Ludwig Meyer (1827-1900): Forscher, Lehrer und ... - sanp.ch
Ludwig Meyer (1827-1900): Forscher, Lehrer und ... - sanp.ch
Ludwig Meyer (1827-1900): Forscher, Lehrer und ... - sanp.ch
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
«… dass die Verhältnisse, unter denen die<br />
Geisteskranken in den Anstalten lebten,<br />
namentli<strong>ch</strong> die Anwendung der körperli<strong>ch</strong>en<br />
Zwangsmittel, sehr wesentli<strong>ch</strong> ihr Verhalten<br />
bestimmen müssen. Vieles, was als Symptom<br />
der Erkrankung gelte, sei Reaktion gegen<br />
die Härte der Pfleger <strong>und</strong> Behandlung. Der<br />
Ents<strong>ch</strong>luss, die Zwangsmittel na<strong>ch</strong> Übernahme<br />
einer selbständigen Stellung zu beseitigen<br />
stand also bei mir fest.»<br />
1858 wurde <strong>Meyer</strong> als Oberarzt an die Irrenstation<br />
des Allgemeinen Krankenhauses<br />
St. Georg in Hamburg berufen. Die Stadt<br />
verlangte die Einstellung eines «tü<strong>ch</strong>tigen<br />
<strong>und</strong> erfahrenen Irrenarztes ... der no<strong>ch</strong> längere<br />
Zeit wirken kann». Er erhielt zuglei<strong>ch</strong><br />
den Auftrag, das reformbedürftige Hamburger<br />
Irrenwesen umzugestalten. Als <strong>Meyer</strong><br />
die Irrenstation im Jahre 1858 übernahm,<br />
befanden si<strong>ch</strong> dort über 500 Geisteskranke,<br />
bei einem Gesamtbestand von etwa 900<br />
Kranken des Allgemeinen Krankenhauses.<br />
Die Zustände müssen sehr s<strong>ch</strong>limm gewesen<br />
sein. Er begann sofort, unterstützt dur<strong>ch</strong> zwei<br />
Assistenten, mit der räumli<strong>ch</strong>en Umgestaltung<br />
der Stationen. Diese Irrenabteilung<br />
war ja überfüllt. Denno<strong>ch</strong> liess er zwei<br />
Männers<strong>ch</strong>lafsäle zu Arbeitsräumen umbauen<br />
<strong>und</strong> eine Mattenfle<strong>ch</strong>terei einri<strong>ch</strong>ten.<br />
Später gab es die Mögli<strong>ch</strong>keit zur Tis<strong>ch</strong>ler-,<br />
Dre<strong>ch</strong>sel-, S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>er- <strong>und</strong> Bu<strong>ch</strong>binderarbeiten.<br />
Ebenso wurde ein Arbeitsraum für<br />
20 weibli<strong>ch</strong>e Kranke eingeri<strong>ch</strong>tet. Die «Tobzellen»<br />
im Keller, die mit 12 bis 16 Kranken<br />
belegt waren, liess er s<strong>ch</strong>liessen, da diese keinen<br />
Zugang zu Li<strong>ch</strong>t <strong>und</strong> Luft hatten! In<br />
den Räumen der ruhigen Kranken wurden<br />
Fenstergitter entfernt, Gartenanlagen ges<strong>ch</strong>affen,<br />
damit die Kranken si<strong>ch</strong> dort betätigen<br />
konnten. Der andere S<strong>ch</strong>werpunkt seiner<br />
Bemühungen lag in der Verbesserung der<br />
Wärtersituation. Er errei<strong>ch</strong>te bei der Verwaltung,<br />
dass jüngere <strong>und</strong> intelligente Wärter<br />
mit besserer Bezahlung <strong>und</strong> Aufstiegsmögli<strong>ch</strong>keiten<br />
eingestellt wurden. Mit dem Rückgang<br />
von Zwangsmassnahmen wurden die<br />
Abteilungen ruhiger. 1861 standen für 560<br />
Kranke nur no<strong>ch</strong> 6 Einzelräume zur Isolierung<br />
zur Verfügung. 1864 liess <strong>Meyer</strong>, «um<br />
alle Versu<strong>ch</strong>ungen aus dem Wege zu s<strong>ch</strong>affen»,<br />
sämtli<strong>ch</strong>e 150 Zwangsjacken versteigern.<br />
– Heirat mit Anna Hübener,Arzt-To<strong>ch</strong>ter<br />
in Hamburg.<br />
Die Irrenanstalt Friedri<strong>ch</strong>sberg<br />
<strong>und</strong> ihre Konzeption 1864–1866<br />
