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Dr. Wolfgang Wiedemann (Plön, 22.09.2007) Hass in der Seelsorge ...

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1Haß <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong><strong>Dr</strong>. <strong>Wolfgang</strong> <strong>Wiedemann</strong> (Plön, <strong>22.09.2007</strong>)<strong>Hass</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>E<strong>in</strong>leitung: „und ACH alle lieben“Zu me<strong>in</strong>er Ord<strong>in</strong>ation bekam ich von me<strong>in</strong>em Dekan e<strong>in</strong>en gerahmtenHolzschnitt. Auf rotem Untergrund war <strong>in</strong> schwarzen Lettern e<strong>in</strong> Gebet des Hl.August<strong>in</strong> gedruckt, <strong>in</strong> dem alle Tugenden e<strong>in</strong>es <strong>Seelsorge</strong>rs aufgeführt waren:„Kranke besuchen, Aufgebrachte besänftigen, Traurige trösten, Streithähneberuhigen....“ und so weiter, e<strong>in</strong>e unendliche Liste, so unendlich, dass manschon aufgeben will, bevor man überhaupt angefangen hat. Der Clou aber kamam Ende <strong>der</strong> Liste. Sie schließt mit dem Satz, <strong>der</strong> sich mir wortwörtlich <strong>in</strong>sGedächtnis e<strong>in</strong>gebrannt hat: „... und, ach, alle lieben.“Diese drei Buchstaben, dieses „ACH“, hat mit die letzten 30 Jahre als<strong>Seelsorge</strong>r begleitet, und nach 30 Jahren dämmert mir, was diese ACH bedeutenkönnte. Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Gelegenheit geben, die Dämmerungdes „und, ACH, alle lieben“ <strong>in</strong> Worte zu fassen.Um mit <strong>der</strong> Tür <strong>in</strong>s Haus zu fallen: ich vermute, dieses ACH hat etwas zu tunmit <strong>der</strong> Kehrseite <strong>der</strong> Liebe, und das ist <strong>der</strong> Haß. Und ich gehe <strong>der</strong> Frage nach:Was hat <strong>der</strong> Haß, wohlgemerkt: <strong>der</strong> Haß des <strong>Seelsorge</strong>rs, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> zusuchen?Die Antwort ist e<strong>in</strong>fach und klar: Nichts!„Gott ist Liebe, und wer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Liebe bleibet, <strong>der</strong> bleibet <strong>in</strong> Gott und Gott <strong>in</strong>ihm“ (1.Joh 4,16).In <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> geht es um Gott – irgendwie – und damit auch um die Liebe,und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Liebe bleiben, und nicht rausfallen aus <strong>der</strong> Liebe.Ich will ke<strong>in</strong> Jota an diesem Satz verän<strong>der</strong>n.Ich behaupte nur: Die Liebe hat e<strong>in</strong>e Kehrseite, und Gott hat e<strong>in</strong>e Kehrseite, unddie <strong>Seelsorge</strong> hat e<strong>in</strong>e Kehrseite.Kl<strong>in</strong>ische Vignette: Wie riecht Haß?Nun merke ich, wie ich versucht b<strong>in</strong>, <strong>in</strong> die Wolken <strong>der</strong> Philosophie zuentschw<strong>in</strong>den. Denn es ist schwer, bei so e<strong>in</strong>em D<strong>in</strong>g wie Haß zu bleiben. Aberwenn wir nicht dran bleiben, dann verfolgt uns <strong>der</strong> Haß. Deshalb möchte ich unswie<strong>der</strong> „erden“ und auf den Boden real existieren<strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> zurückkommen.


