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Virtuelle Gewalt: Modell oder Spiegel ... - Mediaculture online

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Autoren: Fritz, Jürgen / Fehr, Wolfgang.<br />

Titel: <strong>Virtuelle</strong> <strong>Gewalt</strong>: <strong>Modell</strong> <strong>oder</strong> <strong>Spiegel</strong>? Computerspiele aus Sicht der<br />

Medienwirkungsforschung.<br />

http://www.mediaculture-<strong>online</strong>.de<br />

Quelle: Computerspiele. <strong>Virtuelle</strong> Spiel- und Lernwelten. Bonn 2003. S. 49-60.<br />

Verlag: Bundeszentrale für politische Bildung.<br />

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.<br />

Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr<br />

<strong>Virtuelle</strong> <strong>Gewalt</strong>: <strong>Modell</strong> <strong>oder</strong> <strong>Spiegel</strong>?<br />

Zusammenfassung<br />

Computerspiele aus Sicht der<br />

Medienwirkungsforschung<br />

Nach medial vermittelter <strong>Gewalt</strong> zu fragen, heißt auch, nach realer <strong>Gewalt</strong> zu fragen und<br />

dem Verhältnis der beiden zueinander. Der Artikel nimmt sich dieses Zusammenhanges<br />

an und stellt heraus, dass gilt, was bereits in der Diskussion über Fernsehgewalt erkannt<br />

worden war: Monokausale Erklärungen funktionieren nicht. Auch konnte bislang nicht<br />

festgestellt werden, dass virtuelle <strong>Gewalt</strong> ihre Welt verlassen hätte, denn mediale <strong>Gewalt</strong><br />

ist nicht das <strong>Modell</strong> für die gesellschaftliche, eher ihr <strong>Spiegel</strong>.<br />

Beschäftigung mit Computerspielen hat ihren Grund oft in Langeweile, die der Spieler<br />

durch angenehm empfundene Anregung und Erregung zu ersetzen trachtet. <strong>Virtuelle</strong><br />

<strong>Gewalt</strong> verschafft dabei die Möglichkeit, ein Erregungsniveau aufrechtzuerhalten. Das ist<br />

nicht etwa problematisch, weil dadurch reale <strong>Gewalt</strong> auslöst werden könnte, wohl aber,<br />

weil die Entwicklung von Empathie gebremst wird und die angemessene<br />

Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher <strong>Gewalt</strong> behindert wird.<br />

Die Autoren diskutieren die Erkenntnisse und praktischen Möglichkeiten der<br />

Wirkungsforschung, wägen die Möglichkeiten einer moralischen Beurteilung ab und<br />

gehen schließlich auf Belange und Möglichkeiten des Jugendmedienschutzes ein. Der<br />

1


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Blick auf künftige Entwicklungen und Chancen staatlicher und politischer Einflussnahme<br />

schließen ihren Gedankengang ab.<br />

1 Von der realen zur virtuellen <strong>Gewalt</strong><br />

Schauen wir uns zunächst ein Spiel an, bei dem es um das zu gehen scheint, was wir<br />

virtuelle <strong>Gewalt</strong> nennen. Bei Virtual Fighter 2 stehen die Spieler vor der Aufgabe, Gegner<br />

mit asiatischen Kampftechniken zu besiegen. Dazu wählt der Spieler eine aus acht<br />

verschiedenen Spielfiguren. Mit diesem elektronischen Stellvertreter kann er nun Fußtritte<br />

und Faustschläge austeilen, die den Karate- und Kung-Fu-Elementen entsprechen. Ziel<br />

des Spiels ist es, alle Gegner zu besiegen, um der Beste zu werden.<br />

Ist diese sportliche Aktivität, die sich in der virtuellen Welt abspielt, gewaltvolles Handeln?<br />

Bereits beim Begriff „<strong>Gewalt</strong>“ setzen die Probleme an:<br />

Im Prinzip kann jeder unter <strong>Gewalt</strong> verstehen, was er will: Der eine nur offensichtliche<br />

Phänomene wie Töten und Schlagen, der andere verbale Phänomene wie Beleidigen, der dritte<br />

subtile Phänomene wie Missachtung und Manipulation, der vierte schließlich gesellschaftliche<br />

Phänomene wie ungleiche Bildungschancen. Die Konsequenz: man redet und denkt aneinander<br />

vorbei, da der Begriff <strong>Gewalt</strong> so vielfältige Phänomene bezeichnen kann, dass ohne weitere<br />

Konkretisierung eine gemeinsame Ausgangslage nicht zu erreichen ist. 1<br />

Der Begriff „<strong>Gewalt</strong>“ ist im Sprachgebrauch negativ besetzt. In unserer Gesellschaft gilt<br />

es, <strong>Gewalt</strong> zu vermeiden. Es gibt jedoch Situationen, in denen <strong>Gewalt</strong> gesellschaftlich<br />

akzeptiert wird, z. B. die ausgeübte Polizeigewalt gegen <strong>Gewalt</strong>verbrecher. Die<br />

gesellschaftliche Bewertung von <strong>Gewalt</strong> unterliegt kulturellen Veränderungen. So belegt<br />

Rathmayr anhand zahlreicher Beispiele, wie stark die gesellschaftliche Einschätzung der<br />

<strong>Gewalt</strong> von der jeweiligen Zeit und der gesellschaftlichen Struktur abhängig ist. 2 Folgt man<br />

Zivilisationstheoretikern wie Elias und Foucault, dann veränderte sich mit dem Beginn der<br />

Neuzeit die gesellschaftliche Organisation der <strong>Gewalt</strong>ausübung grundlegend. „Es<br />

entstand jene Grundform der Psychisierung gesellschaftlicher <strong>Gewalt</strong>organisation, der die<br />

m<strong>oder</strong>nen Medien ihren Erfolg verdanken.“ 3 Was bislang als <strong>Gewalt</strong>ausübung in der<br />

realen Welt üblich war und toleriert wurde, durfte sich ab jetzt nur noch in der Phantasie<br />

<strong>oder</strong> in der medialen Welt abspielen: in Bildern und Texten.<br />

1 Theunert, Helga (1996): <strong>Gewalt</strong> in den Medien – <strong>Gewalt</strong> in der Realität, S. 43. München: KoPäd.<br />

2 Rathmayr, Bernhard (1996): Die Rückkehr der <strong>Gewalt</strong>, S. 39ff. Wiesbaden: Quelle und Meyer.<br />

3 a.a.O. S. 39.<br />

2


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Der Begriff „<strong>Gewalt</strong>“ geht eng mit „stark sein“ und „beherrschen“ einher. <strong>Gewalt</strong> hat etwas<br />

mit Machtausübung und Herrschaft zu tun. Damit geht einher, dass Macht bzw. Herrschaft<br />

sich auf Einzelne <strong>oder</strong> Gruppen negativ auswirkt. Diese Merkmale gelten ausschließlich<br />

für die reale Welt: Es muss sich um reale Macht handeln, und die negativen Wirkungen<br />

müssen sich real an anderen Menschen zeigen.<br />

Virtual Fighter 2 spielt sich jedoch nicht in der realen Welt ab, sondern in der virtuellen.<br />

Die Ausübung von Macht durch Erlernen und Anwenden von Kampftechniken verbleibt im<br />

<strong>Virtuelle</strong>n. Und auch die Wirkungen im Rahmen des Spiels sind keinesfalls Elemente der<br />

realen Welt, sondern gehören einer anderen Welt an. Insofern geht es bei Virtual Fighter<br />

nicht um <strong>Gewalt</strong>, sondern, wie der Name des Spiels es schon sagt, um etwas, das man<br />

vielleicht virtuelle <strong>Gewalt</strong> nennen könnte. Es besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen<br />

der realen <strong>Gewalt</strong> im Kampfsport und dem Geschehen auf dem Bildschirm, in das der<br />

Spieler handelnd einbezogen ist. Die Ähnlichkeit ist hergestellt; sie ist eine<br />

Konstruktionsleistung des menschlichen Gehirns, das in der Lage ist, zu ergänzen und<br />

hinzuzudenken, was der virtuellen Welt im Vergleich zur realen fehlt, um so in der<br />

Virtualität ein emotionales Erleben zu erreichen, das der Spieler wünscht: Das Gefühl von<br />

Macht durch virtuelle Entfaltung aggressiver Impulse.<br />

Die Verlagerung der <strong>Gewalt</strong>impulse von der realen Welt in die virtuelle ist gesellschaftlich<br />

erwünscht. So sind auch Formen der <strong>Gewalt</strong>darstellung in den Computerspielen Ausdruck<br />

des gesellschaftlichen Bemühens, individuelle und insbesondere unkontrollierbare<br />

<strong>Gewalt</strong>aspekte aus der realen Welt auszugliedern und sie als ungefährliche Ware zu<br />

präsentieren, an die sich die Phantasien und aggressiven Impulse der Käufer heften<br />

können. Dabei werden in der Regel <strong>Gewalt</strong>szenarien gewählt, die von ihrer inhaltlichen<br />

Bestimmung nicht allzu deutlich die gesellschaftlichen <strong>Gewalt</strong>tabus verletzen. Bei Virtual<br />

Fighter wird eine in dieser Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen legitime Form von<br />

<strong>Gewalt</strong>ausübung, nämlich die des Kampfsports, gezeigt. Insofern ist diese virtuelle Welt<br />

noch in Ordnung, im Einklang mit unserer gesellschaftlichen Ordnung.<br />

Die Probleme fangen dort an, wo in Computerspielen Formen der <strong>Gewalt</strong> erscheinen, die<br />

nicht in Ordnung sind, die nicht im Einklang stehen mit dem, was unsere<br />

gesellschaftlichen Normen und Werte ausmachen: besonders abstoßende Formen von<br />

<strong>Gewalt</strong>, hemmungslose Vernichtungsorgien, <strong>Gewalt</strong> um ihrer selbst willen. Dies gilt<br />

verstärkt, wenn die Spielinhalte dem realen Handeln von Menschen allzu deutlich<br />

3


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nachempfunden werden. Die technologische Entwicklung der Computerspiele ermöglicht<br />

es, eine Bildqualität zu erreichen, die der von Film und Fernsehen vergleichbar ist. Wenn<br />

sich dann das Spielgeschehen aus der Sicht der subjektiven Kamera entfaltet, wird die<br />

sichtbare Distanz zur realen Welt geringer, und es erfordert vom Spieler größere kognitive<br />

