ob an den Zessionar (Abtretungsempfänger,hier U) oder an denZedenten (Abtretender, hier E) geleistetwird und in der Folge auch eben dieserrichtiger Anspruchsgegner des Bereicherungsanspruchsist. Der BGH führtdazu aus:„Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechungdes Bundesgerichtshofs findet,wenn der Schuldner nach Abtretung desAnspruchs an den Zessionar (Abtretungsempfänger)geleistet hat, die bereicherungsrechtlicheRückabwicklunggrundsätzlich nicht direkt in dem Verhältnisdieser Personen statt, sondernzum einen zwischen dem Zessionar unddem Zedenten (Abtretender) und zumanderen zwischen diesem und demSchuldner (vgl. BGH, Urteil vom 2. November1988 - IVb ZR 102/87, BGHZ 105,365, 368 ff.; Urteil vom 10. März 1993 -XII ZR 253/91, BGHZ 122, 46, 50 f.; Urteilvom 24. Februar 2003 - II ZR 385/99,BGHZ 154, 88, 91; Urteil vom 19. Januar2005 - VIII ZR 173/03, NJW 2005, 1369).Maßgeblicher Grund hierfür ist die sachgerechteVerteilung der Insolvenzrisiken,die nur gewährleistet ist, wenn die Rückabwicklunginnerhalb der jeweiligenKausalverhältnisse erfolgt (vgl. BGH,Urteil vom 19. Januar 2005 - VIII ZR173/03, aaO). Dieser Gesichtspunkt hatauch bei einem gesetzlichen Schuldverhältnis,wie es infolge unberechtigtenParkens zwischen dem betroffenenGrundstücksbesitzer und dem Fahrzeugführerentsteht, seine Berechtigung.Auch wenn dem Fahrzeugführer derGrundstücksbesitzer in aller Regel unbekanntsein wird, ist es ihm eher zuzumu-85


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________ten, dessen Insolvenzrisiko zu tragen alsdasjenige des von diesem beauftragtenAbschleppunternehmens. Während ihmnämlich das Parken auf dem fremdenGrundstück unmittelbar zuzurechnenist, hat er auf die Auswahl des Abschleppunternehmensdurch den Gestörtenkeinerlei Einfluss. Gleichzeitig erscheintes billig, das Insolvenzrisiko desAbschlepp- oder Inkassounternehmensdem Geschädigten als dessen Auftraggeberaufzuerlegen.“Der BGH legt den Leistungsbegriff alsonach Risikobereichen aus und stellt sichdie Frage, welches Insolvenzrisiko demKondiktionsgläubiger eher „zugemutet“werden kann.Auch hier gilt freilich: Keine Regel ohneAusnahme. Der BGH ist sich offenbardurchaus bewusst, dass in der Konsequenzder Zedent mit einer Inanspruchnahmerechnen muss, obwohldie Tatsache, dass zu hohe Abschleppkostenverlangt wurden, vom Abschleppunternehmerzu verantwortenist. Deshalb fragt der BGH in einemzweiten Schritt, ob das Verhalten desAbschleppunternehmers dem Parkplatzinhaberzuzurechnen ist:„Demgegenüber ist in dem hier zu beurteilendenSachverhalt das Verhalten desbeklagten Abschleppunternehmens derGrundstücksbesitzerin ohne weitereszuzurechnen. Indem die Beklagte dieBekanntgabe des Standorts des abgeschlepptenFahrzeugs von der vorherigenBezahlung der Abschleppkosten abhängigmachte, hat sie der Sache nach einZurückbehaltungsrecht an dem Fahrzeugdes Klägers ausgeübt. Das ist eineim Grundsatz zulässige und bei Abschleppvorgängennicht unüblicheRechtsausübung (vgl. Senat, Urteil vom2. Dezember 2011 - V ZR 30/11, NJW 2012,528, 529 Rn. 17 f.), mit der dieGrundstücksbesitzerin als Auftraggeberindes Abschleppvorgangs rechnenmusste. Auch waren ihr aus dem Rahmenvertragdie Kosten bekannt, die dieBeklagte für das Umsetzen von Fahrzeugenberechnete. Soweit diese Kosten denerstattungsfähigen Schaden derGrundstücksbesitzerin übersteigen, wareine unter dem Druck des Zurückbehaltungsrechtserfolgte Zuvielzahlung desKlägers somit vorhersehbare Folge desAbschleppauftrags; sie ist deshalb derRechtsbeziehung zwischen diesem undihr als Geschädigter zuzurechnen. Eineandere Beurteilung käme nur in Betracht,wenn die Beklagte die Bekanntgabedes Fahrzeugstandorts von einerzusätzlichen, hinter dem Rücken derGrundstücksbesitzerin vereinnahmtenZahlung durch den Kläger abhängig gemachthätte. So liegt es hier jedochnicht.“Das Wort „zurechnen“ darf hier freilichnicht missverstanden werden. Es gehtnicht um eine Zurechnung im klassischenSinn, sondern allein um die Fra-86


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________ge, ob vom Grundsatz der Konditionüber das Dreieck eine Ausnahme gemachtwird. Es muss also nicht positivfestgestellt werden, ob ein Verhalten„zuzurechnen“ ist (auf Verschuldenkommt es für die Leistungskondiktiongerade nicht an!), sondern vielmehrgeprüft werden, ob auf Grund von Wertungsgesichtspunktender Leistungsbegriffkorrigiert werden muss.F hat durch die Zahlung an U folglichnicht an diesen geleistet, sondern vielmehran E. Er hat damit keinen Anspruchgegen U aus § 812 I 1 Var. 1 BGB.Hinweise:Die Ansicht des BGH ist – wenig überraschend– in der Literatur nicht unwidersprochengeblieben. Gerade das Argumentder gerechten Verteilung vonInsolvenzrisiken (vgl. oben) wird mitdem Argument angegriffen, das Insolvenzrisikowerde erst mit der Zahlungübernommen und nicht bereits mit derBegründung des Schuldverhältnisses(Schwab, in: Münchner Kommentarzum BGB, § 812 Rn. 210). In der Klausurist es nicht wichtig, für welche AnsichtSie sich entscheiden, wichtig ist, dassdas Problem erkannt und vertretbardiskutiert wird. Plausibler erscheintaber in der Tat die Ansicht des BGH.Der Kondiktionsgläubiger hat keinerleiEinfluss darauf, an wen der Zedent seinenAnspruch abtritt. Es bleibt ihm alsofür die Zahlung keine Wahl, ob er anden Zessionar leistet oder nicht. Davonzu sprechen, er „übernehme“ das Insolvenzrisikodurch die Zahlung, ist deshalbnicht richtig. Die einzige Tatsache,auf die der Kondiktionsgläubiger Einflusshat, ist, mit wem er ein Schuldverhältniseingeht – und sei es wie hier, eingesetzliches Schuldverhältnis durchrechtswidriges Parken auf dem Grundstück.Für die Fallbearbeitung sollte man sichvor allem vergegenwärtigen, dass eineVerneinung des Anspruchs gegen denZessionar nicht dazu führt, dass derAnspruchssteller leer ausgeht, sondernsich vielmehr lediglich an einen anderenAnspruchsgegner zu wenden hat.Der in Anspruch Genommene kanndann seinerseits den Fehlbetrag vomZessionar zurück verlangen („Kondiktionübers Dreieck“).(Ref. jur. Dr. Julius Forschner)87


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AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Ehebruch bzw. Prostitution und grober UndankBGH, Urteil vom 13.11.2012 – X ZR 80/11, BeckRS 2012, 256071. Das Widerrufsrecht des Schenkers wegen groben Undanks des Beschenktenknüpft an die Verletzung der Verpflichtung zu einer von Dankbarkeit geprägtenRücksichtnahme auf die Belange des Schenkers an, die dieser vom Beschenktenerwarten darf. Ob der Beschenkte diesen Erwartungen in nicht mehrhinnehmbarer Weise nicht genügt hat, ist aufgrund einer Gesamtwürdigungaller relevanten Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. (amtlicher Leitsatz)2. Anhaltspunkte dafür, was der Schenker an Dankbarkeit erwarten kann, könnendabei neben dem Gegenstand und der Bedeutung der Schenkung für dieVertragsparteien auch die näheren Umstände bieten, die zu der Schenkung geführtund deren Durchführung bestimmt haben. (amtlicher Leitsatz)Sachverhalt (vereinfacht und verkürzt):M lernte F 1999 kennen, damals arbeiteteF als Prostituierte. Sie lebten ab diesemZeitpunkt in nichtehelicher Lebensgemeinschaft.Im Jahr 2000 übertruger ihr unentgeltlich ein lebenslangesWohnrecht an seinem Hausgrundstück;im Jahr 2005 heirateten sie, imJahr 2008 wurde die Ehe geschieden. ImJahr 2007 erklärte M den Widerruf wegengrobem Undank. Zur Begründungführte er an, dass sie seit 2001 ein sexuellesVerhältnis zu einem Dritten unterhaltenhabe und auch entgegen ihremVersprechen wieder der Prostitutionnachgegangen sei.M verlangt Rückübertragung/Löschungdes Wohnrechts. Zu Recht?A. Anspruch aus §§ 530, 531, 818 BGBM könnte einen Anspruch aus §§ 530,531, 818 BGB auf Rückübertragung bzw.Löschung des Wohnrechts haben.I. Voraussetzung dafür ist eine Schenkungim Sinne der §§ 516, 518 BGB. KeineSchenkung liegt nach der Rechtsprechungvor, wenn es sich um eine unbenannteZuwendung zwischen Ehegattenoder Lebensgefährten handelt.Der BGH nimmt hier eine Schenkungan:„Eine Zuwendung unter Ehegatten istnicht Schenkung, sondern ehebezogene89


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Zuwendung, wenn ein Ehegatte dem andereneinen Vermögenswert um der Ehewillen und als Beitrag zur Verwirklichungund Ausgestaltung, Erhaltungoder Sicherung der ehelichen Lebensgemeinschaftzukommen lässt, wobei er dieVorstellung oder Erwartung hegt, dassdie eheliche Lebensgemeinschaft Bestandhaben und er innerhalb dieser Gemeinschaftam Vermögenswert und dessenFrüchten weiter teilhaben werde. Dassdie Zuwendung in diesem Sinne der ehelichenLebensgemeinschaft dienen sollte,bedarf der tatrichterlichen Feststellung.Entsprechendes gilt für eine Zuwendungim Rahmen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft.Solche Feststellungen sindjedoch vom Berufungsgericht weder getroffenworden, noch zeigt die Revisionserwiderungentsprechenden Vortrag derKlägerin als übergangen auf.“Also liegt eine Schenkung i.S.d. §§ 516,518 BGB vor.II. Weiter erforderlich ist eine „schwereVerfehlung“, die gegenüber dem Schenker„grober Undank“ ist. Der BGH führtallgemein dazu aus:„Nach § 530 Abs. 1 BGB kann der Schenkerdie Schenkung widerrufen, wenn sichder Beschenkte durch eine schwere Verfehlunggegen den Schenker oder einennahen Angehörigen des Schenkers grobenUndankes schuldig macht. Diesesdie grundsätzliche Unwiderruflichkeiteines Schenkungsversprechens durchbrechendeRecht knüpft an die Verletzungder Verpflichtung zu einer vonDankbarkeit geprägten Rücksichtnahmeauf die Belange des Schenkers an, diedieser vom Beschenkten erwarten kann.Entscheidend für die Annahme grobenUndanks gegenüber dem Schenker istmithin, ob der Beschenkte diesen Erwartungenin nicht mehr hinnehmbarerWeise nicht genügt hat.Der Widerruf setzt deshalb nicht nurobjektiv eine Verfehlung des Beschenktenvon gewisser Schwere voraus, sondernes ist ferner erforderlich, dass dieVerfehlung auch in subjektiver HinsichtAusdruck einer Gesinnung des Beschenktenist, die in erheblichem Maße dieDankbarkeit vermissen lässt, die derSchenker erwarten darf. Ob diese Voraussetzungenerfüllt sind, ist aufgrundeiner Gesamtwürdigung aller relevantenUmstände des Einzelfalles zu beurteilen.Sie sind daraufhin zu untersuchen, obund inwieweit erkennbar wird, dass derBeschenkte dem Schenker nicht diedurch Rücksichtnahme geprägte Dankbarkeitentgegenbringt, die der Schenkererwarten kann. Anhaltspunkte dafür,was der Schenker an Dankbarkeit erwartenkann, können dabei neben dem Gegenstandund der Bedeutung der Schenkungauch die näheren Umstände bieten,die zu der Schenkung geführt und derenDurchführung bestimmt haben.“90


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Im vorliegenden Fall durfte der Schenkerein anderes Verhalten als das tatsächlichan den Tag gelegte erwarten,so der BGH:„Ausgangspunkt für die nach den obendargestellten Grundsätzen vorzunehmendeGesamtwürdigung der Umständezur Beantwortung der Frage, was derBeklagte als Schenker an Dankbarkeiterwarten durfte, ist hier in erster Liniedie übereinstimmende Vorstellung derParteien, die der Schenkung zugrundelag. Nach dem jedenfalls revisionsrechtlichzugrunde zu legenden Sachverhaltstimmten die Parteien darin überein,dass die Klägerin die Prostitution aufgebenwollte. Diese gemeinsame Vorstellungder Parteien fand ihren Ausdruckeinerseits darin, dass die Klägerin demBeklagten versprach, nicht mehr alsProstituierte tätig zu sein. Auf derGrundlage dieses Versprechens übertrugder Beklagte andererseits der Klägerindas Wohnrecht, das ihr eine gesicherteneue Lebensgrundlage verschaffen sollte.Darauf sollte sich die Klägerin auch imFalle des Scheiterns ihrer Beziehung zumBeklagten verlassen können. Dazu enthieltder notarielle Vertrag die Regelung,dass das Wohnrecht bei einem Scheiternder Lebensgemeinschaft zwischen denParteien nicht nur fortbestehen sollte,sondern der Beklagte in diesem Fall auchdie von ihm gewerblich genutzten Nebenräumeherausgeben und der Klägerindas alleinige Nutzungsrecht zustehensollte.Damit erhielt die Klägerin eine Schenkung,durch die zeitlebens, unabhängigvom Fortbestand ihrer Beziehung zumBeklagten, ihr Wohnbedarf gesichert warund die damit einen erheblichen wirtschaftlichenWert verkörperte. Für dieseZuwendung gab es keine andere Veranlassungdes Beklagten als die gemeinsameVorstellung der Parteien, die Klägerinwerde, wie sie es dem Beklagten zugesagthatte, die Prostitution aufgeben.Bei einer Gesamtwürdigung dieser Umstände,die zu der Schenkung geführthaben, widersprach es objektiv einer vonDankbarkeit geprägten Rücksichtnahmeauf die Belange des Beklagten, wenn sichdie Klägerin alsbald nach Abschluss dessie begünstigenden notariellen Vertragesüber ihr Versprechen hinwegsetzte unddie Prostitution wieder aufnahm. Dieslief nicht nur den im Zeitpunkt derSchenkung gemeinsamen Vorstellungenüber die zukünftige Lebensgestaltungentgegen, sondern entzog der für dieSchenkung maßgeblichen von dem Versprechender Klägerin, die Prostitutionaufzugeben, geprägten Entscheidung desBeklagten, der Klägerin das Wohnrechtschenkweise zu übertragen, die Grundlage.In diesem Verhalten der Klägerin ist deshalbjedenfalls objektiv eine schwere Verletzungder Verpflichtung zur Rück-91


