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Max Dauthendey Himalajafinsternis und andere asiatische Novellen

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YAB<br />

Bibliothek<br />

<strong>Max</strong> <strong>Dauthendey</strong><br />

<strong>Himalajafinsternis</strong> <strong>und</strong> <strong>andere</strong><br />

<strong>asiatische</strong> <strong>Novellen</strong>


Bin ein gestorben Herze,<br />

Das tot noch liebt <strong>und</strong> schlägt.<br />

<strong>Max</strong> <strong>Dauthendey</strong>, Inschrift auf seinem Grab


<strong>Max</strong> <strong>Dauthendey</strong><br />

<strong>Himalajafinsternis</strong> <strong>und</strong> <strong>andere</strong><br />

<strong>asiatische</strong> <strong>Novellen</strong><br />

© YAB-Bibliothek 2004 für diese Ausgabe


<strong>Himalajafinsternis</strong><br />

oder<br />

Das geheimnisvolle Amulett<br />

D as ist der Fluch <strong>und</strong> zugleich die Wollust des Reisens, daß<br />

es dir Orte, die dir vorher in der Unendlichkeit <strong>und</strong> in der<br />

Unerreichbarkeit lagen, endlich <strong>und</strong> erreichbar macht. Diese<br />

Endlichkeit <strong>und</strong> Erreichbarkeit zieht dir aber geistige Grenzen,<br />

die du nie mehr loswerden wirst.<br />

Wenn sich deine Seele, ohne daß dein Leib reist, an einen<br />

Ort hin versetzt, in dem du nie warst, so kann sie an dem Ort<br />

bald im Sonnenschein, bald im Regen, bald im Winter, bald<br />

im Frühling wandern, geisterleicht in einer Geisterlandschaft.<br />

Hast du aber den Ort einmal reisend mit deinem Leib erreicht<br />

<strong>und</strong> wirkliche Tage dort erlebt, so bist du dem Gefängnis der<br />

Wirklichkeit verfallen. Sobald du dich in späteren Jahren an<br />

den bereisten Ort im Geist zurückversetzt, kommst du nicht<br />

über die Grenzen der ehemaligen wirklichen Tage hinaus. Du<br />

siehst jenen Ort immer wieder, in ermüdender Wiederkehr,<br />

in derselben Tages- oder Jahreszeitstimmung, in der du ihn<br />

damals gesehen. Du kannst ihn nicht willkürlich mehr verwandeln.<br />

Du bist verdammt, ihn ewig genau so zu sehen, wie<br />

er sich dir auf der Reise gezeigt hat. Dies ist der Fluch, der die<br />

Seele des Reisenden belastet. Die Flügel der Geistigkeit werden<br />

ihm von der Wirklichkeit beschnitten. Der Vielgereiste haftet


mehr an der Erde als der Niegereiste. Er erscheint mir sterblicher<br />

als die übrigen Sterblichen.<br />

Es gibt eine einzige Möglichkeit, den Wirklichkeitsbann des<br />

Reisens zu durchbrechen <strong>und</strong> abzuschütteln. Das geschieht,<br />

wenn wir unsterbliche Erlebnisse heimbringen; wenn sich das<br />

Schicksal des Reisenden mit Menschenschicksalen fremder<br />

Orte so verknüpft, daß der Ort, die Landschaft, das Gesehene<br />

ganz an Bedeutung verlieren, in Nichts sinken <strong>und</strong> das<br />

am eigenen Schicksal Erfahrene Zeit, Ort <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />

überragt.<br />

Solche Erlebnisse sind selten, aber ein, zwei solcher Erlebnisse<br />

auf großen Reisen bleiben einem im Blut <strong>und</strong> Geist haften<br />

<strong>und</strong> überfallen einen zeitweise in der Erinnerung, <strong>und</strong> solche<br />

Erlebnisse können uns modernen Menschen den Schauer, die<br />

Ehrfurcht <strong>und</strong> die Erhebung ersetzen, die die früheren naiven<br />

Menschen in Gotteshäusern vor ihren Altären <strong>und</strong> Göttern<br />

empfanden, vor Göttern, die wir Modernen längst zum alten<br />

Eisen gelegt haben.<br />

�<br />

Ehe ich auf meinen Reisen oben im Himalajagebirge gewesen,<br />

konnte ich mir diese höchsten Erdzinken immer nur tief in<br />

weißem Schnee <strong>und</strong> unter ewig eisigblauem Himmel vorstellen,<br />

ähnlich den Erinnerungsbildern, die ich vom Montblanc,<br />

von den Dolomiten <strong>und</strong> den Schweizer Alpen mit mir trug.<br />

Jetzt aber, nachdem ich vor Jahren am HimaIaja war, sehe ich<br />

dort im Geist keine ehernen Gletscher, keinen eisblauen Himmel<br />

mehr. Ich sehe dort die Erde grau in grau wandern, denn<br />

es war im Februar, als die Nebel aus der indischen Talsohle<br />

wie graue Felder heraufstiegen, Nebel in allen Schattierungen,<br />

in Schatten <strong>und</strong> Beleuchtungen wechselnd. Es war, als flögen


die Berge; dann wieder versanken sie. In den Sternennächten<br />

wirbelten diese Nebel im Mondschein. Der riesige Himalaja<br />

schien sich fortzuwälzen. Bald stellten sich die Nebel wie Riesentreppen<br />

auf, schlugen sich zum Himmel hinauf <strong>und</strong> drehten<br />

sich um ihre Achsen wie ungeheure Windmühlenflügel. Es<br />

blieb kein Oben, kein Unten, kein Links <strong>und</strong> kein Rechts mehr<br />

bestehen, als wäre der Himalaja eine Gedankenwelt geworden,<br />

in der sich fluchtartig Bilder <strong>und</strong> Eindrücke, Wirklichkeit <strong>und</strong><br />

Unwirklichkeit jagten.<br />

Siebentausend Fuß hoch oben in Darjeeling, dem weltbekannten<br />

Erholungsort der englisch-indischen Beamten, Offiziere<br />

<strong>und</strong> reichen Kaufleute, waren im Februar die meisten<br />

Villen geschlossen. Sie liegen mit ihren Glaswänden <strong>und</strong><br />

Glasveranden wie aus Bergkristall aufgebaut an der Berglehne<br />

der hohen Gelände von Darjeeling. Dazwischen ziehen sich<br />

Teegärten mit Teegebüsch hin, denn der Tropenbrodem, der<br />

vom großen indischen Reiche am Fuße des Himalaja zu den<br />

Höhen von Darjeeling heraufraucht, bringt einen Atem von<br />

Fruchtbarkeit über diese Südabhänge des Himalaja.<br />

Heimgekehrt nach Europa, wäre ich jetzt, wenn ich an den<br />

Himalaja zurückdenke, ewig dazu verbannt, dort droben in<br />

Darjeeling den unendlichen, lautlosen, träufelnden Februarregen<br />

zu sehen, der aus den Nebelschwaden niedertroff, <strong>und</strong><br />

ich müßte immer in die nebelwandernden Berge schauen, die<br />

mir nie mehr stillstehen würden, wäre nur nicht dort jenes<br />

Erlebnis begegnet, das mich zeitlos <strong>und</strong> weltlos ansieht, nicht<br />

geb<strong>und</strong>en an Tag <strong>und</strong> Jahreszeiten, sondern nur geb<strong>und</strong>en an<br />

die Allmenschlichkeit, an das Menschenherz, das r<strong>und</strong> um<br />

die Erde, an allen Orten gleich handelnd liebt <strong>und</strong> leidet, als<br />

wäre es ein einziges Herz.<br />

Eines Nachmittags hatten mich die fünf Tibetaner, die meine<br />

Rikscha schoben, nach dem einzigen tibetanischen Tempel


gefahren, der an einem Ende des Bergdorfes Darjeeling, nach<br />

langen Fahrten auf verschlungenen Wegen erreicht wird. Der<br />

Tempel war einfach wie ein weißgekalktes Scheunenhaus <strong>und</strong><br />

unterschied sich fast in nichts von tibetanischen Bauernhäusern.<br />

Er lag am senkrechten Abhang, von einigen verwilderten<br />

Bäumen umstanden, ein wenig einfach, <strong>und</strong> man hätte ihn<br />

ebensogut von weitem für einen kleinen Gasthof halten können.<br />

Ich mußte einen nassen Vorgarten durchschreiten <strong>und</strong> hörte<br />

von weitem einen regelmäßig klingenden Ton. Es war der<br />

Laut der Gebetmühlen, die nach jeder Umdrehung antönen.<br />

Unter dem Vordach des Tempelhauses stand eine mannshohe<br />

<strong>und</strong> mannsdicke gelbe Röhre aufgerichtet. Sie war von oben<br />

bis unten eng mit Gebeten beschrieben. Ein Tempelknabe in<br />

gelber Kutte drehte mit der Hand den gelben Zylinder, der sich<br />

auf einem Gestell r<strong>und</strong> um eine Achse bewegte. jede Umdrehung<br />

des Zylinders galt soviel als das vollständige Ablesen der<br />

tausend Gebete, die enggedrängt auf ihr geschrieben waren.<br />

Drinnen im Tempel war es dunkel wie in einem Stall. Hinter<br />

dicken Holzgittern standen die geschnitzten Götter, deren<br />

alte gebräunte Vergoldung kaum noch glänzte. Da war kein<br />

friedlicher Gott darunter. Alle Götter standen oder hockten<br />

in wilden verrenkten Stellungen, als wären sie den verzerrten<br />

Nebeln draußen nachgebildet.<br />

Aus unzähligen Ölnäpfchen voll kleiner Nachtlichter flimmerten<br />

winzige Flämmchen. Wie die Futtertröge der Götter,<br />

so standen sie da vor den Gittern <strong>und</strong> nährten die speckigen<br />

Goldgesichter mit ihrem Ruß <strong>und</strong> belebten sie mit dem Gewimmel<br />

ihrer knisternden Flämmchen.<br />

Nicht an allen Wänden standen Götterbilder. Es waren da<br />

Lücken, <strong>und</strong> dort am berußten <strong>und</strong> schmutzigen Wandkalk<br />

entdeckte ich Photographien, Ansichtspostkarten <strong>und</strong> Holz-


schnitte aus illustrierten englischen Zeitungen. Es waren<br />

Bilder von englischen, deutschen, französischen, russischen<br />

Prinzen <strong>und</strong> Generalen <strong>und</strong> Abbildungen von neuerf<strong>und</strong>enen<br />

Maschinen, Bilder, welche von den tibetanischen Priestern<br />

heilig gesprochen waren, vielleicht um den Europäern zu<br />

schmeicheln, vielleicht auch aus abergläubischer Furcht vor<br />

unbekannten fremden Seelenkräften.<br />

Am Fußboden in einer Ecke bemerkte ich geleerte englische<br />

Bierflaschen. Ein paar tibetanische Priester mit glattrasierten<br />

kahlen Köpfen, in schmutziggelben Kutten, hockten am Boden<br />

<strong>und</strong> rauchten, lehnten mit dem Rücken an der Wand <strong>und</strong><br />

stierten zur offenen Tür hinaus, zu der ein wenig Tageslicht in<br />

den fensterlosen Raum hereinfiel <strong>und</strong> glasig auf den Augäpfeln<br />

der Priester glänzte.<br />

Die knisternden Reihen von Nachtlichtern, die blöden Augen<br />

der Priester <strong>und</strong> hie <strong>und</strong> da hinter den Gittern ein Götterbauch,<br />

in dessen abgenütztem Gold sich die Ölflämmchen<br />

spiegelten, der süßliche Tabakgeruch aus den Priesterpfeifen<br />

<strong>und</strong> ein noch süßlicherer Geruch von erkaltetem Räucherwerk,<br />

die grotesken Papierfetzen aus illustrierten europäischen Zeitschriften<br />

– dieser Wirrwarr von zeitlosem Spuk <strong>und</strong> draußen<br />

im Türviereck die ewig im Nebel fortwandernden Himalajaberge<br />

wie Spuklandschaften, die bald in den Himmel stiegen,<br />

bald zur Erde fielen, ein Nebelgekröse, das plötzlich bis zur<br />

Tür herankroch, die gelben Ungeheuer der Gebetmühlen, die<br />

sich einförmig drehten <strong>und</strong> in regelmäßigen Zwischenräumen<br />

mit einem dünnen Metallton anschlugen – all das sah abenteuerlich<br />

aus, einfältig <strong>und</strong> ungeheuerlich zu gleicher Zeit.<br />

Denn es bestand schon seit Tausenden von Jahren <strong>und</strong> schien<br />

unvergänglich wie die Götter der Dummheit, die neben den<br />

Göttern des Verstandes <strong>und</strong> des Gefühls ewig die Erde beherrschen.


Aber wie die Abgründe draußen vor der Tempeltür, an deren<br />

Rändern das Schwindelgefühl saß, das Menschen, Tiere<br />

<strong>und</strong> Steinmassen in die Himalajaschluchten reißen konnte, so<br />

lag hinter dem Gefühl der dumpfen Dummheit, die in dieser<br />

stallartigen Tempelstube hockte, zugleich eine kaltblütige<br />

Grausamkeit. Sie blickte beinahe schelmisch aus den stieren<br />

Augen der kahlköpfigen tibetanischen Priester <strong>und</strong> grinste<br />

grotesk fre<strong>und</strong>lich aus den lachenden Mäulern der Gesichtsmasken<br />

der im Halbdunkel hockenden Götterfiguren.<br />

Meine fünf tibetanischen Wagenschieber, die wie Eskimos in<br />

sackartige Kleider vermummt steckten <strong>und</strong> von hünenhaften<br />

Kräften waren, fuhren mich dann im Rikschawagen zurück,<br />

über fast senkrechte Bergwege hinauf. Dabei wieherten sie<br />

wie Pferdchen, meckerten wie Geißböcke <strong>und</strong> prusteten wie<br />

Walrosse. Zugleich verfolgten meinen Wagen drei tibetanische<br />

Riesenweiber, die ihre Schmuckketten aus kleinen blauen<br />

Türkisen, Brocken Bergkristall <strong>und</strong> Stücken ungereinigter Silberbronze,<br />

mit rötlichem Karneol verarbeitet, vom Hals <strong>und</strong><br />

von den Armgelenken rissen <strong>und</strong> mir zum Verkauf vor mein<br />

Gesicht hielten. Immer gestikulierend, sprangen die Tibetfrauen<br />

neben meinen Wagenrädern hin <strong>und</strong> her, umgeben von<br />

einer bellenden Schar wilder Himalajah<strong>und</strong>e.<br />

Eine der Frauen nahm sich während des Springens die<br />

Türkisohrringe ab, eine <strong>andere</strong> drehte von ihrer Hand einen<br />

plumpen Silberring mit rotem Karneolstein, die dritte zog sich<br />

bronzene Haarpfeile aus ihrem ungekämmten, verwilderten<br />

<strong>und</strong> vom Regen nassen Haarknoten. Einige Worte Englisch<br />

<strong>und</strong> h<strong>und</strong>ert geschnatterte tibetanische Worte, durchsetzt<br />

mit H<strong>und</strong>egebell <strong>und</strong> begleitet vom Gelächter <strong>und</strong> Geschnauf<br />

meiner schwitzenden Wagenschieber, schallten mir unausgesetzt<br />

vor den Ohren.