Anstrengungen, zwischen virtueller und realer Welt zu differenzieren.<br />

Spätestens an dieser Stelle entsteht die Frage, ob nicht etwas, das seinen Ort in der<br />

virtuellen Welt hat, transferiert werden könnte in die reale Welt. Mit anderen Worten: Mit<br />

der Annäherung der Computerspiele an die grafischen Standards von Film und Fernsehen<br />

wird die Frage nach den Wirkungen virtueller Welten dringlicher. Und damit steigt auch<br />

das Bedenken, ob durch Computerspiele und ihre aggressiven Themen nicht Einfluss<br />

genommen wird auf <strong>Gewalt</strong> und Aggression in der realen Welt. Damit würde sich der<br />

Prozess der Psychisierung gesellschaftlicher <strong>Gewalt</strong>organisation umkehren. Die in<br />

Medialität und Virtualität hineinsozialisierten, gewaltorientierten und aggressiven Impulse<br />

würden in verstärktem Maße in die reale Welt zurückkehren.<br />

Gibt es Anzeichen dafür? Kann Forschung Belege für diese Befürchtungen erbringen?<br />

Gibt es bestimmte Formen der <strong>Gewalt</strong> in Computerspielen, die diese Effekte in<br />

besonderer Weise hervorrufen?<br />

2 Wie virtuelle <strong>Gewalt</strong> wirkt<br />

Seit Beginn der Entwicklung der Computerspiele gibt es auch eine Forschungstätigkeit,<br />

die sich darum bemüht, Aussagen über die Wirkungen dieses neue Medium zu treffen. 4 In<br />

Hinblick auf die gewaltorientierten Inhalte vieler Computerspiele entstand sehr bald die<br />

Frage, welche Wirkungen von aggressiven Spielen ausgehen. Sacher kommt nach<br />

Auswertung der ihm vorliegenden empirischen Untersuchungen zum Ergebnis, „dass<br />

gerade in den methodisch sorgfältigeren Untersuchungen keine Aggression fördernden<br />

Wirkungen aggressiver Spiele nachgewiesen werden konnten.“ 5 Zumindest muss<br />

konstatiert werden, dass die verschiedenen Forschungsergebnisse inkonsistent sind. Das<br />

liegt zum Teil sicher an forschungsmethodischen Unterschieden. Es ist unklar, nach<br />

welchen Kriterien man ein Computerspiel als aggressiv <strong>oder</strong> gewaltorientiert<br />

4 Zusammenfassungen der wichtigsten Forschungsergebnisse finden sich z. B. bei Löschenkohl, Erich und<br />

Bleyer, Michaela (1995): Faszination Computerspiel. Eine psychologische Bewertung. S. 23ff. Wien: ÖBV<br />

Pädagogischer Verlag.<br />

5 Sacher, Werner (1993): Jugendgefährdung durch Video- und Computerspiele?; Zeitschrift für Pädagogik<br />

2, S. 322.<br />

4


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einzuschätzen hat. Weitere Ursachen für widersprüchliche Forschungsergebnisse<br />

könnten durch die Beobachtungsebene bedingt sein, also durch das Kriterium, an dem<br />

man Veränderung in Aggressivität und gewaltorientiertem Handeln feststellen will.<br />

Erschließt man beispielsweise aggressives Verhalten in einer Freispielsituation, kann dies<br />

zu anderen Ergebnissen führen, als wenn man indirekte Verfahren z. B. wie<br />

Einschätzungsskalen wählt. Die in den Untersuchungssituationen auftretenden Effekte<br />

gelten dann für die Forscher als mehr <strong>oder</strong> weniger stichhaltige „Indizien“, die für eine<br />

Zunahme gewaltorientierten Handelns in der realen Welt sprechen – <strong>oder</strong> auch nicht.<br />

Dabei muss man sich klar darüber sein, dass hinter all diesen Forschungsbemühungen<br />

die meist unausgesprochene Vorstellung steht, dass Handlungsbereitschaften, die in der<br />

virtuellen Welt aktiviert werden, nicht dort bleiben, sondern in die Spielwelt <strong>oder</strong> gar in die<br />

reale Welt transferiert werden. Solche monokausalen Vorstellungen über die Wirkungen<br />

der virtuellen Welt sind sicher nicht angemessen. Wenn man überhaupt von Wirkungen<br />

sprechen will, die deutlich über die virtuelle Welt hinausreichen, so sind diese<br />

eingebunden in ein dynamisches Wechselverhältnis von Angebot des Spiels und<br />

Erwartung des Spielers. Mit anderen Worten: Der Spieler wählt das Spiel, das zu ihm<br />

passt und ihm in seinen Wünschen, Handlungsbereitschaften und Vorstellungen weit<br />

gehend entgegenkommt. Eine solche dynamische und prozessorientierte Forschung zur<br />

virtuellen Welt steht im Gegensatz zu einer traditionellen Wirkungsforschung, „die so tut,<br />

als seien die Kinder und Jugendlichen nur passive Auftreff- Flächen für Medien.“ 6 Die<br />

Suche nach simplifizierenden monokausalen Erklärungsmodellen wird, das zeigen die<br />

Untersuchungen zum Thema „Fernsehgewalt“, keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn<br />

bringen. 7 Auf erkenntnistheoretischer Ebene besteht unter den Wissenschaftlern weithin<br />

Einigkeit, dass es in Hinblick auf die mediale Welt keine direkten Wirkungen von dieser<br />

auf die reale Welt gibt, egal ob die Inhalte gewaltorientiert sind <strong>oder</strong> nicht.<br />

6 a.a.O. 324.<br />

7 „Wirkungen sind also fast nie monokausal zu verstehen, sondern als Wechselwirkungen zwischen den<br />

jeweiligen Bedingungen.“ (Groebel, Jo (1993): Worauf wirken <strong>Gewalt</strong>darstellungen? Woher kommt reale<br />

<strong>Gewalt</strong>? medien praktisch 2, S. 22). Dies lässt sich z. B. am Fernsehverhalten von Jugendlichen gut<br />

zeigen. Rogge resümiert dazu, „ dass es je spezifische Bedeutungszuweisungen von Jugendlichen an je<br />

spezifische Medienhelden gibt. Solche Medisymbolisieren und verkörpern das aktuelle Thema des<br />

Jugendlichen, sie geben seiner inneren Realität eine äußere Form.“ (Rogge, Jan-Uwe (1993): Wirkung<br />

medialer <strong>Gewalt</strong> II. medien praktisch 2, S. 20.<br />

5


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Die Wirkungsdimensionen der medialen und virtuellen Welten sind vielmehr „eingebunden<br />

in komplexe Prozesse, in ein Wechselspiel zwischen Medium und Rezipient. Die<br />

Ergebnisse dieses Wechselspiels werden auf beiden Seiten von einer Vielzahl von<br />

Faktoren m<strong>oder</strong>iert.“ 8 Nicht unerheblich ist es z. B., welche Art von <strong>Gewalt</strong> präsentiert wird<br />

(physisch, psychisch <strong>oder</strong> strukturell) und in welcher Form dies geschieht (von angedeutet<br />

über distanziert und ironisch bis zu offen brutal und reißerisch). Von Belang sind auch die<br />

Kontexte, in denen diese <strong>Gewalt</strong> einbettet ist. Geht es um ein realitätsorientiertes<br />

Geschehen, um historische Sachverhalte <strong>oder</strong> um <strong>Gewalt</strong> in futuristischen bzw. fiktiven<br />

Welten? Die Faktoren auf der Seite des Rezipienten sind ebenso vielfältig. Alter,<br />

Geschlecht, Bildung, berufliche Tätigkeit, Vorerfahrungen, Interessen, Vorlieben und<br />

vieles andere beeinflussen die Zuwendung zu gewaltorientierten medialen und virtuellen<br />

Welten und wirken auf die Intensität der Nutzung ebenso ein wie auf die Möglichkeiten der<br />

Distanzierung, der Verarbeitung und der subjektiven Bedeutungszumessung.<br />

Im Rahmen dieser Wechselwirkungsprozesse sind mediale und virtuelle Welten<br />

Sozialisationsfaktoren, die „in erster Linie Verstärkungseffekte haben, also bereits<br />

existente Dispositionen unterstützen, nicht aber neue generieren können.“ 9 Dabei spielen<br />

die Langfristigkeit der Nutzung vielfältiger Medien ebenso eine Rolle wie die<br />

Verstärkungseffekte, die durch die Kumulation verschiedener Medien im Rahmen eines<br />

„Medienverbundsystems“ entstehen können. Notwendig sind daher Fragestellungen, die<br />

der Komplexität der Wechselwirkungsprozesse Rechnung tragen. Eine solche in Hinblick<br />

auf unser Thema wichtige Frage ist, warum virtuelle <strong>Gewalt</strong> auf viele Spieler so<br />

faszinierend wirkt. Wir wollen dieser Frage nun anhand eines Beispiels aufgreifen und,<br />

daran anschließend, durch eine theoretische Untersuchung zu beantworten versuchen.<br />

3 Zur Faszinationskraft virtueller <strong>Gewalt</strong><br />

Schaut man sich die Hitlisten der beliebtesten und umsatzstärksten Computerspiele an,<br />

stößt man auf Titel wie Warcraft II, Duke Nukem 3D, Virtual Fighter 2, Rebel Assault 2,<br />

Wing Commander IV und Command & Conquer, Empire Earth, Sudden Strike. Was ist das<br />

gemeinsame Merkmal aller dieser Spitzentitel? Dominierendes Thema aller dieser Spiele<br />

ist <strong>Gewalt</strong>, Aggression und Krieg. Lediglich in der Inszenierung von <strong>Gewalt</strong> gibt es<br />

8 a.a.O. [1] S. 17.<br />

9 a.a.O. [1] S. 18.<br />

6


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Unterschiede. Mal geht es um Duell-Fighter, also duellartige Kampfszenen mit<br />

gleichwertigen Gegnern, das andere Mal um Space-Shooter, Kampfspiele im Weltraum,<br />

die an Spielfilme angelehnt sind. Besonders beliebt in der Gunst der Käufer sind Action-<br />

Strategy-Games, also Spiele, in denen in Realzeit strategisch angelegte Kämpfe und<br />

Kriege ausgetragen werden. Command & Conquer ist ein solches Spiel, das exemplarisch<br />

ist für ein besonders umsatzstarkes Genre.<br />

3.1 Zum Computerspiel Command & Conquer<br />

Um was geht es bei dem Spiel? – Zwei globale Mächtegruppen stehen sich gegenüber<br />

und haben das Ziel, sich mit militärischen Mitteln bis zur Vernichtung zu bekämpfen, um in<br />

der Welt die Vormachtstellung zu erringen. Der Spieler wählt eine dieser beiden Seiten<br />

und muss verschiedene Missionen steigenden Schwierigkeitsgrades durchführen.<br />