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________sichtnahme auf die Belange des Beklagtenals Schenker zu sehen. Es liegt nahe,diese Verfehlung auch subjektiv als Ausdruckeiner Gesinnung der Klägerin zuwerten, die in erheblichem Maße dieDankbarkeit vermissen lässt, die derSchenker erwarten kann.“Eine schwere Verfehlung, welche grobenUndank darstellt, ist also auch gegeben.B. Anspruch aus § 812 I 2 Var. 2 BGB(„condictio ob rem“)In Betracht kommt außerdem ein Anspruchaus § 812 I 2 Var. 2 BGB.I. Eine Leistung liegt aufgrund derSchenkung vor.II. Fraglich ist, ob der Zweck der Leistungverfehlt wurde. Das ist hier dannder Fall, wenn es sich bei der Schenkungdes Hausgrundstücks um einezweckgebundene Schenkung handelt,m.a.W. ob die Schenkung zum Zweckerfolgte, dass F nicht mehr die Prostitutionausübte.Dafür spricht nach dem BGH einiges:„Nach dem Vortrag des Beklagten kannnicht ausgeschlossen werden, dass auchvon der Klägerin die Intention des Beklagtengebilligt worden ist, mit derSchenkung dauerhaft stabile Lebensverhältnissefür die Klägerin außerhalb derProstitution zu schaffen, und dass dieserZweck der Schenkung verfehlt wordenist. Dabei wird das Berufungsgericht zurberücksichtigen haben, dass desto mehrfür eine kausale Verknüpfung zwischenSchenkung und Schenkungszweckspricht, je größer das Interesse desSchenkers an der Zweckerreichung ist.“III. Es besteht auch ein Rückzahlungsanspruchnach § 812 I 2 Var. 2 BGB.Hinweise:1. Die Entscheidung thematisiert klassischeProbleme aus dem BGB. Sie sollteGelegenheit bieten, die Rückforderungzwischen Ehegatten und Partnern inder nichtehelichen Lebensgemeinschaftzu wiederholen, eine Materie, die sichbestens für <strong>Examen</strong>sklausuren eignet.2. Die Frage der Zweckverfehlungskondiktionkonnte der BGH hier nicht abschließendklären, da er als Revisionsinstanzkeine neue Beweiserhebungdurchführen darf, sondern an den vomBerufungsgericht festgestellten Sachverhaltgebunden ist. Es ist daher hierAufgabe des Berufungsgerichts, denmaßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln.3. Vollkommen zu Recht weist der BGHdarauf hin, dass grober Undank sichdanach bestimmt, was der Schenker anDankbarkeit erwarten darf, m.a.W.spielen die Vorstellungen des Schenkerseine entscheidende Rolle. Missverständlichist es allerdings, wenn der92


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________BGH hier nur auf die gemeinsamenVorstellungen abstellt: Voraussetzungfür eine schwere Verfehlung ist dasnicht. In der Sache auch liegt es auf derHand, dass die Ausübung der Prostitutiongegenüber dem Partner groberUndank sein kann. Dass die Prostitution„diskret“ ausgeübt wurde, darf entgegenden Vorinstanzen keine Rollespielen – nicht die öffentliche Wirkungder Prostitution, sondern die Prostitutionals solche kann eine schwere Verfehlungsein.(Rechtsanwalt Dr. Christian F. Majer)93


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Ordentliche verhaltensbedingte Kündigung – VerdeckteVideoüberwachung – BeweisverwertungsverbotBAG, Urteil vom 21.06.2012 – 2 AZR 153/11, NZA 2012, 10251. Entwendet eine Verkäuferin Zigarettenpackungen aus dem Warenbestanddes Arbeitgebers, kann dies auch nach längerer Beschäftigungsdauer eine Kündigungdes Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. (amtlicher Leitsatz)2. Das aus einer verdeckten Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Arbeitsplätzegewonnene Beweismaterial unterliegt nicht allein deshalb einemprozessualen Beweisverwertungsverbot, weil es unter Verstoß gegen das Gebotin § 6b Abs. 2 BDSG gewonnen wurde, bei Videoaufzeichnungen öffentlich zugänglicherRäume den Umstand der Beobachtung und die verantwortliche Stelledurch geeignete Maßnahmen kenntlich zu machen. (amtlicher Leitsatz)Sachverhalt (vereinfacht und gekürzt):Die B-AG betreibt ein bundesweit tätigesEinzelhandelsunternehmen. Die 1958geborene K war bei der B-AG seit September1990 als Verkäuferin, zuletzt alsstellvertretende Filialleiterin, beschäftigt.Mit Zustimmung des bei ihr gebildetenBetriebsrats installierte ein vonder B-AG beauftragtes Überwachungsunternehmenin der Zeit vom 01. bis22.12.2008 Videokameras in den Verkaufsräumender Filiale. Am 12.01.2009wertete die B-AG das ihr übergebeneFilmmaterial im Beisein eines Betriebsratsmitgliedsaus. Anschließend hieltdie B-AG der K vor, diese habe sichheimlich Zigaretten angeeignet.Nach Anhörung des Betriebsrats undmit dessen Zustimmung kündigte die B-AG mit Schreiben vom 23.01.2009 dasmit K bestehende Arbeitsverhältnisfrist- und formgerecht zum nächstzulässigenTermin.Gegen die Kündigung erhob K rechtzeitigKündigungsschutzklage und bestritt,Zigaretten entwendet zu haben. Die Kbehauptet, sie habe lediglich ihre Aufgabenerledigt, zu denen es gehöre, Zigarettenregaleein- und auszuräumenund ggf. zu ordnen. Im Übrigen, so dieK, sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäßangehört worden. Dem Betriebsratsei nicht das komplette Videoband,sondern lediglich ein Zusammenschnittvorgespielt worden. Überdies verstoßedie heimliche Videoaufnahme gegen ihr94


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Recht auf informationelle Selbstbestimmung.Daraus folge ein Verwertungsverbot.Die B-AG vertritt dagegen die Auffassung,aufgrund der vorliegenden Videoaufzeichnungensei nachgewiesen, dasssich K an zwei Tagen im Dezember2008 jeweils mindestens eine PackungZigaretten zugeeignet habe. Zumindestbestehe ein entsprechender Tatverdacht.Die B-AG behauptet, Anlass fürdie verdeckte Videoüberwachung seienhohe Inventurverluste in der Filiale derK, insbesondere im Bereich Tabak, gewesen.Es habe der Verdacht bestanden,dass Mitarbeiterdiebstähle einen erheblichenEinfluss auf die Inventurdifferenzengehabt hätten. Auf dem Filmmitschnittsei zu sehen, wie die K am 06.und am 17.12.2008, jeweils nach Ladenschlussum 20:00 Uhr, einen sog. Zigarettenträgereiner Kasse öffne, ihm einigeSchachteln Zigaretten entnehme,diese in den Fächern für (Einkaufs-)Tüten verstaue, den Zigarettenträgerwieder verschließe, sich zunächst entferne,einige Minuten später wieder andie Kassen zurückkehre, den Tütenfächerndie Zigarettenschachteln entnehmeund diese in ihrer Bluse verstaue.Ist die seitens der K gegen die Kündigungvor dem Arbeitsgericht erhobeneKlage begründet, wenn der persönlicheund betriebliche Anwendungsbereichdes KSchG eröffnet sind und das Arbeitsgerichtgerade aufgrund der Inaugenscheinnahmeder Videoaufzeichnungenzu der Überzeugung gelangt,dass sich K an zwei Tagen im Dezember2008 jeweils mindestens eine PackungZigaretten zugeeignet hat?I. Fristgemäße Erhebung der KündigungsschutzklageK hat laut Sachverhalt rechtzeitig imSinne des § 4 S. 1 KSchG eine Kündigungsschutzklagegegen die Kündigungerhoben. Die Kündigungsschutzklageist damit nicht bereits gemäß § 7 KSchGunbegründet.II. Wirksamkeit der KündigungserklärungDie Kündigung wurde laut Sachverhaltformgerecht erklärt. Insbesondere istdas Schriftformerfordernis des § 623BGB gewahrt.III. Ordnungsgemäße BetriebsratsanhörungDie B-AG müsste vor Ausspruch derKündigung gegenüber K den bei ihrgebildeten Betriebsrat gem. § 102 Abs. 1BetrVG ordnungsgemäß angehört haben.Eine ohne vorherige ordnungsgemäßeAnhörung des Betriebsrats ausgesprocheneKündigung wäre gem. § 102Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam.95


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________„Der Betriebsrat ist ordnungsgemäß angehört,wenn ihm der Arbeitgeber die ausseiner Sicht tragenden Umstände unterbreitethat. Danach ist die Anhörung imStreitfall nicht deshalb unvollständig,weil die frühere Arbeitgeberin dem Betriebsratnur die von dem beauftragtenÜberwachungsunternehmen zusammengestelltenAusschnitte der Videoüberwachungzur Verfügung gestellt hat.Die Arbeitgeberin war selbst nicht imBesitz des vollständigen Materials. Soweitdie Videoauswertung Grundlageihres Kündigungsentschlusses war, hatsie sie dem Betriebsrat zugänglich gemacht."Nach dem Grundsatz der subjektivenDetermination liegt somit eine ordnungsgemäßeBetriebsratsanhörung imSinne des § 102 Abs. 1 BetrVG vor.IV. Anwendungsbereich des KSchGDie ordentliche Kündigung könnte jedochgem. § 1 Abs. 1, 2 KSchG sozialungerechtfertigt und damit unwirksamsein. Dies würde allerdings zunächstvoraussetzen, dass der Anwendungsbereichdes KSchG überhaupt eröffnet ist.Nach dem Sachverhalt ist sowohl derpersönliche Anwendungsbereich desKSchG (§ 1 Abs. 1 KSchG) als auch derbetriebliche Anwendungsbereich desKSchG (§ 23 Abs. 1 Satz 2 bis 4 KSchG)eröffnet.V. Soziale Rechtfertigung der KündigungserklärungNach § 1 Abs. 1 KSchG ist die Kündigungdes Arbeitsverhältnisses gegenübereinem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnisin demselben Betrieboder Unternehmen ohne Unterbrechunglänger als sechs Monate bestandenhat, rechtsunwirksam, wenn siesozial ungerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigtist die Kündigung gem. § 1Abs. 2 S. 1 KSchG, wenn sie nicht durchGründe, die in der Person oder in demVerhalten des Arbeitnehmers liegen,oder durch dringende betriebliche Erfordernisse,die einer Weiterbeschäftigungdes Arbeitnehmers in diesem Betriebentgegenstehen, bedingt ist.1. KündigungsgrundDie Kündigung gegenüber K könntedurch Gründe, die im Verhalten der Kliegen, bedingt sein.„Sie ist durch solche Gründe ‚bedingt‘,wenn der Arbeitnehmer seine vertraglichenHaupt- oder Nebenpflichten erheblichund in der Regel schuldhaft verletzthat und eine dauerhaft störungsfreieVertragserfüllung in Zukunft nicht mehrzu erwarten steht. Dann kann dem Risikokünftiger Störungen nur durch die(fristgemäße) Beendigung des Arbeitsverhältnissesbegegnet werden. Das wiederumist nicht der Fall, wenn schonmildere Mittel und Reaktionen von Sei-96


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________ten des Arbeitgebers geeignet gewesenwären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreuezu bewirken.Beruht die Vertragspflichtverletzung aufsteuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers,ist grundsätzlich davon auszugehen,dass sein künftiges Verhalten schondurch die Androhung von Folgen für denBestand des Arbeitsverhältnisses positivbeeinflusst werden kann. Einer Abmahnungbedarf es nach Maßgabe des auchin § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGBzum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzesdemnach nurdann nicht, wenn bereits ex ante erkennbarist, dass eine Verhaltensänderung inZukunft auch nach Abmahnung nicht zuerwarten steht, oder es sich um eine soschwere Pflichtverletzung handelt, dassselbst deren erstmalige Hinnahme demArbeitgeber nach objektiven Maßstäbenunzumutbar und damit offensichtlich –auch für den Arbeitnehmer erkennbar –ausgeschlossen ist.Danach ist die Würdigung des Landesarbeitsgerichts,die ordentliche Kündigungvom 23.01.2009 sei iSv. § 1 Abs. 2KSchG durch Gründe im Verhalten derKlägerin bedingt, auf der Grundlage desvon ihm festgestellten Sachverhalts nichtzu beanstanden.Begeht ein Arbeitnehmer bei oder imZusammenhang mit seiner Arbeitrechtswidrige und vorsätzliche – ggf.strafbare – Handlungen unmittelbar gegendas Vermögen seines Arbeitgebers,verletzt er zugleich in schwerwiegenderWeise seine schuldrechtliche Pflicht zurRücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) undmissbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen.Ein solches Verhalten kann sogareinen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1BGB darstellen, und zwar auch dann,wenn die rechtswidrige Handlung Sachenvon nur geringem Wert betrifft o-der zu einem nur geringfügigen, möglicherweisezu gar keinem Schaden geführthat.Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichtshat die Klägerin am 06. undam 17.12.2008 jeweils zumindest eineZigarettenpackung aus dem Warenbestand(…) der Beklagten entwendet. Siehat damit wiederholt vorsätzlich gegenihre arbeitsvertragliche Pflicht aus § 241Abs. 2 BGB verstoßen, keine gegen dasVermögen ihrer Arbeitgeberin gerichtetenrechtswidrigen Handlungen zu begehen.Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts,unter diesen Umständen sei dieordentliche Kündigung nicht unverhältnismäßig,ist revisionsrechtlich nicht zubeanstanden.Das Landesarbeitsgericht hat angenommen,durch die von der Klägerin begangenenVermögensdelikte zulastenihrer Arbeitgeberin sei ein irreparablerVertrauensverlust entstanden, der diesereine Fortsetzung des Arbeitsverhältnissesunzumutbar gemacht habe. Das Ver-97


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________trauen in die Zuverlässigkeit der Klägerinsei durch die vorsätzlichen Pflichtverletzungenobjektiv derart erschüttertgewesen, dass seine Wiederherstellungund ein künftig wieder störungsfreiesMiteinander der Parteien nicht mehr zuerwarten seien. Dem Interesse der Arbeitgeberinan der Beendigung des Arbeitsverhältnissessei auch unter Berücksichtigungdes Lebensalters und der langenBetriebszugehörigkeit der Klägerinder Vorrang einzuräumen. Ungeachtetdes geringen Werts der entwendeten Gegenständehabe die Klägerin die Basis füreine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeitzerstört.Dies lässt keinen Rechtsfehler erkennen.Die Klägerin hat – den vom Landesarbeitsgerichtfestgestellten Sachverhaltals wahr unterstellt – heimlich und vorsätzlichdas in sie gesetzte Vertrauen alsVerkäuferin und stellvertretende Filialleiterinzu einer Schädigung des Vermögensihrer Arbeitgeberin missbraucht. Esist angesichts dessen revisionsrechtlichnicht zu beanstanden, wenn das Landesarbeitsgerichtangenommen hat, eineWiederherstellung des Vertrauens seiauch angesichts der unbeanstandetenBetriebszugehörigkeit der Klägerin von18 Jahren und des geringen Werts derentwendeten Gegenstände nicht zu erwartengewesen. Für den Grad des Verschuldensund die Möglichkeit einerWiederherstellung des Vertrauens machtes objektiv einen Unterschied, ob es sichbei einer Pflichtverletzung um ein Verhaltenhandelt, das insgesamt auf Heimlichkeitangelegt ist – wie nach den Feststellungendes Landesarbeitsgerichts imStreitfall – oder nicht."Das Verhalten der K rechtfertigt somitgrundsätzlich den Ausspruch der ordentlichenKündigung.2. BeweisverwertungsverbotEs könnte jedoch sein, dass hinsichtlichder Videoaufzeichnungen ein sog. Beweisverwertungsverboteingreift unddas Arbeitsgericht die Videoaufzeichnungenbei der Urteilsfindung nicht alsBeweismittel berücksichtigen darf.a) Beweisverwertungsverbot gem. § 32Abs. 1 S. 2 BDSGDie Frage, ob ein Beweisverwertungsverbotaus einer möglichen Verletzungvon § 32 Abs. 1 S. 2 BDSG folgt, stelltsich für die verdeckte Videoaufzeichnungenaus dem Jahr 2008 nicht, da§ 32 BDSG erst mit Wirkung zum01.09.2009 in Kraft getreten ist.b) Beweisverwertungsverbot gem. § 6bAbs. 2 BDSGDie Videoaufzeichnungen stammen ausder Filiale, in der K tätig war. Ein Beweisverwertungsverbotkönnte sichhinsichtlich dieser heimlichen Aufnahmendaher möglicherweise aus § 6bAbs. 2 BDSG ergeben. Nach dieser Vor-98