Endlich kaufte ich dem einen Weib einen Ring ab, <strong>und</strong> da der<br />

Rikschawagen an den Abhangwegen im Fahren keinen Augenblick<br />

halten konnte, wurde der bewegte Handel durch Zuwerfen<br />

des Ringes <strong>und</strong> Zurückwerfen des Geldes abgeschlossen.<br />

Zwei Frauen blieben jetzt zurück. Nur das dritte der Weiber,<br />

das immer noch seine Haarpfeile verkaufslustig in der Luft<br />

schwang, haftete noch an der Seite meines Wagens, vom Gekläff<br />

der H<strong>und</strong>e umgeben.<br />

Als die Tibetanerin mich kaufunlustig sah, lockte sie mit den<br />

Augen, so daß ihr die Wagenschieber tibetanische Scherzworte<br />

zuriefen, gegen die sie sich eifrig verteidigte. Da mich die<br />

Haarpfeile nicht reizten <strong>und</strong> des Weibes Augen mich nicht<br />

überreden konnten, fuhr sie, immer neben dem Wagen herspringend,<br />

mit den Händen in die Falten ihres sackgroben<br />

Mantelkleides <strong>und</strong> fand in irgendeiner Tasche eine kleine<br />

Silberkette, die mir aber ebenso wenig gefiel. Zugleich aber,<br />

wie sie die Kette in der Luft schüttelte, flog zwischen ihren<br />

Fingern durch ein kleines Bronzeamulett, das an einer Darmsaite<br />

angeb<strong>und</strong>en gewesen, <strong>und</strong> flog zu mir in den Wagen auf<br />

meinen Schoß.<br />

Mit einem Blick sah ich, daß das Amulett ein echtes kleines<br />

Bronze-Götzenbild war, nicht größer als ein Fingerglied. Es<br />

stellte in viereckigen primitiven Formen zwei winzige Menschen<br />

dar, einen nackten Mann, an welchem eine nackte Frau<br />

emporkletterte.<br />

Ich schloß meine Hand, in die das Amulett gefallen war, griff<br />

mit der <strong>andere</strong>n Hand in meine Westentasche, in der ich loses<br />

Silbergeld trug, <strong>und</strong> warf dem Weib ein paar große Silbermünzen<br />

zu. Sie sah mich erstaunt an, fing blitzschnell das Geld auf<br />

<strong>und</strong> blieb zurück. Zufällig bog der Wagen um eine Wegecke.<br />

Ich konnte jetzt das Weib, das in dem Haufen der bellenden<br />

H<strong>und</strong>e stillstand, noch einmal von weitem sehen. Sie schüt-


telte fortwährend den Kopf, als verstünde sie nicht, wie sie zu<br />

dem Gelde gekommen sei. Sie hielt die Haarpfeile im M<strong>und</strong><br />

zwischen den Zähnen <strong>und</strong> wickelte die Geldstücke in ein kleines<br />

Stückchen gelben Tuches. Vielleicht war es dasselbe Stückchen<br />

Tuch, in welches vorher die Silberkette <strong>und</strong> das Amulett<br />

eingewickelt gewesen.<br />

Ich vergaß die Begebenheit, denn es ereignete sich jeden<br />

Augenblick viel Neues in der mich umgebenden Reisewelt.<br />

Ich entsinne mich nur, daß, als ich eine halbe St<strong>und</strong>e später<br />

im Hotel das Amulett betrachtete, mir nicht mehr dieses<br />

eine Weib in Erinnerung kam, sondern die zwei <strong>andere</strong>n, die<br />

zurückgeblieben waren <strong>und</strong> deren Wangen mit einer roten<br />

Masse eingerieben waren. Ich fragte einen der tibetanischen<br />

Fellverkäufer, die in der Vorhalle des Hotels bei ihren Pelzwaren<br />

kauerten <strong>und</strong> die alle englisch sprachen, mit was sich<br />

die Weiber hier die Wangen einrieben, daß sie so braunrot<br />

würden. Er sagte, daß die Farbe Ochsenblut sei. Aber nur die<br />

Witwen bestreichen sich die Wangen mit Ochsenblut <strong>und</strong> nur<br />

diejenigen Witfrauen, die den Männern zeigen möchten, daß<br />

sie wieder heiraten wollen.<br />

Während ich noch sprach, läutete die erste Dinnerglocke im<br />

Stiegenhaus des Hotels, die Glocke, welche die reisenden Damen<br />

<strong>und</strong> Herren darauf aufmerksam macht, daß es an der Zeit<br />

ist, sich für das Mittagessen, das um sieben Uhr serviert wird,<br />

umzukleiden. Denn auch hoch oben im HimaIaja erscheinen<br />

die englischen Herren abends in Frack <strong>und</strong> Smoking <strong>und</strong> die<br />

Damen in Schleppkleidern, tief ausgeschnitten <strong>und</strong> frisiert, als<br />

wären sie für eine Galaoper geschmückt.<br />

Ich ging in mein Zimmer, wo eben ein tibetanischer Zimmerbursche<br />

das Kaminfeuer angezündet hatte <strong>und</strong> jetzt nebenan<br />

im Baderaum, welcher zum Zimmer gehörte, Wasser in<br />

die Badewanne schleppte.


Der Baderaum hatte einen besonderen Eingang durch einen<br />

Balkon, der an der Rückseite des Hauses entlanglief. Nachdem<br />

das Bad hergerichtet war, murmelte der tibetanische Diener<br />

sein »all right, Sir« <strong>und</strong> verschwand durch die Hintertür des<br />

Badezimmers.<br />

Nachdem ich ins Bad gestiegen war <strong>und</strong> aufrecht im dampfenden<br />

Wasser stand <strong>und</strong> einige Turnübungen ausführte,<br />

fühlte ich im Rücken einen eiskalten Luftstrom, als ob jemand<br />

die Hintertür des Baderaumes zum Balkon geöffnet habe. Ich<br />

rufe auf englisch: »Tür zu!« Und um mich vor dem eisigen<br />

Luftstrom zu schützen, tauche ich im heißen Wasser der Badewanne<br />

bis zum Hals unter. Ich bemerke zugleich durch den<br />

Dampf, der das Zimmer füllte, den Schatten einer Gestalt <strong>und</strong><br />

frage: »Wer ist da?«<br />

Nur der Strahl des Kaminfeuers fiel von meinem Schlafzimmer<br />

in den Baderaum herein, <strong>und</strong> ich merkte zu meinem<br />

Erstaunen, daß die kleine Lampe, welche der Diener in eine<br />

Fensternische gestellt hatte, die aber vorher kaum leuchtete,<br />

jetzt vollständig ausgegangen war.<br />

Als ich auf meine zweimaligen Zurufe keine Antwort bekam,<br />

erhob ich mich wieder aus dem dampfenden Wasser. Im selben<br />

Augenblick fühlte ich wieder den Eishauch von der Türe<br />

her, die wahrscheinlich wieder hinter dem Dampfnebel geöffnet<br />

worden war. Der menschliche Schatten, den ich vorher<br />

gesehen hatte, war aber verschw<strong>und</strong>en.<br />

Mir schien, wenn ich mir die Gestalt vergegenwärtigte, als<br />

wäre es eine Frau gewesen, die vorher eingetreten <strong>und</strong> jetzt<br />

wieder verschw<strong>und</strong>en war.<br />

Ich tastete in den Dampfnebel, fragte noch ein paarmal, beendete<br />

dann mein Bad schneller, als ich es sonst getan hätte,<br />

wickelte mich ins Badelaken, machte Licht im Schlafzimmer<br />

<strong>und</strong> leuchtete in den Baderaum, fand aber niemand. Dann


kleidete ich mich an, klingelte <strong>und</strong> fragte den Diener, ob man<br />

jemand hereingelassen, während ich im Bad war.<br />

Dieser schüttelte den Kopf <strong>und</strong> wußte von nichts.<br />

Ich vergaß auch diese Begebenheit wieder. Aber nach Mitternacht,<br />

als ich mich zu Bett legte, schloß ich vorsichtig alle<br />

Türen.<br />

Das Amulett hatte ich genau betrachtet, <strong>und</strong> nach dem Alter<br />

der Darmsaite zu schließen, an die es geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die vom<br />

Tragen sehr abgenützt war, konnte ich mir vorstellen, daß das<br />

Amulett wohl schon mehrere Menschenalter um den Hals<br />

verschiedener Personen gehangen <strong>und</strong> auf der Brust verschiedener<br />

Leute geruht haben mußte. Bis diese starke Darmsaite<br />

sich abnützen <strong>und</strong> durchwetzen konnte, mußten manche<br />

Menschenleben dahingegangen sein.<br />

Die an der Männergestalt emporkletternde kleine Frauengestalt<br />

war von geschwärzter Silberbronze. Der Mann schien aus<br />

Eisenbronze zu sein.<br />

Klobig, simpel, primitiv war die nußgroße Figurengruppe<br />

zusammengeschweißt, wahrscheinlich in irgendeiner Bergschmiede<br />

tief im Himalajagebirge. Vielleicht war sie in einer<br />

tibetanischen Klosterschmiede gearbeitet, in einem jener<br />

ungeheuerlichen Klöster, die an unzugänglichen Stellen, in<br />

Bergabhängen <strong>und</strong> Bergseen zerstreut liegen, auf der Straße<br />

nach Lassa hin, jener Straße, die zu der geheimnisvollsten<br />

Klosterstadt der Welt führt.<br />

Ich mußte wieder an das stattliche Tibetweib denken, wie es<br />

da mitten im Haufen bellender H<strong>und</strong>e gestanden <strong>und</strong> gedankenvoll<br />

mein Geld in das gelbe Tuch gewickelt hatte.<br />

Plötzlich fiel mir ein: nach ihrem verw<strong>und</strong>erten Gesicht zu<br />

schließen, hatte die Frau, als mir das Amulett zuflog, gar nicht<br />

gewußt, daß sie es mir zugeworfen hatte. Sie hatte eine Silberkette<br />

in der Hand geschüttelt, <strong>und</strong> wenn ich jetzt darüber


nachdachte, so schien es mir, als wäre ihr unbewußt das Amulett<br />

aus den Fingern geglitten, denn ihr Gesicht war verblüfft<br />

<strong>und</strong> nachdenklich, als sie meine Silbermünzen auffing <strong>und</strong><br />

einsteckte. Jedenfalls aber hatte ich das Amulett mit meinem<br />

Gelde bezahlt, <strong>und</strong> es war mein. So sagte ich mir <strong>und</strong> legte<br />

mich beruhigt zu Bett.<br />

Ich weiß nicht, wieviel St<strong>und</strong>en ich geschlafen hatte, als ich<br />

durch einen Knall <strong>und</strong> ein Scherbenklingen geweckt wurde.<br />

Ich fuhr auf <strong>und</strong> hörte ein Geräusch wie von flatternden Flügelschlägen.<br />

Das Kaminfeuer war vollständig niedergebrannt, <strong>und</strong> der<br />

kleine Glutbrocken leuchtete nicht mehr an die Zimmerdecke<br />

<strong>und</strong> nicht mehr an die Wände, von wo aus das klatschende<br />

Flügelschlagen herkam.<br />

Ich machte Licht <strong>und</strong> sah ein schwarzes Tier, groß wie eine<br />

Eule, von Winkel zu Winkel fliegen. Als ich auf einen Stuhl<br />

stieg, sah ich, daß es eine große Vampirfledermaus war. Ich<br />

öffnete die Schlafzimmertüre, die nach der Treppe ging, weit<br />

<strong>und</strong> rief ins Treppenhaus hinunter, indessen ich mich in meinen<br />

Mantel wickelte. Drunten am Kaminfeuer saßen immer<br />

einige Diener, die die Nachtwache hatten. Einer von den Männern<br />

kam nun herauf, riß die Bettdecke von meinem Bett <strong>und</strong><br />

schlug mit dem Tuch nach dem Tier in die Luft <strong>und</strong> scheuchte<br />

die Riesenfledermaus durchs geöffnete Fenster in die Nacht<br />

hinaus.<br />

Im Fenster selbst fanden wir dann eine Ecke der Scheibe eingestoßen.<br />

Doch unerklärlich war es mir, wie die weiche <strong>und</strong><br />

zartknochige Fledermaus es fertiggebracht hatte, die harte<br />

Fensterscheibe einzustoßen.<br />

In dieser Nacht schlief ich nicht mehr. Ich ließ das Licht<br />

brennen <strong>und</strong> befahl dem Diener, das Kaminfeuer zu schüren.<br />

Ich setzte mich dann an den Kamin <strong>und</strong> las, das heißt, ich


wollte lesen, um nicht einzuschlafen. Aber mehrmals mußte<br />

ich aufhorchen. Es war mir, als hörte ich Schritte auf dem Balkon,<br />

auf welchen das zerbrochene Fenster führte.<br />

Ich sah vom Lesen nicht auf. Ich sagte mir, es wird einer der<br />

Diener sein, der sich überzeugen will, ob mein Kaminfeuer<br />

noch brennt, <strong>und</strong> der mich nicht zu stören wagt <strong>und</strong> deshalb<br />

auf dein Balkon herumschleicht <strong>und</strong> hereinsieht.<br />

Nach einer St<strong>und</strong>e war mir, als verbreite sich ein durchdringender<br />