Er errei<strong>ch</strong>te bei der Hamburger Behörde,<br />
dass der jahrzehntelang vers<strong>ch</strong>obene Bau<br />
einer eigenen Irrenanstalt vorangetrieben<br />
wurde. Er legte eine eigene Konzeption<br />
bereits 1860 dem Senat vor. Er legte Wert<br />
darauf, dass die Einweisung aufgr<strong>und</strong> eines<br />
ärztli<strong>ch</strong>en Attestes vor allem für die heilbaren<br />
<strong>und</strong> besserungsfähigen Kranken zu gelten<br />
habe, lehnte jedo<strong>ch</strong> die Trennung von Heilbaren<br />
<strong>und</strong> Unheilbaren ents<strong>ch</strong>ieden ab, da<br />
er deren wohltuenden Einfluss ho<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ätzte:<br />
«… eine grosse Zahl jener fleissigen <strong>und</strong><br />
harmlosen Wesen, die unablässig bestrebt<br />
sind, der sie s<strong>ch</strong>ützenden Anstalt si<strong>ch</strong> dankbar<br />
zu erweisen». Die Bürgers<strong>ch</strong>aft stimmte<br />
dem von <strong>Meyer</strong> <strong>und</strong> dem Ar<strong>ch</strong>itekten Tim-<br />
40<br />
mermann entworfenen Plan s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> zu.<br />
Im Oktober 1864 wurde die neue Anstalt<br />
«Friedri<strong>ch</strong>sberg» eröffnet. Der Umzug von<br />
200 Kranken verlief völlig reibungslos, was<br />
er als Auswirkung der bereits dur<strong>ch</strong>geführten<br />
Reformen ansah.<br />
Die Abteilungen waren na<strong>ch</strong> der Art einer<br />
Familienwohnung eingeri<strong>ch</strong>tet:eigene Wohn<strong>und</strong><br />
S<strong>ch</strong>lafräume, eine Kleiderkammer, Tee<strong>und</strong><br />
Abwas<strong>ch</strong>kü<strong>ch</strong>e. Die Kranken konnten<br />
si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Belieben im Hausgarten bewegen.<br />
Es gab vier Abteilungen: In der ersten waren<br />
alle ruhigen Kranken untergebra<strong>ch</strong>t. Eine<br />
klinis<strong>ch</strong>e Abteilung befand si<strong>ch</strong> direkt im<br />
Hauptgebäude <strong>und</strong> diente als Aufnahmestation.<br />
Eine weitere Abteilung war das sogenannte<br />
«Zellengebäude» für die besonders<br />
störenden Geisteskranken; die innere Einri<strong>ch</strong>tung<br />
entspra<strong>ch</strong> aber der bequemen häusli<strong>ch</strong>en<br />
der anderen Abteilungen. Es gab<br />
dann no<strong>ch</strong> eine «Pensionatsanstalt» für die<br />
wohlhabenden Klassen. Der grösste Teil der<br />
arbeitsfähigen Kranken wurde in den Gärten<br />
der Anstalt bes<strong>ch</strong>äftigt. Handwerker erhielten<br />
Arbeitsmögli<strong>ch</strong>keiten in den Magazinen.<br />
Die Arbeitszeit betrug im Winter se<strong>ch</strong>s, im<br />
Sommer a<strong>ch</strong>t St<strong>und</strong>en. Im ganzen arbeiteten<br />
von den 230 Kranken sogar 190 Kranke! Es<br />
gab einen grossen Festsaal im Mittelbau, eine<br />
Bibliothek mit Lesesaal, ein Musikzimmer<br />
<strong>und</strong> eine Kegelbahn. Mit der Aufgabe der<br />
Zwangsbehandlung, au<strong>ch</strong> unter den räumli<strong>ch</strong><br />
viel ungünstigeren Verhältnissen der Irrenstation<br />
St. Georg, hatte <strong>Meyer</strong> den Beweis<br />
erbra<strong>ch</strong>t, dass die Dur<strong>ch</strong>führung des Norestraint<br />
prinzipiell mögli<strong>ch</strong> sei. Friedri<strong>ch</strong>sberg<br />
war somit die erste deuts<strong>ch</strong>e Anstalt, die<br />
ohne Zwangsmittel auskam.<br />
1861 reiste <strong>Meyer</strong> – wie viele andere<br />
Psy<strong>ch</strong>iater seiner Generation – na<strong>ch</strong> England,<br />