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________schrift ist der Umstand der Beobachtungöffentlich zugänglicher Räume mitoptisch-elektronischen Einrichtungen(Videoüberwachung) sowie die verantwortlicheStelle durch geeignete Maßnahmenerkennbar zu machen. Hierzudas BAG:„Soweit es sich bei den in Augenscheingenommenen Aufnahmen um Videoaufzeichnungenöffentlich zugänglicherRäume iSv. § 6b Abs. 1 BDSG gehandelthaben sollte, folgt ein Beweisverwertungsverbotnicht schon aus einer Verletzungdes Gebots in § 6b Abs. 2 BDSG,den Umstand der Beobachtung und dieverantwortliche Stelle durch geeigneteMaßnahmen erkennbar zu machen (…).Die Bestimmung gilt u.a. für Videoaufzeichnungenin öffentlich zugänglichenVerkaufsräumen (BT-Drucks. 14/4329S. 38). Unerheblich ist, ob Ziel der Beobachtungdie Allgemeinheit ist oder diean Arbeitsplätzen in diesen Verkaufsräumenbeschäftigten Arbeitnehmer.Im Streitfall haben die in Augenscheingenommenen Videoaufzeichnungenmöglicherweise deshalb keinen öffentlichzugänglichen Raum iSv. § 6b BDSG betroffen,weil die Verkaufsräume zumZeitpunkt der der Klägerin zur Last gelegtenVorgänge bereits geschlossen unddaher für die Öffentlichkeit nicht mehrzugänglich waren (…). Dies kann letztlichdahinstehen. Ein Verstoß gegen § 6bAbs. 2 BDSG führt nicht zu dem Verbot,eine im Verhältnis zum überwachtenArbeitnehmer ansonsten in zulässigerWeise beschaffte Information zu Beweiszweckenzu verwerten.Unter welchen Voraussetzungen eineVideoüberwachung öffentlich zugänglicherRäume zulässig ist, bestimmt § 6bAbs. 1 BDSG. Dies ist nach § 6b Abs. 1Nr. 3 BDSG u.a. dann der Fall, wenn undsoweit sie zur Wahrnehmung berechtigterInteressen für konkret festgelegteZwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunktedafür bestehen, dassschutzwürdige Interessen der Betroffenenüberwiegen. Dass eine Videoüberwachungin öffentlich zugänglichen Räumenausschließlich offen erfolgen dürfte,ergibt sich aus § 6b Abs. 1 BDSG nicht.Allerdings regelt § 6b Abs. 2 BDSG, dassder Umstand der Beobachtung und dieverantwortliche Stelle bei Videoaufzeichnungenin öffentlich zugänglichenRäumen durch geeignete Maßnahmenerkennbar zu machen sind. Daraus wirdteilweise gefolgert, eine verdeckte Videoüberwachungin öffentlich zugänglichenRäumen sei ausnahmslos unzulässig.Diese Auffassung überzeugt nicht. Fallsdie verdeckte Videoüberwachung daseinzige Mittel zur Überführung von Arbeitnehmernist, die der Begehung vonStraftaten konkret verdächtig sind, kannvielmehr eine heimliche Videoaufzeichnungauch in öffentlich zugänglichenRäumen nach § 6b Abs. 1 Nr. 3 BDSGzulässig sein. Das Kennzeichnungsgebot99


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________gemäß § 6b Abs. 2 BDSG ist weder in§ 6b Abs. 1 BDSG noch in § 6b Abs. 3BDSG als Voraussetzung für die Zulässigkeiteiner Verarbeitung oder Nutzungvon nach § 6b Abs. 1 BDSG erhobenenDaten aufgeführt. Auch aus der Gesetzesbegründung(vgl. BT-Drucks. 14/4329S. 28, 30 und 38) ergibt sich nicht, dassdie Einhaltung des Gebots nach § 6bAbs. 2 BDSG Voraussetzung für die materiellrechtlicheZulässigkeit der Maßnahmewäre. Nach dem Bericht des Innenausschussesnormieren die Absätze1, 3 und 5 der Vorschrift die Zulässigkeitsvoraussetzungenin den verschiedenenVerarbeitungsphasen (BT-Drucks.14/5793 S. 61), während die Kennzeichnungspflichtdes Abs. 2 lediglich die nachdem Gesetz bestehenden allgemeinenVerfahrenssicherungen ergänzt (BT-Drucks. 14/5793 S. 62).Im Hinblick auf die ihrerseits durchArt. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG geschütztenIntegritätsinteressen des Arbeitgebersbegegnete ein absolutes, nur durchbereichsspezifische Spezialregelungen(vgl. etwa § 100c und § 100h StPO) eingeschränktesVerbot verdeckter Videoaufzeichnungenin öffentlich zugänglichenRäumen verfassungsrechtlichenBedenken. Ob und inwieweit eine verdeckteVideoüberwachung öffentlichzugänglicher Verkaufsräume zulässigist, wenn sie dem Ziel der Aufklärungeines gegen dort beschäftigte Arbeitnehmerbestehenden konkreten Verdachtsder Begehung von Straftaten oderanderer schwerwiegender Pflichtverletzungendient, lässt sich nur durch eineAbwägung der gegenläufigen Grundrechtspositionenunter Wahrung desGrundsatzes der Verhältnismäßigkeit imEinzelfall beurteilen. Dem trägt auch dieFormulierung in § 6b Abs. 1 Nr. 3 BDSGRechnung. Ein uneingeschränktes Verbotder verdeckten Videoüberwachungöffentlich zugänglicher Räume würdedem nicht gerecht. § 6b BDSG ist deshalb– verfassungskonform – dahin auszulegen,dass auch eine verdeckte Videoüberwachungöffentlich zugänglicherRäume im Einzelfall zulässig sein kann.Die nach § 6b Abs. 2 BDSG geboteneErkennbarkeit der Videoüberwachungöffentlich zugänglicher Räume ist auchfür die Verarbeitung oder Nutzung dernach § 6b Abs. 1 BDSG erhobenen Datennicht zwingende materielle Voraussetzung.Nach § 6b Abs. 3 BDSG sind Verarbeitungoder Nutzung dann zulässig,wenn dies zum Erreichen des verfolgtenZwecks erforderlich ist und keine Anhaltspunktedafür bestehen, dassschutzwürdige Interessen der Betroffenenüberwiegen. Von der Einhaltung desKennzeichnungsgebots gem. § 6b Abs. 2BDSG hängt beides nicht zwingend ab."Der Umstand, dass die Videoaufzeichnungenheimlich angefertigt wurdenund der Umstand der Beobachtung unddie verantwortliche Stelle nicht kennt-100


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________lich gemacht wurden, führt somit nichtzu einem Beweisverwertungsverbotgem. § 6b Abs. 2 BDSG.c) Beweisverwertungsverbot gem.Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GGEin Beweisverwertungsverbot hinsichtlichder Videoaufzeichnungen könntesich jedoch aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1Abs. 1 GG ergeben. Hierzu führt dasBAG wie folgt aus:„Aufgrund der bisherigen Feststellungenkann der Senat nicht abschließend entscheiden,ob der Verwertung der Videoaufzeichnungenzum Beweis des Verhaltensder Klägerin ein prozessuales Verbotwegen einer Verletzung von derenallgemeinem Persönlichkeitsrecht ausArt. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG entgegenstand."(aa) Eingriff in den Schutzbereich desallgemeinen Persönlichkeitsrechts„Im gerichtlichen Verfahren tritt derRichter den Verfahrensbeteiligten inAusübung staatlicher Hoheitsgewaltgegenüber. Er ist daher nach Art. 1 Abs. 3GG bei der Urteilsfindung an die insoweitmaßgeblichen Grundrechte gebundenund zu einer rechtsstaatlichen Verfahrensgestaltungverpflichtet. Dabei könnensich auch aus materiellen Grundrechtenwie Art. 2 Abs. 1 GG Anforderungenan das gerichtliche Verfahren ergeben,wenn es um die Offenbarung undVerwertung von persönlichen Datengeht, die grundrechtlich vor der Kenntnisdurch Dritte geschützt sind. Das Gerichthat deshalb zu prüfen, ob die Verwertungvon heimlich beschafften persönlichenDaten und Erkenntnissen, die sichaus diesen Daten ergeben, mit dem allgemeinenPersönlichkeitsrecht des Betroffenenvereinbar ist.Bei der Abwägung zwischen dem Interessean einer funktionstüchtigen Rechtspflegeund dem Schutz des informationellenSelbstbestimmungsrechts als Ausflussdes allgemeinen Persönlichkeitsrechtshat das Interesse an der Verwertungder einschlägigen Daten und Erkenntnissenur dann höheres Gewicht,wenn weitere, über das schlichte Beweisinteressehinausgehende Aspekte hinzukommen,die ergeben, dass das Verwertungsinteressetrotz der Persönlichkeitsbeeinträchtigungüberwiegt. Allein dasInteresse, sich ein Beweismittel zu sichern,reicht nicht aus. Die weiteren Aspektemüssen gerade eine bestimmteInformationsbeschaffung und Beweiserhebungals schutzbedürftig qualifizieren.Das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1GG gewährleistete, auch im Privatrechtsverkehrund insbesondere im Arbeitsverhältniszu beachtende allgemeinePersönlichkeitsrecht des Arbeitnehmersist – auch in seiner Ausprägung alsRecht am eigenen Bild – nicht schrankenlosgewährleistet. Eingriffe können101


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________durch Wahrnehmung überwiegendschutzwürdiger Interessen des Arbeitgebersgerechtfertigt sein. Bei einer Kollisiondes allgemeinen Persönlichkeitsrechtsmit den Interessen des Arbeitgebers istdurch eine Güterabwägung im Einzelfallzu ermitteln, ob dieses den Vorrang verdient.Danach ist die heimliche Videoüberwachungeines Arbeitnehmerszulässig, wenn der konkreteVerdacht einer strafbaren Handlungoder einer anderen schweren Verfehlungzu Lasten des Arbeitgebers besteht,weniger einschneidende Mittelzur Aufklärung des Verdachts ergebnislosausgeschöpft sind, die verdeckteVideoüberwachung damitpraktisch das einzig verbleibendeMittel darstellt und sie insgesamtnicht unverhältnismäßig ist. DerVerdacht muss in Bezug auf einekonkrete strafbare Handlung oderandere schwere Verfehlung zu Lastendes Arbeitgebers gegen einenzumindest räumlich und funktionalabgrenzbaren Kreis von Arbeitnehmernbestehen. Er darf sich nicht aufdie allgemeine Mutmaßung beschränken,es könnten Straftatenbegangen werden, er muss sich jedochnicht notwendig nur gegen eineneinzelnen, bestimmten Arbeitnehmerrichten. Auch im Hinblickauf die Möglichkeit einer weiterenEinschränkung des Kreises der Verdächtigenmüssen weniger einschneidendeMittel als eine verdeckteVideoüberwachung zuvor ausgeschöpftworden sein.Nach diesen Grundsätzen stellten dieverdeckte Videoüberwachung der Klägerinund die Verwertung der zum Beweisfür ihr Verhalten angebotenen Videoaufnahmenvom 6. und 17. Dezember 2008einen Eingriff in das Recht der Klägerinam eigenen Bild als Ausprägung ihresgrundrechtlich gewährleisteten allgemeinenPersönlichkeitsrechts dar."(Hervorhebungen durch den Verfasser)(bb) Rechtfertigung des EingriffsDer Eingriff in den Schutzbereich desallgemeinen Persönlichkeitsrechts derK könnte jedoch gerechtfertigt sein.Hierzu finden sich folgende Ausführungendes BAG:„Ob der Eingriff gerechtfertigt war, stehtdagegen noch nicht fest. Das Landesarbeitsgerichthat bisher keine Feststellungengetroffen, aufgrund derer die Annahmeberechtigt wäre, es habe der hinreichendkonkrete Verdacht einer strafbarenHandlung oder einer anderenschweren Verfehlung zu Lasten der Arbeitgeberinbestanden. Es hat nicht (…)festgestellt, dass und welche Inventurdifferenzentatsächlich vorgelegen haben.Soweit es ausführt, es habe der Verdachtbestanden, ‚dass Mitarbeiterdiebstähleerheblichen Einfluss auf die festgestelltenInventurdifferenzen‘ gehabt hätten,ist nicht festgestellt, auf welche Tatsa-102


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________chen sich dieser Verdacht gründete undwelcher zumindest eingrenzbare Kreisvon Mitarbeitern hiervon betroffen war.Die von der Beklagten behaupteten Inventurdifferenzenhat die Klägerinbestritten. Das Landesarbeitsgericht hathierzu keine eigenen Feststellungen getroffen.Ob zudem auf Tatsachen gegründeteVerdachtsmomente oder Erkenntnissevorlagen, die die Einschätzungrechtfertigten, weniger einschneidendeMittel zur Aufklärung als die verdeckteVideoüberwachung seien nicht(mehr) in Betracht gekommen, lässt sichaufgrund der bisherigen Feststellungenebenfalls nicht beurteilen.Der Umstand, dass der Betriebsrat derÜberwachungsmaßnahme zugestimmthat, vermag die Feststellung der den Eingriffin das Persönlichkeitsrecht der Klägerinrechtfertigenden Tatsachen nichtzu ersetzen. Dass die Betriebsparteiendie Voraussetzungen für eine Rechtfertigungdes Eingriffs als gegeben ansahen,genügt nicht. Diese müssen vielmehrtatsächlich vorgelegen haben. Die Betriebsparteienhaben höherrangigesRecht zu beachten. Sie können die Grenzeneines rechtlich zulässigen Eingriffsnicht zulasten der Arbeitnehmer verschieben.Umgekehrt erscheint nach dem Vorbringender Beklagten nicht ausgeschlossen,dass auf ihrer Seite ein überwiegendesInteresse an der vorgenommenen Videoüberwachungund der Verwertung derdadurch gewonnenen Erkenntnisse bestand.Die Beklagte hat unter Beweisantrittbehauptet, in der Filiale der Klägerinhätten erhebliche Inventurverluste inHöhe von monatlich etwa 7.600,00 Eurobestanden, die im Rahmen der üblichenMaßnahmen zur Reduzierung von Inventurdifferenzennicht hätten aus derWelt geschafft werden können. So seienunter anderem die Anzahl der Inventurensowie der Früh- und Spätkontrollenerhöht und der Umfang der Warenabschreibungenstärker kontrolliert worden.Die Aufklärungsbemühungen überdas Warenwirtschaftssystem hätten ergeben,dass insbesondere im Bereich Tabakerhebliche Verluste aufgetreten seien.Da Tabakartikel unter Haltbarkeitsgesichtspunktennicht abgeschriebenwürden, habe der Verdacht bestanden,dass Mitarbeiterdiebstähle einen erheblichenEinfluss auf die Inventurdifferenzengehabt hätten. Die Videoüberwachungsei auf die besonders sensiblen Filialbereiche,insbesondere auf die Kassenzonemit Zigarettenschütte, beschränkt worden."Der durch die heimliche Videoüberwachungverursachte Eingriff in das allgemeinePersönlichkeitsrecht der Kwäre danach gerechtfertigt, wenn derkonkrete Verdacht einer strafbarenHandlung oder einer anderen schwerenVerfehlung zu Lasten der B-AG bestandenhätte, weniger einschneidende Mit-103