Zwischen den einzelnen Levels werden filmartige Sequenzen gezeigt, die die<br />

Rahmenhandlung bilden. Diese Sequenzen ähneln tagespolitischen Fernsehnachrichten<br />

und politischen Magazinen, die bei Kriegsberichterstattungen üblich sind. Des weiteren<br />

werden Filmelemente verwendet, die aus einschlägigen Kriegsfilmen bekannt sind, z. B.<br />

die Einsatzbesprechung vor der militärischen Aktion.<br />

In der Regel muss der Spieler mit einer zunächst kleinen Gruppe militärischer Einheiten<br />

(z. B. Infanterie, Panzer) eine Basis aufbauen und sie gegen gegnerische Angriffe<br />

verteidigen. Dies bietet die Grundlage für eigene Angriffe gegen die feindliche Basis, die<br />

es zu erobern gilt. Um Waffeneinheiten und Gebäude produzieren zu können, die für den<br />

Ausgang der Kämpfe entscheidend sind, muss der Spieler über Finanzmittel verfügen.<br />

Diese werden dadurch erlangt, dass der Spieler den Rohstoff Tiberium erntet, der in der<br />

Nähe der Militärgebäude wächst. Deshalb ist die militärische Auseinandersetzung auch<br />

ein Kampf um die Tiberiumfelder.<br />

Der vom Computer gesteuerte Gegner versucht von Anfang an, die Einheiten der Spieler<br />

zu vernichten. Dieser Bedrohung kann prinzipiell nur aggressiv entgegengewirkt werden:<br />

Die Angreifer müssen vernichtet werden. Das bedeutet, dass der Spieler bereit sein muss,<br />

sich auf eine kriegerisch-aggressive Auseinandersetzung einzustellen. Es geht um das<br />

Prinzip „Alles <strong>oder</strong> Nichts“; eine friedliche Konfliktlösung ist nicht vorgesehen. Dafür sind<br />

strategisches und taktisches Denken unverzichtbar. Dieses Denken vollzieht sich im<br />

Rahmen einer problematischen Hightech-Mentalität. In den höheren Levels spielen die<br />

7


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einfachen Fußsoldaten (Infanterie) im Grunde keine Rolle mehr. Es kommt vielmehr<br />

darauf an, das neueste und wirkungsvollste Kriegsgerät zu besitzen und es gezielt<br />

einzusetzen.<br />

Moralische, auf Empathie gerichtete Werte werden im Spiel negiert. Gegnerische<br />

Kampfeinheiten müssen auf jeden Fall zerstört werden. Der Gegner muss vollkommen<br />

besiegt werden. Dabei spielt es auch keine Rolle, wie viele eigene Einheiten<br />

„draufgehen“. Sie sind austauschbar und grundsätzlich in jeder gewünschten Anzahl<br />

produzierbar, wenn das entsprechende Geld vorhanden ist. Menschliches Leid ist nicht<br />

der Gegenstand des Spiels. Schmerzen und Verletzungen kommen nur in funktionaler<br />

Weise zum Ausdruck. Jede Einheit hat einen „Lebensbalken“, der von grün über gelb zu<br />

rot die verbleibende Lebenskraft anzeigt.<br />

Warum geht von diesem Spiel ein besonderes Maß an Faszination aus? – Die<br />

Faszination verdankt sich zum einen der hohen Spielqualität. Das Spiel ist nicht nur<br />

technisch gelungen, sondern überzeugt auch in spielerischer Hinsicht: Es ist gut<br />

verständlich, die Handhabung ist übersichtlich. Die Spielanforderungen steigen von<br />

Mission zu Mission. Gespielt wird im Realzeit-Modus, d.h. alle Befehle werden unmittelbar<br />

umgesetzt; der Spieler bekommt eine Rückmeldung über die Wirkungen seiner<br />

Entscheidungen. Der Umfang der Handlungsmöglichkeiten (Bau von Gebäuden und<br />

militärischen Einheiten; Bewegen der Einheiten und Einleiten von Kampfsequenzen) ist<br />

optimal auf das Spiel abgestimmt. Durch den Missions-Charakter bleibt das Spiel bis zum<br />

Ende spannend und abwechslungsreich.<br />

Grafik und Sound, also die äußeren Merkmale des Spiels, erreichen ein ähnlich hohes<br />

Qualitätsniveau. Die Spieloberfläche ist naturgetreu gestaltet. Die Graphik ist detailliert.<br />

Die Einheiten sind gut animiert. Explosionen hinterlassen bleibende Spuren. Die<br />

Landschaften sind abwechslungsreich und vielfältig. Das Geschehen auf dem Bildschirm<br />

wird angemessen mit Soundeffekten unterstützt. Zur Auflockerung des militärischen<br />

Geschehens gibt es die Einheit Commandobot mit coolen Sprüchen, die aus der<br />

Waschküche einer Militärklamotte stammen könnten.<br />

Damit ein Spiel als faszinierend empfunden werden kann, reicht die Spielqualität allein<br />

nicht aus. Angebot des Computerspiels und Erwartung des Computerspielers müssen<br />

zueinander passen, miteinander verschränkt werden. Mit anderen Worten: Es muss zu<br />

8


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einer „strukturellen Koppelung“ kommen. 10 Welche Bereiche der strukturellen Koppelung<br />

sind bei Command & Conquer zu erwarten?<br />

• Command & Conquer ist in die mediale Welt, wie sie Kindern und Jugendlichen bekannt<br />

ist, eingebettet. Bereits zu Beginn des Spiels präsentieren sich Formen unserer<br />

Fernsehwelt. So besteht das Intro aus einem Zusammenschnitt unterschiedlicher<br />

Fernsehprogramme der Zukunft, die „zap“-artig präsentiert werden. Auch der Abspann<br />

und die Filmsequenzen zwischen den jeweiligen Missionen sind deutlich der Film- und<br />

Fernsehwelt entnommen. Diese Elemente machen es den Nutzern einfach, ihre<br />

eigenen Fernseh- und Filmerfahrungen mit dem Spiel in Verbindung zu bringen.<br />

Dadurch besitzt Commnd & Conquer einen hohen medialen Wiedererkennungswert.<br />

Dadurch bedingt wächst in den Spielern der Impuls, die präsentierte Welt, die der<br />

bekannten Medienlandschaft doch so ähnlich zu sein scheint, durch eigenes Handeln<br />

zu beeinflussen.<br />

• Unterhalb der Spieloberfläche, die durch Krieg und <strong>Gewalt</strong> gekennzeichnet ist, geht es<br />

bei diesem Spiel ganz allgemein um das Erfordernis, in einer bedrohlichen virtuellen<br />

Welt Macht, Kontrolle und Herrschaft zu entwickeln. Dazu stellt das Spiel bestimmte<br />

spieldynamische Muster bereit, auf die der Spieler sich einlassen muss. Im Mittelpunkt<br />

stehen neben der Erledigung der zahlreichen Feinde die Ausweitung des eigenen<br />

Macht- und Herrschaftsbereichs, die Bereicherung mit Wirtschaftsgütern und<br />

Geldmitteln und die Armierung, also die Verstärkung der militärischen Machtmittel in<br />

Hinblick auf Anzahl und Wirksamkeit. Eingebunden sind diese Muster in eine generelle<br />

Bewährungssituation, die angeordneten Missionen erfolgreich zu absolvieren. Nur<br />

durch die Bewährung erfolgen Belobigungen, Beförderungen und neue, noch<br />

schwieriger zu erfüllende Aufträge. Zentrales Element der Bewährungssituationen ist<br />

die vollständige Vernichtung des Gegners.<br />

Dieser Mix aus recht unterschiedlichen spieldynamischen Mustern ist für sehr viele<br />

Spieler deswegen faszinierend, weil sie ihre Lebenssituation darin wiederfinden können.<br />

So ist es im Leben der meisten Spieler erforderlich, in einer möglicherweise bedrohlich<br />

erscheinenden Welt, Aufträge angemessen zu erledigen, den eigenen Lebensbereich zu<br />

kontrollieren und auszudehnen, sich vielfältig zu bereichern und die eigenen<br />

Handlungsmöglichkeiten zu vergrößern. Insofern kann Command & Conquer zu einer<br />

Folie für die Lebenswünsche der Spieler werden. Mit anderen Worten: Command &<br />

Conquer bietet auf einer metaphorischen Ebene strukturelle Handlungsangebote, die mit<br />

den Erwartungen spezieller Spieler verschränkt werden können. Diese<br />

Spielerpersönlichkeiten verbinden aggressiv-kämpferische Vorgehen mit strategisch-<br />

taktischem Denken und Handeln.<br />

10 Näheres zur „strukturellen Koppelung“ bei Computerspielen findet sich in: Fritz, Jürgen & Fehr, Wolfgang:<br />

Computerspiele als Fortsetzung des Alltags. Wie sich Spielwelten und Lebenswelten verschränken. Auf<br />

dieser CD.<br />

9


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Die Faszinationskraft des Militärischen liegt in seinen Effekten. Ein Spiel wie Command &<br />

Conquer führt die Wirkungsmächtigkeit eigenen Handelns effektvoll in Bild und Ton vor.<br />

Feindliche Einheiten können durch Waffengewalt vernichtet werden. Die Wünsche nach<br />

Macht und Kontrolle werden dadurch in besonders intensiver Weise erfüllt. Die Wirkungen<br />

des Militärischen werden so präsentiert, dass sie für den Spieler akzeptabel erscheinen.<br />

Sie bewegen sich in den üblichen Formen der in der Film- und Fernsehwelt präsentierten<br />

<strong>Gewalt</strong>ästhetik . Man sieht bedrohliche Aufmärsche, Explosionen, vernichtete<br />

Militäreinheiten. Das direkte Leid der beteiligten Akteure wird hingegen nicht sichtbar.<br />

Dies würde die Faszinationskraft des Spiels mindern und den Spaß am spielerischen<br />

Handeln wesentlich beeinträchtigen.<br />

Ein weiterer Aspekt der Faszinationskraft des Militärischen bei Command & Conquer liegt<br />

in der Möglichkeit des Spielers, über immer besseres, teureres und wirkungsvolleres<br />

Kriegsgerät zu verfügen. Im Kriegsgerät verdinglicht sich so Macht und Kontrolle, sodass<br />

der Besitz des virtuellen Kriegsgeräts an sich schon faszinierend sein kann. Ausgehend<br />

von diesem Beispiel wollen wir nun etwas grundsätzlicher der Frage nachgehen, warum<br />

virtuelle <strong>Gewalt</strong> im Rahmen der komplexen Wechselwirkungsprozesse so faszinierend<br />

wirken kann. Aufgrund unserer Untersuchungen lassen sich verschiedene, miteinander<br />

verwobene Aspekte zusammentragen, die diese Faszinationskraft erklären können.<br />

