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"Messies" - Zur Unordnung gezwungen? - Wege aus dem Zwang

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Hansruedi Ambühl„Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?ZusammenfassungSo genannte „Messies“ sammeln und horten Dinge, die sie eines Tages wieder benötigenkönnten oder an die bestimmte sentimentale Erinnerungen geknüpft sind. Ihre Wohnräumequellen über von „Schund“ und „Schätzen“, so dass oft nur noch schmale Gänge begehbarsind. Das Leiden der Betroffenen dieser Art von <strong>Zwang</strong>sstörung wird in der Regel dann deutlich,wenn sie von Angehörigen oder Behörden dazu <strong>gezwungen</strong> werden, sich von Dingen zutrennen. Dies kann sie in tiefe Verzweiflung stürzen und depressiv oder gar suizidal machen.Die Wurzeln dieser Störung liegen – wie man bei <strong>Zwang</strong>sstörungen ganz allgemein vermutendarf - in gefühlsmässig verunsichernden Problemen und Erfahrungen in der Vergangenheit,die von den Betroffenen nicht adäquat gelöst werden konnten, sondern mithilfe des <strong>Zwang</strong>sauf eine andere Ebene verschoben wurden. Trotz<strong>dem</strong> führt bei der psychotherapeutischenBehandlung aufgrund der entstandenen Eigendynamik des Sammelns und Hortens meist keinWeg an einem störungsspezifischen Vorgehen vorbei, in welchem der Veränderungshebeldirekt bei der <strong>Zwang</strong>ssymptomatik angesetzt wird.Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und KollegenFallbeispielFrau B. ist 58-jährig, alleinstehend und lebt in einer 3-Zimmer-Wohnung. Sie meldet sich zurTherapie, nach<strong>dem</strong> sie von der H<strong>aus</strong>verwaltung ein Ultimatum erhalten hatte, ihre Wohnungbis Ende des Monats zu ‚entrümpeln‘, andernfalls würde ihr diese gekündigt. Frau B. leidetunter einem Sammelzwang. Sie sammelt überall Zeitungen, Zeitschriften, Bücher und hortetdiese in ihrer Wohnung. Die Wohnung ist mittlerweile auf ihrer ganzen Fläche etwa einenhalben Meter hoch damit belegt, was <strong>aus</strong> Feuerschutzüberlegungen her<strong>aus</strong> für die H<strong>aus</strong>verwaltungein erhebliches Risiko darstellt. Tatsächlich starb der Vater von Frau B. vor einigenJahren in seiner Mansarde an einer Rauchvergiftung, wobei sich im Nachhinein her<strong>aus</strong>gestellthatte, dass diese ebenfalls mit Papier voll gestopft und durch eine brennende Zigarettein Brand geraten war. Frau B. ist eine sehr intelligente und vielseitig interessierte Frau, dieDinge in der Absicht sammelt und hortet, sie irgendwann gründlich zu studieren. Und obwohlsie den Überblick schon längst verloren hat und genau weiß, dass sie niemals die dafür nötigeZeit zur Verfügung haben wird, kann sie sich von den Sachen nicht trennen, sondern gerätbeim Gedanken an ein Aufräumen der Wohnung mit Unterstützung ihrer Freunde in größteVerzweiflung.Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 1 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?Die meisten Menschen bewahren gewisse Dinge auf, die sie eines Tages wieder benötigenkönnten oder an die bestimmte sentimentale Erinnerungen geknüpft sind. Im Unterschieddazu heben Betroffene von einem Sammel- und Hortzwang einfach praktisch alles auf, vonalten Zeitungen, über Notizzettel bis zu Fahrscheinen und ins H<strong>aus</strong> geflatterten Prospekten,und können sich von praktisch gar nichts mehr trennen. Sie fühlen sich unfähig zu unterscheiden,ob ein Gegenstand nützlich oder völlig überflüssig ist. Die meisten Dinge, die gehortetwerden, sind nicht wirklich wertvoll und haben auch keinen besonderen Erinnerungswert.Der Gedanke, dass sie irgendwann vielleicht doch noch einmal von Nutzen sein könnten,hindert jedoch Betroffene