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________tel zur Aufklärung des Verdachts ergebnislosausgeschöpft worden wären,die verdeckte Videoüberwachung damitpraktisch das einzig verbleibende Mitteldargestellt hätte und sie insgesamtnicht unverhältnismäßig gewesen wäre.Der Verdacht müsste in Bezug auf einekonkrete strafbare Handlung oder andereschwere Verfehlung zu Lasten derB-AG gegen einen zumindest räumlichund funktional abgrenzbaren Kreis vonArbeitnehmern bestanden haben. DerVerdacht durfte sich nicht auf die allgemeineMutmaßung beschränken, eskönnten Straftaten begangen werden,er musste sich jedoch nicht notwendignur gegen einen einzelnen, bestimmtenArbeitnehmer richten. Auch im Hinblickauf die Möglichkeit einer weiterenEinschränkung des Kreises der Verdächtigenhätten weniger einschneidendeMittel als eine verdeckte Videoüberwachungzuvor ausgeschöpft werdenmüssen.VI. ErgebnisDie Wirksamkeit der Kündigung gegenüberder K und somit die Begründetheitbzw. Unbegründetheit der seitensder K erhobenen Kündigungsschutzklagehängt somit davon ab, obdie Voraussetzungen einer heimlichenVideoüberwachung durch die B-AGtatsächlich vorlagen. Lagen die Voraussetzungeneiner heimlichen Videoüberwachungdurch die B-AG vor, sosteht der Verwertung der Videoaufzeichnungenzum Beweis des Verhaltensder K kein prozessuales Verwertungsverbotwegen einer Verletzungdes allgemeinen Persönlichkeitsrechtsder K aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1Abs. 1 GG entgegen. In diesem Fall istdavon auszugehen, dass die ordentlicheKündigung gegenüber K als verhaltensbedingteKündigung gem. § 1 Abs. 2KSchG sozial gerechtfertigt und damitwirksam ist. Die seitens K erhobeneKündigungsschutzklage wäre dann unbegründet.Da nach der Tatsachenfeststellung desLandesarbeitsgerichts allerdings nochnicht feststeht, ob hinsichtlich derheimlichen Videoaufzeichnungen einBeweisverwertungsverbot wegen einerVerletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtsder K aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m.Art 1 Abs. 1 GG besteht, verwies dasBAG die Sache zur neuen Verhandlungund Entscheidung an das Landesarbeitsgerichtzurück (§ 72 Abs. 5 ArbGG,§ 563 Abs. 1 S. 1 ZPO).Hinweise:1. Das BAG bestätigt mit dieser Entscheidungseine bisherige Rechtsprechung,wonach die heimliche Videoüberwachungeines Arbeitnehmers zulässigist, wenn drei Voraussetzungenerfüllt sind. Erstens muss der konkreteVerdacht einer strafbaren Handlung104


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________oder einer anderen schweren Verfehlungzulasten des Arbeitgebers bestehen.Zweitens müssen weniger einschneidendeMittel zur Aufklärung desVerdachts ergebnislos ausgeschöpftsein, so dass die verdeckte Videoüberwachungdamit praktisch das einzigverbleibende Mittel darstellt. Drittensdarf sie insgesamt nicht unverhältnismäßigsein. Dabei muss der Verdachtim Hinblick auf eine konkrete strafbareHandlung oder eine andere schwereVerfehlung zulasten des Arbeitgebersgegen einen zumindest räumlich undfunktional abgrenzbaren Kreis von Beschäftigtenbestehen. Hingegen darf ersich nicht auf die allgemeine Mutmaßungbeschränken, es könnten Straftatenbegangen werden. Allerdings ist esnicht erforderlich, dass der Verdachtsich notwendig nur gegen einen einzelnen,bestimmten Arbeitnehmer richtet.Außerdem müssen auch in Bezug aufdie Möglichkeit einer weiteren Einschränkungdes Kreises der Verdächtigenweniger einschneidende Mittel alseine verdeckte Videoüberwachung zuvorausgeschöpft worden sein.öffentlich zugänglichen Räumen zu einemBeweisverwertungsverbot führt.3. Die Entscheidung des BAG eignetsich insbesondere als Prüfungsgegenstandeiner mündlichen Prüfung, da siesowohl Bezüge zum Arbeitsrechts alsauch zum Datenschutzrecht, zum Verfassungsrechtund schließlich zum Prozessrechtaufweist. Es bleibt allerdingsabzuwarten, ob die verdeckte Videoüberwachungvon Mitarbeitern auchnach der geplanten Änderung des Bundesdatenschutzgesetzesnoch zulässigsein wird.4. Einen Überblick zur Zulässigkeit derverdeckten Videoüberwachung durchden Arbeitgeber liefern Bergwitz, NZA2012, 1205 ff. und Bauer/Schansker, NJW2012, S. 3537 ff. Eine Übersicht über dieZulässigkeit von Bagatellkündigungennach der Emmely-Entscheidung findetsich bei Walk/Wiese, JSE 2011, Ausgabe 1,S. 26 ff. sowie Fuhlrott, ArbeitsrechtAktuell 2012, S. 498 ff.(Rechtsanwalt Dr. Nikolaus Polzer)2. Neu an der Entscheidung ist, dass dasBAG feststellt, dass aus der Regelungdes § 6b Abs. 2 BDSG nicht gefolgertwerden kann, dass eine heimliche Videoüberwachungin öffentlich zugänglichenRäumen per se unzulässig ist undeine heimliche Videoaufzeichnung in105


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Mehrfache Korrektur des RücktrittshorizontsBGH, Urteil vom 01.12.2011 – 3 StR 337/111. Bei einem Tötungsdelikt liegt ein unbeendeter Versuch vor, […] wenn der Täterzu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellungzur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest ausreichend ist.2. Ein beendeter Tötungsversuch […] ist hingegen anzunehmen, wenn der Täterden Eintritt des Todes bereits für möglich hält oder sich keine Vorstellungenüber die Folgen seines Tuns macht.3. Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts ist in engen Grenzen möglich. DerVersuch eines Tötungsdelikts ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächstirrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnisseines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt(Fortführung BGH, 19. Juli 1989, 2 StR 270/89, BGHSt 36, 224, BGH, 19. Mai 1993,GSSt 1/93, BGHSt 39, 221 und BGH, 23. Oktober 1991, 3 StR 321/91, BGHR StGB § 24Abs 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 25).4. Rechnet der Täter dagegen zunächst nicht mit einem tödlichen Ausgang, soliegt eine umgekehrte Korrektur des Rücktrittshorizonts vor, wenn er unmittelbardarauf erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat. In diesem Fall ist ein beendeterVersuch gegeben, wenn sich die Vorstellung des Täters bei fortbestehenderHandlungsmöglichkeit sogleich nach der letzten Tathandlung in engstemräumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dieser ändert (FortführungBGH, 19. Juli 1989, 2 StR 270/89, BGHSt 36, 224 und BGH, 6. Oktober 2009, 3StR 384/09, NStZ 2010, 146). (amtliche Leitsätze)Sacherhalt:„Nach den Urteilsfeststellungen bat derNebenkläger K. den Angeklagten in seineWohnung, um durch ein Gespräch einestreitige Angelegenheit zu klären. In derWohnung begannen der Angeklagte undder Nebenkläger alsbald erneut zu streiten.Daraufhin entschloss sich der Angeklagtespätestens jetzt, K. zu töten. Erzog ein versteckt gehaltenes Messer miteiner Klingenlänge von etwa 8 - 10 cmaus seiner Jackentasche und stieß eskraftvoll und gezielt in den Herzbereichdes Geschädigten, wobei er bewusst des-106


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________sen von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeitausnutzte. Die Messerklingedrang bis zum Heft in den Körper ein,eröffnete den Brustkorb und verletzteden Herzmuskel. Nachdem der Angeklagtedas Messer wieder aus dem Brustkorbherausgezogen hatte und der Nebenklägeraufgestanden war, stach derAngeklagte ein zweites Mal mit demMesser in Tötungsabsicht gezielt inRichtung des Herzens, traf aber nur dasBrustbein. Der Angeklagte, der davonausging, alles zur Tötung des NebenklägersErforderliche getan zu haben, gingnun mit dem Messer in der Hand auf denGeschädigten Ki. zu, der sich ebenfalls inder Wohnung aufhielt. K. hängte sichdaraufhin von hinten an den Rücken desAngeklagten, der mit dem vor ihm stehendenKi. rangelte. Während der Rangeleistach der Angeklagte mit dem Messerin den Bauch des Geschädigten Ki.und verursachte eine Verletzung, die ernicht als lebensgefährlich ansah. In derFolgezeit gelang es K. und Ki., einen Armdes Angeklagten so umzudrehen, dassdieser auf dem Boden fixiert war. NachdemK. in das Wohnzimmer gegangenwar, um telefonisch Hilfe zu holen, bracher verletzungsbedingt zusammen undbegann so laut zu stöhnen, dass es derAngeklagte und Ki. deutlich hören konnten.Ki. ließ den Angeklagten los, sahnach K., der stark blutete und nichtmehr ansprechbar war, und verließ dieWohnung, um Hilfe zu holen. Der Angeklagte,der die inzwischen eingetreteneHandlungsunfähigkeit des K. bemerkteund deshalb ‚erst Recht‘ davon ausging,dass dieser versterben werde, steckte dasauf den Boden gefallene Messer ein undfloh.“Prozessgeschichte:„Das Landgericht hat den Angeklagtenwegen versuchten Mordes in Tateinheitmit gefährlicher Körperverletzung undwegen gefährlicher Körperverletzung zueiner Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahrenund sechs Monaten verurteilt. Hiergegenwendet sich der Angeklagte mitseiner auf die allgemeine Sachrüge gestütztenRevision.“Die Entscheidung:„Der näheren Erörterung bedarf lediglichdie Frage, ob das Landgericht rechtsfehlerfreieinen strafbefreienden Rücktrittvom versuchten Mord verneint hat.“1. Rücktrittsfähigkeit(Ungeschriebene) Voraussetzung einesRücktritts ist nach h.M., dass der Versuchnicht fehlgeschlagen ist.Anmerkung: Anderer Ansicht nach seiein Fehlschlagen nur als Unterfall desunfreiwilligen Rücktritts zu verstehen(Maurach/Gössel/Zipf, StR AT, Teilbd. 2,7. Aufl. (1989), § 41 Rdnr. 36 ff.). Demwird entgegengehalten, dass ein Aufgebender weiteren Tatausführung (§ 24107


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB), ein Verhindernder Vollendung (§ 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2StGB) oder ein ernsthaftes Bemühen,„die Vollendung zu verhindern“ (§ 24Abs. 1 S. 2 StGB) begrifflich nur dann inFrage komme, wenn der Täter es überhauptnoch für möglich hält, dass dieTat vollendet werden kann (Kindhäuser,StR AT, 5. Aufl. (2011), § 32 Rdnr. 5).Ein Fehlschlagen liegt vor, erkennt derTäter oder nimmt er irrig an, dass er dieVollendung der geplanten Tat mit denihm zur Verfügung stehenden Mittelnnicht oder nicht ohne zeitlich relevanteZäsur herbeiführen kann (Perron/Bott/Gutfleisch, JURA 2006, 706 (712)).Das hat das LG bejaht. Dessen diesbezüglicheBegründung gibt der Senatwieder:„Im Übrigen sei der Versuch auch fehlgeschlagen;denn als sich K. an seinen Rückengehängt hatte und er gleichzeitigmit dem vor ihm stehenden Ki. gekämpfthabe, sei dem Angeklagten klar gewesen,dass er mit den ihm zur Verfügung stehendenMitteln seinen ursprünglichenTötungsvorsatz gegen K. gar nicht mehrhätte umsetzen können.“ Nach Ansichtdes Senats „kann [es indessen] offenbleiben,ob die Auffassung des Landgerichts,es liege jedenfalls ein fehlgeschlagenerVersuch vor, rechtlicher Überprüfungstandhalten könnte“.Gleichwohl erscheint es gut vertretbar,ein Fehlschlagen zu verneinen und dieRücktrittsfähigkeit zu bejahen: Nachden landgerichtlichen Feststellungenliegt es nahe, dass der Angeklagte indem Moment, in dem er das auf denBoden gefallene Messer einsteckte undfloh (also einem Zeitpunkt, der in einemengen zeitlichen Zusammenhangzum davorliegenden Tatgeschehenstand), erkannte, dass er nochmals zustechenund die Tötung von K. vollendenkönnte.2. Abgrenzung zwischen beendetemund unbeendetem VersuchSie „bestimmt sich nach dem Vorstellungsbilddes Täters nach Abschluss derletzten von ihm vorgenommenen Ausführungshandlung,dem sogenanntenRücktrittshorizont“ (herrschende sog.Lehre vom Rücktrittshorizont).„Bei einem Tötungsdelikt liegt […] einunbeendeter Versuch vor, bei dem alleinder Abbruch der begonnenen Tathandlungzum strafbefreienden Rücktritt vomVersuch führt, wenn der Täter zu diesemZeitpunkt noch nicht alles getan hat,was nach seiner Vorstellung zur Herbeiführungdes Todes erforderlich oder zumindestausreichend ist.Ein beendeter Tötungsversuch, bei demer für einen strafbefreienden Rücktrittvom Versuch den Tod des Opfers durcheigene Rettungsbemühungen verhindern108


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________oder sich darum zumindest freiwillig undernsthaft bemühen muss, ist hingegenanzunehmen, wenn der Täter den Eintrittdes Todes bereits für möglich hältoder sich keine Vorstellungen über dieFolgen seines Tuns macht.Eine Korrektur des Rücktrittshorizontsist in engen Grenzen möglich. Der Versucheines Tötungsdeliktes ist dahernicht beendet, wenn der Täter zunächstirrtümlich den Eintritt des Todes fürmöglich hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnisseines Irrtums von weiterenAusführungshandlungen Abstand nimmt.Rechnet der Täter dagegen zunächstnicht mit einem tödlichen Ausgang, soliegt eine umgekehrte Korrektur desRücktrittshorizonts vor, wenn er unmittelbardarauf erkennt, dass er sich insoweitgeirrt hat. In diesem Fall ist ein beendeterVersuch gegeben, wenn sich dieVorstellung des Täters bei fortbestehenderHandlungsmöglichkeit sogleich nachder letzten Tathandlung in engstemräumlichem und zeitlichem Zusammenhangmit dieser ändert […].Nach diesen Maßstäben war der Mordversuchan K. beendet, als der Angeklagtein der Vorstellung die Wohnung verließ,sein Opfer könne aufgrund der Sticheversterben […].Sollte der Angeklagte aufgrund des Verhaltensdes K., insbesondere dessen Beteiligungan der Rangelei, zwischendurchzu der Vorstellung gekommen sein, esbestehe für diesen doch keine Lebensgefahr,so lag in dem […] erneuten Wechselim Vorstellungsbild des Angeklagteneine nochmalige Korrektur des Rücktrittshorizonts,die zum Vorliegen einesbeendeten Versuchs führt. Der erforderlicheenge zeitliche und räumliche Zusammenhangzwischen den zwei Messerstichenund dem Wechsel des Vorstellungsbildeslag noch vor. Nach den Feststellungenvergingen vom Zeitpunkt derStiche bis zum Zusammenbruch desTatopfers im Wohnzimmer nur wenigeSekunden, maximal eine Minute. Eshandelte sich um ein ohne wesentlicheZwischenakte ablaufendes dynamischesGeschehen. Ein fehlender enger zeitlicherZusammenhang mit einer Tötungshandlungist von der Rechtsprechung demgegenübererst bei einer deutlich längerandauernden Zäsur von 15 bzw. zehnMinuten angenommen worden.“Nach alledem geht der Senat von einembeendeten Versuch aus.3. Ergebnis„Da der Tod K.s ohne das Zutun des Angeklagtenausblieb und der Angeklagteauch keine Bemühungen entfaltete, denTodeseintritt zu verhindern“ (nur beiVorliegen eines unbeendeten Versuchshätte der Angeklagte durch die bloßefreiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführungzurücktreten können), ist ernicht zurückgetreten und „das Landgericht[hat] rechtsfehlerfrei einen strafbe-109