Blumengeruch im Zimmer. Ich schloß die Augen,<br />

lehnte meinen Kopf im Ledersessel zurück <strong>und</strong> überlegte, ob<br />

die Nachtnebel, die aus den Himalajateegärten <strong>und</strong> aus der<br />

indischen Tiefebene heraufsteigen, solch einen betäubenden<br />

Blütengeruch mit sich führen könnten. Durch das zerbrochene<br />

Fenster schien der Geruch mit dem Nebelrauch hereinzuziehen,<br />

denn ich sah einen feinen bläulichen Dampf, der vom<br />

zerbrochenen Fenster her das Zimmer erfüllte. Ich wollte aufstehen,<br />

ein Handtuch oder einen Reiseschal nehmen <strong>und</strong> die<br />

zerbrochene Scheibenecke zustopfen, um den betäubenden<br />

Nebel abzuwehren.<br />

Aber es blieb bei dem in meinem Gehirn sich immer wiederholenden<br />

Wunsch, aufzustehen. Meine Augen fielen zu. Einige<br />

Zeit hielt ich das Buch noch in der einen Hand fest. Aber das<br />

Buch schien immer größer <strong>und</strong> schwerer zu werden. Das Buch<br />

wuchs <strong>und</strong> stand vor mir wie die Wind so groß. Und immer,<br />

wenn ich mich aufrichten wollte, stand vor mir das aufgerichtete<br />

wandgroße Buch. Es war mir, als wohne ich nicht mehr<br />

in meinem Zimmer. Ich wohnte in einem Buch. Und ich hatte<br />

das Gefühl, dieses Riesenbuch könnte zuklappen <strong>und</strong> mich<br />

zwischen seinen Seiten erdrücken. Das Buch roch so süß wie<br />

die Süße aus einem alten Schrank, in welchem getrocknete<br />

Blumen <strong>und</strong> Lavendel lagen. Mit diesem gemischten Gefühl<br />

von Süße <strong>und</strong> drückender Bangigkeit verbrachte ich, wie es


mir schien, Jahre, ohne daß sich etwas in meinem Zustand<br />

änderte.<br />

Ich wachte durch ein Klopfen auf. Es klopfte irgendwo jemand<br />

auf meinen Schädel. Es wurde lange <strong>und</strong> heftig geklopft.<br />

Bald war es mir auch wieder, als klopfe man schon jahrelang.<br />

Ich horchte auf. Meine Augen öffneten sich <strong>und</strong> sahen immer<br />

noch Kaminglut. Draußen war es immer noch Nacht. Das<br />

Klopfen kam von den verschiedenen Zimmertüren im Korridor.<br />

Die Hotelgäste wurden geweckt.<br />

Ich erinnerte mich jetzt, daß unsere Reisegesellschaft, die<br />

zehn Damen <strong>und</strong> Herren, die sich hier in Darjeeling im Hotel<br />

zusammengef<strong>und</strong>en, verabredet hatten, um drei Uhr morgens<br />

bei Mondschein aufzubrechen, um auf Paßwegen zu dem<br />

zweitausend Fuß höher gelegenen »Tigerhill« zu reiten, wo<br />

man den Sonnenaufgang über dem Mount Everest <strong>und</strong> <strong>andere</strong>n<br />

Riesen des Himalaja erwarten wollte.<br />

Im Zimmer war noch immer der süßliche Dunst. Ich kleidete<br />

mich in schlaftrunkenem Zustand an. Ein Diener brachte<br />

mir dann den Morgentee <strong>und</strong> sagte, daß die Pferde gesattelt<br />

seien <strong>und</strong> an der Veranda warteten.<br />

Als ich ein paar Minuten später aufs Pferd stieg, freute ich<br />

mich über die klare Bergluft, über den eisklaren Halbmond,<br />

der am Himmel hing, <strong>und</strong> über den reinen Neuschnee, der gefallen<br />

war, <strong>und</strong> ich hatte bald ganz <strong>und</strong> gar den Blumendunst<br />

vergessen <strong>und</strong> die letzten St<strong>und</strong>en jenes schweren Schlafes,<br />

der mehr einem Alpdruck als einem ges<strong>und</strong>en Schlaf ähnlich<br />

gewesen war.<br />

Auf den schmalen Paßwegen, auf denen die Pferde hintereinander<br />

schreiten mußten, schwiegen das Geplauder <strong>und</strong> Gelächter<br />

der Damen <strong>und</strong> Herren. Es war, als ritten wir nicht auf<br />

der Erde, sondern auf Wolken, an Wolkenrändern entlang. Die<br />

Mondsichel hatte nicht Kraft genug, die HimaIajagründe aus-


zuleuchten. Meere von Finsternis lagen an den Rändern der<br />

Paßwege, die nur einige Hufbreiten breit auf den Berggraten<br />

entlangzogen. Bäume, die so alt waren, daß sie kein Blatt nicht<br />

trieben <strong>und</strong> nur wie moosbehangene Skelette ragten, waren<br />

durch Nebel <strong>und</strong> Schnee wie vom Erdboden abgeschnitten<br />

<strong>und</strong> hingen in der Luft wie vom Himmel herab. Einige waren<br />

wie hausgroße Skelette ungeheuerlicher Fledermäuse. Diese<br />

Gespensterbäume <strong>und</strong> der jasminweiße Mond auf dem grünlichen<br />

Nachtäther erinnerten mich wieder an mein Nachterlebnis.<br />

Aber die großen, geöffneten, unergründlichen Himalajaabgründe,<br />

die den Eindruck gaben, als könnte man so tief in<br />

die finstere Erde hineinsehen, so tief wie in den Nachthimmel,<br />

diese Abgründe, an denen die Pferde zagend <strong>und</strong> tastend <strong>und</strong><br />

lautlos im glitschigen Schnee wie balancierend zwischen Leben<br />

<strong>und</strong> Tod entlanggingen, verschluckten Rückerinnerungen<br />

<strong>und</strong> Gedanken, diese Abgründe wollten mich einschläfern,<br />

stärker noch, als der Blumengeruch es vorher getan hatte.<br />

Der warme, schweißdampfende Pferderücken, der mich trug<br />

<strong>und</strong> der mich rüttelte, war das einzige Stück Wirklichkeit, das<br />

ich noch fühlte, denn der Traumzustand der Gespensterlandschaft<br />

wollte sich mit dem Traumzustand meiner noch nicht<br />

völlig wachen Gedanken vermischen <strong>und</strong> mich in die Abgründe<br />

ziehen.<br />

Endlich verflüchtigte sich die Nacht, <strong>und</strong> wir erreichten in<br />

der blaugrauen Dämmerung, die dem Sonnenaufgang vorausgeht,<br />

die Höhe des Tigerhills.<br />

Tibetanische Diener waren vom Hotel vorausgeschickt worden.<br />

Ein großer Holzstoß war angezündet worden, aber das<br />

Holz war naß <strong>und</strong> rauchte mehr, als es brannte. Der Schnee<br />

war im Umkreis des Feuers weggeschmolzen. Wir versuchten,<br />

unsere vom Reiten erstarrten Füße beim Feuer zu wärmen,<br />

umwanderten stampfend den qualmenden Holzstoß, vertrie-


en uns die Zeit mit Teetrinken <strong>und</strong> warteten auf die ersten<br />

Zeichen des Sonnenaufgangs.<br />

Auf einmal sagte jemand neben mir: »Das ist der Schmetterlingshändler!«<br />

Der Genannte war ein Deutsch-Engländer aus<br />

Darjeeling, der einen tibetanischen Antiquitätenladen dort<br />

hatte <strong>und</strong> zugleich einen Handel mit Himalajaschmetterlingen<br />

trieb, von denen er die schönsten Exemplare auf Bestellung<br />

nach Europa sandte.<br />

Wie der Mann auf den Tigerhill gekommen, ob er uns auf<br />

einer Nachtreise aus dem Innern des Gebirges begegnet war<br />

oder ob er die Reisegesellschaft von Darjeeling aus begleitet<br />

hatte, wußte ich nicht. Ich dachte nur im selben Augenblick,<br />

als ich das Wort »Schmetterlingshändler« hörte, an die seltsame<br />

Trommel, die ich in seinem Laden zwei Tage vorher gekauft<br />

hatte; eine Trommel, angefertigt aus den Hirnschalen zweier<br />

Menschen, aus der Hirnschale eines Mannes <strong>und</strong> aus der eines<br />

Weibes. Jede Schalenhöhle war mit einer Membrane überzogen;<br />

an der Wölbung aber waren die beiden Gehirnschalen<br />

zusammengeschweißt, so daß sie zwei kleine Trommeln bildeten.<br />

Schüttelte man diese, so schlug in jeder Schädelhöhle<br />

eine kleine, hinter der Membrane eingesperrte Elfenbeinkugel<br />

an die Schädelwand <strong>und</strong> an die Membrane <strong>und</strong> trommelte unausgesetzt.<br />

Der Schmetterlingshändler hatte mir erzählt:<br />

»Ich habe diese Trommel von einem tibetanischen Priester<br />

in einem tibetanischen Tempel gekauft. Es sind die Schädelschalen<br />

eines treulosen Mannes <strong>und</strong> eines treulosen Weibes.<br />

Diese Trommel wurde täglich zur Gebetst<strong>und</strong>e angeschlagen,<br />

denn die Treulosen sollen, ewig aneinandergekittet, im Tode<br />

keine Ruhe haben. Der Priester, der auf dem Leichenstein<br />

beim Tempel die Leichen zu zerschneiden <strong>und</strong> den Vögeln<br />

hinzuwerfen hat, hat das Recht, die Schädelschalen zweier, die


die Treue gebrochen haben, nach dem Tode zu solchen Trommeln<br />

zu verarbeiten.«<br />

Mit großer Mühe hatte der Schmetterlingshändler die<br />

Trommel aus dem Tempel erhalten.<br />

Machte es die dünne, hohe Gebirgsluft, daß meine Ohren<br />

jetzt plötzlich aus allen finsteren Himalajaabgründen ein<br />

Donnern hörten, als seien die Bergschlünde trommelnde<br />

Schädelhöhlen von Ungetreuen?<br />

»Hören Sie die Lawinen, die bei Sonnenaufgang sich von den<br />

Gletschern lösen <strong>und</strong> in die Tiefe donnern?« sagte ein Herr neben<br />

mir zu einer Dame. Dann war tiefe Stille. Keine Teetasse<br />

klapperte, kein Schritt im Schnee knirschte mehr. Die Pferde<br />

spitzten die Ohren <strong>und</strong> schnupperten. Drüben im Nebel, über<br />

einem tageweiten Abgr<strong>und</strong>, erschien der fleischige Arm eines<br />

Riesen, die rosige fleischige Brust einer Frau, Nacken, Schultern,<br />

Hüften in gigantischen Dimensionen. Es waren die Umrisse<br />

des Mount Everest <strong>und</strong> des Kantschindschanga, die wie<br />

ein nacktes Riesenpaar höher als der Mond im Himmel lagen.<br />

»Die Sonne«, flüsterte eine Dame.<br />

Ich sah über meine Schulter von den Bergen fort <strong>und</strong> entdeckte<br />

eine rot glühende Lawine, die sich auf Nebelfeldern<br />

kaum merklich fortrollte <strong>und</strong> größer <strong>und</strong> röter wurde – die<br />

Sonne. Wie eine große rote Sintflut gab sie den Gletschern<br />

Blut <strong>und</strong> machte den Schnee zu Fleisch.<br />

Im selben Augenblick, mitten in diesem feierlichsten Augenblick<br />

des Sonnenaufgangs, nahm jemand meine Hand,<br />

führte meine Finger in eine Westentasche <strong>und</strong> sagte: Wo<br />

ist das Amulett, das du gestern kauftest? Sehen die großen<br />

fleischfarbenen Gletscher dort nicht aus wie die Männer <strong>und</strong><br />

die Frauenfigur deines Amuletts, das du der Tibetfrau gestern<br />

abkauftest?


Das Amulett war nicht in meiner Westentasche. Aber das<br />

Geld, das ich dafür bezahlt, die drei großen Silberstücke, befand<br />

sich wieder in meiner Westentasche.<br />

Der Gedanke an das Amulett hatte meine Hand in die Westentasche<br />

geschoben.<br />

Wer hat jetzt laut gelacht? Alle Gesichter sahen sich nach mir<br />

um. Es wurde mir unheimlich vor mir selbst. Wie ich meinen<br />

Pelzrock geöffnet hatte, um das Amulett zu suchen, stieg mir<br />

aus der Kleiderwärme wieder jener geheimnisvolle Blumengeruch<br />

entgegen. Aber jetzt bei der aufgehenden Sonne, in der<br />

Schneefrische des Morgens, erkannte ich in dem Geruch ein<br />

betäubendes tibetanisches Tempelräucherwerk, das, in großen<br />

Massen eingeatmet, einschläfert <strong>und</strong> Visionen verschafft,<br />

<strong>und</strong> dieser Geruch steckte noch von der Nacht her in meinen<br />

Kleidern.<br />

Auf dem Pferderücken vorhin war mir schon der Geruch<br />

stark in die Nase gestiegen. Ich selbst war aber noch zu sehr<br />

von der Schlafzimmerluft betäubt gewesen, um seinen Ursprung<br />

zu erkennen.<br />

Jetzt wandte ich mich mit einem energischen Ruck an den<br />

Schmetterlingshändler, um ihn zu fragen: »Glauben Sie, daß<br />

es Amulette gibt, die ihren Besitzern so teuer sind, daß sie<br />

sie für nichts verkaufen würden? Glauben Sie, daß ein tibetanisches<br />

Weib, wenn es ein solches Amulett zufällig von sich<br />

geschleudert hätte, alle Listen seiner listigen Natur anwenden<br />

würde, um das Amulett wiederzuerhalten? Glauben Sie, daß<br />

es durch Hintertüren in die Häuser eindringen <strong>und</strong> sich nicht<br />

scheuen würde, ein Fenster einzustoßen, uni das Amulett zu<br />

erhalten?<br />

Sie werden mir sagen: ›Das zerbrechende Fenster würde<br />

jedermann wecken!‹ Aber ich sage Ihnen: Man kann zugleich<br />

durch das zerbrochene Fenster eine lebende Fledermaus ins


Zimmer werfen, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkt <strong>und</strong><br />

nicht den Gedanken aufkommen läßt, daß ein Mensch mit<br />

Absicht das Fenster zerschlagen hätte. Betäubt man dann noch<br />

durch eine Räucherstange den im Zimmer Anwesenden, so ist<br />

es ein leichtes, nachher mit dem Arm durch die zerbrochene<br />

Fensterscheibe in das Zimmer zu langen, den Fensterknopf<br />

von innen aufzudrücken, durchs offene Fenster vom Balkon<br />

hineinzusteigen, das verlorene Amulett zu suchen, zu finden<br />

<strong>und</strong>, wenn eine Kaufsumme dafür hergegeben war, das Geld<br />

wieder hinzulegen <strong>und</strong> das Amulett mitzunehmen.«<br />

Alles dieses wollte ich mit energischem Entschluß den<br />

Schmetterlingshändler jetzt fragen. Ich öffnete den M<strong>und</strong>.<br />

Aber die Worte, die ich sprechen wollte, verwandelten sich<br />

in Atemhauch, <strong>und</strong> ich hörte in meinen Ohren, daß ich sagte:<br />