3.2 Aspekte zur Beurteilung virtueller <strong>Gewalt</strong><br />

Schlüssel zum Verständnis virtueller <strong>Gewalt</strong> sind die in den Spielern gesellschaftlich<br />

erzeugten Wunschpotentiale. Diese Wünsche, die mit virtuellen Welten verwoben sind,<br />

sind der Kern der Wirkungen dieser Welten. „Medienwirkungsforschung ist so zu aller erst<br />

Medienverursachungsforschung, Suche nach den Gründen für jene Faszinierbarkeit<br />

großer Publikumsgruppen, die den Ermöglichungsgrund für die Existenz der Medien und<br />

damit für jegliche Medienwirkung darstellt.“ 11<br />

Die Umsatzzahlen bestimmter Computerspiele und die lange Verweildauer vieler Spieler<br />

gerade bei diesen Spielen belegen unabweislich die große Faszination, die nicht nur von<br />

Computerspielen generell, sondern insbesondere von den Spielen ausgeht, in denen<br />

<strong>Gewalt</strong>darstellungen den Mittelpunkt des Handlungsgeschehens bilden. Es ist<br />

offenkundig, dass sich das Ausmaß <strong>Gewalt</strong> bestimmter Computerspiele auf eine nahezu<br />

11 a.a.O. [2] S. 13.<br />

10


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unerschöpfliche Nachfrage nach gerade solchen Spielen gründet. In der weltweiten<br />

Verbreitung der Wünsche nach virtueller <strong>Gewalt</strong> sind sich die Spieler offensichtlich<br />

ähnlicher als in den Wirkungen, die von dieser virtuellen <strong>Gewalt</strong> auf sie ausgeht. Deshalb<br />

ist die Frage von wesentlichem Interesse, was die Faszinationskraft der Computerspiele<br />

und speziell der gewaltorientierten ausmacht. 12 Man muss sich mit der Tatsache vertraut<br />

machen, dass Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene tagtäglich in hunderten von<br />

virtuellen Welten <strong>Gewalt</strong>handlungen vollziehen: prügeln, schießen, zerfetzen, vernichten –<br />

und offenbar Spaß daran haben.<br />

Dass diese Millionen von virtuellen „<strong>Gewalt</strong>tätern“ diese Handlungsimpulse in die reale<br />

Welt umsetzen, ist alles andere als wahrscheinlich. Ein solcher Nachweis ist durch<br />

Forschung nicht zu erbringen. Daher sollten sich die Forschungsbemühungen aus einer<br />

allzu einseitigen Verklammerung mit der Hypothese über die Wirkungen virtueller <strong>Gewalt</strong><br />

lösen und den Blick auf ein viel näher liegendes Problem richten. „Die Fixierung auf den<br />

eindeutigen Nachweis eines tatsächlichen Zusammenhangs zwischen Mediengewalt und<br />

realer <strong>Gewalt</strong>tätigkeit hat die Medienforschung von der viel grundsätzlicheren Frage nach<br />

den Voraussetzungen der Mediengewalt abgelenkt. (...) Die Frage nach den Ursachen<br />

medialer <strong>Gewalt</strong>produktion ist der Frage nach ihren Wirkungen voranzustellen. Ehe man<br />

sinnvoll fragen kann, was Medien bewirken, muss man fragen, wodurch ihre<br />

Anziehungskraft beim Publikum verursacht wird. Die Frage nach den Hintergründen<br />

massenhafter Faszination durch visuelle <strong>Gewalt</strong> ist der Ansatzpunkt einer neuen Medien<br />

(be)wirkungsforschung.“ 13<br />

Welche Aspekte machen die Faszinationskraft der virtuellen <strong>Gewalt</strong> aus? Welche<br />

gesellschaftlich erzeugten Wunschpotentiale können sich über gewaltorientierte<br />

Computerspiele realisieren?<br />

3.2.1 <strong>Gewalt</strong> vertreibt Langeweile<br />

Allen Untersuchungen zufolge ist Langeweile der wesentliche Anlass, sich in virtuelle<br />

Welten zu begeben. Offensichtlich gehört ein mittleres Erregungsniveau zu dem, was für<br />

Menschen gute Gefühle sind. Computerspiele sind offensichtlich in der Lage, zu einer<br />

12 Erste Antworten, die sich auf empirische Untersuchungen stützen, finden sich in Fritz, Jürgen (Hrsg.)<br />

(1995), Warum Computerspiele faszinieren. Weinheim und München: Juventa.<br />

13 Rathmayr, a.a.O. 37.<br />

11


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Erregungsschwelle beizutragen, die als angenehm empfunden wird. Spannende<br />

Computerspiele sind in der Lage, den Spieler zu fesseln und seine Aufmerksamkeit an<br />

das Spielgeschehen zu binden. Deshalb sind sie abwechslungsreich, besitzen vielfältige<br />

Spielforderungen und stellen dem Spieler angemessene Handlungsmöglichkeiten bereit.<br />

Aber das allein reicht nicht aus. Die schematischen Spielabläufe und die Wiederkehr des<br />

immer Gleichen bewirken relativ schnell, dass das mit dem Spiel erzeugte<br />

Erregungsniveau nach einiger Zeit absinkt, sodass Aufmerksamkeit und Interesse<br />

nachlassen und die Langeweile zurückkehrt.<br />

Durch Bedrohung mit virtueller <strong>Gewalt</strong> kann das Abflachen des Erregungsniveaus<br />

wirkungsvoll aufgehalten halten. Der Spieler sieht sich in seiner virtuellen Existenz<br />

gefährdet und muss alle Kraft und Fähigkeit aufbieten, um nicht vom Bildschirm getilgt zu<br />

werden. Er kann es sich nicht erlauben, abzuschweifen und unkonzentriert zu sein. Dies<br />

hätte unweigerlich den Bildschirmtod zur Folge. Andererseits ist die existentielle<br />

Bedrohung nur virtuell. Das Erregungsniveau bleibt in gewissen Grenzen und wird nach<br />

Erledigung der Spielaufgabe abgebaut. Lediglich bei ungeübten Spielern, die mit dem<br />

Spiel nach mehreren Versuchen nicht klarkommen, kann das Erregungsniveau sehr stark<br />

ansteigen und Wutreaktionen auslösen.<br />

Die Bedrohung mit virtueller <strong>Gewalt</strong> mag zwar Langeweile vertreiben, garantiert aber<br />

nicht, dass dies auch permanent so bleibt. Was im Zusammenhang mit virtueller <strong>Gewalt</strong><br />

als anregend und was als langweilig empfunden wird, hängt sehr von den Spielern und<br />

ihren Spielerfahrungen ab. Hier treten im Laufe der Computerspiel-Sozialisation<br />

Gewöhnungseffekte auf. Die Stimulierung mit schlichter <strong>Gewalt</strong> reicht nicht mehr aus,<br />

Langeweile zu vertreiben. Notwendig ist vielmehr, die <strong>Gewalt</strong>handlungen grafisch und<br />

spieldynamisch besonders effektvoll aufzubereiten, zu präsentieren und in das<br />

spielerische Handeln einzuweben.<br />

Ein sichtbarer Ausdruck dafür sind die aktuellen gewaltorientierten Spiele, die die<br />

vordersten Plätze in den Hitlisten belegen. <strong>Gewalt</strong> ist hier ständig präsent; in jedem<br />

Augenblick kann sich die latente Bedrohung als manifeste <strong>Gewalt</strong> zeigen. Selbst in den<br />

„kühlen“ Strategiespielen zeigt sich mittlerweile die Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit<br />

von <strong>Gewalt</strong>. Bei den Action-Strategy-Games (wie z. B. Command & Conquer und Warcraft<br />

II, Sudden Strike und Age of Empire) muss der Spieler in Realzeit handeln. In dem<br />

12


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Ausmaß, in dem die Bedrohung gesteigert wird, z. B. durch immer gefährlichere und<br />

schrecklichere Feinde, steigern sich auch Art, Umfang und Wirkkraft des eigenen<br />

gewaltvollen Handelns. Dies gilt insbesondere für die neueren Egoshooter wie z. B.<br />

Nukem 3D. Hier hat sich das Bestiarium der Gegner (und ihrer Taten) zu einer<br />

schauerlichen Schrecklichkeit ausgeweitet, zu deren Bekämpfung immer effektvollere<br />

Waffen notwendig werden.<br />

Diese <strong>Gewalt</strong>spirale, die durch Gewöhnung an virtuelle <strong>Gewalt</strong> und das Bedürfnis nach<br />

stärkeren Reizen in Gang gehalten wird, ist das Oberflächenphänomen einer tieferen<br />

Bedürfnisdisposition, die eng mit <strong>Gewalt</strong> verschränkt ist: Macht, Herrschaft und Kontrolle<br />

zu erlangen und lustvoll auszuüben.<br />

3.2.2 Macht, Herrschaft und Kontrolle 14<br />

Die Leistungsanforderungen von Computerspielen schließen das Bestreben ein, Macht zu<br />

entfalten und das Spiel zu kontrollieren. Es gilt mehr <strong>oder</strong> weniger für alle Computerspiele,<br />

dass die Spieler sich machtvoll behaupten, Herrschaft ausbilden und Kontrolle ausüben<br />

müssen. Eben darin liegt der besondere Reiz und der Grund für die Faszinationskraft<br />

dieser Spiele. Mit ihrer Kontrollierbarkeit stehen sie in deutlichem Kontrast zur Lebenswelt<br />

der Spieler.<br />

Um das Spiel zu gewinnen und zu diesem guten Gefühl zu gelangen, muss der Spieler<br />

zeigen, dass er Macht, Herrschaft und Kontrolle ausüben kann. Doch wie zeigt sich das<br />

klar und eindeutig? Die wirkungsvollste und sofort sichtbare Form der Realisierung von<br />

Macht, Herrschaft und Kontrolle ist in der Regel die <strong>Gewalt</strong>: „Ein zentrales<br />

Bestimmungskriterium der Definition von <strong>Gewalt</strong> ist mit den Begriffen ‚Macht’ und<br />

‚Herrschaft‘ gekoppelt: Die Manifestation von Macht und/<strong>oder</strong> Herrschaft gilt dann als<br />

<strong>Gewalt</strong>, wenn sie schädigende Folgen zeitigt.“ 15<br />

Insofern Macht, Herrschaft und Kontrolle bestimmende Kriterien aller Computerspiele<br />

sind, müssen sie dem Spieler wirkungsvolle, deutlich sichtbare Formen zu ihrer<br />