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________freienden Rücktritt vom versuchtenMord verneint“. Es „erweist sich derSchuldspruch wegen versuchten Mordessomit […] als rechtfehlerfrei.“auch einer mehrfachen Korrektur zugänglichist.(Wiss. Ang. RA Guido Philipp Ernst)Hinweise:Der Senat nimmt nur zum fraglichenRücktritt des Angeklagten Stellung, diesdafür ausführlich. I.R.d. Abgrenzungvon beendetem zu unbeendetem Versuch(s. dazu auch BGH, Urteil vom26.05.2011 – 1 StR 20/11, JSE 1/2012, 105 f.)stellt er auf den Rücktrittshorizont desAngeklagten ab. Dieser Horizont weisteine „gewisse Beweglichkeit“ auf, istalso nicht als starrer Zeitpunkt aufzufassen(Lehre vom korrigierten Rücktrittshorizont):Ein beendeter Versuchkann sich in einen unbeendeten zurückverwandelnund umgekehrt. „Korrigiert“wird der Rücktrittshorizont,wenn sich i.R. einer Handlungseinheit,eines einheitlichen Geschehens undinsoweit innerhalb „der Tat“ des § 24Abs. 1 S. 1 StGB (der Senat spricht voneiner Änderung „in engstem räumlichemund zeitlichem Zusammenhang“),die Vorstellungen des Täters bezüglichdes möglichen Erfolgseintritts ändern.Die unter dieses Geschehen fallendezeitliche Spanne wird mit dem Begriffder „Rücktrittseinheit“ charakterisiert(zum Vorstehenden Rengier, StR AT, 4.Aufl. (2012), § 37 Rdnr. 36). Der Fallzeigt, dass unter den genannten Voraussetzungender Rücktrittshorizont110


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Beurteilung der Schuldfähigkeit: Bedeutung derBlutalkoholkonzentrationBGH, Beschluss vom 29.05.2012 – 1 StR 59/12, NJW 2012, 2672Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit kommt der Blutalkoholkonzentrationumso geringere Bedeutung zu, je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostischeBeweisanzeichen zur Verfügung stehen (Bestätigung und Fortführungvon BGH, Urteil vom 29. April 1997, 1 StR 511/95, BGHSt 43, 66). (amtlicherLeitsatz)Sachverhalt:„Der Angeklagte begab sich am [Mittagdes] 16. Juli 2010 nach Beendigung seinerArbeit […] wie nahezu jeden Tag in seineStammkneipe und trank dort […] mindestenssechs, maximal zehn Halbe Bier.Teilweise hielt sich der Angeklagte vorder Kneipe auf einer Bank auf, die nebeneinem Brunnen stand“, in dem Kinder,u.a. der damals siebenjährige Geschädigte,badeten. Diesen nahm der Angeklagteunter dem Vorwand, dort dessenWäsche zu trocken, mit in seine Wohnungund missbrauchte ihn sexuell.„Als der Junge […] mit der zwischenzeitlichgetrockneten Kleidung die Wohnungdes Angeklagten verließ, sagte ihm derAngeklagte noch, „dass das Geschehenein Geheimnis bleiben solle.“Das „Landgericht [hat] zur Schuldfähigkeitfestgestellt, dass der Angeklagte zurTatzeit alkoholbedingt enthemmt, jedochin seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeitweder aufgrund des Alkoholkonsumsnoch aufgrund sonstigerUmstände i.S.v. § 21 StGB erheblich vermindertwar:Die Strafkammer hat unter Zugrundelegungder jeweils dem Angeklagten günstigstenParameter (z.B. maximaleTrinkmenge, kürzestmögliche Trinkdauer,Alkoholgehalt des Bieres) eine maximaleBlutalkoholkonzentration von3,03 ‰ errechnet. Aussagen von Zeugen(u.a. der Wirt der Stammkneipe des Angeklagten)hat die Strafkammer entnommen,dass der Angeklagte an dieangegebenen Trinkmengen gewöhnt warund seine dadurch bedingten Ausfallerscheinungengenerell und auch am Tattag‚nur leicht‘ waren. Den Angaben desAngeklagten entnahm sie, dass er nacheinem im Mai 2010 erlittenen Schlaganfallund danach erfolgter Reha täglichsechs bis zehn, gelegentlich auch vier-111


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________zehn Halbe Bier trank, ohne dass eshierdurch zu Beeinträchtigungen in seinemBerufsleben gekommen war. DieKammer hat sich ferner – nach eigenerPrüfung – die Ausführungen des Sachverständigen(der aufgrund eines Rechen-/Schreibfehlersvon einer maximalenBlutalkoholkonzentration sogar von3,46 ‰ ausgegangen war) zu eigen gemacht,wonach das Leistungsvermögendes Angeklagten sowie seine detailscharfeErinnerung an die Abläufe am Tattagebenso wie das Vorliegen eines stringentenintentionalen Handlungsbogens mitvielen planerischen Elementen und sinnvollenReaktionen auf das Verhalten desKindes gegen die Annahme erheblicherEinschränkung der Steuerungsfähigkeitdes Angeklagten sprechen.Das Landgericht hat den Angeklagtenwegen schweren sexuellen Missbrauchseines Kindes in Tateinheit mit vorsätzlicherKörperverletzung zu fünf Jahrenund drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt.“Die Entscheidung:Der Senat nimmt ausführlich dazu Stellung,ob „die Strafkammer [zu Recht]ungeachtet einer errechneten Blutalkoholkonzentrationzum Tatzeitpunkt vonüber 3 ‰ eine erheblich verminderteSteuerungsfähigkeit i.S.v. § 21 StGB“(und somit eine daraus resultierendeMilderung nach § 49 Abs. 1 StGB) ausgeschlossenund damit zugleich rechtsfehlerfreidie Schuldunfähigkeit desAngeklagten verneint hat.Dies bejaht der Senat und verwirft A.sRevision als unbegründet (§ 349 Abs. 2StPO). Er führt dazu aus:„a) Auszugehen ist […] von Folgendem:(1) Eine Blutalkoholkonzentration in dererrechneten Höhe gibt […] Anlass zurPrüfung einer krankhaften seelischenStörung durch einen akuten Alkoholrausch;die Möglichkeit von Schuldunfähigkeitoder erheblich verminderterSchuldfähigkeit ist dann grundsätzlichzu erörtern.(2) Darüber hinaus war in älterer Rechtsprechungdie Auffassung vertreten worden,bei Überschreiten bestimmterGrenzwerte sei die Steuerungsfähigkeitmit einem kaum widerlegbaren Grad anWahrscheinlichkeit ‚in aller Regel‘ erheblichvermindert. Dies war aus juristischerSicht wegen des zu geringen Gewichtsder Einzelfallgerechtigkeit nieunumstritten, ebenso deshalb, weilSchuldfähigkeit ‚ein normatives Postulat,aber keine messbare Größe‘ ist. In derforensisch-psychiatrischen Wissenschaftwar diese schematisierende Auffassungnahezu einhellig abgelehnt worden, weildie Wirkung von Alkohol auf jeden Menschenunterschiedlich sei. Diese Recht-112


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________sprechung wurde deswegen aufgegeben[…].Seither ist gefestigte Rechtsprechung desBundesgerichtshofs, dass es keinenRechts- oder Erfahrungssatz gibt, der esgebietet, ohne Rücksicht auf die im konkretenFall feststellbaren psychodiagnostischenKriterien ab einer bestimmtenHöhe der Blutalkoholkonzentration regelmäßigvon zumindest ‚bei Begehungder Tat‘ erheblich verminderter Schuldfähigkeitauszugehen […].Es ist prinzipiell unmöglich, ‚einer bestimmtenBlutalkoholkonzentration fürjeden Einzelfall gültige psychopathologische,neurologisch-körperliche Symptomeoder Verhaltensauffälligkeiten zuzuordnen.Es existiert keine lineare Abhängigkeitder Symptomatik von der Blutalkoholkonzentration.Aus diesen Gründenist es prinzipiell unmöglich, allein ausder Blutalkoholkonzentration das Ausmaßeiner alkoholisierungsbedingtenBeeinträchtigung ableiten zu wollen‘. Eswäre daher auch verfehlt, einem psychodiagnostischenBeweisanzeichen – etwadem Leistungsverhalten vor, bei odernach Tatbegehung – von vornherein mitBlick auf eine bestimmte Blutalkoholkonzentrationoder mit Blick auf einezum Erreichen höherer Blutalkoholwertenotwendigerweise bestehende Alkoholgewöhnungeine Aussagekraft zur Beurteilungder Schuldfähigkeit i.S.d. §§ 20,21 StGB abzusprechen. […](3) Für die Beurteilung der Schuldfähigkeitmaßgeblich ist demnach eine Gesamtschaualler wesentlichen objektivenund subjektiven Umstände, die sich aufdas Erscheinungsbild des Täters vor,während und nach der Tat beziehen. Dabeikann die – regelmäßig deshalb zubestimmende – Blutalkoholkonzentrationein je nach den Umständen des Einzelfallssogar gewichtiges, aber keinesfallsallein maßgebliches Beweisanzeichen(Indiz) sein.Welcher Beweiswert der Blutalkoholkonzentration(die weniger zur Auswirkungdes Alkohols als lediglich zu dessenwirksam aufgenommener Menge aussagt)im Verhältnis zu anderen psychodiagnostischenBeweisanzeichenbeizumessen ist, lässt sich nicht schematischbeantworten. Er ist umso geringer,je mehr sonstige aussagekräftige psychodiagnostischeKriterien […] zur Verfügungstehen. So können die konkretenUmstände des jeweiligen Einzelfalls eineerheblich verminderte Steuerungsfähigkeitbei Tatbegehung auch bei einerBlutalkoholkonzentration schon vonunter 2 ‰ begründen, umgekehrt einesolche selbst bei errechneten Maximalwertenvon über 3 ‰ auch ausschließen.b) Dies zugrunde gelegt zeigt die Revisionkeinen Rechtsfehler zum Nachteil desAngeklagten auf.113


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________(1) Die Strafkammer hat den aufgezeigtenMaßstab beachtet und ausgehendvon der von ihr bestimmten Blutalkoholkonzentrationdie Frage der Schuldfähigkeitin einer Gesamtschau aller Umständebeurteilt. […](2) Anhaltspunkte, die Strafkammerkönnte bei der ihr obliegenden Gesamtwürdigungder zur Verfügung stehendenIndizien oder bei der Beurteilung der Erheblichkeiti.S.v. § 21 StGB den ihr zustehendentatrichterlichen Beurteilungsspielraumüberschritten haben, sindnicht ersichtlich. Insbesondere obliegt estatrichterlicher Beurteilung, welchesGewicht der Blutalkoholkonzentrationim Einzelfall in Zusammenschau mitanderen zur Verfügung stehenden Beweisanzeichenbeigemessen werdenkann. Die letzte Verantwortung für dieBeurteilung der Schuldfähigkeit liegtbeim Tatrichter. Die Frage der Erheblichkeitist eine allein vom Richter zubeantwortende Rechtsfrage.(3) Es ist auch nicht ersichtlich, dasseine der näher ausgeführten Erwägungender Strafkammer ungeeignet wäre, zurStützung des gefundenen Gesamtergebnisseszumal in einer Gesamtschau mitherangezogen zu werden.Namentlich bei größerer Alkoholaufnahmekommt der […] Alkoholgewöhnungeine wichtige Bedeutung zu. OhneRechtsfehler hebt die Strafkammer nebenanderen Beweisanzeichen auch aufdas isoliert gesehen bei trinkgewohntenPersonen freilich nur begrenzt aussagekräftigeFehlen erheblicher Ausfallerscheinungenab. Sie stützt sich dabeinicht nur auf die Angaben eines Kindesoder ebenfalls erheblich alkoholisierterZechkumpane, sondern u.a. auf den imUmgang mit alkoholisierten Personennicht unerfahrenen Gastwirt derStammkneipe des Angeklagten. DieStrafkammer durfte hier auch dem Umstand,dass der Angeklagte trotz erheblichenAlkoholkonsums insgesamt ‚seinBerufsleben ohne Einschränkungen unterKontrolle‘ hatte, Bedeutung beimessen.Ebenfalls ohne Rechtsfehler durftedie Strafkammer das nahezu gleich bleibendeVerhalten des Angeklagten ananderen Tagen, an denen der Angeklagtenach eigenen Angaben weniger Alkoholkonsumiert hatte, vergleichend zur Beurteilungder Steuerungsfähigkeit des Angeklagtenam Tattag heranziehen. Aussagekraftkonnte die Strafkammer hierauch dem (aus dem festgestellten Sachverhaltersichtlichen) planvollen undzielgerichteten Agieren des Angeklagtenvor und bei Tatbegehung […] aber auchnach Tatbegehung beimessen (z.B. derHinweis auf eine Geheimhaltungsbedürftigkeit).Die hier mit Blick auf das gesamteTatgeschehen fernliegende Möglichkeiteiner nach der Tat eingetretenenplötzlichen Ernüchterung musste dieStrafkammer nicht erörtern.“114


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Hinweise:1. Die Prüfung der Schuldfähigkeit erfolgt(formal durch das Gericht, tatsächlichist das Aufgabe des Sachverständigen,dazu A. Schiemann, NJW2012, 2676 (2676)) in zwei Schritten: Esmuss eine der dort genannten seelischenStörungen gegeben sein und aufgrunddieser muss der Täter unfähigsein, das Unrecht der Tat einzusehen(fehlende Einsichtsfähigkeit) oder nachdieser Einsicht zu handeln (fehlendeSteuerungsfähigkeit). Eine solche Prüfungwird in Klausuren und Hausarbeitenregelmäßig nicht möglich sein.Doch auch dort kann sich die Fragestellen, ob eine Alkoholisierung dieSchuldfähigkeit ausschließt. Dabeikann von dem Folgenden ausgegangenwerden:Der Vollrausch kann eine krankhafteseelische Störung oder a.A. nach einetiefgreifende Bewusstseinsstörung i.S.v.§ 20 StGB darstellen (dazu Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. (2011), § 20 Rdnr.4, 6).Die Rspr. hat sog. Schwellenwerte(Faustregeln) festgelegt (diese als willkürlichund keinem medizinischen Erfahrungssatzentsprechend krit. A.Schiemann, NJW 2012, 2676 (2676)),wonach bei einer Blutalkoholkonzentration(BAK) zur Tatzeit von 2,0 ‰ undmehr i.d.R. verminderte Schuldfähigkeiti.S.v. § 21 StGB, bei einer BAK von3,0 ‰ und mehr i.d.R. Schuldunfähigkeiti.S.v. § 20 StGB gegeben ist; bei Tötungsdeliktenwird wegen der erhöhtenHemmschwelle von einem um 10 % höherenWert ausgegangen (dazu Verrel/Linke,in: HK-GS, 2. Aufl. (2011), § 20Rn. 20, § 21 Rdnr. 4). Die BAK ist zwarein „gewichtiges […] Indiz“, doch verbietetsich jegliche schematische Betrachtungsweise.Es ist i.R.e. „Gesamtschau“bzw. -würdigung des Täterverhaltensvor, während und nach der Tat auf denEinzelfall abzustellen. So kann auch beiniedrigeren Werten als den oben wiedergegebenenverminderte Schuldfähigkeitoder Schuldunfähigkeit gegebensein ebenso wie (das zeigt vorliegenderFall) auch bei einer BAK von über3,0 ‰ nicht einmal verminderteSchuldfähigkeit nach § 21 StGB anzunehmensein kann.2. Im Anschluss an eine bejahteSchuldunfähigkeit des Täters können ineiner Prüfungsarbeit Ausführungen zurRechtsfigur der actio libera in causa(umf. dazu Kühl, StR AT, 7. Aufl. (2012),§ 11 Rdnr. 6 ff.; Rönau, JuS 2010, 300 ff.)oder zu § 323a StGB (hierzu s. nur Eisele,StR BT I, 2. Aufl. (2012), Rdnr. 1223ff.) veranlasst sein. Abgesehen von einermöglichen Beteiligung am Tun desschuldlos Handelnden (§ 25 Abs. 1Var. 2 StGB, §§ 26 f. StGB) kann auchdie Frage zu beantworten sein, ob er115