»Wenn Sie wieder einige seltene Exemplare von Himalajaschmetterlingen<br />

haben, können Sie mir dieselben an meine<br />

Adresse nach Europa senden.« Dabei nahm ich aus meiner<br />

Westentasche dasselbe Silbergeld, womit ich gestern schon<br />

das Amulett bezahlt hatte, <strong>und</strong> bezahlte im voraus den Preis<br />

für drei Schmetterlinge.<br />

Ich hatte nichts mehr gesprochen. Die Sonne war bald wieder<br />

in Nebeln verschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> wir ritten im Tageslicht, das<br />

aber nicht dem Mondlicht glich, an den nebelnden Abgründen<br />

zurück nach Darjeeling.<br />

Das Amulett fand ich nicht mehr. Es war nicht auf meinem<br />

Tisch zu Hause im Hotelzimmer, nicht in meinen Taschen,<br />

nicht in meinen Koffern.<br />

Ich erinnerte mich jetzt, daß gestern abend nach dem Dinner,<br />

als ich durch die Billardsäle zu den Spielzimmern gegangen<br />

war, wo die befrackten Herren <strong>und</strong> die dekolletierten Damen<br />

an den grünen Spieltischen vor den lodernden Kaminen<br />

saßen, mich einen Augenblick eine Sehnsucht gepackt hatte,


fortzukommen aus den europäischen Sälen, die man hier in<br />

Asien sogar noch hoch im HimaIaja für verwöhnte Millionäre<br />

<strong>und</strong> Milliardäre hingestellt hat.<br />

Ich. war dann auf die breite Hotelterrasse hinausgetreten<br />

<strong>und</strong> hatte dem Hexenspiel der rollenden Bergnebel über den<br />

Schluchten zugesehen <strong>und</strong> den Sternen, die über den bewegten<br />

Nebeln zu tanzen schienen. Dann fielen ein paar Regentropfen,<br />

mit Schneeflocken untermischt, aus fortflüchtenden<br />

Nebelwellen, die um den Mond kreiselten.<br />

Als ich wieder ins Hotel zurückgehen wollte, war mir, als<br />

sähe ich ein großes Tier unter der Terrassenbrüstung um die<br />

Hausecke laufen. Gestern abend hatte ich gedacht, es sei ein<br />

H<strong>und</strong>. Jetzt wußte ich aber, daß es ein Mensch gewesen, der<br />

auf allen vieren ging, eine Frau, wahrscheinlich die Frau, deren<br />

Amulett ich besaß, die während der ganzen Nacht um das Hotel<br />

geschlichen war <strong>und</strong> die sich mit aller List das Amulett aus<br />

meinem Zimmer von meinem Tisch geholt hatte.<br />

Dies bedachte ich jetzt, nach der Rückkunft vom Mondscheinritt,<br />

im Hotel <strong>und</strong> sehnte mich, mit jemandem darüber zu<br />

sprechen. Aber meine europäischen Reisegefährten schienen<br />

mir alle zu banal, als daß ich Lust gehabt hätte, sie in die Mystik<br />

dieses Nachterlebnisses einzuweihen.<br />

Nachmittags um drei Uhr sollte mein Zug abgeben, der mich<br />

zum Abend wieder hinunter in die Kaffeegärten <strong>und</strong> Zuckerrohrpflanzungen<br />

Indiens bringen würde <strong>und</strong> der am nächsten<br />

Morgen mit mir in Kalkutta eintreffen sollte.<br />

Auf dem Weg zum Bergbahnhof konnte ich mich nicht<br />

enthalten, die Rikscha am Laden des Schmetterlingshändlers<br />

warten zu lassen. Ich stieg aus. Als ich die Ladentüre öffnen<br />

will, wird diese seltsamerweise schon von innen aufgemacht,<br />

<strong>und</strong> an mir vorbei läuft ein tibetanisches Weib heraus. Ich<br />

hätte aber die Frau kaum wiedererkannt, da mir alle Tibe-


tanerinnen untereinander so ähnlich schienen, wie auch die<br />

Neger <strong>und</strong> Chinesen für den Europäer immer einander ähnlich<br />

sehen, hätte die Frau nicht mit einer heftig erschrockenen<br />

Bewegung in die Brustfalten ihres Mantelrockes gegriffen, als<br />

wolle sie dort etwas beschützen, was ich ihr hätte entreißen<br />

können. Mir schien, als ob sie hohläugiger <strong>und</strong> blasser wäre<br />

als am Tage vorher. Laut mit sich selbst sprechend <strong>und</strong> mit<br />

den Ellenbogen in die Luft fuchtelnd, als müßte sie h<strong>und</strong>ert<br />

Hände abwehren, die sich nach ihr streckten, stürzte sie die<br />

Bergstraße hinunter fort, begleitet vom Gelächter meiner Rikschaschieber,<br />

welche das Gebaren der Frau noch sonderbarer<br />

fanden als ich.<br />

Im Laden kam ich nicht dazu, dem Schmetterlingshändler<br />

vom Amulett zu sprechen, denn ehe ich noch den M<strong>und</strong><br />

öffnen konnte, zeigte er mir in einem geschnitzten Kästchen<br />

einen aufgespießten sogenannten Handflächenschmetterling.<br />

Jene Frau hatte ihm eben den seltenen Schmetterling verkauft.<br />

Er wurde in einem Kästchen aus Kampferholz aufbewahrt,<br />

denn der Geruch dieses Holzes schützt die Schmetterlinge<br />

gegen zerstörende Witterungseinflüsse. Durch Generationen<br />

hindurch kann man einen solchen Schmetterling im Kampferholz<br />

bei vollem Glanz erhalten. Auch diese Frau hatte den<br />

Schmetterling schon lange als ein Erbstück ihrer Familie besessen.<br />

Warum sie ihn verkaufen wollte, da er doch unbezahlbar<br />

war, konnte der Schmetterlingshändler nicht begreifen,<br />

denn ein Handflächenschmetterling wird alle h<strong>und</strong>ert Jahre<br />

einmal im Gebirge gef<strong>und</strong>en. Auf seiner Flügeln sind dunkle<br />

Linien, deren Zeichnung den Linien in der Handfläche einer<br />

Menschenhand gleichen.<br />

»Diese Frau«, sagte der Schmetterlingshändler, »muß vielleicht<br />

für irgendeine eingebildete Schuld ein Tempelopfer


ingen, da sie mit einem solchen Schmetterling ihren bester<br />

Familienschatz verkauft, um Opfergeld zu erlangen.«<br />

Ich erstand den Schmetterling. Und kaum hatte ich ihn Händen,<br />

so wurde mir auch, ohne daß ich fragte, eine Erklärung<br />

über meinen Amulettverlust zuteil.<br />

Der Schmetterlingshändler erzählte mir, daß jene Frau<br />

eine sogenannte »ewige Witwe« sei, eine von jenen, die ihre<br />

Wangen nicht mit Ochsenblut bemalen <strong>und</strong> nicht mehr das<br />

Verlangen haben, einen <strong>andere</strong>n Mann als den Gestorbenen<br />

zu lieben. Um aber auch des Toten sicher zu sein, daß dieser<br />

ihr im nächsten Leben treu bleiben wird, wie sie ihm treu sein<br />

will, trägt eine solche Frau an einer unzerreißbaren Darmsaite<br />

ein Amulett an der Brust, welches ein Menschenpaar darstellt.<br />

Wenn die Witwe aber dieses Amulett verliert denn ein Amulett<br />

wird eine Frau nie verkaufen – hat sie die Treue des Toten<br />

verloren <strong>und</strong> wird ihren Geliebten im nächsten Leben nicht<br />

wiederfinden.<br />

Ein solches Amulett wird niemals verkauft, <strong>und</strong> sollte es<br />

verlorengehen, so setzt eine jede tibetanische Frau ihr Leben<br />

daran, das kostbare Amulett der Treue wieder zu erhalten.<br />

�<br />

Während dieses Nachmittags, als ich im Zug saß <strong>und</strong> in die<br />

finsteren Abgründe des Himalaja hinunterfuhr, sah ich im<br />

Dampf, der aus der Lokomotive kam <strong>und</strong> der in den Dschungelwäldern<br />

<strong>und</strong> an den Urwaldästen hängenblieb, h<strong>und</strong>erte<br />

Male die Gestalt jener ewigen Witwe, wie sie bald gebückt<br />

<strong>und</strong> geduckt suchte <strong>und</strong> wie sie aufgerichtet forttanzte über<br />

die Urwaldwipfel, wie sie die Arme an die Brust drückte <strong>und</strong><br />

nach dein Amulett fühlte, das ihr die Treue <strong>und</strong> die Liebe ihres<br />

Geliebten im nächsten Leben versprach.


Dann, als es dunkel wurde <strong>und</strong> ich draußen keinen Wald<br />

<strong>und</strong> keinen Dampf mehr sah, betrachtete ich lange bei der<br />

trüben Wagenlampe den großen Handflächenschmetterling<br />

in dem Kampferkästchen, dessen Linien so verschlungen sind<br />

wie die Schicksalslinien in den Handflächen der Menschen<br />

<strong>und</strong> dessen Linien in dunkle Nachtränder auslaufen, in unergründliche<br />

Finsternisse, ähnlich den Himalajaabgründen, die<br />

voll Finsternis <strong>und</strong> Aberglauben draußen dicht bei den Schienengleisen<br />

der Bergbahn drohten.


Der Zauberer Walai<br />

W alai war Straßenzauberer in Bombay. Er saß nachmittags<br />

vor dem Taj-Mahalhotel auf dem Pflaster des Quais,<br />

mit seinen Körben, seinem neunjährigen Knaben, einem roten<br />

Tuch, einem Stockdegen <strong>und</strong> einer Handtrommel. Hinter<br />

seinem Rücken lag der indische Ozean, die heiße, unendliche<br />

Wasserwüste. Über Walais gelbem Turban stand die indische<br />

Sonne wie die offene Feuerluke eines Hochglutofens. Vor ihm<br />

das Hotel aus weißem Granit, acht Stock hoch, mit offenen<br />

Granitloggien, darin H<strong>und</strong>erte von englischen Reisenden aus<br />

Europa <strong>und</strong> aus dem indischen Reich, die Hallen <strong>und</strong> Galerien<br />

füllten.<br />

Walai ließ die Trommel bullern. Sein Knabe mußte sich<br />

dann in einen Korb legen. Über ihn schlug Walai das rote<br />

Tuch, schloß den Korbdeckel <strong>und</strong> zählte laut auf englisch: One<br />

– two – three! Dann stieß der Zauberer den Stockdegen bis ans<br />

Heft in den Korb, lachte grinsend <strong>und</strong> sah mit seinen horngelben<br />

Augäpfeln <strong>und</strong> seinem kaffeebraunen Gesicht über die<br />

acht Stockwerke des Hotels hinauf <strong>und</strong> hinunter. Er blähte die<br />

Nasenlöcher, rief: Hee!, hob den Korbdeckel, lüftete das rote<br />

Tuch <strong>und</strong> zeigte dem ganzen Hotel, daß der Korb leer war. Um<br />

ein übriges zu tun, sprang er selbst mit beiden nackten Füßen<br />

in den Korb hinein <strong>und</strong> stampfte darinnen herum <strong>und</strong> rief:<br />

Hee, hee! <strong>und</strong> schwenkte in der einen Hand den Stockdegen,<br />

in der andern das rote Tuch in die Luft. Das rote Tuch hatte


die Farbe von blutigem Fleisch <strong>und</strong> flatterte wie bluttriefend<br />

vor dem überhitzten, silbergrauen Tropenhimmel.<br />

Die weißgekleideten Ladies <strong>und</strong> die weißgekleideten Gentlemen,<br />

die nach dem Lunch in den Schaukelstühlen auf den<br />

prächtigen Steinaltanen lagen <strong>und</strong> ihren Kaffee <strong>und</strong> Whiskysoda<br />

dort tranken, bogen sich aus dem Schatten der Steingewölbe<br />

über die hellen Geländer <strong>und</strong> zeigten Walai ihre blassen,<br />

müden Tropengesichter, die schlaff waren wie ausgepreßte<br />

Zitronen. Tausende von Malen im Jahr zeigte der Zauberer<br />

Walai dasselbe Kunststück, ein dutzendmal am Nachmittag<br />

ließ er unter umständlichem Trommelbullern seinen Knaben<br />

verschwinden <strong>und</strong> erscheinen; auf das weiße Pflaster am<br />

Meerquai klingelten dann die großen Kupferstücke <strong>und</strong> die<br />

kleinen Silbermünzen, die der nackte Knabe auflesen durfte.<br />

Walai selbst bückte sich nicht. Niemand sah, daß er unter<br />

der Bräune seines Gesichtes immer wieder fahl wurde, wenn<br />

er den Stockdegen auch schon zum h<strong>und</strong>erttausendsten Male<br />

in den Korb stieß. Bei jedem neuen Degenstoß erschien auf<br />

seinen spitzen Backenknochen eine leichte Blässe; er liebte<br />

seinen Knaben sehr <strong>und</strong> fürchtete, ihn einmal zu verletzen.<br />

Denn der schmale, knochenlose Knabenkörper war natürlich<br />

nicht aus dem Korbe verschw<strong>und</strong>en, sondern lag darinnen,<br />

schlank wie ein Palmenblatt an die gebauchten Korbwände<br />

gepreßt, <strong>und</strong> wußte der Degenschneide geschickt auszuweichen,<br />

indem er blitzschnell seine Lage veränderte. Oft fuhr<br />

dem Knaben der Degen wie ein Pfeil zwischen zwei Finger<br />

<strong>und</strong> durch die gespreizten Zehen, oder durch das gekrauste<br />

Haar. Er wich der Degenspitze aus wie einer Schlange, die<br />

gestreckt auf ihn losstürzte. Er sah durch die Wände des lose<br />

geflochtenen Korbes das helle Straßenpflaster, das große Hotel<br />

<strong>und</strong> die tanzende Schattengestalt seines Vaters. Und wenn das


Geld draußen klingelte, sprang er vergnügt <strong>und</strong> unverletzt aus<br />

dem Korb.<br />

Heute am Sonntag, wo mehr Europäer als sonst im Hotel<br />

auf den Altanen waren, hatte der Zauberer bis zum Abend<br />

gezaubert. Er hatte seinen Knaben zum erstenmal an der Lippe<br />

geritzt, <strong>und</strong> das rote Tuch zeigte einige dunkle Flecken. Er<br />

hatte dann sein Kind in die leere Lehmhütte heimgebracht;<br />

er machte für die Nacht ein kleines Kohlenfeuer an, legte den<br />

Knaben auf die Strohmatte <strong>und</strong> wartete, bis die Atemzüge<br />

ihm sagten, daß das Kind schlief. Dann ging er noch einmal<br />

aus, um dem Knaben ein neues Turbantuch zu kaufen <strong>und</strong><br />

sich selbst für den heutigen Schreck zu trösten.<br />

Im Abendgewühl in den Eingeborenenstraßen setzte sich<br />

Walai müde auf einen Treppenstein <strong>und</strong> sah einen Augenblick<br />

auf die Millionen Lichter der Stadt, auf die breiten Feuer in<br />

den offenen Höfen. Kerzen <strong>und</strong> Windlichter tanzten in der<br />

Nachtluft auf den Holzgalerien, große Menschenschatten<br />

fuhren aus den Türen, schossen spukhaft durch die Lichtkegel<br />

weit hinaus über die Geländer der Altanen. Oft wurden die<br />

Schatten von fünf Fingern größer als ein Haus, große Nasen<br />

fuhren über weiße Hofwände, als würden die Menschen mit<br />

einem Atemzug zu aufgeblähten Riesen <strong>und</strong> schrumpften<br />

gleich darauf wieder zu Zwergen zusammen. Über den roten<br />

<strong>und</strong> blauen Gläserlampen der Häuser <strong>und</strong> über den braunen<br />

offenen Hoffeuern erschienen <strong>und</strong> verschwanden in der halbkühlen<br />

Märznacht die weißen Raketen der Sternschnuppen<br />

<strong>und</strong> zogen lange Phosphorlinien durch das Dunkel.<br />

Walai der Zauberer sah die Nacht wie einen Kollegen an, der<br />

ihm seine überlegenen Kunststücke zeigen wollte. Und Walai<br />

nickte in die Wirklichkeit <strong>und</strong> Unwirklichkeit der spukenden<br />

Lichter <strong>und</strong> Schatten; er fühlte sich wie ein Fremder <strong>und</strong> Hotelgast<br />

vor der nächtlichen Zauberei.