2Me<strong>in</strong> Kollege und ich unterhielten und darüber, was wir machen, wenn wir e<strong>in</strong>eAbfuhr kriegen. Das kommt ja h<strong>in</strong> und wie<strong>der</strong> vor: Man geht als <strong>Seelsorge</strong>r <strong>in</strong>e<strong>in</strong> Krankenzimmer, begrüßt e<strong>in</strong>en Patienten <strong>in</strong> voller Liebe und Freundlichkeit,• und <strong>der</strong> dreht sich um und sagt: „Ich b<strong>in</strong> müde, ich muß schlafen.“• O<strong>der</strong> er dreht sich rum und furzt.• O<strong>der</strong> er sagt e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>s Gesicht: „<strong>Seelsorge</strong>?! Von <strong>der</strong> Kirche möchte ichnichts wissen. Gehens mir vom Leib mit ihrer Kirche. Und außerdem b<strong>in</strong>ich ausgetreten.“• O<strong>der</strong> er sagt, sanft lächelnd: „Herr Pfarrer, danke, ich hab ke<strong>in</strong>eProbleme, denn ich b<strong>in</strong> gläubig. Gehen´s lieber zu denen, die Sie wirklichbrauchen.“Me<strong>in</strong> Kollege und ich kamen übere<strong>in</strong>, dass wir mit solchen Reaktionen unsereSchwierigkeiten haben. „Und was machst du denn dann?“ fragten wir e<strong>in</strong>an<strong>der</strong>,und wir machten e<strong>in</strong>e Entdeckung: Wir machen beide das gleiche. Wir wendenuns dem nächsten Patienten zu und geben ihm alles, was wir an seelsorgerlicherLiebe, Können, E<strong>in</strong>fühlungsvermögen, Freundlichkeit, Zuwendung usw. haben.Und zwar so, dass es <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e auch hört. Deutlich. Laut. Lang. Damit er merktund spürt, was er versäumt hat, weil er uns weggeschickt hat, was ihm angeistlichem Reichtum entgangen ist. Ja, st<strong>in</strong>ken soll es ihm! Wir werden ihmschon zeigen, wer besser furzen kann!Nun s<strong>in</strong>d wir schnell und unversehens zum Haß gekommen, und da wird es ganzschnell pe<strong>in</strong>lich und st<strong>in</strong>kig und schmerzlich.Und so begebe ich mich schnell wie<strong>der</strong> – als Protestant und EvangelischerLutheraner– zurück zum Evangelium, zur Heiligen Schrift, damit ich Trost undOrientierung f<strong>in</strong>de, und so schauen wir mal, wie es mir damit geht, wenn ichmich auf die Suche mache: „Haß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Heiligen Schrift“.„Gott ist Liebe“. Was ist die Rückseite <strong>der</strong> Liebe?Die Rückseite ist <strong>der</strong> Zorn Gottes. Der „liebe Gott“ ist e<strong>in</strong>e eher mo<strong>der</strong>neErf<strong>in</strong>dung. Noch vor 500 Jahren sagte Luther, wir sollten Gott „fürchten undlieben“. Also irgendwie Gott auch mit se<strong>in</strong>er Rückseite (abgewandt,„absconditus“) erleben. In <strong>der</strong> Konkordanz s<strong>in</strong>d über 200 Stellen zum ZornGottes e<strong>in</strong>getragen.Ich beneide manchmal die Menschen vor Christus, die besten Gewissens sobeten konnten: „ Ich hasse, die dich hassen, ich hasse sie mit ganzemHerzen.“(Ps 139, 21f)


