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Ludwig Meyer (1827-1900): Forscher, Lehrer und ... - sanp.ch

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stellten Frauen sämtli<strong>ch</strong>e Kleider her. Es gab<br />

eine grosse Bibliothek mit deuts<strong>ch</strong>er, englis<strong>ch</strong>er<br />

<strong>und</strong> französis<strong>ch</strong>er Literatur; einmal<br />

im Monat fand ein Konzert mit Tanz statt, im<br />

Sommer ein Gartenkonzert.<br />

Allgemeine Gr<strong>und</strong>sätze der Anstaltsbehandlung<br />

«Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge in der Behandlung<br />

der Geisteskranken hängen von den ihnen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden ärztli<strong>ch</strong>en Ans<strong>ch</strong>auungen<br />

ab, über deren Ri<strong>ch</strong>tigkeit allein die<br />

Antwort der Kranken ents<strong>ch</strong>eidet!» Der erste<br />

therapeutis<strong>ch</strong>e Gr<strong>und</strong>satz: Bei Geisteskranken<br />

muss im besonderen Masse auf eine<br />

unbedingte rücksi<strong>ch</strong>tsvolle, höfli<strong>ch</strong>e <strong>und</strong><br />

fre<strong>und</strong>li<strong>ch</strong>e Umgangsform gea<strong>ch</strong>tet werden.<br />

Umgekehrt sei alles zu vermeiden, dass den<br />

Kranken in eine innere Bedrängnis bringt,<br />

aufgr<strong>und</strong> von S<strong>ch</strong>uldzuweisung <strong>und</strong> Strafandrohung,<br />

denn dies verbinde sie aufs innigste<br />

mit den glei<strong>ch</strong>lautenden Inhalten ihrer<br />

krankhaften Vorstellungen in Wahnideen,<br />

Sinnestäus<strong>ch</strong>ungen <strong>und</strong> aggressiven Impulsen.<br />

Geisteskranke brau<strong>ch</strong>en im besonderen<br />

Masse einen psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utz. Sie finden<br />

diesen oft in ihrer s<strong>ch</strong>einbaren geistigen<br />

Abstumpfung. Man solle ihnen den gewüns<strong>ch</strong>ten<br />

Rückzug gewähren. Ihre s<strong>ch</strong>einbare<br />

«Abstumpfung», au<strong>ch</strong> ihre Gutmütigkeit,<br />

helfe ihnen in den unvermeidli<strong>ch</strong>en<br />

Reibereien, so dass ein Eins<strong>ch</strong>reiten des<br />

Pflegepersonals nur in seltenen Fällen notwendig<br />

wurde. Alle Anordnungen müssten<br />

vermieden werden, die an eine Bestrafung<br />

erinnerten. Auf diese Weise sei es während<br />

der 25 Jahre zu keinen s<strong>ch</strong>wereren Konflikten<br />

mit gefährli<strong>ch</strong>en Verletzungen gekommen.<br />

Die Bettruhe wurde besonders bei Erstaufnahmen<br />

verordnet. So erhielten sie den<br />

Eindruck, in einem normalen Krankenhaus<br />

zu sein. Das wesentli<strong>ch</strong>e Phänomen, nämli<strong>ch</strong><br />

das eigenständig Triebhafte des Selbstmordverlangens<br />

als «reiner Selbstzerstörungstrieb»<br />

sei ni<strong>ch</strong>t nur s<strong>ch</strong>wer erklärbar, sondern<br />

au<strong>ch</strong> kaum therapeutis<strong>ch</strong> beeinflussbar. Aus<br />

dem äusseren Verhalten könne ni<strong>ch</strong>t auf<br />

eine Selbstmordabsi<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>lossen werden,<br />