Ganz in seinen Gedanken ging der Zauberer in den nächsten<br />

Hof <strong>und</strong> hielt seine Hände an das offene Feuer, <strong>und</strong> niemand<br />

von denen, die um die Flammen hockten, achtete auf ihn.<br />

Während Walai sich noch wärmte, hörte er Musik von Gongs,<br />

Trommeln <strong>und</strong> Flöten; er bemerkte jetzt erst, daß er im Vorhof<br />

des Kulitheaters war. Seine abwesenden Augen verschafften<br />

ihm überall freien Eintritt. Er ging an den armseligen<br />

Türwächtern vorüber in den halbzerfallenen �eaterraum.<br />

Keiner getraute sich den langen, hagern Indier, der wie eine<br />

wandelnde Lanze daherkam, anzureden. Das �eater war voll<br />

von Leuten, Kulis, die wie Lumpenbündel hintereinander saßen,<br />

mit farblosen Turbanen, in Wolken von Tabakrauch. Das<br />

�eater erschien wie mit Lumpen <strong>und</strong> Knochen gefüllt. Nackt,<br />

abgemagert <strong>und</strong> grau saß das Kulivolk auf dem Parkett <strong>und</strong><br />

dem einzigen Rang. Das kleine verräucherte Haus war wie ein<br />

französisches �eater eingerichtet. Vier Musikanten spielten<br />

stehend auf der Bühne oben <strong>und</strong> warteten auf die Tänzerin,<br />

die erscheinen sollte. In der dunkeln Bühnenwelt standen<br />

manche Kulissen auf dem Kopf, <strong>und</strong> man wußte nicht, ob sie<br />

Zimmer, Garten oder Straße vorstellten. Walai stieg über kauernde<br />

Menschenhaufen hinauf auf den Rang, setzte sich, legte<br />

sein Gesicht auf das Balkongeländer <strong>und</strong> schlief ein, wie viele<br />

der andern, die müde vorn Lasttragen, von der Straße <strong>und</strong> von<br />

der Hafenarbeit waren.<br />

Die vier Musikanten musizierten einförmig, <strong>und</strong> Walai<br />

wachte erst wieder aus seinem Schlaf auf, als ein Weib einen<br />

Schrei ausstieß. Er öffnete seine Augen langsam <strong>und</strong> sah auf<br />

der verstaubten Bretterbühne, unter der einzigen elektrischen<br />

Bogenlampe, die Kulitänzerin, umgeben vorn ihren vier Musikanten.<br />

Sie mußte schon eine lange St<strong>und</strong>e getanzt haben. Der<br />

Tanz war eben bei der Szene der Entschleierung angekommen.<br />

Sie tanzte bereits mit nackten Brüsten <strong>und</strong> trug nur noch


den letzten blaugrauen schmutzigen Schleierlappen um die<br />

schmalen Schenkel. Nackt bis an das Becken, reckte sie sich<br />

im Tanzwirbel, wie ein Zweig im Sturm. Sie sprang mehrmals<br />

gleich einem Ball vom Boden auf, <strong>und</strong> aus ihrer Kehle fuhr<br />

dann Schrei um Schrei. Endlich fiel sie am Boden in gekauerter<br />

Stellung zusammen <strong>und</strong> blieb liegen, als hätte ihre Seele den<br />

Leib fortgeworfen <strong>und</strong> sich im Tanz vom Herzen losgerissen.<br />

Der Zauberer Walai sah tief aus dem Schlaf heraus den letzten<br />

Tanztakten der rasenden Bajadere zu; dann zwinkerte er<br />

mit beiden Augen wie ein Tiger, der blutunruhig durch die<br />

Wimpern blinzelt, <strong>und</strong> stieß den Atem zischend durch die geschlossenen<br />

Zähne aus. Neben ihm klatschten ein paar Kulis,<br />

<strong>andere</strong> drehten sich schlafend um.<br />

Walai schlief nicht mehr. Er hatte seine Augen schließen<br />

wollen, aber seine Augäpfel öffneten ihm immer wieder die<br />

Augenlider, als hätten sie Hände, <strong>und</strong> seine Blicke holten sich<br />

das schlanke Mädchen, <strong>und</strong> sie tanzte durch sein Blut. Der<br />

Zauberer sah, wie ein hellhäutiger Engländer – der einzige<br />

Fremde, der sich in das �eater verirrt hatte – die Hand mit<br />

der weißen Manschette hob <strong>und</strong> der bettelnden Tänzerin<br />

während der Pause große Silbermünzen in den hingehaltenen<br />

Schleier warf.<br />

Der Walai spuckte rasch zwischen seinen Knien auf den<br />

Fußboden. Wie das Haupt eines Geköpften lag sein Kopf mit<br />

aufgestütztem Kinn auf dem Geländer, seine weit offenen Augen<br />

hielten das Mädchen auf der Bühne fest, als wären seine<br />

Blicke Zügel, als hätte er die fliegende Gestalt auf den Bühnenbrettern<br />

mit einem Lasso eingefangen <strong>und</strong> an sein Herz<br />

geb<strong>und</strong>en. St<strong>und</strong>enlang rührte sich sein Kopf nicht, <strong>und</strong> seine<br />

Augäpfel starrten rot aufgerissen wie zwei fleischfressende Urwaldorchideen,<br />

deren Kelche in der Nacht plötzlich mit einem<br />

Knall aufspringen.


Das Mädchen auf der Bühne tanzte ahnungslos <strong>und</strong> ließ<br />

seine nackten Brüste wie zwei kleine Seidenkissen unter der<br />

Bogenlampe glänzen. Von Sek<strong>und</strong>e zu Sek<strong>und</strong>e wurde jetzt<br />

das seufzende Zischen des Zauberers lauter, <strong>und</strong> als die Tänzerin<br />

sich wieder zu dem Fremden bückte <strong>und</strong> Geld auffing,<br />

glitt Walai an der Wand entlang, als wolle er sich unsichtbar<br />

machen, <strong>und</strong> kam zur Tür. Das Türbrett öffnete er lautlos. Da<br />

fiel der Schatten der Tänzerin, groß <strong>und</strong> lang, zugleich mit<br />

Walais Schatten hinaus an die weiße Hofwand, <strong>und</strong> die Schattenhände<br />

des Mädchens fuhren einen Augenblick um Walais<br />

Halsschatten.<br />

�<br />

Ein paar Minuten später stand Walai vor seiner Lehmhütte,<br />

bei seinem schlafenden Knaben. Der Hüttenraum war blutrot<br />

vom ausgehenden Feuer. Wie von den Augen der rasenden<br />

Tänzerin getragen, war Walai mit leichten, großen Sätzen<br />

durch die Gassen nach Hause gesprungen, er konnte schwören,<br />

daß er keine Fußspuren hinter sich im Sand gelassen<br />

hatte. Wie offene Feuer großen Rauch <strong>und</strong> große Schatten in<br />

die Nacht schleudern, so fühlte sich der Zauberer von seinem<br />

plötzlich leidenschaftlich verliebten Herzen als ein dunkler<br />

Riese in die Welt gestellt. Wenn er die Augen schloß, tanzte<br />

in ihm die Bajadere. Es war ihm all sein Blut im Leib verdorrt,<br />

<strong>und</strong> der rasende Tanz des Mädchens war das einzige Leben in<br />

seinen Adern.<br />

Er nahm wie ein Irrsinniger den Degen aus der Zimmerekke.<br />

»Süße!« flüsterte er, »Süße!« Er schloß die Augen, als tanzte<br />

das Mädchen auf dem roten Lehmboden der Hütte vor ihm,<br />

<strong>und</strong> mit geschlossenen Zähnen seufzte er noch einmal tief:


»Der Fremde gibt dir Geld, was gibt dir Walai?« Er schwang<br />

plötzlich die rotbeleuchtete Degenklinge wie eine Fahne in der<br />

Hand <strong>und</strong> stieß die Stahlspitze seinem Knaben in das Herz.<br />

Mit roten Augäpfeln lachend, in Ekstase wie ein Tanzender<br />

<strong>und</strong> mit hochgehaltener Degenklinge, deren Spitze schwarz<br />

von Blut war, rannte er aus der Hütte, sprang wie ein Gespenst<br />

an den Häusern hin. Die Leute unter den Laternen wichen<br />

ihm aus, sie meinten, es sei ein irrsinniger heiliger Mann, der<br />

aus einem Tempel fort in die Welt stürzte. Mit einem einzigen<br />

Satz sprang Walai mitten in den �eaterhof. Da der Weg über<br />

das Feuer der kürzere war, sprang er ohne Besinnen über den<br />

Holzstoß. In drei Sprüngen war er durch die aufgerissene Tür<br />

des Zuschauerraumes oben auf der Bühne.<br />

Die Musikanten warfen sich zwischen ihn <strong>und</strong> die Tänzerin.<br />

»Willst du sie töten?« rief der eine <strong>und</strong> hielt zum Schutz gegen<br />

seinen Degen den bronzenen Gong wie einen Schild hoch. Der<br />

Zauberer aber lachte, <strong>und</strong> über die Köpfe der Musikanten warf<br />

er den Degen vor die Füße der Kulitänzerin.<br />

»Laßt mich«, schrie er, »der Fremde gab ihr sein Geld, ich<br />

gebe ihr mein liebstes Blut.«<br />

Die Tänzerin floh vor dem hingeworfenen blutigen Degen<br />

hinter die Kulissen. Viele packten Walai, hielten ihn fest, riefen<br />

die englischen Konstabler von der Straße; die kamen in ihren<br />

gelben Kaki-Uniformen auf die Bühne, banden den Mann<br />

solid <strong>und</strong> nüchtern <strong>und</strong> schleiften ihn fort.<br />

»Der hatte einen roten Gedanken«, sagten die schläfrigen<br />

Kulis zueinander, <strong>und</strong> einer warf Walai den blutigen Degen<br />

über den Hof nach. Dann setzten sich die Leute wieder auf<br />

ihre Plätze, die Musikanten spielten, die Kulibajadere tanzte<br />

wie immer bis zum Morgenrot <strong>und</strong> verstand nicht einmal, daß<br />

sie in dieser Nacht einen Zauberer verzaubert hatte. Sie tanzte,<br />

weil es ihr Geschäft war, <strong>und</strong> tanzte heute lebhafter, weil der<br />

Fremde im Parkett noch reich an Silbermünzen war.


Dalar rächt sich<br />

D ie Frau des Dalar stand an einer Straßenpumpe in einer<br />

der Eingeborenenstraßen von Bombay. Sie drehte den<br />

Hahn auf <strong>und</strong> hielt den Kopf ihres sechsjährigen Knaben darunter<br />

<strong>und</strong> wusch ihn mit den Händen.<br />

Es ist morgens sieben Uhr, <strong>und</strong> die Straße wimmelt von Indern,<br />

die wie nackte Rudel Rotwild aneinander vorübereilen.<br />

Ziegenherden <strong>und</strong> Scharen von Truthühnern treiben neben<br />

zweiräderigen hohen Lastkarren über das Pflaster. Inder sitzen<br />

am Trottoirrand, lassen sich rasieren, ihre Ohren reinigen <strong>und</strong><br />

ihren Leib massieren. Die Straßenfriseure, mit dem Toilettenwerkzeug<br />

im Gürtel <strong>und</strong> bis auf Gürtel <strong>und</strong> Turban unbekleidet,<br />

hocken neben ihrer K<strong>und</strong>schaft am Trottoirrand.<br />

Die Frau des Dalar hatte ihrem Knaben das schwarze Haar<br />

blank gestrichen, daß sein Kopf wie der Lackschuh eines Europäers<br />

glänzte. Sie öffnete jetzt ihr eigenes Haar <strong>und</strong> hielt ihren<br />

Kopf unter die Straßenpumpe; sie ließ den Wasserstrahl wie<br />

einen Glaskolben aufschlagen, <strong>und</strong> das Wasser zerplatzte weit<br />

im Kreise.<br />

Ein Zebukalb, ein wilder H<strong>und</strong> <strong>und</strong> ein paar Truthühner, die<br />

sich um die Pumpe tummelten, kamen herbei <strong>und</strong> schlurften<br />

die Wassertropfen auf.<br />

Die zwei indischen Arbeiter in Dalars offener Schneiderbude,<br />

welche Turbanbänder <strong>und</strong> Schleier auf englischen Nähmaschinen<br />

säumten, lachten über den spritzenden Wasserstrahl,<br />

<strong>und</strong> Oliman, der eine der Gehilfen rief der Frau des Dalar den


Brahmanenspruch zu: »Elida, nimm dein Haupt in acht, daß<br />

es nicht zu Wasser wird unter der Quelle.«<br />

Elida, die Frau des Dalar, antwortete ihm nicht.<br />

Sie schickte aber, als sie ihr schwarzes Haar ausrang <strong>und</strong> sich<br />

aufrichtete, mit der Wimper zuckend den Knaben zu dem, der<br />

gesprochen hatte. Oliman legte seine Hand auf eine Sek<strong>und</strong>e<br />

auf das frische schwarze Haar des Knaben, murmelte ein Gebet<br />

über ihm <strong>und</strong> ließ ihn wieder gehen. Dann beugte er sich<br />

demütig <strong>und</strong> scheu über seine Nähmaschine, ließ Öl aus der<br />

Kanne in die Räder tropfen <strong>und</strong> nähte weiter.<br />

Jedesmal, wenn die Frau ihr Haar an der Pumpe vor dem Laden<br />

ihres Mannes wusch, geschah es, daß sie das Kind zu Oliman<br />

schickte <strong>und</strong> dieser ein Gebet über dem Knaben sprach;<br />

das geschah jeden Morgen, seitdem der Knabe laufen konnte.<br />

Niemand in der Straße dachte darüber nach, warum Oliman<br />

den Knaben jeden Morgen segnete. Aber Dalar, der Besitzer<br />

der Nähmaschinen, saß jetzt tagelang drüben beim Silberschmied<br />

an der Ecke <strong>und</strong> dachte nach. Er ließ seine Wasserpfeife<br />

oft ausgehen, zündete sie wieder an <strong>und</strong> dachte weiter.<br />

Dalar konnte quer über das Gewühl der Zebukarren <strong>und</strong> über<br />

das Gerenne des Basarvolkes <strong>und</strong> heimlich über die Schulter<br />

seines Fre<strong>und</strong>es, des Silberschmiedes, hinweg seinen Laden<br />

beobachten, seine Nähmaschinen, sein Weib an der Pumpe,<br />

den Knaben <strong>und</strong> Oliman.<br />

An diesem Morgen, als die Frau mit dem Kind ins Haus<br />

gegangen war, wischte sich Dalar mit der Handfläche den<br />

Schweiß von der Stirne, stand auf, schlüpfte mit den Füßen in<br />

seine Pantoffeln <strong>und</strong> ging finster in Gedanken fort in das Straßengewühl.<br />

Im Geschäftsgetriebe bemerkte niemand bei dem<br />

Silberschmied, daß Dalar verschwand. Dalar ging, bis er in<br />

einer Gasse vor eine Zeltbude kam. Vor dem Zeltvorhang saß<br />

die rächende Göttin Kali, die Vielarmige, aus Holz geschnitzt.