3Und dann kommt Jesus und legt uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Zwangsjacke, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir nur nochlieben dürfen: „Liebet eure Fe<strong>in</strong>de, tut wohl denen die euch hassen“(Mt.5,44).Aber wenn wir e<strong>in</strong> wenig weiter blättern, dann entdecken wir auch so etwas,was die Rückseite des guten Hirten se<strong>in</strong> könnte (zur Er<strong>in</strong>nerung: Hirten warenTypen, zu <strong>der</strong>en beruflicher Qualifikation es gehörte, dass sie Bären und Löwenmit e<strong>in</strong>em Stecken erschlagen konnten. Es waren die Vorgänger <strong>der</strong> Cowboys,deshalb waren sie <strong>in</strong> den vornehmen Städten nicht gern gesehen, denn wer e<strong>in</strong>enBären erschlagen kann, mit dem ist nicht gut Kirschen essen; zurück zum gutenHirten Jesus): Welcher Teufel hat ihn da geritten als er sagte:„Me<strong>in</strong>t ihr, dass ich gekommen b<strong>in</strong>, Frieden zu br<strong>in</strong>gen auf Erden; Ich sage:Ne<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n Zweitracht... Es wird <strong>der</strong> Vater gegen den Sohn se<strong>in</strong> und <strong>der</strong> Sohngegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen dieMutter, die Schwiegermutter gegen die Schweigertochter und dieSchwiegertochter gegen die Schwiegermutter.“(Lk 12, 51ff)O<strong>der</strong>:„Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht se<strong>in</strong>en Vater, Mutter, Frau, K<strong>in</strong><strong>der</strong>,Brü<strong>der</strong>, Schwestern und dazu sich selbst, <strong>der</strong> kann nicht me<strong>in</strong> Jünger se<strong>in</strong>.“(Lk14, 26)Was hat er sich gedacht, als er die Händler aus dem Tempel warf? (Mt 21, 12-17parr)Was hat er sich gedacht, als er sagte „zu denen zur L<strong>in</strong>ken: Geht weg von mir,ihr Verfluchten, <strong>in</strong> das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und se<strong>in</strong>enEngeln!“ (Mt 25, 41)... „und sie werden h<strong>in</strong>gehen: diese zur ewigen Strafe, aberdie Gerechten <strong>in</strong> das ewige Leben.“(Mt 25,46)Was ist <strong>in</strong> ihn gefahren, als er e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d an sich drückt und sagt: „Und wer e<strong>in</strong>solches K<strong>in</strong>d aufnimmt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Namen, <strong>der</strong> nimmt mich auf“(Mt 18,5), undim gleichen Atemzug fortfährt: „Wer aber e<strong>in</strong>en dieser Kle<strong>in</strong>en, die an michglauben, zum Abfall verführt, für den wäre es besser, dass e<strong>in</strong> Mühlste<strong>in</strong> anse<strong>in</strong>en Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist.“(Mt18,26)Wir brauchen für diese Bibelstellen hochqualifizierte Theologen, die sie so<strong>in</strong>terpretieren, dass wir beruhigt se<strong>in</strong> können: So war das nicht geme<strong>in</strong>t!Die Heilige Schrift hat für uns ke<strong>in</strong>e Lösung, aber vielleicht e<strong>in</strong>en Trost: auchsie ist mit dem Haß nicht so recht fertig geworden, aber immerh<strong>in</strong> hält sie ihnaus, und nicht alle hässlichen Stellen s<strong>in</strong>d ausradiert worden beim Abschreiben –o<strong>der</strong> wie <strong>in</strong> unseren Agenden.


