Folge 113 (pdf)
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<strong>Folge</strong> <strong>113</strong><br />
Ich erzähle Ihnen noch einmal von einem Dichter zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der,<br />
verleitet durch Nietzsches Schriften, sich eine elitäre Welt erträumte und der Übermenschen-<br />
Fantasien entwickelte. Er widmete 1895 sein Buch Phantas Schloss dem »Geiste Friedrich<br />
Nietzsches, dem Aufwecker zu den höchsten Kämpfen des Lebens, der mein eigentlicher<br />
Bildner und die leidenschaftliche Liebe langer Jahre blieb.«<br />
Die Flamme<br />
So sterben zu müssen –<br />
Auf einer elenden Kerze!<br />
Tatenlos, ruhmlos<br />
Im Atemhauch<br />
Eines Menschleins<br />
Zu enden! …<br />
Diese Kraft,<br />
Die ihr alle nicht kennt –<br />
Diese grenzenlose Kraft!<br />
Ihr Nichtse!...<br />
Komm doch näher,<br />
Du schlafender Kopf!<br />
Schlummer,<br />
Der du ihn niederwarfst –<br />
Ruf doch dein Brüderlein Tod –<br />
Er soll ihn mir zuschieben –<br />
Den Lockenkopf –<br />
Ich will ihn haben – haben!<br />
Sieh,<br />
Wie ich ihm entgegenhungre!<br />
Ich renke mir alle Glieder<br />
Nach ihm aus ...<br />
Ein wenig noch näher –<br />
Näher –<br />
Ein wenig –<br />
So<br />
Jetzt vielleicht –<br />
Wenns glückt –<br />
Ah! du Hund!<br />
Er will erwachen?<br />
Still –<br />
Still –<br />
So ists noch besser!<br />
Der Pelz am Mantel –<br />
Der Pelz – der Pelz –<br />
Hinüber – hinüber –<br />
Ahhh! fass ich dich – hab ich dich –<br />
Hab ich dich, Brüderchen –<br />
Pelzbrüderchen, hab ich dich – ahhh!<br />
Hilft dir nichts –<br />
Wehr dich nicht mehr!
Mein bist du jetzt –<br />
Hand weg!<br />
Wasser weg!<br />
Mein bist du jetzt!<br />
Wasser weg!<br />
Wart, da drüben ist<br />
Auch noch für mich –<br />
So –<br />
Den Vorhang hinauf –<br />
Fängst mich nicht mehr –<br />
Tuch – Tuch –<br />
Jetzt bin ich Herr!<br />
Siehst du, jetzt breit ich mich<br />
Ganz gemächlich im Zimmer aus –<br />
Lass doch den Wasserkrug!<br />
Lass doch das Hilfgeschrei!<br />
Bis sie kommen<br />
Bin ich schon längst<br />
In den Betten und Schränken –<br />
Und dann könnt ihr nicht mehr herein –<br />
Und ich beiß in die Balken der Decke –<br />
Die dicken, langen, braunen Balken –<br />
Und steig in den Dachstuhl –<br />
Und vom einen Dachstuhl –<br />
Zum anderen Dachstuhl –<br />
Und irgendwo<br />
Werd ich wohl Stroh finden,<br />
Und Öl finden,<br />
Und Pulver finden –<br />
Das wird eine Lust werden!<br />
Das wird ein Fest werden!<br />
Und wenn ich die Häuser alle zernichtet –<br />
Dann wollen wir mit Wäldern<br />
Die Fische in den Flüssen kochen –<br />
Und ich will euch hinauftreiben<br />
Auf die kältesten Berge –<br />
Und da droben<br />
Sollt auch ihr meine Opfer werden,<br />
Sollt ihr meine Todesfackeln werden –<br />
Und dann wird alles still sein –<br />
Und dann –<br />
Dieses Gedicht stammt von Christian Morgenstern, dem Dichter, den wir meist nur als<br />
Schöpfer der skurrilen Galgenlieder oder der Palmström-Gedichte oder denen des Gingganz<br />
kennen. Christian Morgenstern ist 1871 ein paar Tage nach Beendigung des deutschfranzösischen<br />
Krieges in München geboren und ist 1914 ein paar Wochen vor Beginn des 1.<br />
Weltkrieges gestorben, in Meran, mit gerade 41 Jahren. Er ist ein Friedensmensch äußerlich<br />
wie innerlich. Sein Vater und sein Großvater waren Landschaftsmaler, ebenso der Vater der<br />
Mutter. Die Mutter, sie starb als Christian zehn war an einem Lungenleiden, das sie dem Sohn<br />
vererbte. Als er zwanzig war, fing es an, sich bemerkbar zu machen.
