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Artikel – Offener Unterricht - Dr. Eva Maria Waibel

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SYMPOSIUMPersonentwicklung im offenen <strong>Unterricht</strong><strong>Eva</strong> <strong>Maria</strong> <strong>Waibel</strong>In diesem <strong>Artikel</strong> wird an zwei Argumentationssträngen auf die Notwendigkeitveränderter Lernarrangements, im Besonderen auf die Chancen personzentrierten<strong>Unterricht</strong>s hingewiesen.In einem ersten Strang werden Entwicklungen und Erkenntnisse aufgezeigt, diedeutlich machen, dass effektives und effizientes Lernen vermehrt individualisiertund an die Person angebunden werden muss, wenn es wirksam und nachhaltig seinsoll. Ausgehend von den beiden grundsätzlichen Paradigmen Lehrerzentrierungund Schülerzentrierung wird das grundsätzliche Verständnis von Lernen aufgezeigt.Ein zweiter Strang untersucht, welche Chancen zur Personwerdung und derenStärkung in einer richtig verstandenen Individualisierung des <strong>Unterricht</strong>s liegen.Diese führen zu einer Veränderung von Schule.Gesellschaftliche Entwicklungenund neue ErkenntnisseDie gesellschaftlichen Entwicklungender letzten Jahre sind vielfältig undineinander greifend. Sie bedingen sichwechselseitig und weisen eine manchmalgeradezu beängstigend hohe Geschwindigkeitauf.Ein Kennzeichen ist die Wissensexplosion.Noch nie in der Geschichteder Menschheit wurde soviel geforschtbzw. Wissen generiert wie heute. DiesesWissen kann ein einzelner Menschweder überblicken, noch ordnen, geschweigedenn bewältigen. Nicht allesdavon ist relevant, vieles davon weisteine abnehmende Halbwertszeit auf. Inimmer kürzerer Zeit gelten Wissensbereicheals überholt, besonders in denneuen Technologien. Gerade die neuenTechnologien verlangen aber von denMenschen permanente Lernleistungenin noch nie dagewesenem Ausmaß. Geradediese Fülle macht es Menschenschwer, einen Bezug zu den einzelnenInhalten aufzubauen und sich darin zuvertiefen. Gleichzeitig belegt die Hirnforschungdie hohe Plastizität des Gehirnsund die Lernfähigkeit des Menschenbis ins hohe Alter.Globalisierung und Werteverschiebungenspitzen diese Prozesse zu undleiten veränderte Wahrnehmungen undWeltsichten ein. Allgemein gesagt, kanngesagt werden, dass sich das Wissenimmer mehr von der Frage nach dem„Was?“ zur Frage nach dem „Wie?“verlagert hat (vgl. Mayer 1997, 1175).All diese Entwicklungen machen deutlich,dass der Mensch selbst zwarimmer mehr in den Mittelpunkt rückensollte und doch sich zur gleichen Zeitentfremdet.Das Lernen in der Schule muss andersgestaltet werden, wenn es zukunftsfähigsein soll: Einerseits muss in denBildungsinstitutionen noch mehr aufwichtige Grundlagen des Wissens fokussiert,aber mit dem Blick auf jedeeinzelne Person vermittelt werden. KeinKind soll „abgehängt“ werden oder gar„verlorengehen“. Andererseits reichtLernen am Anfang des Lebens wenigerdenn je fürs ganze Leben aus. Menschenmüssen daher in viel stärkeremMaße befähigt werden, sich selbstständigin der Wissenswelt zu organisieren,sich selbstständig neues Wissenanzueignen und sich dabei vor alleman der Qualität von Wissen zu orientieren.Das wird in notwendigem Umfangnur gelingen, wenn das Lernenschon in der Schule so gestaltet ist,dass eine Beziehung zu den Inhaltenhergestellt werden kann. Dann kann esLust auf mehr machen und in lebenslangesLernen münden. Wenn Menschen(Wissens) Manager ihrer selbst werdensollen, so rückt persönlichkeitsstärkendesLernen in den Vordergrund.Starke Persönlichkeiten sind gefragt,wenn es darum geht, sich in einer zunehmendkomplexen und heterogenenWelt zu behaupten und zu positionieren.Erkenntnisse der HirnforschungGerald Hüther betont die Bedeutungder