Drinnen im Zelt sind die rächenden Todesgötter der Inder aufgestellt,<br />

die bei Prozessionen an Festtagen durch die Straßen<br />

getragen werden. Vor dem Zelteingang neben der Göttin steht<br />

ein großer Blechkasten als Opferstock. Dalar warf ein Silberstück<br />

hinein <strong>und</strong> wünschte sich einen rächenden Gedanken.<br />

Er starrte dabei finster auf die hölzerne schwarze Gestalt der<br />

Göttin Kali, die auf einem zitronengelben Tiger sitzt, welchem<br />

statt Menschenblut rote Ölfarbe um das Maul gemalt ist. Die<br />

vielen schwarzen Arme der Göttin schwingen vergiftete Dolche,<br />

vergiftete Säbel <strong>und</strong> vergiftete Speere; sie hält ein ganzes<br />

Arsenal blitzender Waffen in die Luft. Alles Straßenvolk geht<br />

grüßend an ihr vorüber, <strong>und</strong> aller Inder Augen blitzen für<br />

eine Sek<strong>und</strong>e beim Gruß, wie Raketen in der Nacht. Dalar<br />

verbeugte sich dreimal <strong>und</strong> klatschte in die Hände, um die<br />

Aufmerksamkeit der schwarzen Göttin zu erwecken. – Daß<br />

ihn sein Weib Elida mit Oliman betrogen hatte, wußte er jetzt,<br />

denn er sah es deutlich an dem Kind, welches Oliman täglich<br />

ähnlicher wurde. Heute hatte er endlich beschlossen, sich an<br />

Elida zu rächen.<br />

Dalar trat in die staubige Tempelbude, um sich einen Tod für<br />

sein Weib auszusuchen.<br />

Lange Reihen hölzerner, rot, gelb <strong>und</strong> grün gemalter Puppen<br />

standen drinnen unter dem grauen Zelttuch auf langen<br />

Tischen. Da waren: Menschen an Marterpfähle geb<strong>und</strong>en, mit<br />

brennenden Pfeilen gespickt; englische Soldaten, welche vom<br />

wütenden Elefantengott zerstampft wurden; die Göttin Kali<br />

auf unzähligen Tigergestalten, auf roten <strong>und</strong> schwarzen Tigern,<br />

Feuer <strong>und</strong> Pest darstellend; der blaue Affengott, der die<br />

Menschenaugen irrsinnig macht mit seinen Grimassen <strong>und</strong><br />

Verrenkungen. Es wurden Menschen von der Rachegöttin zu<br />

Tode gepeitscht, der Tiger hielt Verzweifelte in seinen Tatzen<br />

<strong>und</strong> riß ihnen die Gedärme aus der Bauchhöhle. Der gelbe


Tigergott hatte grüne Glaskugeln als Augen <strong>und</strong> echte, heilige,<br />

zornige Tigerkrallen. Jede mögliche Folter <strong>und</strong> jeder schrecklichste<br />

Tod hatte sein Bild hier. Um das vergossene Blut zu<br />

schildern, war an den plastischen Figurengruppen nicht mit<br />

Scharlachfarbe, Purpur <strong>und</strong> Rötel gespart.<br />

Dalar grübelte. Seine Augen liebkosten die rotgemalten Folterqualen,<br />

als stünde er vor den Blumenbeeten in den Gärten<br />

des Paradieses. Aber als er die langen Reihen zweimal auf <strong>und</strong><br />

ab gegangen war <strong>und</strong> alle Todesschmerzen am eigenen Leibe<br />

nachgefühlt hatte, fand er unter allen grausamen Todesarten<br />

keinen Tod grausam genug für sein Weib. Nicht den roten<br />

Tod, das Feuer, das den Menschen zernagen konnte; nicht<br />

den schwarzen Tod, die Pest mit ihren schwarzen Beulen;<br />

nicht den blauen Tod, den Wahnsinn mit reinen verrenkten<br />

Grimassen; nicht den gelben Tod, den Tigerhunger mit den<br />

eigenen Därmen im Maul; den Tod, den Dalar für Elida suchte,<br />

fand er nicht unter den dreih<strong>und</strong>ertsechzig Todesarten.<br />

Wie von der Göttin gekränkt, wollte Dalar schon die graue<br />

Tempelbude verlassen. Da – unter dem Zeltausgang – blieb<br />

sein Turban an einem rostigen Nagel hängen, das Turbantuch<br />

schlitzte auf, <strong>und</strong> Dalars ganzer Geldvorrat, den er, wie alle<br />

ärmeren Orientalen, stets in den Turban gewickelt trug, rollte<br />

in h<strong>und</strong>ert Silbermünzen über Schultern, Rücken <strong>und</strong> Brust<br />

an ihm herab, auf die Erde, der vielarmigen Göttin Kali zu<br />

Füßen.<br />

Dalar sah <strong>und</strong> horchte erstaunt auf die klingenden Münzen,<br />

als hörte er jedes Silberstück sprechen.<br />

Erleuchtet von einem plötzlichen Gedanken, beugte er sich<br />

dreimal tief <strong>und</strong> ehrfürchtig vor dem Götterbild, verließ dann<br />

das Zelt <strong>und</strong> ließ sein ganzes Geld hinter sich bei der rächenden<br />

Göttin liegen.<br />

»Die Göttin Kali hat gesprochen!«


»Den grauen Tod, die Armut, wünscht dir die Göttin Kali,<br />

Elida!« Und Dalar nickte ernst <strong>und</strong> zustimmend, dann verschwand<br />

er im Straßengewühl.<br />

Tief in der Nacht, als die grellen Tropensternbilder wie Stachelzäune<br />

über den Häusern standen, schlich Dalar an seine<br />

Haustür <strong>und</strong> malte mit ein wenig Indigofarbe einen blauen<br />

Kreis an den Türpfosten, zum Zeichen, daß einer im Haus<br />

gestorben sei. Dann ging der Mann weiter durch die Nacht.<br />

Sein Weib würde am nächsten Morgen glauben, er wäre an<br />

der Türschwelle umgefallen <strong>und</strong> von der englischen Nachtpatrouille<br />

als pestverdächtig in die Baracken fortgetragen worden.<br />

Der Offizier der Patrouille hätte dann, wie gewöhnlich,<br />

das blaue Zeichen lakonisch an die Tür gemalt.<br />

Dalar wanderte unter den Ketten der schweren Sterne durch<br />

die Nacht. Morgen war der Monatsanfang, an dem die beiden<br />

Nähmaschinen den unerbittlichen englischen Fabrikanten<br />

bezahlt werden mußten; morgen war der Monatsanfang, an<br />

dem die Hauspacht entrichtet werden mußte. Die armseligen<br />

feigen Ladengehilfen konnten Elida nichts nützen. Morgen<br />

mußte Oliman sich eine <strong>andere</strong> Stelle suchen, morgen mußte<br />

Elida mit ihrem Knaben betteln gehen.<br />

Dalar schritt unter dem Steingewichte der Sterne durch die<br />

Nacht, <strong>und</strong> ihm war, als hätte er alle Arme der Göttin Kali am<br />

Leibe, so glücklich fühlte er sich. Er rächte sich tief mit allen<br />

göttlichen Armen der Rache.<br />

Dalar wanderte in dieser Nacht, reich wie die Finsternis, als<br />

Pilger zu dem Berg Abu, um ein Jaïn zu werden. Die Jaïns leben<br />

dort am Berge nackt <strong>und</strong> sprechen dem Weibe jede Seele<br />

ab.


Eingeschlossene Tiere<br />

E sthe, die Tochter des englischen Botanikers Horseshoe,<br />

war in Indien, in Kalkutta, geboren <strong>und</strong> sollte jetzt in ihrem<br />

sechzehnten Lebensjahre für immer mit ihrem Vater nach<br />

England zurückkehren. Esthe war an Indien angewachsen, wie<br />

eine Koralle am Meeresgr<strong>und</strong>. Sie versuchte auf alle erdenkliche<br />

Weise einen Gr<strong>und</strong> zu finden, um in Indien zurückbleiben<br />

zu dürfen. Sie verfiel, wie junge, hartnäckige Mädchen leicht<br />

tun, auf das Resoluteste <strong>und</strong> das in ihren Augen Einfachste: sie<br />

wollte sich von einem jungen Indier entführen lassen.<br />

Zu Haus waren bereits alle Zimmer geleert, alle Kisten zugenagelt,<br />

alle Koffer zugeschnallt, <strong>und</strong> Esthe wohnte mit ihrem<br />

Vater während der letzten Nächte im Grandhotel von Kalkutta.<br />

Es war Sonntag, <strong>und</strong> am Montag wollten Vater <strong>und</strong> Tochter<br />

den Schnellzug nach Bombay nehmen, um dort den Dampfer<br />

der P.- <strong>und</strong> O.-Linie zu erreichen <strong>und</strong> sich nach Southampton<br />

einzuschiffen.<br />

Es ist Sonntagnachmittag. Der Frühjahrssturzregen hat aufgehört,<br />

die Rasenerde des riesigen Maidanplatzes vor dem Hotel<br />

hat alle Pfützen <strong>und</strong> Wasser schnell verschluckt, die Sonne<br />

blitzt wie nagelneu am Himmel, <strong>und</strong> die Damen im Hotel<br />

erscheinen mit den ersten Frühlingsstrohhüten der Londonsaison<br />

auf dem Kopfe.<br />

Der Botaniker Horseshoe schrieb auf einer Schreibmaschine<br />

im Lesesaal des Hotels seinen letzten botanischen Bericht für<br />

die Kalkutta-Times, <strong>und</strong> Esthe sagte über die Schulter ihrem


Vater, daß sie noch eine Radtour um den Maidan machen<br />

würde.<br />

Sie fuhr ein paar Minuten später auf dem vernickelten, blitzenden<br />

Rad um den mehrere Kilometer großen, freien Rasenplatz,<br />

den Kopf geduckt <strong>und</strong> in die Luft gebohrt wie eine<br />

hitzige Hummel. Bei einer großen Allee bog sie scharf <strong>und</strong><br />

energisch um die Ecke <strong>und</strong> flog unter den Bäumen hin, zum<br />

zoologischen Garten. Dort war soeben das Sonntagnachmittagskonzert<br />

beendet, hohe Equipagen kamen Esthe in langen<br />

Reihen entgegen. Das junge Mädchen vermied es, aufzusehen,<br />

um nicht Bekannte grüßen zu müssen. Sie ließ ihr offenes<br />

Haar wie eine Rasende im Winde wehen <strong>und</strong> jagte wie ein<br />

Spuk an der Wagenkette vorüber.<br />

Die weißgekleidete Regimentsmusik verließ soeben mit ihren<br />

blitzenden Messinginstrumenten den Garten, als Esthe<br />

am großen Gittertore vom Rade sprang. Der Portier des zoologischen<br />

Gartens kannte Esthe; sie war täglich hier in dem<br />

mächtigen Park, wo die roten Dächer der Tierhäuser unter<br />

dem bläulichen Grün der Königspalme <strong>und</strong> der Kasuarinenbäume<br />

wie rote Zelte leuchteten.<br />

Der indische Portier lächelte täglich über die hastige kleine<br />

Miß, die sich von einem der jungen Gärtnerburschen durch<br />

die Baumreihen <strong>und</strong> an den Käfigen vorbei oft lange Nachmittage<br />

begleiten ließ. Todor, der junge Gärtner, ging dann, zwei<br />

Schritt entfernt, wie ein brauner Käfer immer schweigsam neben<br />

der jungen plaudernden Dame. Jedermann im Garten, alle<br />

Tierwärter <strong>und</strong> Gärtner wußten, daß der Bursche sich unter<br />

den Blicken der kleinen Miß vor Ehrfurcht, Ergebenheit <strong>und</strong><br />

Schwärmerei wie ein Mimosenkraut zusammenrollte.<br />

»Todor hier?« fragte jeden Tag die kleine Engländerin <strong>und</strong><br />

schüttelte ihr wachsblondes offenes Haar vor dem uniformierten<br />

indischen Portier beim Eintritt in das Gittertor. Da-


ei schwang sie die kurze Reitpeitsche, die sie als Radfahrerin<br />

gegen die H<strong>und</strong>e in der Hand hielt. Der Portier legte, lächelnd<br />

<strong>und</strong> sich tief verneigend, schweigend die rechte Hand an die<br />

Stirn <strong>und</strong> deutete mit der linken auf ein hochstämmiges Malvenbeet,<br />

dahinter der weißgekleidete sechzehnjährige Bursche<br />

wie eine Maus mit schwarzem Gesicht kauerte <strong>und</strong> die<br />

feuerfarbenen Blütenzepter der Malvenstöcke an Bambusrohr<br />

festband. Seine Augen waren wie schwarze Papierasche <strong>und</strong><br />

scheinbar tief versunken in die Blumenarbeit; aber seit St<strong>und</strong>en<br />

warteten sie auf die blaßhäutige junge Dame.<br />

Eine St<strong>und</strong>e vor Sonnenuntergang schloß heute der Portier<br />

den Garten, <strong>und</strong> da das Fahrrad vom Gittertor verschw<strong>und</strong>en<br />

war, blieb er überzeugt, daß die kleine Engländerin schon<br />

heimgefahren sei. Aber Esthe war hinter den letzten Häusern<br />

des Gartens, bei dem Aquarium, versteckt geblieben.<br />

»Ich soll morgen abreisen, Todor«, hatte sie gesagt, »<strong>und</strong><br />

du weißt, mein sehnlichster Wunsch war immer, einmal eine<br />

Nacht hier im Garten unter den wilden Tieren bleiben zu dürfen.<br />

Ihr Gärtner <strong>und</strong> Wärter seid auch nachts hier. Warum<br />

soll ich nicht bleiben können? Ich möchte im Finstern an den<br />

Käfiggittern entlanggehen <strong>und</strong> die Tigeraugen sehen, wenn<br />

sie grün <strong>und</strong> gelb auf mich losstürzen; die großen fliegenden<br />