da die Kranken es verstünden, zu dissimulieren.<br />

Er verzi<strong>ch</strong>tete bewusst auf ein eigenes<br />

Überwa<strong>ch</strong>ungszimmer für suizidale Kranke,<br />

was eine zusätzli<strong>ch</strong>e Ängstigung bedeutet<br />

hätte. In 25 Jahren sind nur 13 Suizide vorgekommen<br />

– weniger als ein Viertel der allgemeinen<br />

Selbstmordrate in der Aussenbevölkerung!<br />

Eine Unters<strong>ch</strong>eidung zwis<strong>ch</strong>en<br />

«krankhaft bedingtem Selbstmord» <strong>und</strong> einem<br />

Selbstmord aus «freiem Ents<strong>ch</strong>luss»<br />

hielt <strong>Meyer</strong> für wenig sinnvoll.<br />

Die medikamentöse Behandlung<br />

<strong>Meyer</strong> war von der Nützli<strong>ch</strong>keit einer<br />

medikamentösen Behandlung im Sinne einer<br />

symptomatis<strong>ch</strong>en Beeinflussung des Krankheitsverlaufes<br />

überzeugt. Opium gab es<br />

bei Angst- <strong>und</strong> Erregungszuständen <strong>und</strong> bei<br />

langdauernder Melan<strong>ch</strong>olie. Bromkalium<br />

kam zur Kupierung manis<strong>ch</strong>er Anfälle <strong>und</strong><br />

als Hypnotikum bei S<strong>ch</strong>lafstörungen zur Anwendung.<br />

Über <strong>Meyer</strong>s Einstellung <strong>und</strong> Einsatz<br />

für das Pflegepersonal beri<strong>ch</strong>tet Otto<br />

Binswanger, als ehemaliger Assistenzarzt in<br />

Göttingen während der 70er Jahre, das fol-<br />

41<br />

gende: «Das Pflegepersonal verehrte in <strong>Ludwig</strong><br />

<strong>Meyer</strong> den strengen, aber gere<strong>ch</strong>ten <strong>und</strong><br />

wohlwollenden Direktor, wel<strong>ch</strong>er fortdauernd<br />

bemüht war, die materielle Lage des<br />

Pflegepersonals zu heben. Sein Umgang<br />

ges<strong>ch</strong>ah vorbildli<strong>ch</strong> in einer ruhigen <strong>und</strong><br />

bestimmten Art. Ein einziges Mal habe i<strong>ch</strong><br />

<strong>Meyer</strong> in einem heftigen Zorn erlebt, als ein<br />

Wärter einen Kranken misshandelt hatte.»<br />

Aus der Familie Binswanger wird die folgende<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te beri<strong>ch</strong>tet: Als ein erregter<br />

Kranker auf <strong>Meyer</strong> bei einer Visite mit<br />

gezücktem Messer zustürzte, sagte er ruhig<br />

<strong>und</strong> bestimmt: «Strecken Sie die Zunge heraus.»<br />

Der Kranke gehor<strong>ch</strong>te <strong>und</strong> konnte vom<br />

Personal überwältigt werden.<br />

Die Methode des psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>ts<br />

Die Psy<strong>ch</strong>iatrie war bis 1906 kein Prüfungsfa<strong>ch</strong>.<strong>Meyer</strong><br />

legte aber als Ordinarius grössten<br />

Wert auf einen klinis<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>t. Es<br />

kamen in die – relativ abgelegene – Anstalt<br />

20 bis 30 Medizinstudenten, bei einer Gesamtzahl<br />

von ungefähr 200. Die Vorlesungen<br />

an der Universität ergänzte er,den Wüns<strong>ch</strong>en<br />

der Studierenden entspre<strong>ch</strong>end, dur<strong>ch</strong> eine<br />

fortlaufende Vorlesung mit Falldemonstrationen<br />

in der Heilanstalt. Diese wurde als eine<br />

Art «Kompaktkurs» von vier St<strong>und</strong>en Dauer<br />

einmal wö<strong>ch</strong>entli<strong>ch</strong> angeboten. Na<strong>ch</strong> einer<br />

St<strong>und</strong>e theoretis<strong>ch</strong>er Vorlesung folgte ein<br />

halbstündiger R<strong>und</strong>gang, wobei die wesentli<strong>ch</strong>en<br />

Punkte der Vorlesung an einzelnen<br />

geeigneten Patienten hervorgehoben wurden.<br />

Dur<strong>ch</strong> diese R<strong>und</strong>gänge hatten die Studierenden<br />