Emotion beim Lernen, besondersdas emotionale Wissen der Lehrenden:Bei „keiner anderen Art ist die Hirnentwicklungin solch hohem Ausmaß vonder emotionalen, sozialen und intellektuellenKompetenz dieser erwachsenenBezugspersonen abhängig wie beimMenschen“ (Hüther 2003, 31). Emotionist aber auch für die Lernenden essentiell.Denn ohne Aktivierung von„emotionalen Zentren können keineneuen Erfahrungen gemacht und hinreichendfest verankert werden“ (ebd.37).Kein Denkakt läuft also ohne Emotionenab, auch nicht der abstrakteste.Das heißt, personales Lernen bedeutetUmsetzung von Werten. Denn nur bewegendesWissen bewegt wirklich.Zum Lernen gehört auch die Beziehungzwischen Lehrenden und Lernenden.Lernen ohne funktionierende Beziehungist für beide Teile schwierig,besonders aber für letztere. CharlesBingham und Alexander Sidorkin bringenes folgendermassen auf den Punkt:„Teaching is building educational relations.Aims of teaching and outcomesof learning can both be defined onspecific forms of relations to oneself,people around the students, and thelarger world“ (Bingham & Sidorkin2004, 6f). Ohne Emotion findet alsokein Lernen statt. Aber Lernen ist auchnicht nur Emotion, sondern persönlichfordernde Arbeit. Diese Anstrengungnimmt nur auf sich, wer den Wissensstoffan sich oder das Ziel attraktiv findet,wer von deren Eigenwert angetanist und möglicherweise auch, wer dielehrende Person schätzt.Manfred Spitzer beschreibt dies so:„Was Menschen umtreibt, sind nichtFakten und Daten, sondern Gefühle,Geschichten und vor allem andereMenschen.“ (Spitzer 2007, 160). Abb.1 verdeutlicht einen Teil dieser Zusammenhänge:82 EXISTENZANALYSE 24/2/2007


SYMPOSIUMSchülerInBeziehung zumLernstoffBeziehungzwischenLehrperson undSchülerInBeziehung zumLehrstoffLehrpersontrum. Dabei wird davon ausgegangen,dass jeder Schüler, jede Schülerin aufhöchst unterschiedliche Weise lernt. Dabeim Lernen nicht nur die je eigene Wirklichkeitkonstruiert wird, sondern dasLernen selbst auf sehr individuelle Weiseerfolgt, ist eine weitgehend eigenständigeund verantwortete Gestaltung deseigenen Lernprozesses das Mittel derWahl. Personales Lernen hat darin eineChance.Was ist Lernen?LernstoffBewegendes LernenAbb. 1: Bedeutung der „Beziehung“ für das Lernen.Ein Lokalaugenschein in derSchule von heuteKönnte es sein, dass die Top downund statt der Bottom up Planung unseres<strong>Unterricht</strong>s die Kinder von den eigenenInteressen entfernt und ihre mangelndeBeteiligung zur Teilnahmslosigkeitführt? Könnte es sein, dass das gleichgeschaltete, konformistische Lernen, dasalle Kinder gleich behandelt, dem einzelnennicht gerecht wird? Könnte es sein,dass die vorgegebenen Strukturen dieKinder aus der Verantwortung entlassen,noch bevor diese reifen konnte? Sindsolche Strukturen nicht hinderlich, um„persongerechtes“ Lernen umzusetzen?Stellen Sie sich vor, Sie kommen mitviel Lernfreude neu in die Schule, undIhre Lehrperson entscheidet jeden Tagdarüber, wie viel sie wovon an den einzelnenTagen zu lernen haben. Es darfnicht mehr sein, aber auch nicht weniger,egal, ob Sie das Thema schon kennenoder nicht, oder ob Sie sich damitleicht oder schwer tun. Außer acht gelassenwird, ob das Tempo so für Siepasst (oder Sie lieber schneller oder langsamervorgehen möchten), ob Sie nachfragenmöchten, ob Sie etwas vom Gelerntenmehr vertiefen möchten, ob Ihnendie gewählte Methode liegt, ob Sieüberhaupt ein Interesse am Stoff haben,Lehrstoffwie es Ihnen heute geht, ob Sie geradeden Kopf für das zu Lernende frei habenoder ob der morgendliche Streit zwischenden Eltern Sie noch belastet, etc.Ein solches Lernen hat nichts mit mirselbst zu tun und ist daher apersonal.Was sind nun die Unterschiede zwischenschülerzentriertem und