daran, Dinge wegzuwerfen. So quellen ihre Räume über vonDingen, die andere als Abfall entsorgen. Dies kann soweit führen, dass eine Wohnung derartmit Schund und Schätzen angefüllt ist, dass nur noch schmale Gänge den Weg zum Bettoder zum WC offen halten („Vermüllungssyndrom“).Personen mit Sammel- und Hortzwang - mir persönlich ist diese Bezeichnung lieber als SandraFeltons Wortschöpfung „Messie“, die in meinen Augen die Schwere der psychischen Störungetwas bagatellisiert. Auch kommt mir bei der Aussage „Ich bin ein Messie“ der Aspektetwas zu kurz, dass die meisten von dieser Problematik betroffenen Menschen sehr leidenund gerne etwas täten, um es zu lösen – haben größte Schwierigkeiten, sich von Dingentrennen, weil sich von etwas trennen bedeutet es herzugeben. Dadurch stünde es der betroffenenPerson nicht mehr zur Verfügung. In<strong>dem</strong> nichts weggeworfen wird, geht jemand nichtdas Risiko ein, Dinge zu vermissen, die ihm einmal gehört hatten und verliert so scheinbarauch nicht ein Stück Kontrolle über die Welt um sich herum. Außenstehende sehen keinenSinn in diesen Sammlungen, doch die Betroffenen halten ihre gesammelten Objekte fürwertvoll und würden es nie zulassen, dass jemand anders sie als Müll entsorgt. Häufig versuchensie auch mit scheinbar gewichtigen Argumenten zu unterstreichen, weshalb die Dingedoch wertvoll sind. In schweren Fällen wird das ganze H<strong>aus</strong> mit Schund und Schätzen angefülltund es muss noch zusätzlicher Lagerraum angemietet werden. So betrachtet sind Menschenmit einem Sammel- und Hortzwang tatsächlich zur <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>, weil siesich nicht vorstellen können, sich von Dingen zu trennen.Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 2 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?Psychotherapie von Patienten mit Sammel- und HortzwangIch gehe davon <strong>aus</strong>, dass die Entwicklung eines Sammel- und Hortzwangs – genau wie andereFormen der <strong>Zwang</strong>sstörung auch – zunächst einmal einen mehr oder weniger gelungenenLösungsversuch von zugrunde liegenden Problemen oder Konflikten darstellt, die einePerson nicht auf andere Weise lösen konnte.Bei der Behandlung von Patienten mit Sammel- und Hortzwang stehen wir oft vor <strong>dem</strong> kuriosenFaktum, dass das Problemverhalten selbst wenig Hinweise auf damit einhergehende psychischeKonflikte gibt. Oft ist nicht von Anfang an klar, welche Funktionen die Zwänge imErleben und Verhalten des Patienten haben. Wir gehen zwar davon <strong>aus</strong>, dass auf der intrapersonalenEbene mit Hilfe der Zwänge versucht wird, negative Emotionen zu vermeiden,aber wir wissen oft nicht genau, welche Emotionen damit vermieden werden sollen und welcheKonflikte den Zwängen zugrunde liegen. Ebenso können wir erst nach eingehender Analysedes Problemverhaltens feststellen, ob die Zwänge auch eine interpersonale Funktionalitäterlangen, in<strong>dem</strong> sie z.B. dazu dienen, Beziehungen zu steuern. Je nach Ausprägung hatdas wichtige Implikationen für die Therapie.Was auch immer für Gründe zur Entwicklung eines Sammel- und Hortzwangs geführt haben,nach dessen Entwicklung wird der <strong>Zwang</strong> durch bestimmte andere Mechanismen am Lebenerhalten und er entwickelt häufig ein Eigenleben, eine Eigendynamik. Deshalb spielen für dieBehandlung nicht nur entwicklungsgeschichtliche Faktoren, sondern die Mechanismen derAufrechterhaltung der Störung eine ganz wichtige Rolle. Theoretisch geht man davon <strong>aus</strong>,dass bestimmte Funktionszustände der psychischen Aktivität eine Eigendynamik entfaltenkönnen, die das Individuum über längere Zeit in diesem Zustand "gefangen hält". PsychopathologischeZustände