Realisierung anbieten – und das ist in der Regel die <strong>Gewalt</strong>: die schädigende Einwirkung<br />

auf den Gegner, die in ihren Folgen sofort sichtbar wird. Das muss nicht so sein. Es gibt<br />

14 Vgl. dazu den Beitrag von Fritz, Jürgen (2002): Warum eigentlich spielen Leute Computerspiele? Macht,<br />

Herrschaft und Kontrolle faszinieren und motivieren; auf dieser CD.<br />

15 a.a.O. [1] S. 62.<br />

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Computerspiele, in denen sich Macht, Herrschaft und Kontrolle ohne <strong>Gewalt</strong> <strong>oder</strong> deutlich<br />

gewaltvermindert zeigt, z. B. in bestimmten Adventures, bei denen die Kontrolle des<br />

Spiels darin besteht, bestimmte Rätsel und Denkaufgaben zu lösen, was nicht mit dem<br />

Besiegen virtueller Gegner verbunden ist. Diese Spiele sind jedoch der Ausnahmefall und<br />

dürften in der Regel auch nicht in den Hitlisten der Computerspiele zu finden sein.<br />

Offensichtlich wird in den Computerspielen eine sehr drastische und eindringliche Form<br />

der Ausübung von Macht, Herrschaft und Kontrolle gesucht: die <strong>Gewalt</strong>. Wenn man<br />

Computerspiele nutzt, um Macht, Herrschaft und Kontrolle auszuüben, dann wählt man<br />

zugleich auch die <strong>Gewalt</strong>, und man wählt sie je nach Geschmack und medialen<br />

Gewohnheiten: von m<strong>oder</strong>aten, kindgerechten und witzigen Formen der <strong>Gewalt</strong> über<br />

distanzierende strategische Inszenierungen bis hin zu <strong>Gewalt</strong>orgien und blutigen<br />

Abschlachtungen.<br />

3.2.3 Die gesellschaftlichen <strong>Gewalt</strong>kontexte<br />

Zur Faszinationskraft virtueller <strong>Gewalt</strong> tragen auch gesellschaftliche <strong>Gewalt</strong>kontexte<br />

Wesentliches bei. <strong>Virtuelle</strong> <strong>Gewalt</strong>inszenierungen verschränken sich nicht nur mit<br />

alltäglichen Ohnmachtsgefühlen, indem sie die mit Macht, Herrschaft und Kontrolle<br />

verbundenen <strong>Gewalt</strong>phantasien aufgreifen und ausbauen. Sie setzen auch fort, was durch<br />

den „Prozess der Zivilisation“ an realen kollektiven und individuellen <strong>Gewalt</strong>bedürfnissen<br />

in die mentale und mediale Welt „übergeleitet“ wurde. Damit erfüllen sie in mehrfacher<br />

Weise die gesellschaftliche Funktion der <strong>Modell</strong>ierung emotionaler Impulse: „Sie besorgen<br />

auf diese Weise einerseits die Besänftigung, Kontrolle und Kanalisierung solcher<br />

<strong>Gewalt</strong>phantasien im Sinne der gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen und lenken<br />

individuelle <strong>Gewalt</strong>bedürfnisse in die Richtung gesellschaftlich erwünschter<br />

<strong>Gewalt</strong>verhältnisse. Andererseits stellen sie eine ästhetisierte, erfahrungslose Form von<br />

<strong>Gewalt</strong>wahrnehmung zur Verfügung, die, im Unterschied zu realer <strong>Gewalt</strong> und gerade weil<br />

sie unwirklich ist, von einem faszinierten Publikum lustvoll genossen werden kann.“ 16<br />

Gesellschaftliche <strong>Gewalt</strong>verhältnisse und reale Bedrohungssituationen werden<br />

ausgeblendet und der Aufmerksamkeit des Publikums entzogen. An ihre Stelle treten<br />

virtuelle <strong>Gewalt</strong>inszenierungen, die nicht mehr real erlebt werden müssen, sondern in<br />

einem folgenlosen Computerspiel konsumiert werden können. Was nicht mehr den Tod<br />

16 a.a.O. [2] S. 114.<br />

14


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bringende reale Welt ist, sondern als Virtualität inszeniert wird, erzeugt nicht mehr Angst,<br />

sondern Lust. <strong>Gewalt</strong> wird zur spannenden Unterhaltung, die in ihrer Verschränkung mit<br />

virtueller Macht, Herrschaft und Kontrolle gute Gefühle machen kann. Die Ausübung<br />

virtueller <strong>Gewalt</strong> kann als Gefühl machtvoller Kompetenz und Überlegenheit erlebt<br />

werden. Ob damit die Gefahr besteht, reale <strong>Gewalt</strong> wie virtuelle wahrzunehmen, bleibt<br />

hingegen eine offene Forschungsfrage. Sicher ist nur, dass mit virtueller <strong>Gewalt</strong> die<br />

„<strong>Gewalt</strong>kreisläufe“ verstärkt werden, die das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage in<br />

Gang halten und steigern: More blood, more money.<br />

Die wesentlichen Ursachen für <strong>Gewalt</strong>kreisläufe liegen jedoch nicht in den Medien selbst.<br />

Diese profitieren lediglich davon. „<strong>Gewalt</strong>potentiale im gesellschaftlichen Leben, die ihre<br />

Wurzeln in Bedingungen familialer Beziehungsstörungen, in institutionellen und kulturellen<br />

Unterdrückungs- und Verdrängungsmechanismen, politisch motivierten Täuschungs- und<br />

Propagandastrategien haben, sind die wahren Ursachen der Verführbarkeit der Menschen<br />

durch <strong>Gewalt</strong>. Die m<strong>oder</strong>ne Zivilisation nimmt ihre Mitglieder immer spürbarer in die<br />

schmerzliche Zange zwischen offiziellem <strong>Gewalt</strong>verbot und offiziösen Appellen an eine<br />

Art von <strong>Gewalt</strong>tätigkeit, die nicht als solche ausgegeben werden darf: rigides Einhalten<br />

von Vorschriften, hartes Durchsetzungsvermögen, rücksichtslose Konkurrenz, eiserne<br />

Konsequenz. Da <strong>Gewalt</strong> nicht sein darf, aber dennoch tagtäglich getan <strong>oder</strong> zumindest<br />

toleriert werden muss, verlangt ein immer größeres Publikum nach der Inszenierung der<br />

verdrängten, verbotenen Normalität.“ 17<br />

<strong>Virtuelle</strong> <strong>Gewalt</strong> bietet „Lösungen“ für diese gesellschaftlichen Widersprüche im Umgang<br />

mit realer <strong>Gewalt</strong> an. Sie schafft „gute Gefühle“ und beeinträchtigt zugleich die Potentiale,<br />

die sich zum Abbau dieser Widersprüche entwickeln könnten. Kinder, Jugendliche und<br />

Erwachsene werden durch virtuelle <strong>Gewalt</strong> nicht gewalttätiger als sie sind, wohl aber<br />

werden sie daran gehindert, Fähigkeiten im Umgang mit ihren aggressiven Impulsen zu<br />

erlernen und sozial angemessene Formen in Bezug auf individuelle und gesellschaftliche<br />

<strong>Gewalt</strong> zu entwickeln. Denn: Die virtuelle <strong>Gewalt</strong> ist allenfalls die Kehrseite, nicht jedoch<br />

das <strong>Modell</strong> für den sozialen Umgang mit <strong>Gewalt</strong> und sie erlangt ihre Faszinationskraft<br />

gerade aus diesem Umstand.<br />

17 a.a.O. [2] S. 139.<br />

15


3.2.4 Die Faszinationskraft virtueller <strong>Gewalt</strong><br />

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Die Faszinationskraft virtueller <strong>Gewalt</strong> entwickelt sich im Rahmen der skizzierten<br />

Wechselwirkungsprozesse nur durch eine akzeptierbare <strong>Gewalt</strong>präsentation. Die nackte<br />

Realität der <strong>Gewalt</strong> ist unerträglich und damit inakzeptabel. Um angenommen zu werden,<br />

muss die <strong>Gewalt</strong> in einer dem sich entwickelnden Publikumsgeschmack entsprechenden<br />

Weise „aufbereitet“ sein. Mit anderen Worten: Die <strong>Gewalt</strong>darstellung muss eine<br />

akzeptierbare Warenform annehmen. Die Präsentation der virtuellen <strong>Gewalt</strong> folgt<br />

medialen Vorbildern. Sie muss sowohl Aspekte der realen Welt aufnehmen, um die<br />

Erlebnisdichte zu erhöhen als auch die <strong>Gewalt</strong> so ästhetisieren, dass sie nicht schmutzig<br />

und abstoßend wirkt. Allemal problematisch sind virtuelle <strong>Gewalt</strong>darstellungen, die zu nah<br />

an der selbst erfahrenen realen Welt orientiert sind. 18<br />

Die Warenform der inszenierten <strong>Gewalt</strong> zeigt sich auch in den ästhetisierten Objekten, mit<br />

denen sich <strong>Gewalt</strong> in der virtuellen Welt realisiert: Waffen, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe.<br />

In diesen virtuellen Objekten verdinglicht sich die <strong>Gewalt</strong> in einer akzeptablen Form:<br />

<strong>Gewalt</strong>orientierte Machtmittel erscheinen als schön und begehrenswert. Ihr virtuelles<br />

Gebrauchswertversprechen erfüllt sich durch eine wirkungsvolle und saubere<br />

<strong>Gewalt</strong>anwendung. Ihr Besitz verleiht Macht und es lohnt sich, sich dafür in der virtuellen<br />

Welt anzustrengen. Die Parallelen zum realen Warenbesitz in unserer<br />

Konsumgesellschaft bieten sich geradezu an.<br />

Die akzeptable <strong>Gewalt</strong>präsentation in der virtuellen Welt zielt auf intensive Erfahrungen,<br />

ohne mit ihnen hautnah in Berührung zu kommen. Gewünscht ist die Intensität des<br />

Eindrucks, die Dichte des Erlebens ohne das Risiko mit den problematischen Aspekten<br />

der eigenen Person <strong>oder</strong> gar der realen Welt konfrontiert zu werden: Total immersion<br />

without total involvement. Insofern ist die virtuelle <strong>Gewalt</strong>wahrnehmung nicht nur<br />

folgenlos, sondern im Grunde auch erfahrungslos. Die Faszination an der unwirklichen<br />

18 Zur <strong>Gewalt</strong>schwelle von Kindern vgl. Theunert, a.a.O. [1] S. 20f. Der Begriff „<strong>Gewalt</strong>schwelle“ gilt als<br />