um das dortige Irrenwesen zu studieren. Dort<br />
gab es ja bereits eine 20jährige Tradition<br />
des No-restraint, die Conolly (1794–1866) begründet<br />
hatte. Beeindruckt war <strong>Meyer</strong> dur<strong>ch</strong><br />
die Tatsa<strong>ch</strong>e, dass die Diskussion darüber in<br />
England längst abges<strong>ch</strong>lossen war. 1863 veröffentli<strong>ch</strong>te<br />
<strong>Meyer</strong> den Aufsatz «Das Norestraint<br />
<strong>und</strong> die deuts<strong>ch</strong>e Psy<strong>ch</strong>iatrie». Griesinger<br />
anerkannte erst in der zweiten Auflage<br />
seines Lehrbu<strong>ch</strong>es «Pathologie <strong>und</strong> Therapie<br />
der psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Krankheiten» (1861) das<br />
No-restraint, na<strong>ch</strong> einem eigenen Besu<strong>ch</strong> in<br />
England, als Voraussetzung für eine Reform<br />
der Irrenanstalten in Deuts<strong>ch</strong>land. Dies war<br />
im übrigen die einzige öffentli<strong>ch</strong>e Würdigung<br />
Griesingers gegenüber <strong>Meyer</strong>. Warum hatte<br />
si<strong>ch</strong> das No-restraint in England dur<strong>ch</strong>setzen<br />
können, <strong>und</strong> zwar 20 Jahre vor Deuts<strong>ch</strong>land<br />
<strong>und</strong> Frankrei<strong>ch</strong>? <strong>Meyer</strong>, der die Statistiken<br />
genau verfolgte, betonte, dass es in England<br />
s<strong>ch</strong>on früh staatli<strong>ch</strong>e Kontrollorgane gegeben<br />
hatte. «Der grösste Vorzug dieses Landes,<br />
nämli<strong>ch</strong> seine Fähigkeit zur öffentli<strong>ch</strong>en <strong>und</strong><br />
rücksi<strong>ch</strong>tslos klaren Beri<strong>ch</strong>terstattung aller<br />
das Gemeinwesen betreffenden S<strong>ch</strong>äden»,<br />
die Beri<strong>ch</strong>te der «lunacy commissioners», mit<br />
den folgenden Diskussionen in Presse <strong>und</strong><br />
Parlament bewirkten s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong>, dass die<br />
Reformen dort dur<strong>ch</strong>gesetzt werden konnten.Die<br />
S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e des deuts<strong>ch</strong>en Irrenwesens<br />
verrate si<strong>ch</strong> gerade darin, dass sol<strong>ch</strong>e Missstände<br />
ni<strong>ch</strong>t zugegeben, oft gar ni<strong>ch</strong>t als<br />
sol<strong>ch</strong>e erkannt wurden.Die sogenannte «Auf-<br />
si<strong>ch</strong>t» über Irrenanstalten blieb Geri<strong>ch</strong>tsärzten<br />
überlassen, die si<strong>ch</strong> um die wirkli<strong>ch</strong>en<br />
Zustände ni<strong>ch</strong>t kümmerten. In Deuts<strong>ch</strong>land<br />
ging der Streit um «das absolute oder relative<br />
No-restraint» weiter. Deuts<strong>ch</strong>land hatte die<br />
s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>teste Versorgungsstatistik, dazu mit<br />
der grössten Zahl von Zwangsbehandlungen:<br />
Das Verhältnis von hospitalisierten Kranken<br />
auf die Einwohnerzahl sah wie folgt aus:<br />
In Deuts<strong>ch</strong>land: ein hospitalisierter Kranker<br />
auf 3100 Einwohner! In England: ein hospitalisierter<br />
Kranker auf 620 Einwohner! So<br />
bestätigt si<strong>ch</strong> die von Conolly formulierte<br />
These, dass Zwang die Folge von Verna<strong>ch</strong>lässigung<br />
sei.<br />
Weil an der Jahresversammlung des «Vereins<br />
der deuts<strong>ch</strong>en Irrenärzte» in Kassel 1878<br />
das No-restraint auf die Tagesordnung der<br />
Sitzung gesetzt worden war, verweigerte<br />