wie Zwänge, Depressionen, Suchterkrankungen usw. können den Charakterso genannter semiautonomer Funktionszustände der psychischen Aktivität mit eigenenGesetzmäßigkeiten haben. Wenn sich das Individuum erst einmal in einem solchen Zustandbefindet und in seinem Erleben und Verhalten in erheblichem Ausmaß von der Eigendynamikdieses Zustandes bestimmt wird, dann wird die Durchbrechung dieser Eigendynamik, d.h. dieBeendigung oder Veränderung des Zustandes, selbst zur vorrangigen therapeutischen Aufgabenstellung.Dies bedeutet bei <strong>Zwang</strong>sstörungen jeder Art, dass bei deren Therapie meistenskein Weg an einer störungsspezifischen Behandlung der Symptomatik vorbeiführt. Andiesem Punkt bieten sich vornehmlich <strong>aus</strong> der kognitiven Verhaltenstherapie stammendestörungsspezifische Interventionsmethoden an, die den Patienten darin unterstützen sollen,seine in den Griff zu bekommen und sich davon befreien zu können. Ich benutze dafür gernedie Metapher eines Schiffes, das auf eine Sandbank aufgelaufen ist. Bevor man der wichtigenFrage nachgeht, was wohl die Gründe dafür waren, dass das Schiff aufgelaufen ist, es vonder Sandbank zu befreien und wieder flott zu machen. Erst danach erscheint es sinnvoll undwichtig, die Gründe für das Auflaufen zu erkennen und zu beheben.Es liegt auf der Hand, dass eine Problemaktualisierung sofort stattfindet, wenn man den Patientendazu bringen kann, sich von angehäuften Dingen zu trennen. Solche mit <strong>dem</strong> Patientenim Vor<strong>aus</strong> genau abgesprochenen Interventionen werden in der Regel als massive Störungenerlebt. Die Folge ist das Erleben bisher vermiedener Emotionen, die in der Folge aufGesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 3 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?direktem Weg therapeutisch bearbeitet werden können. Im Gegensatz zu manchen Exponenteneiner rein störungsorientierten Verhaltenstherapie nicht der Meinung, dass die Bewältigungder <strong>Zwang</strong>ssymptomatik auch schon die Lösung der zugrunde liegenden Probleme darstelle,etwa nach <strong>dem</strong> Motto „Get rid of the symptom and you will get rid of the neurosis“.Vielmehr gehe ich davon <strong>aus</strong>, dass der Symptomatik zugrunde liegenden Probleme, Konflikte,Traumata, Entwicklungsdefizite und damit verknüpfte vermiedene Emotionen existierenund dass diese offen zu Tage treten, wenn an der Veränderung der Symptomatik gearbeitetwird.Ich betrachte daher die Störungsperspektive und die Konfliktperspektive nicht als ein Entweder-Oder,sondern vielmehr als ein Sowohl-als-auch. Dabei gebe ich bei der Behandlung inder Regel zunächst den störungsspezifischen Behandlungsmethoden den Vorzug, da diese imIdealfall zu einer Beseitigung des <strong>Zwang</strong>sverhaltens führen und gleichzeitig die damit einhergehendenKonflikte und vermiedenen Emotionen auf direktestem Weg aktualisiert werden.Mittels klärungsorientierter therapeutischer Interventionen werden danach diese Konfliktebearbeitet.<strong>Zur</strong> störungsspezifischen BehandlungFür die Behandlung ist hilfreich, folgende Punkte zu beachten (Ambühl & Meier, 2003; Ambühl,2007):• Ein erster Behandlungsschritt besteht darin, sich wieder damit vertraut zu machen, bis zuwelchem Grad Sammeln und Horten normal ist. Zu diesem Zweck erscheint es hilfreich,sich bei anderen zu erkundigen, wie sie es handhaben mit der Aufbewahrung von Dingen.Was wird aufbewahrt, was wird nach wie langer Zeit wieder weggeworfen? Die Therapeutinkann vor Ort bei der Entscheidung helfen, was alles weggeworfen werden kann.