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________eine Notwehrlage verursachen, alsorechtswidrig angreifen kann (was u.a.von Renzikowski, Notstand und Notwehr,1994, S. 283 f. verneint wird, seidoch ein vorsätzlicher und schuldhafterAngriff zu verlangen, wohingegen diewohl h.M. lediglich einen rechtswidrigenAngriff, nicht aber ein schuldhaftesVerhalten des Angreifers fordert, Günther,in: SK/StGB, 31. Lfg., 7. Aufl., § 32Rdnr. 28) und ob (mit der wohl h.M.eine Notwehrlage annehmend) der Verteidigerdie Gebotenheit als Grenze derNotwehr beachtet hat (Fallgruppe: Angriffeschuldlos Handelnder, s. dazuKühl, StR AT, 7. Aufl. (2012), § 7Rdnr. 192 ff.).(Wiss. Ang. RA Guido Philipp Ernst)116


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AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Bezeichnung eines Rechtsanwalts als „rechtsradikal“BVerfG, Beschluss vom 17.09.2012 – 1 BvR 2979/10, NJW 2012, 37121. Bedeutung und Tragweite der Meinungsäußerungsfreiheit sind verkannt,wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigungoder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht imselben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die alsWerturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.2. Bei der Kennzeichnung eines Beitrags als „rechtsextrem“ und einer Personals „rechtsradikal“ handelt es sich um Meinungsäußerungen, die einer Überprüfungdurch eine Beweiserhebung nicht zugänglich sind.3. Hat die Bezeichnung eines Rechtsanwalts in einer öffentlichen Auseinandersetzungals „rechtsextrem“ und „rechtsradikal“ einen Sachbezug, liegt eineSchmähkritik nicht vor. Sie berührt jedoch wegen der damit verbundenenPrangerwirkung das allgemeine Persönlichkeitsrecht, da sie geeignet ist, dasAnsehen in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie kann zu einer einen Rechtsanwaltin seiner Existenz gefährdenden Bedrohung werden.4. Im öffentlichen Meinungskampf kann die Bezeichnung eines Rechtsanwaltsals „rechtsextrem“ und „rechtsradikal“ durch die Meinungsäußerungsfreiheitgedeckt sein. (Leitsätze der Redaktion)Sachverhalt (vereinfacht und gekürzt):Die Verfassungsbeschwerde richtetesich gegen zivilgerichtliche Entscheidungenin einem äußerungsrechtlichenFall.A, der Beklagte des Ausgangsverfahrens,ist Rechtsanwalt. K, der Kläger desAusgangsverfahrens, ebenfalls einRechtsanwalt, beschäftigt sich auf seinerKanzleihomepage und in Veröffentlichungenin <strong>Zeitschrift</strong>en mit politischenThemen. So verfasste er mit einemCo-Autor den Text „Die schleichendeRevolution der Kosmokraten“,in dem es um die angeblich die Weltbeherrschende Gruppe von „Kosmokraten“geht. Darin heißt es:„Bis heute sind es aber zumeist die superreichenFamilien Englands, Frankreichsund Hollands – größtenteils khasarische,also nicht-semitische Juden –,118


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________die das Wirtschaftsgeschehen in derWelt bestimmen.“In einem weiteren Artikel mit dem Titel„Art. 146 GG – Die Mär der gesamtdeutschenVerfassung“ befasst sich der Klägermit dem „transitorischen Charakter“des Grundgesetzes. Dort heißt es:„Das Grundgesetz ist lediglich ein ordnungsrechtlichesInstrumentarium derSiegermächte.“In einem Diskussionsforum im Internetsetzte sich A mit diesen Veröffentlichungenunter dem Pseudonym„pünktchen“ unter einer Rubrik, dieden Namen des K nennt, auseinanderund nannte sie „rechtslastigen Dreck“.Nachdem der K unter Androhungrechtlicher Schritte die Löschung dieserFormulierung gefordert hatte, äußertesich A in dem Forum wie folgt:„Wieso? Ich finde nun mal, dass Sierechten Dreck verbreiten. Ich habe o-ben auch belegt, was ich damit konkretmeine.“Zu dem Artikel „Die Mär von der gesamtdeutschenVerfassung“ schrieb Ain dem Forum:„Er liefert einen seiner typischenrechtsextremen originellen Beiträge zurBesatzerrepublik BRD, die endlichdurch einen bioregionalistisch organisiertenVolksstaat zu ersetzen sei.“Ein Unterlassungsbegehren wies A zurückund führte in einem Schreiben anK aus:„Wer wie Sie meint, die Welt werde imGrunde von einer Gruppe khasarischerJuden beherrscht, welche im Verborgenendie Strippen ziehen, muss es sichgefallen lassen, rechtsradikal genanntzu werden.“Dieses Schreiben stellte der A einembegrenzten Kreis von Nutzern im Internetzur Verfügung. In diesen Kreis istallerdings ein „Hacker“ eingebrochen.Das LG verurteilte mit angegriffenemUrteil A dazu, es zu unterlassen, in Bezugauf K wörtlich oder sinngemäß zubehaupten oder die Behauptungverbreiten zu lassen, dass er rechtsextremeBeiträge verfasst, und/oder dasssich sein Denken vom klassisch rechtsradikalenverschwörungstheoretischenWeltbild nicht wirklich unterscheidet,und/oder dass er es sich gefallen lassenmuss, rechtsradikal genannt zu werden.Das OLG wies die Berufung des A mitangegriffenem Urteil zurück. Es führtaus, dass es sich bei den beanstandetenÄußerungen um Meinungsäußerungenhandele, weil es einer Wertung bedürfe,ob ein Text rechtsradikale Züge tragebzw. von einem rechtsextremen Gedankengutgetragen sei. Eine solcheWertung sei einem Beweis nicht zugänglich.Grob gesagt sei die Grenze derzulässigen Meinungsäußerung bei der119


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________sogenannten Schmähkritik erreicht.Hier handele es sich um Schmähkritik,weil A den K ohne jeden nachvollziehbarenHintergrund aus völlig anderenMotiven als denen einer sachlichenAuseinandersetzung als rechtsradikalhabe brandmarken wollen.Gegen die Entscheidung des OLG nachErhebung der Anhörungsrüge nach§ 321a ZPO legte A Verfassungsbeschwerdeein. Mit Erfolg?A. Zulässigkeit der VerfassungsbeschwerdeDie Verfassungsbeschwerde ist zulässig.B. Begründetheit der VerfassungsbeschwerdeFraglich ist, ob die Verfassungsbeschwerdeauch begründet ist.I. In Betracht kommt hier in erster Linieein Verstoß gegen die Meinungsfreiheitnach Art. 5 I 1 GG. Das BVerfG führtnun zum Schutzbereich der Meinungsfreiheitaus:„Unter den Schutz der Meinungsfreiheitfallen nach ständiger Rechtsprechungdes BVerfG Werturteile und Tatsachenbehauptungen,wenn und soweit sie zurBildung von Meinungen beitragen. Tatsachenbehauptungenwerden durch dieobjektive Beziehung zwischen der Äußerungund der Wirklichkeit charakterisiertund sind der Überprüfung mit Mittelndes Beweises zugänglich. Meinungensind dagegen durch das Element derStellungnahme, des Dafürhaltens oderMeinens geprägt.“Das BVerfG sieht in der Entscheidungdes OLG auch einen Eingriff in denSchutzbereich des Grundrechts. Dabeistellt es auf den Prüfungsmaßstab imRahmen der Urteilsverfassungsbeschwerdeab:„Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheitsind verkannt, wenn eineÄußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung,Formalbeleidigung oderSchmähkritik eingestuft wird mit derFolge, dass sie dann nicht im selben Maßam Schutz des Grundrechts teilnimmtwie Äußerungen, die als Werturteil ohnebeleidigenden oder schmähenden Charakteranzusehen sind.Bei den beanstandeten Äußerungen handeltes sich um Meinungsäußerungen,denn es ist nicht durch eine Beweiserhebungfestzustellen, wann ein Beitrag‚rechtsextrem‘ ist, wann sich ein Denkenvom ‚klassisch rechtsradikalen verschwörungstheoretischenWeltbild‘ unterscheidetund wann man ‚es sich gefallenlassen muss, rechtsradikal genanntzu werden‘.Das Urteil des LG ist fehlerhaft, weil esdie erste Äußerung offenbar als erwiesen120


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________unwahre Tatsachenbehauptung einordnetund somit aus dem Schutzbereichder Meinungsfreiheit herausfallen lässt.Die dennoch durchgeführte Abwägungvermag den Fehler nicht zu heilen, weilsie wesentliche Aspekte nicht berücksichtigtund das LG deswegen den Einflussdes Grundrechts der Meinungsfreiheitnicht ausreichend beachtet hat. Ausdem gleichen Grund greift die von demLG durchgeführte Abwägung auch hinsichtlichder beiden anderen beanstandetenÄußerungen zu kurz.Zunächst zutreffend qualifiziert demgegenüberdas OLG alle drei Äußerungenals Meinungsäußerungen.“Nicht geschützt von der Meinungsfreiheitist eine Meinungsäußerung, die alsSchmähkritik anzusehen ist. Das hattedas OLG hier angenommen, nach demBVerfG aber zu Unrecht:„Fehlerhaft ist dann aber, dass das OLGdie Äußerungen als Schmähkritik einstuftund damit ebenfalls aus demSchutzbereich der Meinungsfreiheit herausfallenlässt. Verfassungsrechtlich istdie Schmähung eng definiert. Sie liegt beieiner die Öffentlichkeit wesentlich berührendenFrage nur ausnahmsweise vorund ist eher auf die Privatfehde beschränkt.Eine Schmähkritik ist dadurchgekennzeichnet, dass nicht mehr dieAuseinandersetzung in der Sache, sonderndie Diffamierung der Person imVordergrund steht. Dies kann hier abernicht angenommen werden. Alle Äußerungenhaben einen Sachbezug. Die ersteÄußerung bezieht sich auf den Text desKl. ‚Die schleichende Revolution derKosmokraten‘, die zweite Äußerung aufden Text ‚Art. 146 – Die Mär von der gesamtdeutschenVerfassung‘, und die dritteÄußerung stammt aus einem vorprozessualenSchriftsatz und bezieht sichauf den Unterlassungsanspruch.“Eingriffe in die Meinungsfreiheit könnenaber auch gerechtfertigt sein. EineSchranke bilden nach Art. 5 II GG die„allgemeinen Gesetze“, welche allerdingswiederum im Licht der Meinungsfreiheitauszulegen sind. DasBVerfG führt hierzu aus:„Verfassungsrechtlich geboten war alsoeine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheitdes Bf. und dem allgemeinen Persönlichkeitsrechtdes Kl.Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit istnämlich nicht vorbehaltlos gewährt. Esfindet seine Schranke in den allgemeinenGesetzen, zu denen die hier von den Gerichtenangewandten Vorschriften der§§ 823 I, II, 1004 I, II BGB i.V.m. Art. 2 I,1 I GG gehören.Durch die Attribute ‚rechtsextrem‘ und‚rechtsradikal‘ ist das allgemeine Persönlichkeitsrechtdes Kl. berührt. Denn mitihnen ist eine Prangerwirkung verbunden,die geeignet ist, das Ansehen einerPerson – zumal als Rechtsanwalt – in der121


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie kannzu einer einen Rechtsanwalt in seinerExistenz gefährdenden Bedrohung werden.Das Ergebnis der Abwägung ist verfassungsrechtlichnicht vorgegeben undhängt von den Umständen des Einzelfallsab. Das BVerfG ist auf eine Nachprüfungbegrenzt, ob die Zivilgerichteden Grundrechtseinfluss ausreichendbeachtet haben.In die Abwägung wird vorliegend einzustellensein, dass der Kl. weder in seinerIntim- noch in seiner Privatsphäre betroffenist, sondern allenfalls in seinerSozialsphäre. Dagegen ist die Meinungsfreiheitdes Bf. im Kern betroffen, weilihm die Äußerung seiner Meinung gerichtlichuntersagt wurde. Die Verurteilungzur Unterlassung einer Äußerungmuss aber im Interesse des Schutzes derMeinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutzunbedingt Erforderliche beschränktwerden.Der Kl. hat seine Beiträge öffentlich zurDiskussion gestellt. Dann muss zur öffentlichenMeinungsbildung auch eineechte Diskussion möglich sein. Derjenige,der sich mit verschiedenen Stellungnahmenin die öffentliche Diskussioneingeschaltet hat, muss eine scharfe Reaktiongrundsätzlich auch dann hinnehmen,wenn sie sein Ansehen mindert.Gegen die Meinung des Bf. könnte sichder Kl. im Meinungskampf seinerseitswieder öffentlich zur Wehr setzen.“Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerdedes A ist begründet.Hinweise:1. Die Entscheidung betrifft eine gängige<strong>Examen</strong>sproblematik und eine inZeiten der Internet-Kommunikationwichtige Frage. Das BVerfG hebt hier zuRecht die Bedeutung der Meinungsfreiheithervor. Die Entscheidung dürfteauch übertragbar sein auf sonst umstritteneBezeichnungen wie etwa „Antisemit“oder „Terrorhelfer“.2. Verwunderung erregen hier die Entscheidungendes LG und des OLG. Zwarwird der Vorwurf des Rechtsextremismusoder -radikalismus häufig pauschalund undifferenziert erhoben, im vorliegendenFall scheint er aber einige Berechtigungzu haben, berücksichtigtman die fraglichen Äußerungen des soBezeichneten. Insoweit ist es nicht ohneweiteres einleuchtend, von einer unwahrenTatsachenbehauptung auszugehen.Auch die Annahme vonSchmähkritik liegt hier doch eher fern,so wird doch hier lediglich eine Personmit einer bestimmten politischen Einstellungin Verbindung gebracht.3. Beleidigungen – auch solche, die keinesfallsgerechtfertigt sind – werden im122


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Internet alltäglich tausendfach gemacht,unter dem Schutz der Anonymitätscheint so etwas vielen leicht zu fallen.Die Schwierigkeiten, dagegen vorzugehen,sind vor allem praktischerNatur, siehe zur Problematik eingehendGlaser, NVwZ 2012, 1432.(Rechtsanwalt Dr. Christian F. Majer)123