lehrerzentriertemLernen, zwischen alter undneuer Lernkultur?Ein Vergleich zwischen lehrerzentriertemund schülerzentriertemLernenEin Vergleich zwischen („herkömmlichem“),lehrerzentriertem und(„neuem“), schülerzentriertem <strong>Unterricht</strong>macht deutlich, dass sich <strong>–</strong> vereinfachendgesagt <strong>–</strong> zunächst wieder einmalzwei gegensätzliche Paradigmen gegenüberstehen:Objektivismus:Der Objektivismus sieht das Lernenals objektiv fassbar an. Deshalb wird esfür alle SchülerInnen und Schüler vonder im Zentrum stehenden Lehrpersonannähernd gleich organisiert und gestaltet.Er geht daher häufig an der Persondes Einzelnen vorbei.Subjektivismus (Konstruktivismus):Der Subjektivismus stellt die einzelnenSchülerinnen und Schüler ins Zen-Jeder Mensch lernt sein ganzes Lebenlang, unbewusst und/oder bewusstund auf jede erdenkliche Art.Jeder Mensch hat neben den Dispositionen,die er einbringt, ein ganzes Setvon Erfahrungen, Emotionen und Haltungenerworben, bevor das planmäßigeLernen in der Schule überhaupt beginnt.Auf Erziehung und <strong>Unterricht</strong> bezogensind die geheiligten Wahrheiten desbehaviouristischen Denkens inzwischenbeinahe alle zusammengebrochen. „Sofördert eine sofortige Rückmeldungnicht unbedingt die Lerneffektivität, auchpositive Verstärker können negativ wirken,Lernen in kleinen Schritten kannweniger Erfolg bringen als Lernen in großenSprüngen, und sogar sorgfältigeLehrplanung muss nicht besser sein alsdie Darstellung von <strong>Unterricht</strong>smaterialienund -schritten nach dem Zufallsprinzip.“(Loser & Terhart 1977, 13,zit. nach Weidenmann 1989, 1007).Greifen wir das Beispiel „Lob“heraus: Lob hat sehr unterschiedlicheAuswirkungen auf SchülerInnen. WieLob wirkt, hängt davon ab, ob sich Kinderund Jugendliche von den Lobendenals Person verstanden fühlen, wie derSchüler oder die Schülerin das Lob deutet,wie er oder sie ihre Leistung selbstbewertet, wie die Lehrperson generellandere SchülerInnen lobt, wie seinerbzw. ihrer Meinung nach, das ausgesprocheneLob auf die Klasse wirkt… usw.(vgl. Weidenmann 1989, 1007).Aber wie und ob ein Lob beim anderenwirkt, hängt auch davon ab, in welcheWorte wir es kleiden, wie und wannwir es anbringen. Wie etwas wirkt undwarum etwas wirkt, hängt von sehr vielenFaktoren ab, die außerdem untereinanderunvorhersehbar interagieren.EXISTENZANALYSE 24/2/2007 83


Abb. 2 verdeutlicht einen Teil dervielfältigen Beziehungen.SchülerInAbb. 2: Wirkung des LobsLernen ist also ein äußerst komplexesund emotionales Geschehen. Esspielt sich im <strong>Dr</strong>eieck zwischen den Lernenden,den Lehrenden und der zu lernendenInhalte ab.Aus der Sicht einer existenziellenPädagogik ergeben sich vier Schlüsselzugängezum Lernen:• Lernen beruht wesentlich auf Beziehung,im Idealfall auf Begegnungzwischen Lehrenden und Lernenden.• Die Beziehungsaufnahme zum Lerngegenstandund allenfalls zum Zielist entscheidend. Wenn Schülerinnenund Schülern vermehrt Wertbegegnungbeim Lernen ermöglicht werdensoll, dann braucht es keinenZwang zum Lernen. Das gilt auchfür Ziele.• Hilfreich für Kinder und Jugendlicheist, wenn es im Umfeld Menschengibt, die sie und ihr Lernen in einemtiefen Sinne zu verstehen versuchen.Dieses Verstehen bildet die Basis fürein passgenaues Andocken des Lernensauf sie selbst als Person undführt schließlich dazu, sich selbst unddas eigene Lernen besser zu verstehen.• Lernen umfasst auch das Lernen derimmer stärkeren Verantwortungsübernahmefür sich selbst und daseigene Lernen und erschöpft sichnicht im mechanischen Lernen vonWissensinhalten.Fühle ich mich verstanden?Was ist mit dem Lob gemeint?Wie lobt Lehrperson generell?Finde ich es auch gut?BeziehungWann lobe ich?Worauf kommt es mir beim Lob an?Habe ich dieses Lob ehrlich gemeint?Wie lobe ich generell?SYMPOSIUMLehrpersonIn Abb. 3 werden die Interdependenzender vier Eckpfeiler deutlich.Sich selbst und Lernen verstehenBeziehung zum WissensstoffExistenziellesLernenAbb. 