• Exposition heißt im Falle von Sammel- und Hortzwängen, dass der Patient Dinge wegwirft,die er bisher aufgehoben hat. Zum Reaktionsmanagement gehört, den Patienten darin zuunterstützen, <strong>dem</strong> Drang zu widerstehen, bereits Weggeworfenes wieder <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Mülleimerzu holen. Das Ziel besteht nicht darin, die Wohnung aufzuräumen und wieder zu putzen(das könnte auch jemand anderes tun), sondern darin, sich wieder daran zu gewöhnen,wertvolle Dinge von unnützen zu unterscheiden und letztere dann wegzuwerfen(Baer, 2001a).• Visualisierungstechniken können eingesetzt werden, um <strong>dem</strong> Patienten das sich trennenvon Dingen zu erleichtern (z.B. die Vorstellung, wie die Wohnung <strong>aus</strong>sehen wird, wenn siezwei weitere Jahre mit wertlosem Krempel voll gestopft wird). Solche Vorstellungen könnendie Motivation zur Veränderung des jetzigen Zustandes erhöhen und <strong>dem</strong> Patienteneine Vision vermitteln, wie sein Leben nach <strong>dem</strong> Wegwerfen des ganzen Mülls <strong>aus</strong>sehenkönnte (z.B. eine helle Wohnung, in der die Luft frisch ist und viel Platz vorhanden ist).• Es ist sehr wichtig, dass PatientInnen mit Sammel- und Hortzwängen von einem Helfer(z.B. TherapeutIn, nahe Bezugsperson) beim Wegwerfen unterstützt werden. Der Patientmuss sich dabei total darauf verlassen können, dass er selbst bestimmen kann, was weggeworfenwerden kann, und dass niemand hinter seinem Rücken Dinge wegwirft.Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 4 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?• Oft erweist es sich als hilfreich, Listen von Dingen zu erstellen, die weggeworfen werdenkönnen und dabei graduiert vorzugehen (d.h. mit den Gegenständen beginnen, von denensich der Patient am leichtesten trennen kann). Da PatientInnen die Schwierigkeit haben,sich zwischen etwas aufbewahren und etwas wegwerfen zu entscheiden, kann man dreiKategorien vorgeben: Dinge, die weggeworfen werden können, Dinge, die aufbewahrtwerden und Dinge, über deren Schicksal im Moment noch nicht endgültig entschiedenwerden kann, wobei über die letzte Kategorie noch am selben Tag definitiv entschiedenwerden soll.• Man soll den Patienten auch darüber informieren, dass seine Angst vor <strong>dem</strong> Wegwerfenviel größer sei als beim Wegwerfen selbst. Sobald er es geschafft habe, ein paar Dinge aufden Müll zu werfen, sei das Schlimmste schon vorbei.<strong>Zur</strong> Bearbeitung der <strong>dem</strong> <strong>Zwang</strong> zugrunde liegenden ProblemeDas Hauptziel klärungsorientierter Therapie besteht darin, dass die Therapeutin <strong>dem</strong> Patientenhilft, sich selbst, sein eigenes Erleben und Verhalten besser zu verstehen. Es geht darum,dass sich der Patient über sich selbst klarer wird, sich besser verstehen lernt, um sich besserannehmen und/oder sich bewusst anders als bisher verhalten zu können.Patienten mit einem Sammel- und Hortzwang berichten oft über traumatische Erfahrungen(z.B. Verlusterlebnisse, Prügel), die der Entwicklung von <strong>Zwang</strong>ssymptomen vor<strong>aus</strong>gegangensind. Auffällig ist an solchen Berichten, dass sie nüchtern daherkommen und nicht mit dendazugehörenden Emotionen verbunden sind. Über dieses Phänomen klagen vor allem Psychoanalytiker,wenn sie über wenig ermutigende Behandlungsversuche sprechen: „Der<strong>Zwang</strong>sneurotiker hat Schwierigkeiten, frei zu assoziieren und verwechselt meist freie Assoziationmit theoretischer Diskussion. Deshalb neigt er zu rationalen Erklärungen. Mit den bevorzugtenAbwehrmechanismen Intellektualisierung, Rationalisierung und Isolierung boykottierter den therapeutischen Prozess. Aufgrund seiner basalen Autonomieproblematik hält ersich peinlich genau und penibel an die formalen Grundregeln. Trotz<strong>dem</strong> unterläuft er