Gelegenheit, auf unbefangene<br />

Weise die Kranken zu beoba<strong>ch</strong>ten, mit ihnen<br />

zu spre<strong>ch</strong>en.<br />

Als «psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e Klinik im eigentli<strong>ch</strong>en<br />

Sinne» bezei<strong>ch</strong>nete <strong>Meyer</strong> das si<strong>ch</strong> nun<br />

ans<strong>ch</strong>liessende zweistündige Praktikum. Ein<br />

Kranker wurde einem Studierenden zur<br />

Untersu<strong>ch</strong>ung <strong>und</strong> Exploration übergeben.<br />

Bei der ans<strong>ch</strong>liessenden Bespre<strong>ch</strong>ung sollte<br />

das Krankheitsbild na<strong>ch</strong> seinen vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Kriterien, wie die «Verbindung zum<br />

Normalen», Diagnose, Prognose <strong>und</strong> Therapie,<br />

bes<strong>ch</strong>rieben werden. Der klinis<strong>ch</strong>-psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>e<br />

Unterri<strong>ch</strong>t wurde das wi<strong>ch</strong>tigste Fors<strong>ch</strong>ungsinstrument<br />

<strong>und</strong> nahm eine zentrale<br />

Stellung ein, die bisher dem No-restraint<br />

gegolten hatte. Dieser Unterri<strong>ch</strong>t stellte das<br />

Bindeglied dar, über wel<strong>ch</strong>es die Irrenheilk<strong>und</strong>e<br />

si<strong>ch</strong> zu einer glei<strong>ch</strong>bere<strong>ch</strong>tigten Wissens<strong>ch</strong>aft,<br />

innerhalb der übrigen medizinis<strong>ch</strong>en<br />

Wissens<strong>ch</strong>aften, entwickeln konnte.<br />

Dieses wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Anliegen war der<br />

Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit zwis<strong>ch</strong>en<br />

<strong>Meyer</strong> <strong>und</strong> Griesinger <strong>und</strong> führte 1867<br />

zur Gründung des «Ar<strong>ch</strong>ivs für Psy<strong>ch</strong>iatrie».<br />

Aufnahmebedingungen für Kranke<br />

Bisher war es mögli<strong>ch</strong>, dass die Kranken freiwillig<br />

oder mit einem ärztli<strong>ch</strong>en Zeugnis ohne<br />

S<strong>ch</strong>wierigkeiten eintreten konnten. 1877 erliess<br />

die hannovers<strong>ch</strong>e Regierung ein Reglement,das<br />

die freiwillige Aufnahme überhaupt<br />

auss<strong>ch</strong>loss. Es konnte ein Geisteskranker<br />

gr<strong>und</strong>sätzli<strong>ch</strong> nur dur<strong>ch</strong> behördli<strong>ch</strong>e Vermittlung<br />

eintreten, wel<strong>ch</strong>es die Zustimmung der<br />

nä<strong>ch</strong>sten Verwandten oder Vormünder erforderte.<br />

Der Kranke wurde einvernommen;<br />

dana<strong>ch</strong> wurde der Kreisarzt zugezogen, der<br />

erst dann den Aufnahmeantrag für die zuständige<br />

Anstalt stellen konnte. Dieses bürokratis<strong>ch</strong>e<br />

Aufnahmereglement verursa<strong>ch</strong>te<br />

eine unverantwortbare Verzögerung für dringend<br />

behandlungsbedürftige Fälle, die mehr<br />

als drei Wo<strong>ch</strong>en dauerte.<strong>Meyer</strong> wies in seinen<br />

Anstaltsberi<strong>ch</strong>ten jedes Mal kritis<strong>ch</strong> darauf<br />

hin. Vor allem würden die Gr<strong>und</strong>lagen für<br />

eine freiwillige Behandlung untergraben.<br />

1891 stellte er den Antrag, eine «Aufnahmestation<br />

für Geisteskranke <strong>und</strong> Neurosen»,<br />

direkt im Klinikum der Universität, zu erri<strong>ch</strong>ten,<br />

bere<strong>ch</strong>net für 36 Kranke. Diese Station<br />

sollte si<strong>ch</strong> auss<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> dem psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en<br />