4Könnte es se<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> Haß <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> zu etwas gut ist? Ich glaube nicht,dass Haß gut ist, aber auch das Böse kann zu etwas gut se<strong>in</strong>. Das wirdsymbolisiert z.B. im Buch Hiob – an dem Bild, dass Gott den Teufel <strong>in</strong> denDienst nimmt, um den Glauben des Hiob e<strong>in</strong>er Qualitätsprüfung zu unterziehen.Haß <strong>in</strong> <strong>der</strong> PsychoanalyseIch wechsle nun me<strong>in</strong>en Blickpunkt, um zu schauen, wie die Psychoanalysedamit umgeht, dass auch Psychoanalytiker merken, dass sie ihren Patientengegenüber unbehagliche Gefühle spüren. „Unbehaglich“ ist e<strong>in</strong> Schutzwort <strong>in</strong><strong>der</strong> Psychoanalyse und umfasst alles von mil<strong>der</strong> Langeweile bis zu Impuls, demPatienten die Türe zu weisen. Freud selber war da noch etwas lockerer. Erwurde e<strong>in</strong>mal gefragt, wie es ihm mit se<strong>in</strong>en Patienten denn gehe, und erantwortete: „Ich könnte sie alle umbr<strong>in</strong>gen.“Im Jahr 1947 veröffentlichte <strong>der</strong> englische K<strong>in</strong><strong>der</strong>arzt und PsychoanalytikerDonald W<strong>in</strong>nicott e<strong>in</strong>en Aufsatz, <strong>der</strong> bis zum heutigen Tag hochaktuell ist. Erhat den Titel: „Haß <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenübertragung“.Er sagt dar<strong>in</strong>:Ab und zu kommt es vor, dass Analytiker ihre Patienten hassen.Das war nichts neues. Aber es verstößt gegen die Regel <strong>der</strong> „Neutralität“.Die erste Antwort <strong>der</strong> Psychoanalyse war: Das gehört sich nicht. Vielleicht hates etwas zu tun, dass <strong>der</strong> Analytiker <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Patienten unbewusst e<strong>in</strong>enMenschen erlebt, den er nicht leiden kann (Vater, Mutter, Ehefrau, ungeratenesK<strong>in</strong>d, den beliebteren Bru<strong>der</strong>, die kle<strong>in</strong>e verzogene Schwester usw.). Das mußihm klar werden – <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Analyse – und dann kann er ganz neutralse<strong>in</strong>.Und so ließen sich Tausende von Psychoanalytikern Hun<strong>der</strong>ttausende vonStunden analysieren und stellten am Ende fest: Das mit dem Neutral se<strong>in</strong> klapptimmer noch nicht, denn wenn man e<strong>in</strong>en Menschen lange genug kennt, kommtimmer irgendwann <strong>der</strong> Punkt, wo man ihn nicht mehr ertragen kann. Wiekommt man damit zu recht?Es wurde e<strong>in</strong>e wun<strong>der</strong>bare Theorie erfunden, die viel Richtiges und Wahres ansich hat. Sie sagt:Wenn Menschen unerträgliche und unerträglich schmerzliche Gefühle(Wut/Trauer/Freude) haben, die sie nicht mehr <strong>in</strong> sich erleben können ( sieglauben sie „platzen“ o<strong>der</strong> werden verrückt), Zustände, die unaussprechlichs<strong>in</strong>d, dann suchen sie jemanden, <strong>in</strong> den sie diese unverdaulichen Gefühlsbrockenh<strong>in</strong>e<strong>in</strong>tun können, damit <strong>der</strong> sie hält und verdaut. Sie gaben diesem Vorgang <strong>der</strong>