dentherapeutischen Prozess, in<strong>dem</strong> er Einsicht verhindert, Gefühle versteckt und durch Haarspaltereilebendigen Regungen <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Weg geht oder sie zerstört“ (Quint, zitiert nach Csef,2005, S. 158). Patienten mit einer <strong>Zwang</strong>sstörung haben oft die phänomenale Fähigkeit, dieden Zwängen zugrunde liegenden Affekte zu isolieren und abzuspalten. Eine eigentlicheProblemaktualisierung findet über die therapeutischen Interventionen zur Bewusstseinsbildungmeistens nicht statt. Im Gegenteil birgt eine jahrelange, nicht symptomorientierte psychoanalytischeBehandlung die hohe Gefahr einer zwanghaften Hyperreflexion des eigenenDenkens und Handelns.Die Bearbeitung traumatischer Erlebnisse, die zeitlich gesehen am Anfang der Entwicklungeiner <strong>Zwang</strong>sstörung standen, ist ein wichtiges Element der Behandlung. Es spricht jedocheiniges dafür, auf diesen Wagen erst aufzuspringen, wenn sich der Zug bereits in Bewegunggesetzt hat’, d.h. abzuwarten, bis im Rahmen der störungsspezifischen Behandlung bishervermiedene Emotionen zum Vorschein kommen.Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 5 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?Die therapeutische Arbeit an Entwicklungsdefiziten bietet sich primär dann an, wenn die<strong>Zwang</strong>sstörung vor allem dazu dient, solche Defizite zu kompensieren. So führen z.B. Unsicherheitenin der Kindheit häufig zu nur wenig <strong>aus</strong>geprägter Selbstbehauptung und Selbstsicherheit.Die Betroffenen haben keine angemessenen Verhaltensweisen erworben, wie siesich sozial kompetent für ihre Bedürfnisse und ihre Interessen einsetzen können. MangelndeFähigkeiten der sozialen Kompetenz und die dar<strong>aus</strong> folgenden erlebten Außenseiterpositionenund Demütigungen durch andere werden pseudo - kompensiert durch <strong>Zwang</strong>sverhalten.Deshalb kann es sehr angezeigt sein, dass PatientInnen in einem Training sozialer Kompetenzenandere Copingstrategien für soziale Situationen erlernen (z.B. im Gruppentrainingsozialer Kompetenzen).Die Arbeit an Entwicklungsdefiziten ist auch sinnvoll zur Ergänzung der störungsspezifischenTherapie, weil solche Defizite häufige Folgeerscheinungen der Entwicklung einer <strong>Zwang</strong>sstörungund des Regimes des <strong>Zwang</strong>s sind. Wenn man davon <strong>aus</strong>geht, dass Zwänge eine Regulierungvon innerer Unsicherheit durch Verlagerung nach außen darstellen, dann ist es für dieBetroffenen auch wesentlich, einen anderen Umgang mit Verunsicherungen erwerben zukönnen.Die Vermittlung von Problemlösefertigkeiten im Allgemeinen sowie einem Entscheidungstraining(Hoffmann, 2002) im Besonderen erachte ich ebenfalls als sinnvolle Ergänzung der störungsspezifischenTherapie, mit <strong>dem</strong> Ziel, den Patienten besser für den Umgang mit neuenAnforderungen zu rüsten. Damit kann auch der bei Patienten mit Sammel- und Hortzwangfestgestellten Lähmung der Handlungsfähigkeit begegnet werden.Zusammenarbeit mit <strong>dem</strong> relevanten Bezugsystem des BetroffenenWeil <strong>Zwang</strong>sstörungen und insbesondere Sammel- und Hortzwänge oft nicht nur ein individuellesProblem der davon Betroffenen darstellen, sondern auch eine starke Belastung derBeziehung zu nahen Angehörigen mit sich bringen, stellt sich die Frage, ob dieses Bezugsystemauch in die Therapie mit einbezogen werden soll und wenn ja, wie?. Ein solcher Einbezugvon Angehörigen kann verschiedene nützliche Funktionen für das Gelingen der Therapiehaben.Ich bin der Meinung dass im Rahmen der Abklärung der PatientInnen mit einem SammelundHortzwang die relevanten Angehörigen unbedingt einbezogen werden sollen. DieserEinbezug