<strong>Meyer</strong> eine Wiederwahl zum Vorstand <strong>und</strong><br />
trat aus dem Verein aus. Er forderte für eine<br />
wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> aufgeklärte Psy<strong>ch</strong>iatrie die<br />
Wiedereinführung des ärztli<strong>ch</strong>-hippokratis<strong>ch</strong>en<br />
Prinzips. Die ents<strong>ch</strong>eidende S<strong>ch</strong>lüsselrolle<br />
für die Verzögerung der Reformen<br />
liege im philosophis<strong>ch</strong>en Dogmatismus der<br />
deuts<strong>ch</strong>en Psy<strong>ch</strong>iatrie, die in ihren unbewussten<br />
Ans<strong>ch</strong>auungen mit dem «historis<strong>ch</strong>en<br />
Gefängniserbe» verwurzelt geblieben<br />
sei.<br />
Ordinarius für Psy<strong>ch</strong>iatrie <strong>und</strong> Direktor<br />
der Irrenanstalt Göttingen 1866–<strong>1900</strong><br />
Na<strong>ch</strong> nur zwei Jahren Friedri<strong>ch</strong>sberg wird<br />
<strong>Meyer</strong> als Ordinarius auf den ersten psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />
Lehrstuhl in Göttingen berufen. Er<br />
tritt glei<strong>ch</strong>zeitig die Leitung der Irrenanstalt<br />
an,die 430 Betten aufwies.Versorgungsgebiet<br />
war der südli<strong>ch</strong>e Teil von Hannover.Als erstes<br />
ri<strong>ch</strong>tete er eine Aufnahme- <strong>und</strong> Beoba<strong>ch</strong>tungsstation<br />
ein, wie in Friedri<strong>ch</strong>sberg, die<br />
klinis<strong>ch</strong>e Abteilung. Diese lag im Erdges<strong>ch</strong>oss<br />
des Direktoriumsgebäudes. Sie enthielt für<br />
25 Kranke einige Drei- bis Fünfbettzimmer.<br />
Es gab ein Überwa<strong>ch</strong>ungszimmer, dessen Tür<br />
stets geöffnet war. Die Zellenabteilung liess<br />
er so sanieren, dass dicke Fensters<strong>ch</strong>eiben<br />
zum Lüften eingesetzt wurden, aber ein Entwei<strong>ch</strong>en<br />
unmögli<strong>ch</strong> war. In der «Pensionatsabteilung<br />
für die besseren Stände» gab es<br />
Zimmer für 32 Kranke.Am Mittagstis<strong>ch</strong> nahmen<br />
au<strong>ch</strong> die Assistenzärzte teil. Wegen der<br />
zunehmenden Überfüllung in den hannovers<strong>ch</strong>en<br />
Anstalten Hildesheim, Osnabrück, bekam<br />
<strong>Meyer</strong> die Mögli<strong>ch</strong>keit, 100 Plätze für<br />
männli<strong>ch</strong>e Kranke dur<strong>ch</strong> Neubauten zu<br />
s<strong>ch</strong>affen. Na<strong>ch</strong> dem Vorbild der Anstalt<br />
Friedri<strong>ch</strong>sberg entwarf er das Konzept der<br />
sogenannten Villen, mit Wohnräumen, kleineren<br />
Zimmern, ein grosses erkerartiges<br />
Gartenzimmer. 1884 wurde die erste, 1888<br />
die zweite Villa eröffnet. Er legte grössten<br />
Wert auf die Arbeitsbes<strong>ch</strong>äftigung der Kranken.Da<br />
der grösste Teil der Landbevölkerung<br />
angehörte, wurden die männli<strong>ch</strong>en Kranken<br />
im Acker- <strong>und</strong> Gemüsebau der Anstalt bes<strong>ch</strong>äftigt.<br />
Es gab sieben Hektar Land, mit<br />
Anstaltsgärtner, einen grossen Kuh- <strong>und</strong><br />
S<strong>ch</strong>weinestall, vier Pferde. In der S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>erwerkstatt<br />
wurde das gesamte S<strong>ch</strong>uhwerk<br />
der allgemeinen Patienten angefertigt,<br />
es gab au<strong>ch</strong> eine S<strong>ch</strong>neider- <strong>und</strong> Tis<strong>ch</strong>lerwerkstatt.<br />
Im Näh- <strong>und</strong> S<strong>ch</strong>neiderzimmer<br />
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE www.<strong>sanp</strong>.<strong>ch</strong> 158 n 1/2007