5Gefühlstransplantation e<strong>in</strong>en respektablen Namen: „Projektive Identifikation“.Auf deutsch: <strong>der</strong> Patient macht mich wütend, dann braucht er es selbst nichtse<strong>in</strong>. Er br<strong>in</strong>gt mich dazu, dass ich ihn hasse, dann ist er se<strong>in</strong>en Selbsthaß los.Also ist <strong>der</strong> Analytiker wie<strong>der</strong> aus dem Schnei<strong>der</strong>: Nicht er haßt, son<strong>der</strong>n erspürt den Haß des Patienten <strong>in</strong> sich.W<strong>in</strong>nicott geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Aufsatz unbeirrt weiter und sagt: Da gibt es noche<strong>in</strong>en Haß, <strong>der</strong> nichts zu tun hat mit <strong>der</strong> Übertragung des Analytikers o<strong>der</strong> <strong>der</strong>Projektiven Identifikation des Patienten. Er nennt ihn „objektiven Haß“,gerechtfertigten Haß. Der Analytiker hat guten Grund, se<strong>in</strong>en Patienten zuhassen. Der <strong>Seelsorge</strong>r hat genauso guten Grund, se<strong>in</strong> Schäfle<strong>in</strong> zu hassen.Um das e<strong>in</strong>leuchtend zu machen, sagt W<strong>in</strong>nicott: Mit unseren Patienten ist eswie zwischen uns und unseren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Und dann zählt er – als erfahrenerK<strong>in</strong><strong>der</strong>arzt – auf, welche guten Gründe es für e<strong>in</strong>e Mutter gibt, ihren Säugl<strong>in</strong>gobjektiv zu hassen.Hier ist se<strong>in</strong>e Haß-Liste:„Gründe, warum e<strong>in</strong>e Mutter ihren Säugl<strong>in</strong>g haßt“• „Das Baby ist nicht ihre eigene (geistige) Schöpfung (conception).• Das K<strong>in</strong>d ist nicht e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, wie sie es aus K<strong>in</strong><strong>der</strong>spielen kennt, VatersK<strong>in</strong>d, des Bru<strong>der</strong>s K<strong>in</strong>d etc.• Das Baby entstand nicht durch Zauberei.• Das K<strong>in</strong>d ist e<strong>in</strong>e Gefahr für Leib und Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schwangerschaft undbei <strong>der</strong> Geburt.• Das K<strong>in</strong>d ist e<strong>in</strong>e Störung ihres Privatlebens und stört sie, wenn sie sichausschließlich auf das konzentrieren will, was sie <strong>in</strong>teressiert.• Mehr o<strong>der</strong> weniger empf<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Mutter immer, dass ihre eigene Muttere<strong>in</strong> Baby for<strong>der</strong>t, so dass sie ihr K<strong>in</strong>d nur gekriegt hat, um ihre Mutterzufrieden zu stellen.• Der Säugl<strong>in</strong>g tut ihrer Brust weh beim Stillen, weil er die Brust kaut.• Er ist rücksichtslos, behandelt sie als Abschaum, als unbezahltenDienstboten, als Sklav<strong>in</strong>.• Sie muß ihn lieben, <strong>in</strong>klusive Exkremente und allem, jedenfalls anfangs,bis er Zweifel an sich selbst entwickelt.• Er versucht sie zu verletzten, h<strong>in</strong> und wie<strong>der</strong> beißt er, alles <strong>in</strong> Liebe.• Er zeigt, wie enttäuscht er von ihr ist.• Se<strong>in</strong>e aufgeregte Liebe ist egoistisch (cupboard love), denn sobald er vonihr (<strong>der</strong> Mutter) hat, was er will, wirft er sie weg wie e<strong>in</strong>e Orangenschale.