Maßstab dafür, welche Darstellungen Kinder tolerieren und auf welche sie mit Ablehnung und Angst<br />

reagieren. Die <strong>Gewalt</strong>schwelle der meisten Kinder wird nicht überschritten, wenn „saubere“ <strong>Gewalt</strong><br />

gezeigt wird, also die Folgen von <strong>Gewalt</strong>tätigkeit ausgeblendet <strong>oder</strong> verharmlost werden und wenn die<br />

<strong>Gewalt</strong>anwendung in die gängigen Klischees von Gut und Böse eingebettet ist. Überschritten wird<br />

hingegen die <strong>Gewalt</strong>schwelle fast ausnahmslos, wenn die Leiden der Opfer drastisch und blutig in Szene<br />

gesetzt sind. Mit Ablehnung und Angst reagieren Kinder in der Regel auf <strong>Gewalt</strong>, die realitätsnah<br />

inszeniert wurde <strong>oder</strong> der Realität entstammt. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Kinder die <strong>Gewalt</strong> in<br />

ihrer eigenen Wirklichkeit feststellen.<br />

16


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virtuellen <strong>Gewalt</strong> hat den Verlust des Mitleidens zumindest in dieser virtuellen Welt zur<br />

Folge.<br />

3.2.5 Dispens von Empathie<br />

In der virtuellen Welt des Computerspiels ist Empathie unangemessen. Das vom<br />

Computer generierte „Gegenüber“ lässt sich nicht empathisch erschließen, sondern nur<br />

einschätzen hinsichtlich seiner programmierten Reaktionsmuster. Nicht Empathie wird<br />

verlangt, sondern strategisch-taktisches Verhalten im Rahmen eines festgelegten<br />

Regelsystems, das für die jeweilige virtuelle Welt Gültigkeit hat. Die Figuren im<br />

Computerspiel sind nur Handlungsträger in funktional bestimmten Abläufen und<br />

keinesfalls Objekte, denen man emotional getönte Empathie entgegenbringen müsste –<br />

obwohl es bei Jüngeren dazu kommen kann, dass sie bestimmte Comic-Figuren im<br />

Computerspiel süß und niedlich finden und auf Beeinträchtigungen dieser Figuren<br />

empathisch reagieren. Ein virtuelles Gegenüber kann nur Objekt im Rahmen funktionaler<br />

Denk- und Handlungsprozesse sein, nie Subjekt.<br />

Deshalb haben moralische Erwägungen im Handlungsvollzug des Computerspiels keinen<br />

Ort. Für die Entfaltung von Macht, Herrschaft und Kontrolle ist die Handlungsebene<br />

entscheidend. Die Inhaltsebene des Computerspiels dient nur zur anfänglichen Motivation<br />

und als Orientierungshilfe für die Entwicklung angemessener Handlungsmuster. Dies gilt<br />

prinzipiell auch für gewaltorientierte Spielhandlungen. Unter permanentem<br />

Handlungsdruck bleibt ohnehin nicht die Zeit, das Gegenüber empathisch zu erschließen,<br />

ihm Achtung zu erweisen <strong>oder</strong> moralische Erwägungen anzustellen: Erst kommt das<br />

„Überleben“ und dann die „Moral“.<br />

Entlastung findet dieser Dispens von Empathie durch eine „Spielmoral“ nach bekannter<br />

Schwarz-Weiß-Manier: Hier sind die Guten, dort die Bösen, und gegen die Bösen ist jedes<br />

Mittel recht – auch und gerade die <strong>Gewalt</strong>. Die Bösen haben in der virtuellen Welt<br />

geradezu die Funktion, dem Spieler zu gestatten, sich von empathischen Ansprüchen zu<br />

entlasten und stattdessen „voll drauf halten“ zu dürfen. Dies macht für viele Spieler einen<br />

nicht unbeträchtlichen Reiz am Spiel aus. Die Faszination an ausgeübter virtueller <strong>Gewalt</strong><br />

ist verschränkt mit einem Rückzug an empathischen Fähigkeiten und prosozialen<br />

Einstellungen – zumindest in der virtuellen Welt. Wenn die Wurzeln der Moral in der<br />

Empathie zu suchen sind, dann bleiben Computerspiele, zumal solche mit deutlicher<br />

17


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<strong>Gewalt</strong>orientierung, in ihrem Wesenskern davon unberührt. Computer kennen keine<br />

Empathie. Ihnen gegenüber wird weder Empathie gefordert noch ist sie dort notwendig<br />

und sinnvoll. Die moralischen Bedenken, die gegenüber gewaltorientierten Spielinhalten<br />

ins Spiel gebracht werden, greifen im Grunde zu kurz. Die virtuelle Welt ist eine Welt ohne<br />

Empathie. Und selbst die wenigen Ansätze von empathischen Angeboten und<br />

moralischen Verkleidungen in einigen vereinzelten Computerspielen können nicht darüber<br />

hinwegtäuschen, dass dies alles im Grunde Staffage ist: vordergründige und<br />

austauschbare Elemente in einem Handlungsgeschehen, das nicht der Empathie<br />

verpflichtet ist, sondern dem strategischtaktischen Kalkül, dem Durchschauen<br />

programmierter Geschehensabläufe und dem Entwickeln darauf bezogener<br />

angemessener Handlungsmuster.<br />

Erst außerhalb der virtuellen Welt kann man versuchen, aus der Außenperspektive eines<br />

Betrachters und nicht aus der Innenperspektive des Spielers, das virtuelle Geschehen<br />

nach moralischen Gesichtspunkten einzuschätzen. Dabei sollte klar sein, dass es nicht<br />

um das Spiel „an sich“ gehen kann, sondern um seine moralische Überformung, d.h. um<br />

das Geschick der Spieldesigner, trotz Fehlen von Empathie den Schein einer Moralität im<br />

Spiel mehr <strong>oder</strong> weniger glaubhaft und spielwirksam zu erzeugen.<br />

4 Von der Wirkungsforschung zur Normen- und Wertentscheidung<br />

Wir stehen jetzt vor der schwierigen Frage, ob von (gewaltorientierten) Computerspielen,<br />

die Empathie grundsätzlich aussparen, das ausgehen kann, was wir Gefährdung nennen.<br />

Der Gefährdungsbegriff, so wie wir ihn in der Medienwirkungsforschung gebrauchen, geht<br />

von der Annahme aus, dass etwas in der virtuellen Welt den Spieler so stark beeindruckt,<br />

dass er dadurch etwas in die mentale und reale Welt so transferiert, dass es nicht<br />

folgenlos bleibt. Und um diese Folgen geht es: Gefährden sie den Spieler in seinem<br />

Handeln, Denken und Fühlen? Treten Beeinträchtigungen und Fehlentwicklungen ein, die<br />

sich negativ auf das Umfeld des Spielers auswirken können?<br />

4.1 Ansätze der Medienwirkungsforschung<br />

Die Medienwirkungsforschung kennt auf diese Fragen keine generellen Antworten.<br />

Allenfalls kann sie belegen, dass unter bestimmten Bedingungen bei bestimmten<br />

Personen mit speziellen sozialen Hintergründen unerwünschte Effekte auftreten können.<br />

18


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Mit anderen Worten: Sie beantwortet die Fragen mit einem „Es kommt darauf an.“ Befragt<br />

man die Spieler direkt, und das zeigen alle unsere Untersuchungen, wird eine nachhaltige<br />

Auswirkung der virtuellen auf die reale Welt eindeutig bestritten. Wohl aber, und darin sind<br />

sich viele ältere Spieler einig, könnte dies bei Jüngeren der Fall sein.<br />

Wenn sich die Frage nach der Gefährdung durch Computerspiele unter Rückgriff auf die<br />

möglichen Wirkungen nicht beantworten lässt, so kann man sich zumindest fragen, was<br />

Computerspiele in Hinblick auf den Gefährdungsaspekt nicht bewirken. Und hier wird man<br />

rasch fündig: Sie bewirken keine Empathie. Das Gegenüber im Computerspiel fordert<br />

nicht zum Mitgefühl heraus. <strong>Virtuelle</strong> Gegner kennen keine Gefühle, sie besitzen keine<br />

Empathie. Ihr Handeln folgt ausschließlich programmierten Algorithmen. Computerspieler<br />

müssen sich darauf einstellen, wenn sie gewinnen wollen. Und sie tun es auch, denn ihr<br />

gutes Gefühl, das sie im Spiel und danach haben wollen, hängt davon ab, keine Empathie<br />

zu entwickeln. Sie müssen lernen, dass Gefühle und Empathie in der virtuellen Welt nichts<br />

zu suchen haben. Und je „gewalttätiger“ und „brutaler“ die Spiele sind, umso deutlicher<br />

wird dies.<br />

Erfahrene Computerspieler zeigen sich daher auch irritiert und verwundert, wenn man ihre<br />

Spiele und damit ihre virtuellen Aufenthaltsorte nach Kriterien der Menschlichkeit und<br />

Moralität kritisiert. Sie wollen gewinnen und keine Belege für ihre moralische Integrität<br />

schaffen. Darauf weist auch Leu hin, indem er betont, dass Kindern und Jugendlichen die<br />

Vorstellung, „bestimmte Darstellungsformen als Ausdruck von Leiden bzw. von ‚gut‘ <strong>oder</strong><br />

‚böse‘ in einem moralischen Sinne wahrzunehmen, fremd ist.“ 19 Die vom Computerspiel<br />

ausgehenden Anforderungen, die es zu beherrschen gilt, stehen im Bewusstsein der<br />

Spieler im Mittelpunkt, nicht jedoch die Spielinhalte. Für die Spieler ist eigentlich klar, dass<br />

gewaltorientierte Spiele nicht gut sind. Dies ist für viele jedoch kein Grund, sich diesen<br />

Spielen nicht zuzuwenden. Computerspiel und reale Welt erscheinen auch in ihrer<br />

Moralität als zwei völlig verschiedene Welten.<br />

4.2 Empathie als Kriterium<br />

Unbestritten ist die Notwendigkeit, Werte und Normen zu vermitteln. Eine moralische<br />

Einstellung ohne Mitgefühl für das lebendige Gegenüber ist schlechterdings unmöglich.<br />

19 Leu, Hans Rudolf (1993): Wie Kinder mit Computern umgehen, S. 72f. München: Verlag Deutsches<br />

Jugendinstitut.<br />

19


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Die gängigen, und das heißt vor allem die gewaltorientierten Computerspiele sind gewiss<br />

keine Lernfelder für die Ausbildung von Empathie. Hier erhalten Kinder und Jugendliche<br />

keinen Anreiz, einen durch Empathie gekennzeichneten Umgang mit der <strong>Gewalt</strong> zu<br />

lernen. Das Leiden von Opfern bleibt im Computerspiel ausgespart, weil es keine Opfer<br />

gibt, denen man Mitgefühl entgegenbringen müsste, sondern lediglich computergenerierte<br />