Unterri<strong>ch</strong>t widmen. Weil es in der Anstalt<br />

kein eigenes Auditorium gab, musste der<br />

Unterri<strong>ch</strong>t in Nebenzimmern abgehalten<br />

werden! <strong>Meyer</strong> wehrte si<strong>ch</strong> gegen den Ausdruck<br />

«Provinzial-Irrenanstalt». Er würde<br />

den Ausdruck «Heil- <strong>und</strong> Pflegeanstalt» vorziehen.<br />

Leider hätte si<strong>ch</strong> der Abs<strong>ch</strong>eu des<br />

Publikums gegen alles,was Irrenanstalt heisst,<br />

in den letzten Jahren no<strong>ch</strong> gesteigert.<br />

Allgemeine Lehre <strong>und</strong> Systematik<br />

der Geisteskrankheiten<br />

Aus didaktis<strong>ch</strong>en Gründen unterteilte <strong>Meyer</strong><br />

die Geisteskrankheiten in die Gruppe der<br />

affektiven Geistesstörungen mit Manie <strong>und</strong><br />

Melan<strong>ch</strong>olie, <strong>und</strong> deren Übergängen zu den<br />

Neurosen <strong>und</strong> Hypo<strong>ch</strong>ondrie. Zur «Dementia»<br />

re<strong>ch</strong>nete er – neben dem angeborenen<br />

Idiotismus – au<strong>ch</strong> die im heutigen Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />

geltenden <strong>ch</strong>ronifizierten Psy<strong>ch</strong>osen.<br />

Der me<strong>ch</strong>anis<strong>ch</strong>-zergliedernden Betra<strong>ch</strong>tungsweise<br />

der psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Reflexlehre von<br />

Griesinger setzte er seine Auffassung über<br />

die einheitli<strong>ch</strong>e Wirkungsweise des Nervensystems<br />

entgegen: Das gemeinsame Zusammenspiel<br />

der Gefühls-, Denk- <strong>und</strong> Bewegungssphäre<br />

zum Zwecke einer bestimmten<br />

Handlungssituation, die er am Beispiel der<br />

motoris<strong>ch</strong>en Entwicklung des Kleinkindes<br />

erörterte. Damit stellte er die Bahnung innerhalb<br />

des Nervensystems dur<strong>ch</strong> Lernprozesse<br />

in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Wahnvorstellungen entstehen dur<strong>ch</strong> den<br />

Ausfall oder die Störung der Resistenz des<br />

allgemeinen Nervensystems, das im akuten<br />

Stadium zur Bildung psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>er Symptome<br />

im Sinne der affektiven Geisteskrankheiten<br />

führt. Die «untrennbare Einheit der<br />

Seele» impliziert stets eine Störung sämtli<strong>ch</strong>er<br />

psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>er Funktionen wie Empfinden,<br />

Vorstellen <strong>und</strong> Wollen. Deswegen sei eine<br />

nosologis<strong>ch</strong>e Klassifizierung na<strong>ch</strong> einzelnen<br />

hervorstehenden psy<strong>ch</strong>iatris<strong>ch</strong>en Symptomen<br />

unnötig. Die Heredität hielt er für einen<br />

bestimmenden Faktor.<br />

S<strong>ch</strong>werpunkte seiner wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />

Fors<strong>ch</strong>ungsarbeit<br />

Die progressive Paralyse<br />

<strong>und</strong> ihre Behandlung<br />

1867 trat er mit einer Arbeit «Die Veränderungen<br />

des Gehirns in der allgemeinen progressiven<br />

Paralyse» als erster <strong>Fors<strong>ch</strong>er</strong> hervor.<br />

Dana<strong>ch</strong> war die Dementia paralytica als <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e<br />

Leptomeningitis <strong>und</strong> <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Enzephalitis<br />

von ihm in vielen histopathologis<strong>ch</strong>en<br />

Untersu<strong>ch</strong>ungen na<strong>ch</strong>gewiesen. Eine Therapie<br />

des entzündli<strong>ch</strong>en Charakters der luetis<strong>ch</strong>en<br />

Hirnerkrankung war kaum mögli<strong>ch</strong>.<br />

SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE www.asnp.<strong>ch</strong> 158 n 1/2007

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