3: Die vier Eckpfeiler für existenzielles LernenEs geht beim existenziellen Lernenalso darum,• die Kinder in ihrer Person wahr- undanzunehmen;• die Kinder in ihren jeweiligen Stärkendes Lernens zu fördern;• die Verschiedenheit aller als Chancefür den Einzelnen und die ganze Klassezu nutzen.Welche Auswirkungen könnte nunaber das „neue“ Lernen für die Persönlichkeitsentwicklungder Kinder und Jugendlichenhaben? Oder anders gefragt:Welche Chancen für die Entwicklungder Person ermöglicht <strong>Offener</strong><strong>Unterricht</strong>?Wir Existenzanalytiker sehen die Personals entscheidend an. Ihre unterschiedlichenund vielfältigen Beziehungenzum Wissen und die Beziehung zuden Lehrenden und zum <strong>Unterricht</strong>sstoffsind entscheidend. Welches istnun relevantes und für die einzelne Personbedeutsames Wissen? Wie könnenVerbindlichkeit, Ernsthaftigkeit undHingabe beim Lernen unterstützt werden?Maßgeschneidertes Lernen <strong>–</strong> orientiertan der Person <strong>–</strong> bildet die neue Herausforderungauf dem Weg vom lehrergesteuertenzum schülerzentrierten <strong>Unterricht</strong>.1. Neues Lernen nimmt die unterschiedlichstenVoraussetzungender einzelnen Kinder auf und ernst.Jede Person entwickelt und gestaltetaus ihrer je eigenen Disposition eine spezifischeLeistungsmotivation. Sie nimmtInformationen aufeine ganz individuelleArt und WeiseEigene Verantwortungwahr, was wiederumvon ganzspezifischen Emotionenbegleitet ist.Auf dieserGrundlage entwickeltsich derMensch bewusstund unbewusstweiter.Wenn er lernt,baut er auf seineneigenen Erfahrungenund Bedürfnissen auf. Für einenoptimalen Lernprozess ist es also entscheidend,möglichst passgenau aufden eigenen Stärken anzudocken.„Wenn jemand weiß, was für ihnder richtige nächste Lernschritt ist,dann ist es der Lernende selbst. Nur erselbst kann <strong>–</strong> bewusst oder unbewusst<strong>–</strong> seine augenblicklichen Lernbedürfnissezielstrebig verfolgen, den richtigenRhythmus beim Lernen finden und sichselbst immer wieder neu herausfordern.“(Peschel 2004, 22f) Lehrpersonen könnenund sollen dabei unterstützen, aberden Akt des Lernens kann jeder nur fürsich selbst vollziehen.Beziehung zu Lehrenden2. Neues Lernen fördert die Personalitätdes Menschen.Persönliche Entwicklung wird ange-84 EXISTENZANALYSE 24/2/2007


ahnt, wenn wir das Kind als Personganz ernst nehmen und es auf seinemWeg unterstützen.Es bedeutet für die Lehrperson, dieLernprozesse an die Schülerinnen undSchüler anzupassen und nicht umgekehrt.Das heißt, es ist wichtig, ihnenverschiedene geeignete Lernwege undLernmöglichkeiten aufzuzeigen und sienicht auf einen einzigen vorgesehenenLernweg auszurichten. Wenn das Lernenvor allem schülergerecht (und nichtvorrangig lehrergerecht) ist, bedeutetdies für Lehrende, SchülerInnen so zunehmen, wie sie sind und sie nichtimmer anders haben zu wollen. Es bedeutet,ihnen nicht eigene Vorstellungenund Wünsche überzustülpen. Es bedeutet,sie in ihrer Person mit ihren Kompetenzen,ihren individuellen Voraussetzungenund Möglichkeiten in einem tiefenSinne zu verstehen versuchen unddarauf aufbauend nach individuell maßgeschneidertenWegen des je eigenenLernens zu suchen.Da geht es vorrangig darum, dieLernenden in ihrem Lernen zu verstehen.Das ist keineswegs selbstverständlich:Lehrerinnen und Lehrer kennen inden meisten Fällen das individuelle,schülerseitige Lern- und Problemlöseverhaltennur ansatzweise.Ein Lehrer erläutert dies folgendermaßen:„Aber einige verstanden esnicht. Das irritierte mich. Und mehr nochirritierte mich festzustellen, dass oft diezweite oder dritte, noch viel raffiniertereErklärung auch nicht weiterhalf. Die Verunsicherungführte mit der langen Zeitdazu, dass ich nicht mehr nur verständlichsein wollte <strong>–</strong> ich wollte auch verstehen.Mich begann zu interessieren, wieVerstehen passiert. Und ich wollteinsbesondere das Nichtverstehen begreifen.Später merkte ich, dass mein Interessefür das Nichtverstehen den Schülerinnenund Schülern beim Verstehen hilft.