Die Berliner RepublikLeere Worthülse o<strong>der</strong> Ausdruck einer Zäsur?Die Berliner RepublikDie Frage nach Zäsuren scheintein Kontinuum zu sein, das geradein <strong>der</strong> Bundesrepublik intellektuelleDebatten und wissenschaftlicheKontroversenförmlich anzieht. So verleitetedie hohe Arbeitslosigkeit dieFeuilletons in <strong>der</strong> ersten Hälftedes Jahres 2005 dazu, historischschiefe Vergleiche mit<strong>der</strong> Situation von 1932 in <strong>der</strong>Weimarer Republik anzustellen.Zugespitzt formuliert: Hatdie Bundesrepublik die Abkehrvon einer „Schönwetterdemokratie“endgültig vollzogen, und muss nun ineiner „Berliner Republik“ die entbehrungsreicheÄra <strong>der</strong> Bewältigung komplexer Zumutungen anbrechen?Nach den politischen Turbulenzen imZuge <strong>der</strong> vorgezogenen Bundestagswahl 2005kommentieren professionelle Beobachter, dieBundesrepublik stehe „vor dem Ende <strong>der</strong> ErstenRepublik, und am Beginn <strong>der</strong> Zweiten Republik“.Eine geradezu entgegengesetzte Schubkrafthatte die Diskussion um die „Berliner Republik“mit dem Regierungswechsel von 1998 und demlange vorbereiteten Ortswechsel 1999, wurdesie doch mit dem „rot-grünen Regierungswechsel“assoziiert und von Gerhard Schrö<strong>der</strong> bereitwilligmit Aufbruch im positiven Sinne gleichgesetzt.Diese Kurzatmigkeiten führen auf diezentrale Frage hin, ob es wirklich sinnvoll ist,nach einer „Weimarer“ und einer „Bonner“ Republiknun von einer neuen „Berliner“ Republikzu sprechen: „Die Berliner Republik – gibt es sieüberhaupt? Wird es sie geben?“ Bereits als sich<strong>der</strong> Deutsche Bundestag am 20. Juni 1991 ineiner knappen Entscheidung für Berlin als Sitz<strong>der</strong> Regierung und des Bundestages ausgesprochenhatte, war in <strong>der</strong> Folge von <strong>der</strong> „BerlinerRepublik“ die Rede. Stimmt die Annahme, die„Berliner Republik“ sei mit <strong>der</strong> „Bonner Republik“lediglich staatsrechtlich identisch, gesellschaftlich,politisch und kulturell jedoch nicht?Der vieldeutige Begriff <strong>der</strong> „Berliner Republik“ist Ausdruck einer nachhaltigen Verän<strong>der</strong>ung.Um diese auszudrücken, muss man freilich nichtvon <strong>der</strong> „Berliner Republik“ reden, wo diese dochimmer einen markanten Schnitt, eine Abkehrvon <strong>der</strong> „Bonner Republik“ impliziert. Ein Bruch,eine „an<strong>der</strong>e Republik“ ist we<strong>der</strong> wünschenswertnoch erwünscht. Der Terminus „Berliner Republik“wirkt auch deshalb nicht frei von Irritationen,weil er den Fokus <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungen zu starkauf die Einheit Deutschlands richtet. ZukünftigeHerausfor<strong>der</strong>ungen wie <strong>der</strong> weitere EuropäischeEinigungsprozess haben perspektivisch breitereBezugspunkte. Innerdeutsche Problemlagen,Der Reichstag in Berlindie in starkem Umfang vorhanden sind und sichseit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung eher vergrößert haben,werden vom internationalen Wettbewerbförmlich überlagert. Das neue außenpolitischeVerständnis hin zu mehr Verantwortung hängtunmittelbar mit den verän<strong>der</strong>ten Rahmenbedingungeninternationaler Politik zusammen.Die in <strong>der</strong> politischen Klasse gerne geseheneVerwendung <strong>der</strong> „Berliner Republik“ bildet einenübergeordneten geschichtlichen Zusammenhangab, <strong>der</strong> einen zeitlichen Ablauf – „WeimarerRepublik“, mit Unterbrechung zur „BonnerRepublik“ bis hin zur „Berliner“ Republik – suggeriert.Eine starke Hervorhebung <strong>der</strong> „BerlinerRepublik“ stellt sie per se in eine lineare Reihemit <strong>der</strong> „Weimar“ und „Bonner“ Republik. Alte,längst vergessene Ängste im Sinne <strong>der</strong> Frage„Ist Bonn doch Weimar?