6• Das K<strong>in</strong>d muß zuerst herrschen (dom<strong>in</strong>ate), es muß vor Unfällen bewahrtwerden, die Mutter muß ihren Lebensrhythmus dem K<strong>in</strong>d anpassen, unddas erfor<strong>der</strong>t, dass sie ständig genau auf das K<strong>in</strong>d achtet. Zum Beispieldarf sie ke<strong>in</strong>e Angst haben, wenn sie es hält. Etc.• Anfangs weiß <strong>der</strong> Säugl<strong>in</strong>g überhaupt nicht, was die Mutter tut o<strong>der</strong> wassie für ihn opfert. Beson<strong>der</strong>s ihren Haß kann er nicht ertragen.• Er ist misstrauisch, spuckt aus, was wie ihm gibt und stürzt sie <strong>in</strong>Selbstzweifel, aber isst mit Appetit, wenn er bei <strong>der</strong> Tante ist.• Nach e<strong>in</strong>em furchtbaren Vormittag mit ihm fährt sie ihn aus, und erlächelt e<strong>in</strong>en Fremden an, <strong>der</strong> sagt: „Ist er nicht süß?!“• Wenn sie am Anfang e<strong>in</strong>en Fehler macht, weiß sie, dass er ihn ihr für denRest ihres Lebens heimzahlen wird.• Er erregt sie und frustriert sie – aber sie darf ihn nicht fressen noch Sexmit ihm haben.“Zwei Fragen bleiben:Wozu ist <strong>der</strong> Haß gut?Was mache ich mit me<strong>in</strong>em Haß?Wozu ist <strong>der</strong> Haß gut?W<strong>in</strong>nicott me<strong>in</strong>t: Das K<strong>in</strong>d glaube nur, dass es wirklich geliebt wird, wenn esweiß, dass es auch gehasst wird.E<strong>in</strong>e Patienten sagt zu mir am Ende e<strong>in</strong>er mehrjährigen Analyse: „Als ichgemerkt habe, dass sie sich über mich wirklich ärgern, habe ich angefangen,Ihnen zu glauben.“Patienten sorgen für diesen eigenartigen Liebesbeweis: sie tun alles, um zusehen, ob wir uns über sie wirklich ärgern können. Und erst, wenn sie wissen,dass wir um ihretwillen unseren guten Ruf, unsere tolles Selbstbild, unsere<strong>in</strong>nere Zivilisiertheit über den Haufen werfen, dass wir um ihretwillen ausrastenund uns zu kaum mehr beherrschbaren Idioten machen – dann fängt die Arbeitan, dann wissen sie, dass wir sie wirklich lieben, und nicht nur nett zu ihnens<strong>in</strong>d.Vielleicht können wir das auch ohne Psychoanalyse nachempf<strong>in</strong>den: Wenschätzen wir mehr: Jemand, <strong>der</strong> immer nur freundlich ist, uns immer nur mitLob und Komplimenten bedient – o<strong>der</strong> jemand, <strong>der</strong> aus mal ausrastet wenn wirihm auf die Nerven gehen?


7Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, son<strong>der</strong>n Gleichgültigkeit. Liebe ist, wennich sage: „Wenn du das tust, br<strong>in</strong>g ich dich um“. Das Gegenteil ist: „Mach wasdu willst, es ist mir wuscht!“Der „Zorn Gottes“ ist e<strong>in</strong> Symbol dafür, dass wir Gott nicht gleichgültig s<strong>in</strong>d,d.h. dass er uns wirklich liebt. Deshalb: „gebt Raum dem Zorn Gottes“ (Rö12,19). Die Dynamik von Zorn und Liebe beschreibt Jesaia <strong>in</strong> jenemergreifenden Gotteswort:„Ich habe dich e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Augenblick verlassen, aber mit großerBarmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe me<strong>in</strong> Angesicht im Augenblickdes Zorns e<strong>in</strong> wenig von dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich michde<strong>in</strong>er erbarmen, spricht <strong>der</strong> Herr, de<strong>in</strong> Erlöser.“(Jes 54, 7f.)Was mache ich mit me<strong>in</strong>em Haß?W<strong>in</strong>nicotts Antwort ist: NICHTS.Er wurde e<strong>in</strong>mal gefragt, was man tun solle, wenn e<strong>in</strong> Patient tobt, schreit, umsich schlägt und droht, aus dem Fenster zu spr<strong>in</strong>gen. Er soll gesagt haben:„Keep breath<strong>in</strong>g“. („Hör nicht auf zu atmen“).Haß: E<strong>in</strong>fach aushalten. Empf<strong>in</strong>den und Aushalten. Das ist e<strong>in</strong>e Kunst.Sie gel<strong>in</strong>gt nur selten. Am Beispiel <strong>der</strong> beiden <strong>Seelsorge</strong>r oben – diezurückgewiesen werden, und dann zum an<strong>der</strong>en Patienten extrem freundlichs<strong>in</strong>d – zeigt sich e<strong>in</strong>e elegante Weise, sich zu rächen - die auch schon von Paulusim Römerbrief ähnlich empfohlen wird: „Wenn de<strong>in</strong>en Fe<strong>in</strong>d hungert, gib ihmzu essen; dürstet ihn, gib ihm zu tr<strong>in</strong>ken. Wenn du das tust, so wirst du feurigeKohlen auf se<strong>in</strong> Haupt sammeln“ (Rö 12,20/ Spr 25, 21.22).Haß wird oft nicht empfunden, son<strong>der</strong>n abgewehrt, e<strong>in</strong>e Abwehrvariante ist dieVerkehrung <strong>in</strong>s Gegenteil, und das Ergebnis ist dann, was populär und treffendmit „scheißfreundlich“ bezeichnet wird.Haß auszuhalten zu fühlen ohne etwas zu tun ist fast nicht möglich. E<strong>in</strong>eErleichterung lässt W<strong>in</strong>nicott zu. Er me<strong>in</strong>t, e<strong>in</strong>e „erlaubter“ Ausdruck von Haß<strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychoanalyse ist das Ende <strong>der</strong> Stunde.Nach 50 M<strong>in</strong>uten heißt es immer: „Die Zeit ist zu Ende“. Der Patient magsagen: „Ich muß ihnen endlich e<strong>in</strong>es gestehen: Ich liebe Sie!“, o<strong>der</strong> er sagt: „Ichkann nicht mehr, ich br<strong>in</strong>ge mich um“, o<strong>der</strong> er sagt gar nichts, o<strong>der</strong> hört nichtauf zu reden: Nach 50 M<strong>in</strong>uten ist die Stunde um. Der Analytiker wird zumHenker mit <strong>der</strong> 50 M<strong>in</strong>uten Guillot<strong>in</strong>e.


8Nur so ist es möglich, die <strong>der</strong> Analytiker den Patienten über lange Zeit liebenkann, und zwar gerade <strong>in</strong> den Seiten, die am allerliebensunwertesten s<strong>in</strong>d. Mankann Nervensägen nicht länger als 50 M<strong>in</strong>uten lieben.Vielleicht ist das auch das Geheimnis des Großeltern-Enkel –Phänomens. Meistverstehen sich Opa und Oma mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n viel besser als Mutter und Vater.Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>: die Großeltern können die K<strong>in</strong><strong>der</strong> wie<strong>der</strong> abgeben. Ke<strong>in</strong>e Mutterkann das! Wie kann e<strong>in</strong>e Mutter ihren Haß ausdrücken: Es gibt ke<strong>in</strong> Stunden-Ende – und deshalb ist es e<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>, dass noch so viele K<strong>in</strong><strong>der</strong> am Leben s<strong>in</strong>d.Ganz praktisch:• Die Zeit begrenzen.• Die Erwartungen begrenzen – am ersten bei sich selbst: Was kann <strong>der</strong>Beseelsorgte haben und was nicht? Kann er me<strong>in</strong>e Zeit haben? Alle Zeit(„sie können mich je<strong>der</strong>zeit anrufen“)? Stunden, Jahre? Kann er me<strong>in</strong>eLiebe haben – platonische, diakonische, erotische? Kann er me<strong>in</strong>eGeheimnisse haben?(Woh<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> Urlaub fahre, wie me<strong>in</strong>e Ehe ist, wasme<strong>in</strong>e Phantasien s<strong>in</strong>d?)...usw• Inneren Raum für den „Haß“ lassen. Wenn ich zu e<strong>in</strong>em Pat. gehe, stelleich mir vor, wie viel <strong>in</strong>neren Raum ich für ihn habe – weil me<strong>in</strong> <strong>in</strong>nererRaum beherbergt: eigene Gedanken, Lust auf Feierabend, Hunger, <strong>der</strong>Streit mit Frau/K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, me<strong>in</strong> Bedürfnis zum Joggen zu gehen; dieFragen: Was soll ich zum Mittagessen machen? Und me<strong>in</strong> Gott, dieSteuererklärung ist auch fällig! – Ich stelle oft die Frage: Wieviel Raum <strong>in</strong>mir (auch Zeit-Raum) kann ich dem Pat. zur Verfügung stellen? 