“(Jundt 2006, 3)Exkurs: Was bedeutet Verstehen?Sarah Blakemore und Uta Frith kommenin ihren Untersuchungen zur Hirnforschungzum Ergebnis, dass das Verstehentatsächlich eine zentrale Komponentein der Lehrer-Schüler-Beziehungist. Der Erfolg der Lehrperson scheintdavon abzuhängen, wie sehr sie sich inSYMPOSIUMandere hineinversetzen kann (vgl. Blakemore& Frith 2006, 212). Zu den verschiedenenFormen des Verstehens findensich auch bei Herzog interessanteHinweise (vgl. Herzog 2002, 344f).Verstehen beinhaltet tatsächlichmehr, als einen ersten Eindruck zu gewinnen.Wenn alle Erkenntnis mit demgenauem Beschreiben beginnt, bildetVerstehen den Schlüssel zum Menschenund ist daher eine Schlüsselqualifikationin der Pädagogik. Verstehen bedeutet,den anderen Menschen jenseits des Vordergründigenmit allen eigenen Sinnenwahrzunehmen.Nur so kann der Mensch jenseits dernaturwissenschaftlichen Strukturen ineiner zusätzlichen Bedeutung erfasstwerden. Eine solche phänomenologischeVorgehensweise schließt daher aus,dass Erzieher mit einem vorgefertigtenErziehungskonzept vorgehen. Im Gegenteil:phänomenologisches Schauenund Verstehen bilden erst die individualisierteGrundlage für personorientiertesHandeln.Wenn beispielsweise eine Schülerin/ein Schüler in einem <strong>Unterricht</strong>sfachnicht mitarbeitet, so gibt es viele verschiedeneErklärungsansätze, die sichauch in der wissenschaftlichen Literaturfinden lassen. Keine vorgefertigteAntwort ersetzt aber die Suche nach densehr subjektiven Ursachen in diesemkonkreten Fall.3. Neues Lernen ermöglicht eineschülerzentrierte Ganzheitlichkeit.„Erzähle mir, und ich vergesse. Zeigemir, und ich erinnere mich. Lass michtun, und ich verstehe.“, wusste bereitsKonfuzius. Beim neuen Lernen wird dasKind tätig. Gleichzeitig sorgt es in seinemTun jeweils für sich dafür, die füres selbst wichtigen Sinneskanäle anzusprechen,die es als hilfreich für den eigenenLernprozess ansieht. Es geht außerdemgenau den Zusammenhängennach, die es vertiefen möchte. NeuesLernen ermöglicht daher, möglichst vieleLernbereiche zu aktivieren und sichselbst als Person in all jenen Bereicheneinzubeziehen, die einem wichtig sind.Diese schülerzentrierte Sicht von Ganzheitlichkeitdefiniert sich nicht vom Ausmaßder Vollständigkeit her, sondern vondem, was der/die einzelne/r für gutes Lernenbenötigt. Das heißt, das Kind selbstsorgt so für sich und seine gezielte persönlicheEntwicklung.4. Neues Lernen fördert die Gemeinschaftsfähigkeit.Wer jetzt meint, das individuelle Lernenvon Schülerinnen und Schülern vereinzelediese bzw. führe zu egozentrischenMenschen und entziehe diese derGemeinschaft, irrt zweifach:• (1) Nicht die Beschäftigung mit sichselbst führt zu Egoismus. Es sind vielmehrVerwöhnung oder ein Gefühl desZu-Kurz-Gekommen-Seins, die denEgoismus fördern. Dem wirkt aber geradedas neue Lernen entgegen.