Der Vater, der wieder heiratet, schickte den armen verstörten Jungen aufs Internat, wo er noch<br />
zusätzlich unter der Rohheit seiner Mitschüler zu leiden hatte. Dann kam er aufs Gymnasium,<br />
wo er seinen Freund fürs Leben, den später berühmten Max-Reinhardt-Schauspieler Friedrich<br />
Kayssler kennenlernt. Doch der Vater nahm ihn von der Schule, damit er Soldat werden<br />
sollte. Was natürlich scheiterte. Von da an schlug jegliche Ausbildung fehl. Sowohl das<br />
Studium der Nationalökonomie, als auch der Kunstgeschichte oder der Archäologie. Freier<br />
Schriftsteller wurde Christian Morgenstern schon mit 22 Jahren. Mit Übersetzungen verdiente<br />
er sein Geld. Die Lyrik Henrik Ibsens aus dem Norwegischen, das er aus diesem Grunde erst<br />
einmal lernen musste, war der größte Brocken neben seiner eigenen Dichtung, die fast<br />
ausschließlich aus Gedichten besteht. Nahezu jedes Jahr ab 1895 ist ein Gedichtband von ihm<br />
erschienen. Morgensterns Lebensgeschichte besteht nun aus ständigen Reisen und<br />
Kuraufenthalten wegen seines Lungenleidens: Helgoland, Sylt, Salzburg, der Gardasee, Oslo,<br />
Trondheim und Bergen (um die norwegische Sprache zu lernen), Davos, der Vierwaldstätter<br />
See, Arosa, Zürich, Mailand, Rapallo, Portofino, Florenz, Heidelberg, Rom, Berlin, Wyk a.<br />
Föhr. Das sind nicht seine Reisestationen, sondern die Orte, wo er gelebt hat, das heißt,<br />
jeweils umgezogen ist mit Sack und Pack, in den zehn Jahren von 1895 bis 1905. Und da<br />
werde ich noch einige vergessen haben. Wie um dem Tod zuvorzukommen, nimmt er alles in<br />
sich auf. Ist rast- und ruhelos.<br />
Der fremde Bauer<br />
Ein Mann mit einer Sense tritt<br />
Zur Dämmerzeit beim Dorfschmied ein.<br />
Der schlägt sie fester an<br />
Und dengelt sie und schleift sie scharf<br />
Und gibt sie frohen Spruchs zurück<br />
Und frägt sein: wer? woher? wohin?<br />
Und lauscht dem Fremden offnen Munds,<br />
Als der ihm dies und das erzählt.<br />
Und wie die Rede irrt und kreist,<br />
Berührt sie auch das letzte Los,<br />
Das jedem fällt, und – »Unverhofft!<br />
So möcht ich hingehn!« ruft der Schmied –<br />
Und stürzt zusammen wie vom Blitz ...<br />
Die Sense auf der Schulter geht<br />
Der fremde Mann das Dorf hinab.<br />
Morgenstern geht dann 1906 zusätzlich zu Nietzsche noch dem Ideologen Paul de Lagarde<br />
auf den Leim und sah dessen romantisch-nationalistische, pangermanische und antisemitische<br />
Denkweise sogar als nachstrebenswert an, nannte Lagarde ein »Marmorbild, auf dessen<br />
Sockel ewige Gesetze eingegraben sind« und wollte, dass auf seinem Grabstein neben dem<br />
Namen Morgenstern stünde: »Lest Lagarde«. Doch nachdem er 1908 Margareta Gosebruch<br />
von Liechtenstern kennenlernt, die er vier Jahre vor seinem Tod heiratet und die ihn auf<br />
Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, hinweist, ändert sich noch einmal seine<br />
Denkweise. Er schließt sich eng an diesen Steiner-Kreis an, der nach dem 1. Weltkrieg eine<br />
gewisse Bedeutung gewinnt.<br />
Eins und Alles<br />
Meine Liebe ist groß<br />
Wie die weite Welt,
Und nichts ist außer ihr.<br />
Wie die Sonne alles<br />
Erwärmt, erhellt,<br />
So tut sie der Welt von mir!<br />
Da ist kein Gras,<br />
Da ist kein Stein,<br />
Darin meine Liebe nicht wär<br />
Da ist kein Lüftlein<br />
Noch Wässerlein,<br />
Darin sie nicht zög einher!<br />
Da ist kein Tier<br />
Vom Mücklein an<br />
Bis zu uns Menschen empor,<br />
Darin mein Herze<br />
Nicht wohnen kann,<br />
Darin ich es nicht verlor!<br />
Meine Liebe ist weit<br />
Wie die Seele mein,<br />
Alle Dinge ruhen in ihr.<br />
Sie alle, alle<br />
Bin ich allein,<br />
Und nichts ist außer mir!<br />
Wenn Sie dieses Gedicht Eins und Alles mit dem Flammen-Gedicht am Anfang vergleichen,<br />
dann merken Sie: Morgenstern hat sich entwickelt.