ermöglicht eine objektivere Einschätzung der vorhandenen aktuellen Probleme undder dar<strong>aus</strong> resultierenden interaktionellen Konflikte, eine bessere Beurteilung der interaktionellenFunktionalitäten der Zwänge, eine Einschätzung der emotionalen Beziehungsqualitätzwischen den einzelnen Angehörigen und <strong>dem</strong> Patienten sowie eine Antwort auf die Frage,ob Angehörige auch als wichtige Ressourcen Funktionen in der störungsspezifischen Behandlungübernehmen könnten. Ich bin auch der Meinung, dass bei Patienten mit Sammel- undHortzwang im Rahmen der Abklärung immer eine Verhaltensbeobachtung vor Ort, d.h. beimPatienten zuh<strong>aus</strong>e erfolgen soll. Meistens vermittelt ein Augenschein vor Ort ein plastischeres,oft auch dramatischeres Bild der Situation als t<strong>aus</strong>end Worte.In der Abklärungsphase sollte den Angehörigen verständlich gemacht werden, weshalb derPatient dermaßen viele Dinge sammelt und hortet, worunter nicht nur die Angehörigen, son-Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 6 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?dern auch er selbst leidet. Auch das Problem der beidseitigen „Verhaltensautonomie“ (Hand,2002), soll erörtert werden. Während der Patient für sich beansprucht, seine Zwänge so langeund so anhaltend wie ihm nötig scheint zu praktizieren, sehen sich Angehörige in ihrenAutonomieansprüchen zunehmend beeinträchtigt, was in der Regel zu aggressiven Interaktionenführt. Das Erreichen eines gemeinsamen therapeutischen Bündnisses mit gleichgerichteterVeränderungsmotivation ist oft schwierig und setzt eine gemeinsame Kooperation allerBeteiligten vor<strong>aus</strong>. Hierbei gerät der Therapeut leicht unter den Vorwurf der Parteilichkeit –sei es, dass der Patient eine Koalition von Therapeut und Angehörigen gegen ihn selbst wittert,oder dass Angehörige eine Koalition von Patient und Therapeut zur gemeinsamenSchuldzuweisung befürchten. Wenn es <strong>dem</strong> Therapeuten gelingt, von beiden Seiten als Vermittlerakzeptiert zu werden, schafft dies optimale Therapievor<strong>aus</strong>setzungen.Was die Rolle der Angehörigen als Co-Therapeuten betrifft, erscheint mir sehr wichtig, nursolche Personen dafür in Betracht zu ziehen, zu denen der Patient großes Vertrauen hat undsich voll darauf verlassen kann, dass diese nicht hinter seinem Rücken Dinge entsorgen, vondenen er sich nicht trennen möchte.FazitVon einem Sammel- und Hortzwang betroffene Menschen leiden sehr unter dieser Störung,sie schämen sich auch dafür, da sie durch<strong>aus</strong> in der Lage sind zu erkennen, dass ihr Hortverhaltenübertrieben ist. Manche dieser Menschen leben in ständiger Angst vor den möglichenKonsequenzen, wenn außen stehende Personen auf ihre Situation in der Wohnungaufmerksam würden. Auch <strong>aus</strong> diesem Grund leben solche Menschen zurückgezogen undsind oft sozial isoliert.Wie bei anderen <strong>Zwang</strong>sstörungen auch kann man davon <strong>aus</strong>gehen, dass sich die <strong>Zwang</strong>ssymptomatiknicht einfach <strong>aus</strong> heiterem Himmel entwickelt hat, sondern <strong>aus</strong>gelöst wurdedurch massive gefühlsmäßige Verunsicherungen aufgrund ihrer Sozialisation bzw. aufgrundtraumatischer Erfahrungen. So gesehen stellt der Sammel- und Hortzwang für die Betroffenenzunächst ein Lösungsversuch für Probleme dar, die nicht auf andere Art gelöst werdenkonnten.Nach<strong>dem</strong> sich die <strong>Zwang</strong>ssymptomatik einmal entwickelt hatte, wird sie durch verschiedeneFaktoren am Leben erhalten und entwickelt eine starke Eigendynamik. Hauptsächlich <strong>aus</strong>diesem Grund spricht für die Planung einer psychotherapeutischen Behandlung einiges