• (2) Echte Gemeinschaft bedarf Personen,die wissen, was sie können, dievor allem aber wissen, wofür sie stehen.Echte Gemeinschaft ist leichtermit Personen zu verwirklichen, die mitsich im Reinen sind. Ich-starke undselbstbewusste Menschen brauchenandere nicht als Krücke, als Projektionoder als Blitzableiter. Sie funktionalisierendiese nicht für ihren Zweckbzw. für sich selbst.5. Neues Lernen ermöglicht Lernfreiheit.Die Freiheit, sich selbst für eigeneSchwerpunktsetzungen, für die eigeneArt des Lernprozesses und den eigenenRhythmus beim Lernen entscheiden zukönnen, ist nicht nur per se spannend,sondern erhöht <strong>–</strong> wie schon dargelegt<strong>–</strong> die Motivation der Schülerinnen undSchüler. Sie erlaubt auch eine optimaleAnpassung an die eigenen Voraussetzungenund Möglichkeiten und gestattetes den Kindern und Jugendlichen,eigenen Interessen nachzugehen.6. Neues Lernen stärkt die Verantwortungfür sich selbst.Lernen und vor allem Verstehen kannnur der Lernende selbst. Gerade im Ergreifendes eigenen Lernens eröffnet sichdie Chance, Verantwortung dafür zuübernehmen. Daran können Schülerinnenund Schüler wachsen. Wenn dieseVerantwortung für ihr eigenes Lernenübernehmen, lernen sie auch, Schritt fürSchritt eigene Verantwortung für vieleandere Lebensbereiche zu übernehmen.Sie lernen, dass Verantwortung heißt,EXISTENZANALYSE 24/2/2007 85


sich selbst in die Hand zu nehmen undsie lernen, dass ihnen dies von niemandem<strong>–</strong> auch nicht von der besten Lehrpersonoder wohlwollendsten Begleitung<strong>–</strong> abgenommen werden kann. Verantwortungübernehmen heißt, sichimmer wieder zu entscheiden <strong>–</strong> eine lebenslangeHerausforderung, die auf dieseWeise früh angebahnt werden kann.Kinder lernen dadurch auf alle Fälle,die Verantwortung für die eigeneWeiterentwicklung selbst in die Hand zunehmen (und die eigenen Lernprozesseselbst zu steuern). In diesem Sinne bereitetes junge Menschen darauf vor,sich in Zukunft selbständig mit Themenauseinanderzusetzen und Wissen selbstständigzu erwerben.7. Neues Lernen fördert die Mitbestimmung.Kinder lernen dabei, dass sich Mitbestimmunglohnt, dass es wichtig ist,sich selbst ernst zu nehmen und einzubringen.Nebenbei erfahren sie auch,dass Mitbestimmung notwendig undsinnvoll ist und dass sie mit ihrem Beitragmitgestalten können und nicht zumSpielball der anderen werden.SYMPOSIUM8. Neues Lernen ermöglicht sinnvollesLernen.Gerade wenn nicht alles Wissen fertigauf dem Silbertablett serviert wird,wenn Suchen nach Lösungen, Forschennach Ergebnissen oder Einlassen auf einThema erwünscht sind, wird Lernstoffspannend.Wenn SchülerInnen sich für das interessieren,was sie tun, und wenn sietun, was sie interessiert, wenn sie eigenenThemen nachgehen können, wirdihr Lernen für sie Sinn haben. Sinn entstehtja dann, wenn einem das, was mantut, als wertvoll erscheint. Wem seinTun sinnvoll erscheint, wird sich auseigenem Antrieb darin vertiefen und aufgehen.Im lehrerzentrierten <strong>Unterricht</strong>gelingt es kaum, das Lernen für alleSchülerinnen und Schüler gleichermaßensinnvoll zu gestalten. Die großeStofffülle verleitet außerdem dazu, dieDinge nur oberflächlich zu behandeln.Ohne Vertiefung sind Sinneserfahrungund Sinnerfahrung aber erschwert. SinnentleertesLernen ist nicht nur frustrierend,sondern erzeugt auch Stress, Desinteresseund Frustration. Kinder undJugendliche sind dann nicht mehr wirklichdabei. Teilnahmslosigkeit ist die Folge(vgl. Meyer 2005, 67ff).Ist es abgesehen davon wirklich dieHauptsache, dass Kinder in der Schulemöglichst viel lernen? Was nützt allesWissen, wenn es nicht in der eigenenPerson verankert ist, wenn Kinder undJugendliche nicht wissen, wozu sie lernen,wenn sie den Lernstoff und schließlichdas Lernen selbst nicht als sinnvollempfinden?9. Neues Lernen fördert denSelbstwert.Wem es gelingt, ganz bei seinenWerten und Fähigkeiten zu sein, hat einewichtige Basis für seinen Selbstwertgeschaffen. Neues Lernen kann nun denSelbstwert auf mehrfache Weise erhöhen:Wenn Schülerinnen und Schüler sichmit dem beschäftigen können, was ihnenwert