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Betrieb eines „Bier-Bikes“ auf öffentlichen StraßenBVerwG, Beschluss vom 28.08.2012 – 3 B 8.12Der Betrieb eines „Bier-Bikes“ auf öffentlichen Straßen ist straßenrechtlichdann nicht mehr Gemeingebrauch, sondern eine erlaubnispflichtige Sondernutzung,wenn eine Gesamtschau der äußerlich erkennbaren Merkmale aus derPerspektive eines objektiven Beobachters ergibt, dass es vorwiegend nicht zurTeilnahme am Verkehr, sondern zu anderen Zwecken benutzt wird. (amtlicherLeitsatz)Sachverhalt (vereinfacht):Die Klägerin vermietet über das Internetso genannte „Bier-Bikes“ für jedenAnlass. Das sind vierrädrige Fahrzeugemit einer Länge von ca. 5,30 m, einerBreite von etwa 2,30 m und einer Höhevon ca. 2,70 m. Das Leergewicht beträgtrund 1.000 kg. Ein solches „Bier-Bike“bietet Platz für bis zu 16 Personen, diean den Längsseiten eines in der Mitteangebrachten Tisches sitzen. Gelenktund gebremst wird das „Bier-Bike“ voneinem von der Klägerin gestellten Fahrer,der mit Blick in Fahrtrichtung imFrontbereich des Fahrzeugs sitzt. Das„Bier-Bike“ ist mit einem Bierfass miteinem Fassungsvermögen von bis zu50 l, einer Zapf- und einer Musikanlageausgestattet. Angetrieben wird das Gefährtdurch Pedale, welche von den anden Längsseiten sitzenden Benutzerngetreten werden. Die Fahrtgeschwindigkeitbeträgt ca. 6 km/h.Die Beklagte, die Große Kreisstadt X(85.000 Einwohner) im Bundesland Baden-Württemberg,untersagte nachAnhörung der Klägerin dieser die Benutzungder „Bier-Bikes“ auf öffentlichenStraßen, Wegen und Plätzen imStadtgebiet. Es handele sich um eineSondernutzung, die nicht genehmigtsei; zudem ergäben sich Gefahren undStörungen für die öffentliche Sicherheit,was detailliert ausgeführt wurde. Nacherfolglosem Widerspruchsverfahren hatdie Klägerin fristgerecht Klage gegendie Untersagungsverfügung erhoben,insbesondere ist sie der Auffassung,dass der Betrieb der „Bier-Bikes“ vomstraßenrechtlichen Gemeingebrauchumfasst sei.Wesentliche Entscheidungsgründe:I. ZulässigkeitDie Klage ist zulässig. Nachdem derSachverhalt hier keine erwähnenswer-124


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________ten Probleme aufwirft, wird auf eineausführliche Zulässigkeitsprüfung verzichtet.II. BegründetheitDie Klage ist begründet, wenn der angegriffeneVerwaltungsakt rechtswidrigist und die Klägerin in ihren Rechtenverletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).1. ErmächtigungsgrundlageErmächtigungsgrundlage für die Verfügungder Beklagten ist § 16 Abs. 8 S. 1des Straßengesetzes Baden-Württemberg(StrG BW), soweit das Verbot öffentlicheStraßen im Anwendungsbereichdes StrG BW betrifft (also Landes-,Kreis- und Gemeindestraßen). Soweitdie Untersagungsverfügung Bundesfernstraßenbetrifft, ist § 8 Abs. 7a desFernstraßengesetzes (FStrG) einschlägigeErmächtigungsgrundlage. Nachdiesen im Wortlaut im Wesentlichenidentischen Vorschriften kann die fürdie Erteilung der Erlaubnis zuständigeBehörde die erforderlichen Maßnahmenzur Beendigung der Benutzunganordnen, wenn eine Straße ohne dieerforderliche Erlaubnis benutzt wird.Diese straßenrechtlichen Eingriffsgrundlagensind gegenüber der polizeilichenGeneralklausel der §§ 1, 3 PolGBW spezieller.2. Formelle Rechtmäßigkeita) ZuständigkeitZuständig für die Untersagungsverfügungist im Anwendungsbereich desStraßengesetzes die Straßenbaubehörde(vgl. §§ 16 Abs. 2 u. 8, 17, 50 StrG BW).Dies ist die Gemeinde, auch soweit essich um Ortsdurchfahrten von LandesoderKreisstraßen handelt.Im Anwendungsbereich des FStrG istfür die Untersagungsverfügung nach§§ 8 Abs. 1, 22 Abs. 3 FStrG i.V.m. §§ 16Abs. 2 u. 8, 52b Abs. 2 StrG BW ebenfallsdie Gemeinde zuständig, soweitOrtsdurchfahrten von Bundesstraßenbetroffen sind.b) VerfahrenEine Anhörung der Klägerin hat nach§ 28 LVwVfG stattgefunden.3. Materielle Rechtmäßigkeita) TatbestandsvoraussetzungenDie betroffenen Straßen werden ohnedie erforderliche Erlaubnis benutzt.Nach § 16 Abs. 1 StrG BW bzw. § 8Abs. 1 FStrG bedarf die Benutzung einerStraße über den Gemeingebrauch hinausder Erlaubnis (Sondernutzung).Dagegen ist im Rahmen des Gemeingebrauchsdie Benutzung einer öffentlichenStraße erlaubnisfrei. Gemeingebrauchliegt nach § 13 StrG BW bzw.125


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________§ 7 FStrG vor beim Gebrauch der öffentlichenStraße durch jedermann imRahmen der Widmung und der Straßenverkehrsvorschrifteninnerhalb derverkehrsüblichen Grenzen.Der Betrieb der „Bier-Bikes“ auf öffentlichenStraßen ist kein Gemeingebrauchmehr, sondern stellt eine erlaubnispflichtigeSondernutzung dar.Kein Gemeingebrauch liegt vor, wennjemand die Straße nicht vorwiegendzum Verkehr, sondern zu anderen Zweckenbenutzt. Die überwiegendeZweckbestimmung der von der Klägerinvermieteten „Bier-Bikes“ ist das Durchführenvon Feiern, Partys und ähnlichenVeranstaltungen auf der Straße. Esüberwiegt somit der Eventcharaktergegenüber der Ortsveränderung. Eshandelt sich um eine rollende Veranstaltungsfläche,da das „Bier-Bike“ nachseiner Bauweise und Konzeption einerollende Theke ist.Dass die „Bier-Bikes“ daneben auch derBeförderung von Personen dienen,reicht nicht aus, da es auf eine Gesamtschauder Umstände des Einzelfalls ankommtund die Personenbeförderungallenfalls untergeordneter Nutzungszweckist.Bei dieser Bewertung kommt es auf dieSicht eines objektiven Betrachters an,da ein solcher Ansatz schon deshalbgeboten ist, um möglichen Schutzbehauptungendes Nutzers in Bezug aufseine Motivation keinen Raum zu geben.b) ErmessenErmessensfehler (§ 114 VwGO) sind derBeklagten keine unterlaufen.4. ErgebnisDie zulässige Klage ist unbegründet.Das Verwaltungsgericht hat die Klagedaher für die Klägerin kostenpflichtig(§ 154 Abs. 1 VwGO) mit nachfolgendemTenor abgewiesen, wobei das Gerichtnach pflichtgemäßem Ermessendavon abgesehen hat, das Urteil hinsichtlichder Kosten für vorläufig vollstreckbarzu erklären (§ 167 Abs. 2VwGO):„Die Klage wird abgewiesen.Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.“Hinweise:Die Entscheidung des BVerwG ist ausrevisionsrechtlicher Sicht abgefasst, dadas Gericht über die Beschwerde derKlägerin über die Nichtzulassung derRevision zu entscheiden hatte. Zu Ausbildungszweckenwurde der Sachverhaltauf die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtsübertragen.126


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Die Abgrenzung zwischen straßenrechtlichemGemeingebrauch und Sondernutzungist Grundlagenwissen undsollte für eine ordentliche <strong>Examen</strong>svorbereitungbeherrscht werden.(Regierungsdirektor Jochen Heinz)127


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Wenn Politik auf Recht trifft…VG Stuttgart, Beschluss vom 18.06.2012, 2 K 1627/121. Ein Verwaltungsakt, der die Fertigstellung eines ohne Baugenehmigung errichtetenRohbaus und seine Nutzung zu Wohnzwecken zulässt, geht über einebloße Duldung eines rechtswidrigen Zustands hinaus. Er stellt eine bauaufsichtlicheZulassung i.S.v. § 212a BauGB dar. (amtlicher Leitsatz)2. Für die Gemeinde, auf deren Gebiet das Baugrundstück liegt, besteht in einemsolchen Fall das Recht auf mitentscheidende Beteiligung nach § 36 Absatz1 BauGB. Wird dieses Recht nicht beachtet, ist die Gemeinde in ihrer Planungshoheitund damit in ihrem nach Artikel 28 Absatz 2 GG, Artikel 71 Absatz 1und 2 LV BW gewährleisteten Selbstverwaltungsrecht verletzt. (amtlicher Leitsatz)3. Die Bindung der Landesregierung an einen Beschluss des Petitionsausschussesdes Landtags (§ 67 Absatz 6 der Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg) enthält eine politische Verpflichtung, stellt aber keine Ermächtigungsgrundlagefür Eingriffe in Rechte Dritter (hier der Gemeinde) dar. (amtlicherLeitsatz)4. Die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichen Urteils bindet alle Beteiligtendes Verfahrens (§ 121 Nummer 1 VwGO). Ist in einem Verfahren ein Anspruchdes Bauherrn auf Baugenehmigung verneint worden, unter anderemweil die gemeindliche Planungshoheit durch die Zulassung verletzt wird, darfsich nach Rechtskraft der Entscheidung das im Prozess beteiligte Land bei unveränderterSach- und Rechtslage nicht zu Lasten der ebenfalls beteiligten Gemeindeüber diese Bewertung hinwegsetzen. (amtlicher Leitsatz)Sachverhalt (vereinfacht):Die Antragstellerin, eine Gemeinde,wendet sich gegen einen Bescheid desMinisteriums für Verkehr und Infrastruktur,mit welchem dem beigeladenenBauherrn mitgeteilt wurde, dassdessen im Rohbau fertig gestelltes Bauvorhabenim Außenbereich auf derGemarkung der Antragstellerin fertiggestellt und gemäß dem Beschluss des15. Landtags von Baden-Württembergvom 21.07.2011 für das allgemeine Woh-128


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________nen genutzt werden könne. Die untereBaurechtsbehörde beim Landratsamtsowie die höhere Baurechtsbehördebeim Regierungspräsidium erhielteneine Mehrfertigung des Bescheids desMinisteriums, die Antragstellerin jedochnicht.Für das im Rohbau fertig gestellte Bauvorhabendes Beigeladenen hatte dasLandratsamt zunächst auf der Grundlagedes § 35 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 BauGB eineBaugenehmigung für den Umbau unddie Nutzungsänderung einer Feldscheunezu einem Wohnhaus erteilt.Das Bauvorhaben wurde sodann durchdas Landratsamt nach § 64 LBO BWeingestellt, nachdem festgestellt wurde,dass die Substanz der Feldscheunedurch den Beigeladenen fast vollständigbeseitigt worden war. Die nachträglichbeantragte Baugenehmigung lehnte dasLandratsamt ab, da die Voraussetzungenfür eine Zulassung nach § 35 BauGBnicht vorlagen und die Antragstellerinihr nach § 36 BauGB erforderliches gemeindlichesEinvernehmen versagt hatte.Gleichzeitig wurde seitens des Landratsamtsdie vollständige Beseitigungdes Rohbaus nach § 65 S. 1 LBO BWangeordnet. Den hiergegen eingelegtenWiderspruch wies die zuständige Widerspruchsbehördebeim Regierungspräsidiumzurück, das nachfolgend geführteKlageverfahren blieb erfolglos(der Antrag auf Zulassung der Berufungwurden vom VerwaltungsgerichtshofBaden-Württemberg abgelehnt).Der Beigeladene hat beim Landtag vonBaden-Württemberg eine Petition eingereichtmit dem Ziel der Aufhebungder Beseitigungsanordnung für das imRohbau errichtete Gebäude und derErteilung einer Erlaubnis zur Fertigstellungund Nutzung des Vorhabens alsWohngebäude für sich und seine Familienangehörigenim Wege der Duldung.Der Berichterstatter des Petitionsausschussesführte mit verschiedenen Beteiligteneinen informellen Vor-Ort-Termin durch. Anschließend führteeine Kommission des Petitionsausschusseseinen Ortstermin mit allenBeteiligten durch und nahm das Vorhabenin Augenschein. Der Petitionsausschussfasste am 13.07.2011 – ohne Widerspruchder Regierung – einstimmigden Beschluss, die Petition der Regierungzur Berücksichtigung zu überweisen.Der Landtag hat dem am 21.07.2011zugestimmt. In Folge dieser Entscheidungdes Landtags erging der in diesemVerfahren streitgegenständliche Bescheiddes Ministeriums.Die Antragstellerin hat fristgerecht Klagegegen den Bescheid des Ministeriumserhoben und gleichzeitig die Anordnungder aufschiebenden Wirkungihrer Klage beantragt. Um letzteres gehtes in diesem Verfahren. Der Beigeladenehat keinen Antrag gestellt.129


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Wesentliche Entscheidungsgründe:I. Zulässigkeit1. Statthafte AntragsartStatthafte Antragsart ist hier gemäß derAbgrenzungsnorm des § 123 Abs. 5VwGO das Verfahren nach §§ 80a Abs. 3S. 2, 80 Abs. 5 VwGO, da in der Hauptsachegegen den Bescheid des Ministeriums,einen Verwaltungsakt im Sinnedes § 35 LVwVfG, eine Anfechtungsklagestatthaft ist. Konkret einschlägig isthier – wegen des gesetzlichen Entfallensdes Suspensiveffekts (vgl. dazu sogleichunten 2.) – ein Antrag auf Anordnungder aufschiebenden Wirkung der Klage.2. Entfall des Suspensiveffekts derAnfechtungsklageDie in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklagehat nach § 80 Abs. 2Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a BauGB keineaufschiebende Wirkung, da es sich beidem angegriffenen Bescheid des Ministeriumsum eine bauaufsichtliche Zulassunghandelt. Das Verwaltungsgerichtführt diesbezüglich aus:„Den Begriff der ‚bauaufsichtlichen Zulassung’verwendet das Gesetz als Oberbegrifffür alle präventiven Kontrollerlaubnisse.Aus dem Vergleich mit derbisherigen Vorschrift des § 10 Absatz 2BauGB-MaßnahmenG ergibt sich, dassvom Wegfall der aufschiebenden Wirkungbei Verwaltungsakten ausgegangenwird, die Investitionen betreffen. Obwohles sich dabei um eine Ausnahme vomGrundsatz der aufschiebenden Wirkungvon Rechtsbehelfen nach § 80 Absatz 1VwGO handelt, erfordert dieser Grundsatznach der zugrunde liegenden Konzeptiondes Gesetzgebers eine weite Auslegungdes Begriffs der bauaufsichtlichenZulassung. Nach Sinn und Zweck dieserRegelung ist diese auch auf den vorliegendenFall anwendbar, in dem außerhalbeines baurechtlichen Verfahrens imWege der Duldung ein Bauvorhaben ermöglichtwird. Dem Beigeladenen wirddurch die Entscheidung des Ministeriumseine geschützte baurechtlicheRechtsposition verschafft, die dem einerBaugenehmigung weitgehend entspricht.Es wird nämlich nicht nur ein vorhandenerbaurechtswidriger Zustand ausdrücklichgeduldet, sondern dem Beigeladenenwird nach Prüfung der Erschließungund der Statik erlaubt, das imRohbau befindliche Gebäude fertig zustellen und auf Dauer auch zu Wohnzweckenzu nutzen. Ihm wird damit unmittelbardie Errichtung bzw. Fertigstellungdes Vorhabens gestattet, worauf diePetition ausdrücklich gerichtet war („Erlaubnis“).Solange diese Verfügung Bestandhat, kann gegen das Vorhabenbauplanungsrechtlich und auch bauordnungsrechtlichnicht eingeschritten werden.“130