H<strong>und</strong>e, die tagsüber schlafen <strong>und</strong> kopfüber an den Bäumen<br />

hängen, möchte ich nachts aufwachen sehen <strong>und</strong> möchte<br />

sehen, wie die Schlangen sich nachts am Glas der Aquarien<br />

elektrisch reiben. Und vor allem habe ich Appetit nach dem<br />

verruchten Gebrüll der Heulaffen, die im Mondschein klagen<br />

sollen, als ob sie sich gegenseitig erdrosselten, <strong>und</strong> dann muß<br />

ich die Signalpfiffe der großen Trompetennachtigallen kennenlernen.<br />

Habe ich die Nacht hier angenehm zugebracht <strong>und</strong><br />

gehe morgen früh nach Hause ins Hotel, so wird es dann für<br />

meinen Vater auch zu spät, um mit dem Schnellzug abzurei-


sen. Dann versäumen wir das Schiff in Bombay; ich habe wieder<br />

eine Woche gewonnen, <strong>und</strong> die Abreise wird verschoben<br />

bis zum nächsten Schiff.«<br />

Todor der Gärtnerbursche verstand mit seinen Augen, die<br />

wie brauner Honig glänzten, alles, wenn auch sein Ohr nicht<br />

jedes englische Wort begriff. Er nickte beständig; so wie man<br />

im Wasser seinem eigenen Spiegelbild zunickt, so nickte er in<br />

die klarblauen Augen des kleinen Fräuleins. Esthe hatte sich<br />

bis zur Schließung des Gartentores verstecken wollen, <strong>und</strong><br />

Todor hatte sie in eine Tuberosenlaube geführt, die hinter<br />

dem Aquarium stand. Dort saßen sie unter breitblätterigen<br />

Schlingpflanzen wie in einem grünen hohlen Schuppenleib.<br />

Esthe lag auf einer Bank, Todor hockte vor ihr auf dem feuchten<br />

Tropenboden, der mit grünem Schimmel bedeckt war.<br />

Draußen verschwanden mit einem Male die rotsandigen<br />

Gartenwege in der plötzlichen Tropendämmerung. Esthe erzählte<br />

von den Pflanzensammlungen ihres Vaters, <strong>und</strong> Todor<br />

bewegte die Lippen in früherer Gewohnheit des Betelkauens.<br />

Das Betelkauen hatte sich der Gärtnerbursche abgewöhnen<br />

müssen, da Esthe den roten Saft, den er dabei ausspuckte,<br />

nicht leiden konnte. Aus dem plötzlich grauen Abendlicht<br />

drang jetzt das langausgestoßene Geheul der wilden Tiere<br />

gleich Rufen aus gewaltigen Muschelhörnern in die Laube.<br />

»Wie wäre es«, sagte Esthe, »wenn wir jetzt die Schlüssel zu<br />

den Häusern der Tiger <strong>und</strong> Schlangen bekämen?«<br />

»Noch abwarten«, sagte Todor <strong>und</strong> ging auf den Zehen zum<br />

Ausgang der Laube. Die Luft des Gartens begann wütender<br />

nach Tierhaut <strong>und</strong> Tierschweiß zu riechen. Esthe gruselte es<br />

angenehm bei dem wilden Geruch. Todor ging um die Laubenecke.<br />

Esthe starrte hinaus. Alle Bäume verschwanden jetzt,<br />

als gingen sie alle aus dem Garten, <strong>und</strong> Ströme von Düften<br />

wanderten wie fremde lebendige Wesen durch die Dunkelheit.


Auch alle Farben begannen zu wandern. Der Scharlach der<br />

Kakteenblüten war pechschwarz geworden, die blauen Mandarinenblüten<br />

leuchteten weiß, die Yuccapalmen glitzerten<br />

wie Fischgräten <strong>und</strong> Fischgerippe <strong>und</strong> die Palmyraschäfte wie<br />

große weiße Elefantenknochen. Die Dunkelheit gab den Bäumen<br />

klumpige Beine <strong>und</strong> den Büschen gedunsene Leiber, daß<br />

sie Molchen glichen; die Nachtfarbe verwandelte die Welt der<br />

Pflanzen in eine Tierwelt. Die Erde vor Esthes Füßen dünstete<br />

einen bittern Schweiß aus, den das Mädchen wie ein Gift auf<br />

der Zunge schmeckte. Das vielgestaltige Echo aus den Tierhäusern<br />

vertausendfachte sich in dem Garten, als ob ganze<br />

Haufen eingeschlossener Tierherzen Selbstmord begingen<br />

<strong>und</strong> ihrem fliehenden Leben nachklagten.<br />

Esthe stand von der Bank auf <strong>und</strong> tastete sich durch die<br />

Laube. Sie griff nach den weiblichen Tuberosen; die fühlten<br />

sich wie glatte, schleimige Augäpfel an, die sich unter ihren<br />

Fingerspitzen bewegten. Sie griff in die Schlingpflanzen, die<br />

waren wie das Gekröse <strong>und</strong> Eingeweide eines frischgeschlachteten<br />

Tierleibes, lauwarm <strong>und</strong> weich. »Todor!« rief das junge<br />

Mädchen. Todor aber schien verschw<strong>und</strong>en.<br />

Esthe bog ihre Reitpeitsche krampfhaft um die Knie. Es war<br />

jetzt ganz finster in der Laube, <strong>und</strong> wie eine hohle Brandung<br />

tobte draußen das Geheul <strong>und</strong> Gebell aus den Käfigen. Esthe<br />

kannte wohl die indischen Nächte voll Zikadengerassel <strong>und</strong><br />

Affengeschrei; auch die Schreie der Schakale <strong>und</strong> das Gelächter<br />

vieler wilden Nachtvögel hatte sie gehört, aber diese<br />

langen, qualvollen Stoßseufzer eingeschlossener Tiere, welche<br />

die Luftwellen aufregten, daß die Blätter im Dunkel zischelten,<br />

diese inbrünstigen Sehnsuchtsschreie, langgezogen <strong>und</strong><br />

schneidend, als müßten sie die Käfiggitter zersägen, dieses<br />

Blutgeheul der tierischen Frühlingswollust, dazwischen das<br />

Klirren der eisernen Gitterstäbe, die geschüttelt wie Ketten


unter dem Freiheitsdrang wahnsinnig gewordener Bestien<br />

rasselten, das hatte Esthe noch nie gehört.<br />

Esthes Herz schauderte <strong>und</strong> begann sich wie ein selbständiges<br />

Geschöpf zu regen; sie fühlte ihr Herz aufrecht, mit großen<br />

stoßenden Schritten durch ihren jungen Leib wandern. Ihr<br />

Herz machte Sprünge wie ein kralliger Panther, <strong>und</strong> es dehnte<br />

<strong>und</strong> rollte sich auf wie eine sich wälzende Riesenschlange, aber<br />

blieb doch immer am gleichen Fleck wie eine festgewachsene<br />

Seepflanze, die sich mit verwirrenden Fäden aufkräuselt, um<br />

sich greift <strong>und</strong> Nahrung sucht. Und alle die Schreie in dem<br />

finstern Garten, die aus den Tierkehlen platzten <strong>und</strong> der Luft<br />

weh taten, wurden in Esthe wie ihre tausend eigenen Stimmen.<br />

Alles, was im Garten an Wildheit wucherte, an Inbrunst<br />

<strong>und</strong> Leidenschaft, wurde zu Esthes Herz. Ihr Blut ging alle<br />

Tierverwandlungen durch, als wollte es fort aus ihrem Leib,<br />

vielgestaltig in die Nacht stürmen; wie die Raubtiere, die ihre<br />

Haare an den Gitterstäben reiben <strong>und</strong> ihre Tatzen durch die<br />

Eisen drängen, drängte das Blut des jungen Mädchens nach<br />

einer unbekannten Freiheit.<br />

Wo ist Todor? rief es in Esthe. Er hat den Blick der großaugapfligen<br />

Tiger; er ist wie die geschmeidigen, knochenlosen<br />

Schlangen. Heute nachmittag auf dem Gartenweg hing sein<br />

Schatten schwer <strong>und</strong> schwarz an ihm, wie die großen fliegenden<br />

H<strong>und</strong>e an den Bäumen hängen, mit dem Kopf nach unten.<br />

Todor schweigt immer, aber seine Augäpfel sprechen mehr<br />

als Tag <strong>und</strong> Nacht. Es ist finster draußen vor der Laube, als<br />

hätte Todor mit seinen Augen den ganzen Garten verschluckt.<br />

– Todor ist jetzt alles, er ist das große Finster draußen, <strong>und</strong> er<br />

ist das Blut in Esthe geworden, das wie eine Elefantenherde ihr<br />

Herz zerstampft.<br />

Das junge Mädchen ließ die Reitpeitsche fallen. Sie preßte<br />

die Hände an ihren nackten Hals <strong>und</strong> begann mit einem Male


wie eine Krähe laut aufzuschreien. Esthe schrie mit hochgehobenen<br />

Händen, sie stand auf den Zehen aufgerichtet <strong>und</strong><br />

schrie endlos – daß die Heulaffen schwiegen, das Tigergebrüll<br />

sich verkroch <strong>und</strong> alle Tiere hinter den Gittern den Atem<br />

anhielten. Der ganze finstere Garten horchte ein paar Augenblicke<br />

auf den hohen Fistelton des Hilfegeschreis eines jungen<br />

Menschenweibes.<br />

Endlich tauchten Laternen auf, Lichter spiegelten sich in den<br />

Teichen, in den Glashäusern, <strong>und</strong> von neuem warf sich das<br />

Tiergebrüll an die bronzenen Gitterstäbe, den Laternen entgegen,<br />

<strong>und</strong> übertönte Esthes Geschrei. Riesige Schatten von vorwärtstastenden<br />

Menschen fuhren aus den Baumspalten. Gartenwege<br />

<strong>und</strong> Blumenköpfe erschienen, <strong>und</strong> es war, als eilten<br />

Haufen von Bäumen <strong>und</strong> fliegende Wesen herbei. Beleuchtet<br />

von den Laternen, stand Esthe mit aufgereckten hellen Armen<br />

<strong>und</strong> schrie allen entgegen. Sie rührte sich nicht vom Platz, sie<br />

schrie ihren Schreien nach. Dann plötzlich stürzte sie wie ein<br />

geblendetes Insekt mitten zwischen die Laternenspiegel.<br />

»Hilfe vor Todor, Hilfe, Hilfe vor Todor!« schrie sie den verblüfften<br />

Leuten ins Ohr. Sie klammerte sich an vier Wärter<br />

zugleich, die sie wie eine Barrikade zum Schutz um sich stellte.<br />

Man suchte in der Laube, nirgends war Todor zu sehen. Die<br />

Wärter trugen das ohnmächtige Mädchen durch den Garten,<br />

darinnen die vom Licht aufgescheuchten Tiere jetzt noch lauter,<br />

gleich einem wilden Heergetümmel, tobten.<br />

In der Nähe des Straßentores glaubte ein Wärter Todors Gesicht<br />

hinter einem Busch zu sehen. Als man von neuem suchte,<br />

fand man ein Leinwandpäckchen voll Silbermünzen neben der<br />

Tür des Portierhauses hingelegt.<br />

Todor war, als er Esthe entschlossen sah, nicht abzureisen,<br />

von des Mädchens kühnen Nachtgedanken gleichfalls kühn


gemacht worden. Er hatte Esthes Fahrrad vorsichtig durch das<br />

Parkgitter geschoben, hatte es in der Stadt zu einem indischen<br />

Bekannten gefahren <strong>und</strong> es diesem verkauft <strong>und</strong> war gleich<br />

mit dem Gelde zurückgekommen, um Esthe die Silbermünzen<br />

einzuhändigen, damit sie immer in Kalkutta bleiben könne.<br />

Denn das junge Mädchen hatte in der Abschiedsstimmung<br />

an den letzten Nachmittagen öfters wiederholt, wenn sie sich<br />

Geld verschaffen könnte, würde sie in Indien bleiben. Sie wollte<br />

gern alle ihre Kleider <strong>und</strong> sogar ihr geliebtes Fahrrad verkaufen,<br />

wenn sie nur wüßte, an wen. Als Todor mit dem Geld<br />

in der Hand zurückkam, bemerkte er von weitem den Laternenzug<br />

<strong>und</strong> den Wärterhaufen, der Esthe in einen Wagen trug.<br />

Todor legte das Geld rasch an die Portierloge <strong>und</strong> verschwand<br />

aus dem Garten.<br />

Esthe ist am nächsten Morgen mit ihrem Vater nach England<br />

gereist, <strong>und</strong> jedermann im zoologischen Garten weiß<br />

jetzt, daß Todor sich am Huklayfluß auf einem Frachtschiff<br />

heuern ließ, um Esthe in England zu suchen.