Grafiken, die „abzuarbeiten“ sind. Alles andere ist Illusion: Überformungen, an die sich<br />

gefühlsmächtige Assoziationen der Spieler heften können.<br />

Empathie ist nur in der realen Welt des menschlichen Miteinanders erlernbar (und<br />

verlernbar) und nicht in der virtuellen Welt des Computerspiels. Immer längere Aufenthalte<br />

in der virtuellen Welt können schädigen, weil sich dadurch die Zeit vermindert, in der sich<br />

diese Empathie ausbilden könnte. Sie schädigen auch deshalb, weil sich Muster für<br />

emotionale Befriedigungen herausbilden können, die ohne Empathie auskommen und<br />

daher von der Notwendigkeit ablenken, eine empathische Form der<br />

Zwischenmenschlichkeit auszubilden, die auf <strong>Gewalt</strong> weit gehend verzichten kann und die<br />

durch ihre besondere emotionale Qualität Befriedigung schenkt.<br />

Die virtuelle Welt des Computerspiels „kennt“ zwar keine empathischen Gebote, wohl<br />

aber der Spieler. Eine Spieloberfläche mit ihren Spielfiguren, Spielhandlungen und<br />

Spielinhalten, auf der die Abwesenheit von Empathie grafisch und szenisch deutlich<br />

umgesetzt ist, stößt bei manchen Spielern auf erhebliche Ablehnung. Sie fühlen sich von<br />

dem Spiel abgestoßen, weil es zu gewalttätig und zu brutal daherkommt. Das Problem<br />

besteht im Grunde darin, dass die inhaltliche Einkleidung des Spiels die fehlende<br />

Empathie nicht verhüllt, sondern dieses Fehlen erschreckend deutlich zum Ausdruck<br />

bringt, dies durch ungebrochene <strong>Gewalt</strong>orientierung stimuluswirksam und damit<br />

verkaufsträchtig zuspitzt, um so drastisch vor Augen zu führen, was es heißen kann, in<br />

einer (virtuellen) Welt ohne Moral und Empathie leben zu müssen – und d.h.: kämpfen zu<br />

müssen, um leben zu können.<br />

Viele Designer von Computerspielen gehen geschickte Kompromisse ein, um nicht an<br />

moralischen Vorbehalten (<strong>oder</strong> Indizierungen) zu scheitern. Sie überformen die<br />

Abwesenheit von Empathie mit einer Spieloberfläche, auf der sich der Spieler mit der von<br />

ihm akzeptierten Moral wiederfinden kann: <strong>Gewalt</strong> nur zur Abwehr eines aggressiven<br />

Feindes; keine Vernichtung von Menschen, sondern von Robotern, Bestien und Aliens;<br />

20


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Kampf des Guten gegen das Böse; bei menschlichen Figuren keine aggressiven<br />

<strong>Gewalt</strong>handlungen, sondern „sportlicher“ Wettkampf; Schlachten und Kriege im Stil eines<br />

animierten Schachspiels – auf jeden Fall weit gehende emotionale Distanz und Abstinenz<br />

zur vorfindlichen realen Welt. Die Spieldesigner wissen sehr wohl, dass vom<br />

Computerspiel eine moralische Aussage erwartet wird, schließlich sind die Spieler<br />

Menschen und Menschen orientieren sich in ihrem Handeln an moralischen Vorgaben<br />

und können empathische Reaktionen zeigen, auch wenn nichts da ist, auf das sich diese<br />

Reaktionen beziehen könnten.<br />

Komplexe und gut durchdachte Spiele wie Civilization 2 und 3 und Ascendency tragen<br />

dem Umstand Rechnung, dass sich Menschen auch in der virtuellen Welt moralisch<br />

entscheiden möchten. So bieten diese Spiele die Möglichkeit, zwischen Krieg und<br />

Frieden, Kampfhandlungen und Handelsbeziehungen, Besiedlung und Eroberung,<br />

Vermehrung des Wohlstandes <strong>oder</strong> Kriegsrüstung zu wählen. Aber auch diese<br />

moralischen Entscheidungen stehen unter dem Kalkül der Effektivität: Erst kommt der<br />

Sieg im Spiel und dann die Moral, die dazu passt. Und mit dieser Einstellung verkünden<br />

Spieleprofis in den Spielezeitschriften: Die Gewinn bringende Strategie bei Civilization 1<br />

und 2 ist der Friede. 20 Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften wäre sicher<br />

zufrieden damit, gäbe es nicht einen ganz üblen Pferdefuß: Man kann in einer der beiden<br />

zusätzlichen Missionen auch als Hitler die Welt erobern und sich nach getaner Arbeit mit<br />

grandiosen Attributen von seinem Volk feiern und bejubeln lassen. In der gleichen Mission<br />

ist es aber auch möglich, in die Rolle eines neutralen Staates zu schlüpfen und bereits im<br />

ersten Spielzug seinem eigenen Untergang mit Bomben und Granaten in Amsterdam<br />

entgegenzusehen. Sollte man ein solches Spiel indizieren, weil ein 16-jähriger<br />

möglicherweise Hitler spielen möchte, weil er nur mit dieser Moral die Mission erfolgreich<br />

abschließen kann?<br />

4.3 Computerspiele und Jugendmedienschutz<br />

Wo also liegt das Problem des Jugendmedienschutzes, der Gefährdungseinschätzung<br />

und Indizierung von Computerspielen? Und wie könnte man es lösen? Die<br />

Wirkungsforschung kann zur Legitimierung der staatlichen Eingriffe wenig beitragen: Zu<br />

20 Bei intensiver Auseinandersetzung mit dem Spiel gilt dieser Satz nur mit erheblichen Einschränkungen.<br />

Ist man mit der „Friedensstrategie“ sehr erfolgreich, riskiert man Angriffe seiner aggressiven Gegner,<br />

sodass man schließlich doch zu virtueller <strong>Gewalt</strong> greifen muss.<br />

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inkonsistent und relativierend präsentieren sich ihre Ergebnisse. Jugendliche nutzen die<br />

virtuellen Welten in ihrem Sinne, und sie können sehr wohl zwischen der virtuellen und<br />

der realen Welt unterscheiden. Vielleicht wenden sie sich der virtuellen Welt gerade<br />

deshalb zu, weil sie wissen, wie schmerzhaft die reale Welt in ihrer verdeckten<br />

<strong>Gewalt</strong>orientierung sein kann. Jugendliche haben ihre eigenen Bewertungsmuster für<br />

reale und für virtuelle <strong>Gewalt</strong>, solche, die ihrer Lebenssituation angemessen sind und die<br />

viel deutlicher als die der älteren Erwachsenen zwischen beiden Welten trennen.<br />

Während sie in Hinblick auf die reale Welt den moralischen Normen im Grundsatz nicht<br />

widersprechen, beharren sie darauf, dass sie sich im Computerspiel in einem wertfreien<br />

Raum befinden, der anderen Prinzipien als denen der realen Welt folgt. Insofern sehen<br />

sie diese Welt realistischer als viele Erwachsene. In der Tat: Die virtuelle Welt ist eine<br />

eigene Welt.<br />

Wenn es so ist, und die Entwicklungslinien dieser virtuellen Welten machen es nach<br />

jedem Innovationssprung deutlicher, dann müssen die Menschen, die diese Welten<br />

schaffen, auch die Normen festlegen, die in diesen Welten Gültigkeit haben sollen. In<br />

dieser Festlegung unterliegen die „Spielmacher“ dem demokratischen Grundkonsens<br />

ebenso wie Jugendschützer. Diese urteilen „nach moralischen Kriterien, und das muss so<br />

sein. Wichtig ist allerdings, dass nicht persönliche Grundhaltungen zum Maß der<br />

Beurteilung werden, sondern dass man sich auf die Werte bezieht, die das Grundgesetz<br />

als Konsens vorgibt.“ 21 Empathie als die grundlegende emotionale Fähigkeit für<br />

moralische Entscheidungen kann ein „Grenzpfeiler“ sein für das Maß an <strong>Gewalt</strong>, das<br />

Kindern und Jugendlichen in der virtuellen Welt zugemutet werden darf. Wie könnte das in<br />

Hinblick auf eine Indizierung möglicherweise aussehen?<br />

• Brutale, ungehemmte, menschenverachtende und -vernichtende <strong>Gewalt</strong> als einzig<br />

mögliche Spielhandlung überschreitet eindeutig die Grenze dessen, was Kindern und<br />

Jugendlichen zugemutet werden darf – unabhängig davon, ob eine solche<br />

<strong>Gewalt</strong>darstellung schädigende Wirkungen hat <strong>oder</strong> sozialethisch desorientierend<br />

wirken kann. Dies gilt insbesondere, wenn die <strong>Gewalt</strong>handlungen des Spielers aus der<br />

Perspektive der subjektiven Kamera erfolgen und Waffengebrauch jeglicher Art<br />

einschließen. 22 Eine solche virtuelle Welt stünde in eklatantem Widerspruch zu<br />

empathischen <strong>oder</strong> Empathie zulassenden Einstellungen.<br />

21 Gottberg, Joachim v. (1992): Moral <strong>oder</strong> Wirkung: Wonach urteilen die Jugendschützer, Film & Fakten 18,<br />

S. 19.<br />

22 In dieser Hinsicht sind vor allem die neueren Maze-Shooter problematisch, die ungehemmten<br />

Waffengebrauch in 3D-Labyrinthen als wesentliche Spielhandlung realisieren, so z. B. Duke Nukem 3 D.<br />

22


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• Eine Spieloberfläche, gekennzeichnet von Rassen diskriminierender <strong>oder</strong> Frauen<br />

verachtender Ideologie verschärft die Tendenz der Computerspiele, die Empathie der<br />

Spieler zu vermindern, so erheblich, dass ein unüberbrückbarer Widerspruch zu<br />

wichtigen moralischen Werten unserer Gesellschaft entsteht.<br />

• Schwieriger wird die Entscheidung bei Spielen, die sich dem Thema Krieg zuwenden.<br />

<strong>Virtuelle</strong> Kriege zu führen hat naturgemäß wenig mit Empathie zu tun. Der Blick vom<br />

Feldherrenhügel, auf die strategische Karte <strong>oder</strong> aus dem Cockpit eines<br />

