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EIN NACHTRAG Wolf Singer Der Konflikt zwischen Intuition und ...

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Hochentwickelte Gehirne wenden deshalb eine komplementäre, wesentlich flexiblere Strategie an. Objekteder Wahrnehmung, gleich ob es sich um visuell, akustisch oder taktil erfaßte handelt, werden durch eineVielzahl von gleichzeitig aktiven Neuronen repräsentiert, wobei jedes einzelne nur einen Teilaspekt desgesamten Objektes kodiert.Die nicht weiter reduzierbare neuronale Entsprechung eines kognitiven Objektes wäre demnach einraumzeitlich strukturiertes Erregungsmuster in der Großhirnrinde, an dessen Erzeugung sich jeweils einegroße Zahl von Zellen beteiligt. Ähnlich wie mit einer begrenzten Zahl von Buchstaben durchRekombination nahezu unendlich viele Worte <strong>und</strong> Sätze gebildet werden können, lassen sich durchRekombination von Neuronen, die lediglich elementare Merkmale kodieren, nahezu unendlich viele Objekteder Wahrnehmung repräsentieren, selbst solche, die noch nie zuvor gesehen wurden. An der Repräsentationeines freudig bellenden, mit dem Schwanz wedelnden, gerade getätschelten H<strong>und</strong>es müssen sich Neuronenaus weit entfernten Hirnrindenarealen zu einem kohärenten Ensemble zusammenschließen: Zellen desSehsystems, die visuelle Attribute des H<strong>und</strong>es kodieren, müssen mit Zellen des auditorischen Systemskooperieren, welche sich an der Kodierung des Gebells beteiligen, Zellen des taktilen Systems müssenInformationen über die Beschaffenheit des Fells beisteuern <strong>und</strong> Zellen des limbischen Systems werdenbenötigt, um emotionale Bewertungen hinzuzufügen, um anzugeben, ob das Gebell freudig oder bedrohlichist. All diese verteilten Informationen müssen zu einem kohärenten Gesamteindruck zusammengeb<strong>und</strong>enwerden, ohne sich an einem bestimmten Ort zu vereinen. Ferner muß dafür gesorgt werden, daß nur dieSignale miteinander geb<strong>und</strong>en werden, die vom gleichen Objekt herrühren, daß die Signale vom H<strong>und</strong>getrennt bleiben von Signalen, die von anderen, gleichzeitig wahrgenommenen Objekten herrühren, vonKindern etwa, die sich an der Streichelaktion beteiligen <strong>und</strong> einer miauenden Katze, die ebenfallsZuwendung sucht. Bei dieser Kodierungsstrategie müssen die Erregungsmuster der Neuronen demnachzwei Botschaften gleichzeitig vermitteln. Zusätzlich zu der Botschaft, daß das Merkmal, für welches siekodieren, vorhanden ist, müssen sie angeben, mit welchen anderen Neuronen sie gerade gemeinsame Sachemachen. Einigkeit besteht, daß die Amplitude der Erregung eines Neurons Auskunft darüber gibt, mitwelcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Merkmal vorhanden ist. Heftig diskutiert wird jedoch die Frage,worin die Signatur bestehen könnte, die angibt, welche Neuronen jeweils gerade miteinander verb<strong>und</strong>ensind <strong>und</strong> ein kohärentes Ensemble bilden.Wir haben vor mehr als einer Dekade beobachtet, daß Neurone in der Sehrinde ihre Aktivitäten mit einerPräzision von einigen tausendstel Sek<strong>und</strong>en synchronisieren können, wobei sie meist eine rhythmischoszillierende Aktivität in einem Frequenzbereich um 40 Hz annehmen. Wichtig war dabei die Beobachtung,daß Zellen vor allem dann ihre Aktivität synchronisieren, wenn sie sich an der Kodierung des gleichenObjektes beteiligen. Wir leiteten daraus die Hypothese ab, daß die präzise Synchronisierung von neuronalenAktivitäten die Signatur dafür sein könnte, welche Zellen sich temporär zu funktionell kohärentenEnsembles geb<strong>und</strong>en haben. Wie so oft erweist es sich, daß die ursprüngliche Beobachtung nur die Spitzedes Eisbergs war <strong>und</strong> daß die funktionellen Bedeutungen der beobachteten Synchronisationsphänomeneweit über die zunächst vermuteten hinausgehen. Die vielleicht spannendsten Implikationen könnten diejüngsten Untersuchungen an schizophrenen Patienten haben. Sie verweisen darauf, daß in den Gehirnendieser Patienten die Synchronisation neuronaler Aktivitäten gestört <strong>und</strong> unpräzise ist. Wenn zutrifft, daßSynchronisation der Koordination von parallel erfolgenden, räumlich verteilten neuronalen Operationendient, könnte dies manche der dissoziativen Phänomene erklären, welche diese geheimnisvolle Krankheitcharakterisieren. Die Bef<strong>und</strong>e könnten dann tatsächlich Hinweise für eine gezielte Suche nach denpathophysiologischen Mechanismen liefern, die zu dieser Erkrankung führen.Vieles spricht also dafür, daß wir uns als neuronales Korrelat von Wahrnehmungen komplexe, raumzeitlicheErregungsmuster vorstellen müssen, an denen sich jeweils eine große Zahl von Nervenzellen inwechselnden Konstellationen beteiligen. Je nach der Struktur des Wahrgenommenen können solchekoordinierten Zustände weite Bereiche der Großhirnrinde umfassen. Da wir in der Regel mehrere Objektegleichzeitig wahrnehmen, <strong>zwischen</strong> ihnen Bezüge herstellen <strong>und</strong> diese im Kontext der einbettendenUmgebung erfahren, müssen sich zudem in den Nervennetzen der Großhirnrinde mehrere unterschiedlicheEnsembles ausbilden können, die zwar voneinander getrennt sein, aber doch in Wechselwirkung stehenmüssen. Noch wissen wir nicht, wie dies bewerkstelligt wird. Eine Möglichkeit wäre, daß Ensembles, dieunterschiedliche Objekte repräsentieren, in unterschiedlichen Frequenzbereichen synchron schwingen. Wieimmer auch die Lösungen für die vielfältigen Koordinationsprobleme in unseren dezentral organisiertenGehirnen aussehen werden, fest steht schon jetzt, daß die dynamischen Zustände der vielen Milliardenmiteinander wechselwirkenden Neuronen der Großhirnrinde ein Maß an Komplexität aufweisen, das unserVorstellungsvermögen übersteigt. Dies bedeutet nicht, daß es uns nicht gelingen kann, analytischeVerfahren zu entwickeln, mit denen sich diese Systemzustände erfassen <strong>und</strong> in ihrer zeitlichen Entwicklungverfolgen lassen. Aber die Beschreibungen dieser Zustände werden abstrakt <strong>und</strong> unanschaulich sein. Siewerden keine Ähnlichkeit aufweisen mit den Wahrnehmungen <strong>und</strong> Vorstellungen, die auf diesenneuronalen Zuständen beruhen.8

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