100 %,.....0%? Wenn wir mit 0% Raum zum Pat. gehen, merken wir das meistendaran, dass er anfängt, uns zu beseelsorgen.• Für sich sorgen.Vgl. z.B. Flugzeug: Bei Gefahr muß die Mutter zuerst Sauerstoff haben! –Vgl. z.B. K<strong>in</strong><strong>der</strong>kl<strong>in</strong>ik: Wenns den Eltern gut geht, geht’s den K<strong>in</strong><strong>der</strong>ngut.Gute Egoisten s<strong>in</strong>d gute <strong>Seelsorge</strong>r.• Gehen Sie nach e<strong>in</strong>er Woche <strong>Seelsorge</strong> mit Nervensägen <strong>in</strong> denGottesdienst, am besten zu e<strong>in</strong>em alten Pfarrer, <strong>der</strong> sich traut, die D<strong>in</strong>gebeim Namen zu nennen, und <strong>der</strong> Sie begrüßt mit den Worten: „wirbekennen wir unsere Unwürdigkeit, Sünde und Schuld, und sprechen„Gott sei mir Sün<strong>der</strong> gnädig“. Und dann erleben Sie sich als Sün<strong>der</strong>, alsBöse, als Stück <strong>Dr</strong>eck – Diakonie heißt übersetzt: Durch den <strong>Dr</strong>eck gehen– als e<strong>in</strong>en, <strong>der</strong> durch den eigenen <strong>Dr</strong>eck geht, und dann hören darf: „Gotterbarmet sich unser.“ Das ist nicht Masochismus, son<strong>der</strong>n die Begegnungmit <strong>der</strong> eigenen <strong>in</strong>neren Realität. Diakonie ist nicht, dem an<strong>der</strong>n wasNettes tun und sich gut dabei fühlen, son<strong>der</strong>n den Mut aufbr<strong>in</strong>gen, böse zuse<strong>in</strong>. (Luther sagte kurz und bündig: „pecca fortiter!“ – Sündige tapfer!).


9Gottesdienst h<strong>in</strong> o<strong>der</strong> her – aber etwas ähnliches wie im gottesdienstlichenConfiteor muß <strong>in</strong> uns als <strong>Seelsorge</strong>r vorgehen, wenn wir unseren Haß <strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong> spüren und nützen wollen: sich trauen böse zu se<strong>in</strong> – <strong>in</strong> <strong>der</strong>Angst vor Verdammnis und <strong>in</strong> Hoffnung auf Vergebung, wie es <strong>in</strong> <strong>der</strong>Beichtagende so treffend steht: „Richte mich, aber verwirf mich nicht“.Ach du lieber August<strong>in</strong>....Zurück zu August<strong>in</strong>: er war e<strong>in</strong> berühmter <strong>Seelsorge</strong>r. Vielleicht auch deshalb,weil er e<strong>in</strong> berüchtigter Egoist war: In <strong>der</strong> ersten Hälfte se<strong>in</strong>es Lebens war ere<strong>in</strong> Playboy und Lebemann, „ke<strong>in</strong> Kostverächter“, er langte kräftig zu. Deshalbkonnte er geben.Er war auch e<strong>in</strong> Genie. Um das Geheimnis von Liebe und Haß <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Seelsorge</strong>zu fassen, brauchte er 3 Buchstaben „Ach“, ( „... und „Ach“, alle lieben“).Donald W<strong>in</strong>nicott brauchte für dieses „Ach“ 10 Seiten. Und ich habe Sie 50M<strong>in</strong>uten damit strapaziert. Und vielleicht empf<strong>in</strong>den Sie die Tatsache, dass ichnun sage, „die Zeit ist um“ ke<strong>in</strong>eswegs als Ausdruck von Haß, son<strong>der</strong>n vonBarmherzigkeit.Die Zeit ist um. Vielen Dank.

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