Kampfflugzeugs erfasst nicht das menschliche Leid, das in der realen Welt mit Krieg<br />

verbunden ist. Wird durch die eingegrenzte Perspektive der virtuelle Krieg bereits<br />

verharmlost <strong>oder</strong> verherrlicht? Werden virtuelle Kriege problematischer, je näher sie an<br />

reale Ereignisse der jüngsten Vergangenheit rücken und daher als Simulation einer<br />

historischen Gegebenheit erscheinen können? Um ein Nein zu Kriegsspielen moralisch<br />

zu rechtfertigen, müssen die Kriegshandlungen auf der Spieloberfläche in einer<br />

speziellen Weise ideologisch <strong>oder</strong> emotional befrachtet sein, sodass sich ein nicht zu<br />

übersehender Widerspruch zu empathischen Einstellungen auftut. Beispielsweise<br />

müsste der virtuelle Krieg, der sich durch entsprechende Spielhandlungen auch<br />

realisiert, als ein witziges Unternehmen erscheinen, bei dem man sich prächtig<br />

unterhalten kann. 23<br />

Das Problem ist nicht, dass <strong>Gewalt</strong> in der virtuellen Welt verharmlost <strong>oder</strong> verherrlicht<br />

werden könnte, sondern als das angemessene und notwendige Mittel erscheint, Macht<br />

und Kontrolle über das Spiel zu erlangen. Dabei treten Erscheinungsformen von <strong>Gewalt</strong><br />

auf, die ästhetisch akzeptiert sind und die es nahe legen, sich von empathischen<br />

Gefühlen zu dispensieren. Dies liegt jedoch in der Struktur der Computerspiele begründet,<br />

die allesamt auf Macht, Kontrolle und Herrschaft ausgelegt sind und – in der realen Welt –<br />

ein möglichst breites Publikum zu finden.<br />

Gleichwohl sollten Normen formuliert und durchgesetzt werden, die im Umgang mit<br />

virtuellen Welten deutliche Grenzen markieren. Spieloberflächen, die in eklatantem<br />

Widerspruch stehen zu empathischem Verhalten, setzen Sozialisationsimpulse, die unter<br />

moralischen Gesichtspunkten nicht zu billigen sind. Die Notwendigkeit, deutlicher als<br />

bisher die Normen- und Wertefrage bei virtuellen Welten zu stellen, erwächst auch aus<br />

der ungebremsten Weiterentwicklung dieser Welten und ihrer zunehmenden Nutzung<br />

durch Kinder, Jugendliche und Erwachsene.<br />

4.4 Künftige Herausforderungen<br />

Drei Tendenzen kennzeichnen die gegenwärtige Entwicklung der Computerspiele:<br />

23 Ein solches Spiel ist das von der BPjS indizierte Cannonfodder; vgl. Fehr, Wolfgang & Fritz, Jürgen:<br />

Computerspiele auf dem Prüfstand; Comic im Computerspiel, Nr. 32/94, Bundeszentrale für politische<br />

Bildung, Bonn, 1994.<br />

23


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• Integration virtueller Welten in die medialen Welten von Film und Fernsehen;<br />

• Ausweitung der Interaktion innerhalb virtueller Welten durch zunehmende Vernetzung;<br />

• Erhöhung der Intensität des Spielerlebens durch neue Schnittstellen (Interfaces) wie<br />

Mounted-Displays (Datensichthelme) und Datenhandschuhe. 24<br />

Das Ineinandergreifen dieser drei Entwicklungen verschärft die Problematik von <strong>Gewalt</strong>,<br />

Aggression und Krieg in virtuellen Welten. Durch die Verschränkung virtueller<br />

Spielhandlungen mit medialen Inhalten, die zudem wie bei einem Adventure ineinander<br />

gefügt sind, kann der Spieler, so z. B. beim Spiel Vollgas, auf verschiedenen Ebenen<br />

Beziehungen zum Geschehen herstellen. Er hat zunächst ein filmisches Geschehen vor<br />

sich, auf das er keine Einwirkungsmöglichkeiten hat und das die <strong>Gewalt</strong>thematik nach<br />

dem Muster eines Spielfilms präsentiert. Der Adventure-Teil ermöglicht es dem Spieler,<br />

<strong>Gewalt</strong>handlungen durch Befehle an seine Spielfigur mittelbar auszulösen und deren<br />

Wirkungen an seiner Spielfigur und an der Spielumgebung zu verfolgen. Im Action-Teil<br />

schließlich übernimmt der Spieler die unmittelbare Kontrolle über seine Spielfigur und führt<br />

mit ihr direkt die aggressiven Handlungen aus. Im Erleben des Spielers verschmelzen<br />

diese drei Ebenen zu einem gewaltorientierten Gesamtgeschehen. Die Integration der<br />

Elemente bewirkt, dass der Spieler aggressive Spielhandlungen zeigen muss, um das<br />

filmische Geschehen voranzubringen. Um weiterzukommen muss er beispielsweise den<br />

Wirt recht rüde an seinen Nasenring fassen und mit einem Ruck seinen Kopf auf die<br />

Theke schlagen. Das bei einem Spielfilm an dieser Stelle noch mögliche Mitgefühl, wäre<br />

hier völlig dysfunktional und weicht daher dem guten Gefühl, Erfolg gehabt zu haben, im<br />

Spiel vorangekommen zu sein.<br />

Welche emotionalen und sozialen Wirkungen aggressive Spielhandlungen auf die<br />

miteinander vernetzten Spieler haben können, wird Gegenstand weiterer Forschungen<br />

sein. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungsergebnissen steigert sich in der Regel<br />

die Faszinationskraft des Spiels. Der menschliche Gegner ist allemal reizvoller als der<br />

Computer. Das liegt daran, dass Menschen lernfähig sind und überraschender und<br />

durchdachter handeln können als Computer. Die Emotionen der am Spiel beteiligten<br />

Menschen haben nur einen nachgeordneten Stellenwert. Es gilt, das Spiel zu gewinnen,<br />

und dazu sind Reaktionsschnelligkeit und taktisch-strategisches Geschick vonnöten.<br />

24 Vgl. Fritz, Jürgen (2002): Aktion, Kognition, Narration. Der Versuch einer Systematisierung der<br />

Computerspiele in praktischer Hinsicht; auf dieser CD.<br />

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Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich, wie bei Warcraft 2, die Spieler während<br />

des Spielverlaufs Botschaften über den Computer schicken können.<br />

Die Intensivierung des gefühlsmäßigen Erlebens durch die neuen Interfaces verstärkt die<br />

Orientierung an Regeln der virtuellen Welt und vermindert die empathischen Fähigkeiten.<br />

Alle Gedanken, alle Aufmerksamkeit, alles Handeln ist darauf gerichtet, in der virtuellen<br />

Welt zu bestehen. Ablenkungsmöglichkeiten werden weit gehender als bisher<br />

ausgeschlossen. Auch das gemeinsame Zusammenspiel am Bildschirm, das häufig ein<br />

menschliches Miteinander beim Bewältigen der Probleme sein kann, gehört bei<br />

Benutzung eines Datenhelms der Vergangenheit an.<br />

4.5 Möglichkeiten der politischen Einflussnahme<br />

Die Möglichkeiten des Staates gegenüber dieser Entwicklung sind begrenzt. Der Rekurs<br />

auf Werte und Normen, sofern er sich auf Altersfreigaben und Indizierungen begrenzt, ist<br />

der Versuch, Grenzpfähle gegen das Maßlose zu setzen. Allzu leicht könnte sich die<br />

Problematik der <strong>Gewalt</strong> in der virtuellen Welt auf die Frage verkürzen, wie weit die<br />

Hersteller gehen dürfen, um nicht zu weit gegangen zu sein – in Verfolgung ihres<br />

Wunsches, auf einem heiß umkämpften, milliardenschweren Markt ansehnliche Profite zu<br />

machen. Denn allzu deutlich spiegelt sich in den gewaltorientierten Spielhandlungen die<br />

Aggressivität des Software-Marktes wieder, eines Marktes, auf dem Verkaufsschlachten<br />

sicher nicht mit Empathie gewonnen werden.<br />

Der Rekurs auf Normen und Werte müsste zur Verpflichtung werden, Computerspiele zu<br />

entwickeln, die dem Gebot nach Empathie entsprechen und ihm nicht diametral<br />

entgegenstehen. Der österreichische Weg einer „positiven Prädikatisierung“ der<br />

Computerspiele wäre auch für Deutschland ein gangbarer Weg. Was spräche dagegen,<br />

wenn die Politik Preise für solche virtuelle Welten vergeben würde, in denen Aufenthalte<br />

von Kindern wünschenswert sind? Die technischen Möglichkeiten, Spiele dieser Art<br />

herzustellen sind vorhanden. Es ist durchaus möglich, grafisch ansprechende<br />

Spieloberflächen herzustellen, die die Spieler vor die Aufgabe stellen, nicht nur durch<br />

Denkvermögen, Findigkeit und Einfallsreichtum, sondern auch durch Empathie und<br />

Kooperation Spielziele zu erreichen. Anstatt alle Fähigkeiten einzuspannen, um die<br />

Erlebnisdichte unter jedem Preis, auch dem der ungebrochenen <strong>Gewalt</strong>, zu steigern,<br />

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bietet die fortgeschrittene Computertechnik auch die Möglichkeit, virtuelle Welten zur<br />

Bildung von Toleranz, Verständnis und Verminderung von <strong>Gewalt</strong> zu entwickeln.<br />

Entscheidend aber wird etwas anderes sein: die Einbettung der virtuellen Welt in einen<br />

angemessenen sozialen Kontext. Gemeint damit ist das gemeinsame Spiel, das<br />

Gespräch über die Spielerfahrungen und Spielinteressen, die Erörterungen über den Wert<br />

bestimmter Spiele. Im Kontext der virtuellen Welt, in der Realität unseres alltäglichen<br />

Lebens in Familie und Freundeskreis, müsste Raum für Empathie geschaffen werden:<br />

gegenüber anderen Vorstellungen, unterschiedlichen Meinungen, einander<br />

widerstrebenden Wertvorstellungen. Denn der Rekurs auf Werte und Normen setzt genau<br />

dies voraus.<br />

Etwas Vergleichbares gilt auch im Hinblick auf die Medienpädagogik in Jugendarbeit und<br />

Schule. Die Problematik der <strong>Gewalt</strong> in der virtuellen Welt ist eine Herausforderung, die<br />

Pädagogen mit Einfallsreichtum, Kompetenz und Empathie für die Interessen, Wünsche<br />

und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen annehmen sollten. 1.Seite Index 1<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung<br />

außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des<br />

Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in<br />

elektronischen Systemen.<br />

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