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________3. AntragsbefugnisDie Antragstellerin ist nach § 42 Abs. 2VwGO analog auch antragsbefugt, dasie möglicherweise in der ihr zustehendenPlanungshoheit als Ausfluss der inArt. 28 Abs. 2 GG, Art. 71 Abs. 1 u. 2 LVBW niedergelegten Selbstverwaltungsgarantieverletzt ist.4. RechtsschutzbedürfnisIm Rahmen des Rechtsschutzbedürfnissesdes Antrags auf einstweiligenRechtsschutz ist die offensichtliche Zulässigkeitder Anfechtungsklage in derHauptsache zu prüfen, da nur offensichtlichzulässige Rechtsbehelfe in derLage sind, einen Suspensiveffekt nach§ 80 Abs. 1 VwGO auszulösen. Unzulässigkeitsgründesind nicht ersichtlich,insbesondere bedurfte es, da die angegriffeneEntscheidung des Ministeriumsvon einer obersten Landesbehörde (vgl.§ 7 LVG BW) stammt, nach § 68 Abs. 1S. 2 Nr. 1 VwGO nicht der Durchführungeines Vorverfahrens, sondern eskonnte direkt gegen den Bescheid Klageerhoben werden.5. ZwischenergebnisDer Antrag ist zulässig.II. Begründetheit1. Richtiger AntragsgegnerDas Land Baden-Württemberg ist gem.§ 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog alsRechtsträger des Ministeriums für dasVerfahren passivlegitimiert.2. Überwiegendes SuspensivinteresseDer Antrag auf Anordnung der aufschiebendenWirkung der Klage derAntragstellerin ist begründet, wenn beider aufgrund summarischer Prüfungvorzunehmenden Interessenabwägungdas Suspensivinteresse der Antragstellerindas Vollzugsinteresse der Antragsgegnerinsowie das Interesse des Beigeladenenüberwiegt. Mit anderen Wortenmuss das Interesse der Antragstellerin,von den Wirkungen der sofort vollziehbarenbauaufsichtlichen Zulassungverschont zu bleiben, Vorrang vor demgegenläufigen privaten Interesse desBeigeladenen und dem öffentlichenInteresse, von einer sofort vollziehbarenbauaufsichtlichen Zulassung Gebrauchmachen zu können, haben. Dies ist insbesonderedann der Fall, wenn diezugrunde liegende Entscheidung derAntragsgegnerin offensichtlich rechtswidrigist.131


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________a) Unzulässiger Eingriff in die Planungshoheitder AntragstellerinSo liegt der Fall hier, denn es bestehenernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeitder Entscheidung des Ministeriums,weil durch diese in unzulässigerWeise in die verfassungsrechtlich geschütztePlanungshoheit der Antragstellerineingegriffen wurde. Mit derEntscheidung des Ministeriums wirddie Verwirklichung eines Vorhabenseines privaten Bauherrn im Außenbereichohne das nach § 36 Abs. 1 BauGBerforderliche gemeindliche Einvernehmenermöglicht. Zunächst führt dasGericht allgemein zu Planungshoheitals Ausfluss der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantieaus:„Artikel 28 Absatz 2 GG und Artikel 71Absatz 1 und 2 LV BW gewährleisten denGemeinden als Teil der Angelegenheitender örtlichen Gemeinschaft das Recht, ineigener Verantwortung im Rahmen derGesetze für ihr Gemeindegebiet die Bodennutzungfestzulegen. Damit die Gemeindenihrer städtebaulichen Verantwortunggerecht werden können, stehenihnen Sicherungsinstrumente zur Verfügung,wozu auch die Beteiligungsregelungdes § 36 Absatz 1 BauGB gehört.Zur Sicherung der planerischen Handlungsfreiheittrifft der Gesetzgeber mitdieser Vorschrift Vorsorge dafür, dassdie Gemeinde als sachnahe und fachkundigeBehörde in Ortsteilen, in denensie noch nicht geplant hat, an der Beurteilungder bebauungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungenmitentscheidendbeteiligt wird. Der Gemeinde wirdals Ausfluss der Planungshoheit dasRecht zugebilligt, Vorhaben abzuwehren,die mit § 35 BauGB nicht in Einklangstehen. Im Hinblick auf die Interessenlageder Gemeinde kann es keinen Unterschiedmachen, ob sich die Behörde überein ausdrücklich versagtes Einvernehmenhinwegsetzt oder rechtsirrig dieBaugenehmigungsfreiheit eines Vorhabensannimmt und aus diesem Grundeein Baugenehmigungsverfahren unterBeteiligung der Gemeinde nicht einleitet.Auch im Falle des Abschlusses eines öffentlichrechtlichenVertrags zwischenBaubehörde und Bauherrn, der die Belassungeines Gebäudes im Außenbereichzum Gegenstand hat, und an dem dieGemeinde nicht beteiligt worden ist,kann im Ergebnis nichts anderes gelten.Für die Gemeinde stellt ein solcher Vertrag,der ohne ihre Mitwirkung geschlossenwird, eine Umgehung ihrer Rechteaus § 36 BauGB dar.“Sodann bewertet das Gericht die streitgegenständlicheEntscheidung des Ministeriums:„Für die angefochtene Entscheidung derAntragsgegnerin ergibt sich mit Blick aufdie Planungshoheit der Antragstellerinkeine andere Beurteilung. Das Ministeriumhat entgegen dem ausdrücklichen132


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Willen der Gemeinde die Fertigstellungund Nutzung eines Vorhabens im Außenbereichzugelassen. Das Einvernehmenhat die Antragstellerin auch zutreffendversagt, da das Vorhaben nach denRegelungen des § 35 BauGB nicht zugelassenwerden kann. Insoweit wird aufdie rechtskräftige Entscheidung derKammer betreffend die Versagung dernachträglichen Baugenehmigung undentsprechende Abbruchverfügung Bezuggenommen.“Es kommt daher auch keine Ersetzungeines rechtswidrig versagten gemeindlichenEinvernehmens nach § 36 Abs. 2S. 3 BauGB i.V.m. § 54 Abs. 4 LBO BWin Betracht, denn die Versagung desgemeindlichen Einvernehmens war, wiebereits gerichtlich geklärt wurde,rechtmäßig.b) Unbeachtlichkeit der Petitionsentscheidungdes LandtagsDer Beigeladene hat, nachdem rechtskräftiggerichtlich die Erteilung einernachträglichen Baugenehmigung abgelehntund die entsprechende Abbruchverfügungbestätigt wurde, von seinemin Art. 2 Abs. 1 LV BW i.V.m. Art. 17 GGniedergelegten Petitionsrecht Gebrauchgemacht. Die für das Petitionsverfahreneinschlägigen Regelungen ergeben sichaus Artikel 35a LV BW i.V.m. §§ 65 bis70 der Geschäftsordnung des Landtagsvon Baden-Württemberg (LTGO BW).In der Entscheidung des Landtags überdie Petition des Beigeladenen ergibtsich jedoch keine tragfähige rechtlicheGrundlage für einen Eingriff in die Planungshoheitder Gemeinde. Das Gerichtführt diesbezüglich aus:„Eine rechtliche Grundlage für einenEingriff in die Planungshoheit der Antragstellerinergibt sich nicht aus § 67Absatz 6 LTGO BW. Die Regierung istzu der Sitzung des Petitionsausschussesnicht erschienen und hat damit dem Petitionsverlangenauf dem vorgeschriebenenWeg nicht widersprochen mit derFolge, dass sie verpflichtet ist, die Ausführungdes Beschlusses des Landtagsnachträglich nicht abzulehnen (§ 67 Absatz6 Satz 3 LTGO BW). Diese Abspracheist jedoch nur politisch bindend zwischenRegierung und Landtag. Diesepolitische Verpflichtung der Regierungstellt keine Ermächtigungsgrundlage fürEingriffe in Rechte Dritter dar und kanndie Mitwirkungsrechte und die Mitverantwortungder Antragstellerin fürBaumaßnahmen auf ihrem Gemeindegebietnicht zu Gunsten des beigeladenenBauherrn suspendieren. Es ist zwar ohneweiteres möglich, dass die Baubehördenvon einmal getroffenen ErmessensentscheidungenAbstand nehmen, auchwenn sie gerichtlich bestätigt sind, undnachträglich ihr Ermessen anders ausüben.Dies ist kein nach Artikel 25 Absatz1 und Artikel 65 Absatz 2 LV BW,Artikel 20 Absatz 2 und Artikel 92 GGunzulässiger Eingriff in ein gerichtliches133


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________Verfahren. Dies wird auch ausdrücklichin § 67 Absatz 2 Nummer 3 LTGO BWerwähnt, wonach eine Petition zulässigist, wenn bei gerichtlich bestätigten Ermessensentscheidungenvon einer Behördeeine Überprüfung oder Änderungder Entscheidung verlangt wird. Bei derZulassung eines Bauvorhabens haben dieBaubehörden jedoch kein Ermessen auszuüben,denn nach § 58 Absatz 1 LBOBW ist die Baugenehmigung zu erteilen,wenn dem genehmigungspflichtigenVorhaben keine von der Baurechtsbehördezu prüfenden öffentlich- rechtlichenVorschriften entgegenstehen. Istdies nicht der Fall, kann keine Baugenehmigungerteilt werden. Mit dem Bescheiddes Ministeriums wird dem Beigeladenengestattet, sein im Rohbau befindlichesWohngebäude fertig zu stellen.Dies kommt einer Baugenehmigunggleich. Dass eine solche Möglichkeitnicht im Wege einer Duldung eröffnetist, hat die Kammer bereits im Urteil zurAblehnung der Baugenehmigung undAbbruchverfügung zum Ausdruck gebracht.Mit der Entscheidung wird daherin unzulässiger Weise in die der Antragstellerinzustehenden Rechte aus § 36Absatz 1 BauGB eingegriffen.“c) Bindungswirkung des vorherigenverwaltungsgerichtlichen UrteilsDas Verwaltungsgericht geht des Weiterenvon der Rechtswidrigkeit der Entscheidungdes Ministeriums aus, dadieses sich mit der hier streitgegenständlichenEntscheidung über dieRechtskraft des Urteils des Verwaltungsgerichtsim Verfahren zur Ablehnungder Baugenehmigung und anschließendenAbbruchverfügung hinweggesetzthat. Das Gericht führt diesbezüglichaus:„Die Rechtskraft eines verwaltungsgerichtlichenUrteils bindet nach § 121Nummer 1 VwGO die Beteiligten. In derSache führt diese Bindung dazu, dass beiunveränderter Sach- und Rechtslageauch für spätere Verwaltungs- und Gerichtsverfahrendie vom Gericht entschiedeneFrage (der Streitgegenstand)verbindlich und abschließend geregeltist. Das gilt zum Beispiel auch dann,wenn sich die Frage in einem späterenVerfahren als Vorfrage stellt. Die Bindungwirkt sowohl negativ (Verbot einerEntscheidung für den Unterliegenden)als auch positiv (Festigung der Rechtspositiondes in der Sache Obsiegenden).Im vorgelagerten Verfahren hat das Gerichtentschieden, dass für den vorhandenenRohbau der Beigeladene (sc. l. imdamaligen Verfahren der Kläger) keinenAnspruch auf Baugenehmigung hat, weildas Vorhaben öffentliche Belange verletzt,zu denen auch die Planungshoheitder Gemeinde (sc. l. im damaligen Verfahrendie Beigeladene) gehört. Damitist auch eine Quasi-Baugenehmigungdurch die „aktive Duldung“ ausgeschlossen.Etwas anderes kann nur in dem hier134


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________nicht einschlägigen Fall gelten, dass esum eine Ermessensentscheidung ohneBeteiligung von Rechtspositionen Drittergeht.“d) Rechtswidrigkeit der Aufhebungder AbbruchverfügungMit der Entscheidung über die Duldunghat das Ministerium zugleich die fürden Rohbau existierende Abbruchverfügungaufgehoben, welche auf Basisder Ermessensentscheidung des § 65S. 1 LBO BW ergangen war. Auch hierhat das Ministerium die schutzwürdigenBelange der Antragstellerin nichtausreichend in die Entscheidung eingestellt.Dazu das Verwaltungsgericht:„Aus der der Antragstellerin in § 36 Absatz1 BauGB eingeräumten Rechtsstellungergibt sich jedoch zumindest einsubjektives Recht auf ermessensfehlerfreieEntscheidung der zuständigen Baubehörde.Die Gemeinde kann erwarten,dass die Baubehörden den gemeindlichenVorrang, die städtebauliche Ordnung zubestimmen und zu gestalten, beachten,denn ansonsten bliebe eine Missachtungder Rechtsstellung der Gemeinde letztlichsanktionslos, was der Zielsetzungdes Artikels 28 Absatz 2 GG nicht entsprechenwürde. Dass bei der Entscheidungdes Ministeriums die Rechte derAntragstellerin in ausreichender Weiseberücksichtigt worden wären, kann nichtfestgestellt werden. Das Ministerium hatmit dem angefochtenen Bescheid dasBerücksichtigungsverlangen des Petitionsausschussesumgesetzt und keineweitere Prüfung angestellt, ob damit inRechte der Antragstellerin eingegriffenwird. Dies belegt auch der Umstand,dass der Bescheid der Antragstellerinnicht zugestellt wurde. Allein der Hinweisim Bescheid auf die einschlägigeLandtagsdrucksache kann nach vorläufigerBeurteilung eine aus Sicht der Antragstellerinfehlerfreie Ermessensentscheidungnicht ersetzen. Insbesondereder von der Antragstellerin im Petitionsverfahrenangeführten Präzedenzwirkungfür eine Vielzahl von Folgefällendürfte kein ausreichendes Gewicht beigemessenworden sein.“3. Allgemeine AbwägungAuch eine an den Folgen orientierteInteressenabwägung führt zu einemÜberwiegen der Interessen der Antragstellerin.Es besteht keine besondereDringlichkeit, dass der Beigeladene seinbegonnenes Bauvorhaben fortsetzt. Ihmist es zumutbar, eine rechtskräftigeEntscheidung im Klageverfahren abzuwarten.Dies liegt auch in seinem eigenenInteresse, damit nicht noch mehrKosten in das Bauvorhaben investiertwerden, die sich später als nutzlos erweisenkönnten, wenn die Entscheidungdes Ministeriums keinen Bestandhaben sollte.135


AUSGABE 1 | 2013__________________________________________________________________________________________4. ZwischenergebnisDer Antrag ist begründet.III. ErgebnisNach alledem war die aufschiebendeWirkung der Hauptsacheklage der Antragstellerinanzuordnen. Die Kostenwaren nach dem im einstweiligenRechtsschutz ebenfalls anwendbaren§ 154 Abs. 1 VwGO dem Antragsgegneraufzuerlegen. Dies gilt jedoch nicht fürdie außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen,die dieser selbst zu tragenhat, da er keinen Antrag gestellt hatund sich so keinem Kostenrisiko ausgesetzthat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO). Esentspricht daher der Billigkeit, dessenKosten nicht dem Antragsgegner aufzuerlegen(vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).Hinweis:Man mag sich für die Bewertung derEntscheidung des Verwaltungsgerichtsin Anlehnung an die mathematischeBeweisführung schelmisch denken:„quod erat demonstrandum“.(Regierungsdirektor Jochen Heinz)Für den gerichtlichen Beschluss ergibtsich daher folgender Tenor:„Die aufschiebende Wirkung der Klageder Antragstellerin gegen die zugunstender Beigeladenen ergangene Entscheidungdes Antragsgegners wird angeordnet.Der Antragsgegner trägt die Kosten desVerfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichenKosten des Beigeladenen, diedieser selbst trägt.Der Streitwert wird auf 20.000 Euro festgesetzt.“136

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