ist, erwachsen ihnen aus dieserBeschäftigung nicht nur immerwieder neue Kraftquellen zu, sondernsie erhöhen auch ihren Selbstwert, indemsie in wichtigen Lebensbereichengemäß ihren persönlichen Werten lebenkönnen. Indem sie sich kleinere odergrößere Ziele setzen und diese auch erreichen,werden ihr Mut und ihr Vertrauenin sich selbst gestärkt. Wenn Kindermit dem Herzen bei einer Sache sind,wenn sie dazu stehen können, was siemachen, wenn authentisches Lernenmöglich ist, dann werden sie ganz sieselbst. Und das stärkt ihren Selbstwertungemein (vgl. <strong>Waibel</strong> 2002).Gerade wenn Kinder vorrangig beiihren Stärken (und nicht an den Schwächen)ansetzen und diese weiter ausbauenkönnen, wird die Person gestärkt.Aus dieser Position der Stärke könnenschließlich mögliche Schwächen leichterakzeptiert werden.Lernfortschritte beim neuen Lernensollten ja zudem an sich selbst gemessenwerden und nicht am Klassendurchschnittoder an Spitzenleistern. Das bedeutetauch, dass Kinder nicht durchRangreihen oder Vergleiche klassifiziertwerden. Beschämt werden können aberauch so genannte gute SchülerInnen,wenn sie gegen ihren Willen vor der Klasseals Beispiel herausgehoben werden.Die Leistungen der SchülerInnengehören ihnen selbst. Diese rücken beimneuen Lernen nicht so stark ins Schaufensterder Öffentlichkeit. Sie sind nichtBrennpunkt der Aufmerksamkeit. DieInhalte und weniger der Vergleich stehenim Mittelpunkt.10. Neues Lernen fördert den spätereneigenständigen Bildungserwerb.Selbsttätigkeit fördert Eigenaktivitätund Selbstständigkeit, nicht nur beimLernen. Beide bahnen den Weg für lebenslangesLernen.Wer im Lernen geübt ist, weiß, wiees funktioniert und wie der eigeneWissenserwerb bestmöglich gestaltetwerden kann. Wer sich selbst ständig fitim Sinne des eigenständigen Bildungserwerbshält, kann schneller durchstarten,wenn sich dies als notwendig erweist.Was bedeutet es für Lehrpersonen,sich in Richtung selbstgesteuertes Lernenzu bewegen?• LoslassenSelbstgesteuertes Lernen anzustreben,bedeutet, die Idee von idealtypischenallgemeingültigen Lernprozessenloszulassen sowie manches, was wirdarüber gelernt haben.Es bedeutet, vom einen oder anderen(Lieblings)Thema Abstand zu nehmen,vor allem aber von der eigenenPerfektion, die gesamte Stofffülle vermittelnzu wollen.Es bedeutet aber vor allem ein Loslassender Steuerung und Kontrolle überdas Lernen der Schülerinnen und Schüler.Es bedeutet, eigenes Gelerntes zurückzulassen.Es bedeutet vor allem aber auch, eigeneVorstellungen loszulassen, sozusagendie eigenen Mauern im Kopf einzureißen,beispielsweise die Vorstellungenvon herkömmlichem <strong>Unterricht</strong> undden eigenen Bildern von Schule.• EinlassenEs bedeutet, sich weitgehend auf dieSchülerinnen und Schüler einzulassen,auf ihre Bedürfnisse, auf ihre Fragen sowieauf ihre Lernprozesse.86 EXISTENZANALYSE 24/2/2007


SYMPOSIUMEs bedeutet, sich der Heterogenitätder Klasse zu stellen und diese Differenzauszuhalten.Es bedeutet, Schülerinnen und Schülerbesser verstehen zu wollen und siebei ihren individuellen Lernprozessenbestmöglich zu unterstützen.Es bedeutet, sich auf eine neueLehrerrolle einzulassen, sich neu zu definieren.Es bedeutet, Sicherheit, beispielsweisedie Absicherung über die Lehrpläneund Schulbücher, die Absicherungdurch die LehrerInnerolle, die Absicherungdurch den allgemeinen gesellschaftlichenKonsens über die Vorstellung vonSchule, zurückzulassen und sich aufUnsicherheiten einzulassen.Es bedeutet, sich ein Stück weit aufUngeplantheit einzulassen, auf Dinge, dieman nicht bis ins kleinste unter Kontrollehat.Es bedeutet, sich auf Fragen und vielleichtauch Angriffe einzulassen, sich einStück weit zu isolieren und sich angreifbarerzu machen.