“ würden geweckt.Eine Abkehr hat negative Konnotationen – ein„Weniger“ an innerer Beständigkeit und äußererVerlässlichkeit. Dazu passt das nach <strong>der</strong> Bundestagswahl2005 vereinzelt, wiewohl argwöhnischdiskutierte Szenario „Wird Berlin nun Weimar?“Ein Vergleich zwischen <strong>der</strong> „Bonner“ und „Berliner“Republik sollte keinesfalls überstrapaziertwerden. Der „Übergang“ ist eher als technischerAkt anzusehen, <strong>der</strong>, an an<strong>der</strong>e Akte gekoppelt,in einem Gesamtzusammenhang steht. VieleWandlungsprozesse, die seit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigungöffentlich beobachtet werden, haben inWirklichkeit schon vorher begonnen. Man denkenur an den ökonomischen Mo<strong>der</strong>nisierungsdrucko<strong>der</strong> Deutschlands europäische, transatlantischeund globale Beziehungen. Durch dieWie<strong>der</strong>vereinigung ist die europäische Integrationkeineswegs ins Stocken geraten, son<strong>der</strong>ngeradezu in Bewegung, wie ein Blick aufdie Osterweiterung <strong>der</strong> Europäischen Unioneindrucksvoll bestätigt. Das wie<strong>der</strong>vereinigteDeutschland ist das Deutschland <strong>der</strong> Bundesrepublik,keine wesentlich an<strong>der</strong>e Republik.Seite 8 - Ausgabe III / 2006
Die alten, lange ignorierten Themen einer entwickeltenIndustriegesellschaft, wie die Frage nachden Grenzen des Sozialstaats, die Folgen des Geburtenrückgangsund die Rententhematik stellensich von Neuem, in schärferer Form. Die Geduldmit langwierigen Entscheidungsprozessen in <strong>der</strong>schwer durchschaubaren Verhandlungsdemokratienimmt ab – gerade bei massiven Problemenwie <strong>der</strong> hohen Arbeitslosigkeit, <strong>der</strong> horrendenStaatsverschuldung und dem notwendigen Umbau<strong>der</strong> Sozialsysteme. Die zentrale Frage <strong>der</strong>Gegenwart dreht sich um die wohlfahrtsstaatlicheÜbersteuerung und lautet: „mehr o<strong>der</strong> wenigerStaat?“ Hinter <strong>der</strong> ökonomischen Krise, die einenfundamentalen Einschnitt des Wohlfahrtsstaatesheraufbeschwört, kristallisiert sich eine partielleLegitimationskrise des deutschen politischenSystems heraus. Die Debatte um die Krise <strong>der</strong>Parteiendemokratie hatte durch die Jahrzehntehinweg immer wie<strong>der</strong> Konjunktur, wiewohl sichnun die Indikatoren für eine solche mehren.Viele Bürger beurteilen die Lösungskompetenzpolitischer Parteien skeptisch, die Bindungsfähigkeit<strong>der</strong> Volksparteien nimmt ab. Ihre überraschendstarken Verluste bei <strong>der</strong> Bundestagswahl2005 kennzeichnen einen Vertrauensschwund.Ob die Bundesrepublik mit einer Großen Koalitionnun unsicheren und instabilen (Regierungs-)Zeiten entgegengeht, ist eine müßige Spekulation,die sich aus dem 18. September 2005ergeben kann, aber nicht muss. Rosige Zeitenstehen <strong>der</strong> Republik allem Anschein nach (vorerst?)nicht bevor, sie aber zum Patienten hochzu stilisieren, hat viel von Hysterie und Panikmache,die sich wie<strong>der</strong>um durch die Geschichte<strong>der</strong> Bundesrepublik ziehen und die Kontinuitätshypotheseeinmal mehr bekräftigen: „DasStabilitätstrauma <strong>der</strong> Bundesrepublik, die längstkeine ‚Schönwetterdemokratie’ mehr ist, sollte<strong>der</strong> Vergangenheit angehören.“ Wer mit demRegierungswechsel von 1998 vorschnell den„Aufbruch zu neuen Ufern“, „in eine an<strong>der</strong>e Republik“proklamierte, müsste entsprechend nach<strong>der</strong> Bundestagswahl 2005 den Abgesang <strong>der</strong>„Berliner Republik“ verkünden. Beides ist falsch.von Florian HartlebAnzeigeDie Berliner RepublikSeite 9 - Ausgabe III / 2006