dafür,den Behandlungshebel zunächst bei der Ablaufdynamik der Störung selbst anzusetzen, in<strong>dem</strong>man in Zusammenarbeit mit <strong>dem</strong> Patienten versucht, eine gewisse Normalität zu erreichen,was das Sammeln und Horten von Dingen betrifft. In der Regel werden dadurch beiden Betroffenen starke Gefühle <strong>aus</strong>gelöst, die bis anhin vom Erleben abgespalten waren.Dies ermöglicht in der Folge einen unmittelbaren therapeutischen Zugang zu solchen vermiedenenGefühlen und erlaubt deren Bearbeitung durch klärungsorientierte Vorgehensweisen.Auch vorhandene Verhaltensdefizite der Betroffenen können über den störungsspezifischenZugang an die Oberfläche treten und mit bewältigungsorientierten Interventionen behobenwerden.Gesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 7 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?Ich plädiere daher für die Behandlung von Patienten mit Sammel- und Hortzwang einemehrdimensionale Behandlungsstrategie mit störungsspezifischen und klärungsorientiertenAnsätzen. Ein solches therapeutisches Vorgehen ist dann nicht – wie wir dies in der Vergangenheitoft erlebt haben – ein Entweder-Oder von Behandlung der Symptomatik oder Behandlungder zugrunde liegenden Problematik, sondern vielmehr ein Sowohl - als Auch.Literatur:• Ambühl, H. (2007). <strong>Wege</strong> <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> <strong>Zwang</strong>. Wie Sie <strong>Zwang</strong>srituale verstehen und überwinden.Düsseldorf: Patmos-Verlag.• Ambühl & Meier (2003). <strong>Zwang</strong> verstehen und behandeln. Ein kognitivverhaltenstherapeutischerZugang. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta.• Csef, H. (2005). Gruppentherapie bei <strong>Zwang</strong>sstörungen. In: Ambühl, H. Psychotherapieder <strong>Zwang</strong>sstörungen. Stuttgart: Thieme: 155-167.• Hand, I. (2002). Systemische Aspekte in der Verhaltenstherapie von <strong>Zwang</strong>sstörungen. InEcker W. (Hrsg.) Die Behandlung von Zwängen. Bern: Huber: 81-100.• Hoffmann, N. (2002). Wenn Zwänge das Leben einengen. Mannheim: PAL.Ambühl, HansruediTeilhabe und Empowerment durch Selbsthilfe/Betroffenenansatz, SA 9.00geboren 1949Dr.phil.Psychotherapeut, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, kognitiver VerhaltenstherapeutSGVT1980-2001 Wissenschaftlicher Beamter an der Psychotherapeutischen Praxisstelle der UniversitätBern (Leiter Prof. Dr. Kl<strong>aus</strong> Grawe), seit 2001in freier Praxis in Bern tätig als Psychotherapeut,Ausbilder und Supervisor in verschiedenen psychotherapeutischen InstitutionenPublikationen zum Thema <strong>Zwang</strong>:• Ambühl, H., Meier B. (2003) <strong>Zwang</strong> verstehen und behandeln. Ein kognitivverhaltenstherapeutischerZugang. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta• Ambühl, H. (2005) Psychotherapie der <strong>Zwang</strong>sstörungen (2. überarb. und erweit. Auflage).Stuttgart: Georg Thieme Verlag• Ambühl, H. (2007) <strong>Wege</strong> <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> <strong>Zwang</strong>. Wie Sie <strong>Zwang</strong>srituale verstehen und überwinden.Düsseldorf: Patmos VerlagGesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 8 von 9


Hansruedi Ambühl, Bern, Schweiz: „Messies“ – <strong>Zur</strong> <strong>Unordnung</strong> <strong>gezwungen</strong>?Kontakt:Psychotherapeutische Praxis, Aarbergergasse 46, 3011 Bern, SchweizWebpage: www.zwangsstörung.chE-Mail: hansruedi.ambuehl@freesurf.ch<strong>Zur</strong>ück zur Inhaltsübersicht Kongress Armut und GesundheitGesundheit Berlin (Hrsg.): Dokumentation 13. bundesweiter Kongress Armut und Gesundheit, Berlin 2007Seite 9 von 9

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