• ZulassenWenn wir uns auf unsicheres undneues Terrain begeben, kommt möglicherweiseAngst auf. Angst vor derMeinung anderer, Angst etwas falsch zumachen, Angst zu versagen, Angst vormöglichen Angriffen, Angst allein aufder Strecke zu bleiben. Aber auch Angstvor befürchteter Anarchie in der Klasse,Angst davor, dass alles nicht wirklichfunktioniert, dass die uns anvertrautenKinder doch nicht genügend lernen.Angst vor der Offenheit oder der Leereoder der Inaktivität, und damit auchAngst vor den Reaktionen der Eltern.Da braucht es eine gehörige PortionMut und Vertrauen, um neue, noch nichtausgetretene Pfade zu gehen.Resümee„Der Mensch wird ganz er selbstdurch die Sache, die er zur seinenmacht.“, meint Carl Jaspers. Die Hingabeder Person an eine Sache, die Artder Hingabe und die Sache selbst wirkenauf den Menschen zurück.Wir bilden uns, indem wir Beziehungzum Gegenstand (Wissensstoff) aufnehmenund durch die Art, wie dies geschieht.LiteraturBingham CW, Sidorkin AM (2004) Noeducation without relation. New York:LangBlakemore S-J, Frith U (2006) Wie wir lernen.Was die Hirnforschung darüber weiß.München: dtvHerzog W (2002) Zeitgemässe Erziehung. DieKonstruktion pädagogischer Wirklichkeit.Weilerswist: Velbrück WissenschaftHüther G (2003) Über die Beschaffenheit desneurobiologischen Substrats, auf demBildung gedeihen kann. In: Neue Sammlung,Vierteljahreszeitschrift für Erziehungund Gesellschaft, 43, 1Jundt W (2006) Lernwege berühren. In: Profi-L, 2, schulverlag blmv AGMayer H (1997) Einsatz erweiterter Lehr- undLernformen. In: Erziehung und <strong>Unterricht</strong>,147, 10Meyer H (2005) Was ist guter <strong>Unterricht</strong>?Fartacek, R., Rohrer, R., Nindl A.,Plöderl, M., Aisleitner, U., Moser-Premm, M., Butler-Schück, E.,Lang, D. & Nickel, M. (2008). Vonder Krisenintervention in der PsychiatrischenKlinik zur bundeslandweitenSuizidprävention inSalzburg. Ein Erfahrungsbericht. InWurst M., Vogel, R. & Wolfersdorf,M. (Hrsg.) Theorie und Praxis derSuizidprävention. Roderer: Regensburg,S.176-191Salazar Lozano Herlinda (2006) Estandardisaciónde la Escala Existencialde A. Längle, C. Orgler y M.Kundi en una Muestra de Universitarios.México, Universidad NacionalAutónoma de México, Facultad dePsicologíaMolina Marroquín Andrea (2006) LaLogoterapie en el Tratamiento delos Síntomas Depresivos en elAdulto Mayor Institucionalizado.Guatemala, Univ. Rafael Landívar,Facultad de Humanidades, Depto. DePsicologíaGörtz A (2007) Existentielle Lebensqualität.Überdie Messbarkeit vonGlück und Wohlbefinden. VDMVerlag <strong>Dr</strong>. Müller: SaarbrückenLängle A (2007) Vergänglichkeit, Sinnund die Angst vor dem Sterben.In: Jehle FJ (Hrsg.) Wenn der AtemPUBLIKATIONENBerlin: Cornelsen ScriptorPeschel F (2004) Ganz normale Kinder. In:Friedrich Jahresheft, 22ff.Spitzer M (2007) Lernen. Gehirnforschungund die Schule des Lebens. Heidelberg:Spektrum Akademischer Verlag<strong>Waibel</strong> E-M (2002) Erziehung zum Selbstwert.Persönlichkeitsförderung als zentralespädagogisches Anliegen. Donauwörth:AuerWeidenmann B (1989). Lernen - Lerntheorie.In: Lenzen D (Hg) Pädagogische Grundbegriffe.Stuttgart: Klett, 996 ff.Anschrift der Verfasserin:<strong>Dr</strong>. <strong>Eva</strong> <strong>Maria</strong> <strong>Waibel</strong>Zugerbergstraße 3CH-6300 Zugevamaria.waibel@phz.chleiser wird. Leitfaden für den Umgangmit Menschen in Grenzsituationen.Vaduz, Lichtenstein: Verlag AtelierSilvia Ruppen, 89-111Längle A, Holzhey-Kunz A (2008) Existenzanalyseund Daseinsanalyse.Wien: Verlag Facultas, 89-111Hirsch F (2007) Ethische Grundlagen.In: Kemetmüller E (Hrsg.) Berufsethikund Berufskunde für Pflegeberufe.Wien: Verlag Maudrich 4.Aufl., 39-52EXISTENZANALYSE 24/2/2007 87

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