Der Kuli Kimgun<br />

K imgun war ein armer Burmese, so arm wie der Staub auf<br />

der Landstraße. Er wohnte in einem der kleinen sandigen<br />

Dörfer am Irawaddystrom zwischen Mandalay <strong>und</strong> Prome.<br />

Seine Arbeit war, auf die hohen Dorfpalmen zu klettern, die<br />

wie Mastbäume am Strand aufragen, <strong>und</strong> oben in die Blattsprossen<br />

der Palmen ein paar Kerbschnitte zu ritzen <strong>und</strong> kleine<br />

Blechgefäße darunter zu hängen, daß der Palmsaft in die<br />

Töpfe sickerte. Dort oben auf der langen schaukelnden Palme<br />

saß er wie ein nackter Menschenaffe <strong>und</strong> sah von unten gegen<br />

den blendenden Himmel aus, als wäre er aus schwarzem Papier<br />

ausgeschnitten <strong>und</strong> könnte von einem vorüberziehenden<br />

Flußreiher fortgeweht werden. Von seinen Palmen sah er schon<br />

von weitem die englischen Verdeckdampfer, die zweistöckigen,<br />

die wie Riesenschildkröten den Fluß hinauf <strong>und</strong> hinab<br />

schwammen. Wenn ein Dampfer kam, glitt Kimgun von seinem<br />

Palmenschaft herunter, bis der Landungssteg ausgelegt<br />

wurde <strong>und</strong> er mit den andern Kulis Säcke voll Reis, Körbe voll<br />

Paranüsse <strong>und</strong> Pakete von Sandelholz verladen half. Mit einem<br />

Dutzend armer Kuliteufel rannte er Ufer auf <strong>und</strong> Ufer ab, gelenkig<br />

wie eine zappelnde Marionette. Nach ein paar St<strong>und</strong>en,<br />

wenn das Ufer wieder leer lag, der Fluß einförmig <strong>und</strong> warm<br />

vorbeispülte, die braunen Dorfkinder badeten <strong>und</strong> nichts zu<br />

verdienen war, kletterte Kimgun wieder auf seine Dorfpalmen<br />

<strong>und</strong> wechselte vorsichtig die Blechgefäße, die vollen <strong>und</strong> die<br />

leeren. Wie eine Lehmmasse lag der breite Irawaddystrom


unter der Sonnenkugel. Ein paar schneeweiße Pagodenspitzen<br />

glänzten wie Zelte aus den Waldhügeln. Grün, lehmgelb <strong>und</strong><br />

sonnenweiß war rings die Welt unter Kimguns Augen, in der<br />

sich Sommer <strong>und</strong> Winter nicht unterschieden <strong>und</strong> die sich<br />

nur veränderte, wenn der schwarze Dampferrauch mit ungeheuren,<br />

dunkeln Wolken die Landschaft verwehte.<br />

Einmal kam die K<strong>und</strong>e in das entlegene Flußdorf, daß in der<br />

Hauptstadt Rangoon die heilige Glocke der Shwe Dagon-Pagode<br />

in das Meer gestürzt sei. Man hatte die berühmte, die größte<br />

Glocke der Welt von der Plattform der Pagode herab nach<br />

England schleppen wollen. Bei der Verladung auf das Schiff<br />

brachen die Gerüste, <strong>und</strong> die Glocke versank in das Wasser.<br />

Dort lag sie jetzt auf dem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> trotzte aller Bemühungen,<br />

sie zu heben. Die Engländer gaben endlich die erfolglosen<br />

Bergungsversuche auf. Jetzt hatten sich die burmesischen<br />

Flußschiffer zusammengetan <strong>und</strong> wollten die Glocke auf alle<br />

Fälle retten. Die Engländer versprachen ihnen, daß die Glocke<br />

im Lande bleiben dürfe, wenn sie dieselbe vom Meeresgr<strong>und</strong><br />

heraufholen könnten. Als Kimgun von der Ehrenarbeit der<br />

Flußschiffer hörte, machte er sich auf, um bei dieser heiligen<br />

Arbeit mitzuhelfen.<br />

Viele Tage marschierte Kimgun, übernachtete in den Waldklöstern,<br />

<strong>und</strong> wenn er am Abend kein Kloster fand, kletterte<br />

er auf eine Palme, wo er die ganze Nacht still <strong>und</strong> regungslos<br />

in der Krone hing, so daß die Aras <strong>und</strong> Kakadus ihn für ein<br />

totes braunes Palmblatt hielten <strong>und</strong> über ihn fortkletterten<br />

<strong>und</strong> neben ihm schliefen.<br />

Je näher er nach Rangoon kam, desto fremder wurde sich<br />

Kimgun, weil die Wälder <strong>und</strong> Bergformen <strong>und</strong> die Flußbreite<br />

sich ungeheuer vergrößert hatten, <strong>und</strong> auch die Tropensonne<br />

war hier heftiger <strong>und</strong> hitziger, <strong>und</strong> er sah graublaue <strong>und</strong> rostbraune<br />

<strong>und</strong> honiggelbe Palmenhaufen, die er noch nicht kann-


te. Eines Tages wurde das Strombett, daran er entlang wanderte,<br />

so breit, daß er glaubte, es gäbe nur noch Wasser auf der<br />

Welt <strong>und</strong> bald keinen Wald mehr. Aber das alleraufregendste,<br />

was er draußen vor Rangoon sah, ehe er zur Hauptstadt kam,<br />

war die mächtige, goldene Shwe Dagon-Pagode, die auf einem<br />

Hügel unterm Himmel lag, mit einem goldenen Stiel in der<br />

Luft, als wäre die Sonne wie eine goldene Riesenbirne auf die<br />

Erde gefallen. Viele goldene Gassen, goldene Glocken <strong>und</strong> viele<br />

goldene geschweifte Dächer <strong>und</strong> goldene gedrehte Türme<br />

<strong>und</strong> künstliche goldene gedrehte Bäume waren auf dem Hügel<br />

im Kreis um die große Pagode beieinander.<br />

Als Kimgun in all dem Golde stand, glaubte er, er sei bereits<br />

gestorben <strong>und</strong> zum Nirwana in Buddhas goldenen Schlaf eingegangen.<br />

– Kimgun blieb drei Tage <strong>und</strong> drei Nächte auf dem<br />

Hügel in den goldenen Gassen, bei den goldenen Lauben <strong>und</strong><br />

konnte sich von den goldenen Altären voll unzähliger Wachslichter<br />

nicht trennen, so wenig wie von seinem Schatten. Er<br />

aß mit den Tempelh<strong>und</strong>en das, was die Mönche von ihren<br />

Mahlzeiten fortwerfen, <strong>und</strong> legte seine letzten Kupfermünzen<br />

in die Opferstöcke vor den goldenen Götterbildern. Kimgun<br />

dachte, er brauche nie mehr Geld beim Anblick von soviel<br />

Gold, <strong>und</strong> seine Armut <strong>und</strong> seine Person schienen vor all dem<br />

Gold wie verschw<strong>und</strong>en. All das Gold gehört mir Armem, so<br />

gut wie dem Reichsten, wenn ich es betrachte, sagte er sich.<br />

Mehr als sich an soviel Gold weiden kann auch der goldreichste<br />

Mann in Birma nicht; <strong>und</strong> Kimgun vergaß drei Tage lang<br />

bei dem hinreißenden Goldglanz den Zweck seiner Wanderung.<br />

Er ging zwischen den goldenen Gassen wie betrunken<br />

<strong>und</strong> schlief, aß <strong>und</strong> trank bei allen h<strong>und</strong>ert goldenen Göttern,<br />

<strong>und</strong> seine Ohren lauschten wollüstig den klingelnden Juwelen<br />

<strong>und</strong> Goldblechblättern, die wie künstliche Schlingpflanzen<br />

an den Pagodendächern <strong>und</strong> an den goldenen Speeren der


Giebel hängen <strong>und</strong> im Luftzug beständig musizieren. Das<br />

reiche Räucherwerk aus den tausend goldenen Altargehäusen<br />

erschien Kimgun wie der süße Atem des goldenen Metalles.<br />

Wie ein Goldhaufen, den die Pagode täglich anzieht, sah Kimgun<br />

in den drei Tagen die Sonne zum Pagodenhügel kommen,<br />

als ob sie Tag um Tag Gold haufenweise auf die Dächer dort<br />

herbeischleppte <strong>und</strong> täglich neues Gold des Himmels dort<br />

ablüde. Und nun begriff der arme Kuli erst, warum die Sonne<br />

geschaffen war. Sie mußte wie ein Kuli der Pagode dienen. So<br />

wie Kimgun Reissäcke <strong>und</strong> Sandelholzhaufen auf die Dampfer<br />

am Irawaddystrom auflud, so mußte die Sonne die Pagode mit<br />

Gold befrachten, <strong>und</strong> die Sonne war viel ärmer an Gold als die<br />

große goldene Pagode.<br />

Kimgun wünschte von Herzen, daß er nur ein Truthahn,<br />

eine Ziege oder ein wilder Tempelh<strong>und</strong> sein dürfte, die sich zu<br />

Dutzenden in den goldenen Gassen herumtrieben, ihr sattes<br />

Leben hatten zwischen den heiligen Buddhabildern, unter den<br />

erzenen Glockenreihen <strong>und</strong> vor den Glasschränken voll goldener<br />

Holzschnitzwerke, <strong>und</strong> selbst ihre Notdurft an goldenen<br />

Säulenschäften verrichten durften. Kimgun wagte nicht die in<br />

senfgelbe Mäntel gekleideten heiligen, kahlköpfigen Mönche<br />

anzureden, auch nicht die kleinen birmanischen Fräulein in<br />

weißseidenen Jacken <strong>und</strong> schmalen rotbraunen Röcken, die als<br />

Verkäuferinnen hinter Blumentischen standen. Nicht einmal<br />

mit den leprakranken Bettlern, die auf den Treppenabsätzen<br />

der roten Säulenstiege saßen <strong>und</strong> die weiß von Aussatz waren,<br />

als wären sie mit Mehl bestreut, nicht mit den Niedrigsten<br />

hier in dem goldenen Heiligtum wagte Kimgun sich zu vergleichen.<br />

Seufzend ging Kimgun am dritten Tage von der Tempelanhöhe<br />

die rote Stiege hinab <strong>und</strong> unten durch die Gartenwege<br />

nach der Stadt Rangoon, wo überall die rosarote Akazie zier-


lich blühte. Er fand sich durch die breiten Geschäftsstraßen<br />

der englischen Bazarhäuser kaum vorwärts, bis er im Hafen<br />

zufällig einen Mann aus seinem Orte traf, der ihm die Flußschiffer<br />

zeigte, die bereits vor zwei Tagen die große Glocke aus<br />

dem Wasser an das Land gebracht hatten. Kimgun war stolz,<br />

daß die Glocke von den Burmesen <strong>und</strong> nicht von den fremden<br />

Engländern gerettet worden war, <strong>und</strong> er vergaß in seiner Freude,<br />

daß er nicht mitgeholfen hatte. Sein Wunsch, mitzuhelfen,<br />

war aber so groß gewesen, daß er sich jetzt einbildete, er habe<br />

sich bei der Bergung der Glocke am meisten angestrengt. Er<br />

kam zur Uferstelle, wo die Riesenglocke wie ein schwarzes,<br />

eisernes Haus stand. Man hatte ein Gerüst aufgeschlagen,<br />

darauf viele Kulis herumkletterten, welche das Metall vom<br />

Wasserschlamm säuberten. Der Kuli Kimgun nahm sofort<br />

sein armseliges Turbantuch vom Kopf <strong>und</strong> begann aus Leibeskräften<br />

mit den andern Arbeitern die bronzene Glocke zu putzen.<br />

Er kletterte auf das Bambusgerüst hinauf <strong>und</strong> balancierte<br />

droben, als wäre er auf einer seiner höchsten Dorfpalmen. Er<br />

saß auf der äußersten Gerüstspitze, wohin sich keiner getraute,<br />

<strong>und</strong> sprang an dem obersten Rand der Glocke herum, wie eine<br />

Gazelle an einem Abgr<strong>und</strong>. Er verarbeitete seinen ganzen Turbanfetzen<br />

zu Lumpen <strong>und</strong> schämte sich nicht <strong>und</strong> nahm das<br />

Gürteltuch ab <strong>und</strong> putzte auch das in Fetzen, <strong>und</strong> als er nichts<br />

mehr hatte, säuberte er nackt mit der bloßen Hand weiter. Um<br />

ihn flogen der Flußschlamm <strong>und</strong> der Muschelkalk, so atemlos<br />

putzte er. Und da er von der tagelangen Wanderung endlich<br />

müde wurde, legte er sich oben in eine eingegrabene Windung<br />

der Glocke, schmiegte sich glücklich an das platte Metall, <strong>und</strong><br />

niemand konnte von unten den einschlafenden Kimgun sehen.<br />

Am Abend hatte man das Gerüst abgenommen, <strong>und</strong> Kimgun<br />

lag auf der turmhohen Glocke, ohne daß es jemand wußte, <strong>und</strong><br />

schlief weiter. Am nächsten Morgen kamen die birmanischen


Abgeordneten, die Großen <strong>und</strong> Reichen des Landes. Man hatte<br />

Höhlungen unter die Glocke gegraben <strong>und</strong> Walzen darunter<br />

geschoben <strong>und</strong> bewegte mit tausend Arbeitern das Glockenungeheuer<br />

langsam vorwärts. Die Beamten folgten im Zuge,<br />

<strong>und</strong> viel Musik <strong>und</strong> viel festlich gekleidetes Volksgewimmel<br />

begleitete die gerettete Glocke. Als der Zug das erste Haus der<br />

Stadt erreichen sollte, erwachte Kimgun <strong>und</strong> begriff erst gar<br />

nichts. Er glaubte, er hänge an einer Palme, die sich im Winde<br />

bewegte. Aber dann hörte er die Menschenmenge unten mit<br />

Trommeln, Pauken <strong>und</strong> Zimbeln rumoren, fühlte das von der<br />

Sonne erhitzte heiße dröhnende Glockenmetall <strong>und</strong> verstand,<br />

daß er auf der wandernden Glocke war. Er schämte sich <strong>und</strong><br />

blieb wie ein Kaninchen geduckt oben liegen. Als man jetzt an<br />

das erste Haus der Stadt kam, wußte Kimgun, daß die Leute<br />

auf den Dächern ihn bemerken würden. Er setzte sich aufrecht<br />

<strong>und</strong> tat, als gehöre das zur Festordnung, daß er oben auf der<br />

Glocke saß. Er nahm die Stellung eines sitzenden Gottes ein,<br />

faltete die Hände <strong>und</strong> betete. Von der Straße konnte ihn immer<br />

noch niemand sehen, auch wenn er aufrecht saß; so hoch<br />

war die Glocke. Die Leute auf den Dächern glaubten, daß Kimgun<br />

der Hauptmann der Flußschiffer sei <strong>und</strong> daß man ihm<br />

besonders die Rettung der Glocke zu verdanken hätte. Viele<br />

Leute zogen ihre kostbaren Ringe von den Fingern, <strong>und</strong> wie<br />

Regentropfen aus den Dachrinnen, so fielen Smaragden <strong>und</strong><br />

Türkisen, besonders aber birmanische Rubinen auf Kimgun<br />

herab. Der Rubinenkönig, der reichste Mann von Birma, stand<br />

auf dem Dach des ausländischen Hotels. Er war aus dem Norden<br />

von seinen Rubinenfeldern zur Glockenfeier gekommen,<br />

<strong>und</strong> als er Kimgun oben auf der Glocke in betender Stellung<br />

sah, warf er sein prächtigstes <strong>und</strong> weitestes Rubinhalsband<br />

hinunter, daß es dem nackten Kuli um die Schultern fiel <strong>und</strong><br />

er geschmückter war als der reichste Mann in Birma. Kimgun


ührte sich nicht, er hörte nur den klingelnden Edelsteinregen<br />

<strong>und</strong> wußte nicht, daß das alles ihm galt. Er glaubte, es gehöre<br />

zur Ehre der geretteten Glocke. Als die Glocke auf den Walzen<br />

schwankend <strong>und</strong> bebend ganz dicht um die Ecke eines Hauses<br />

bog, sprang von einem Balkon ein feines birmanisches Mädchen<br />

zu Kimgun auf die Glocke. Sie war kaum sechzehn Jahre<br />

alt. Sie kniete sich demütig nieder, klatschte in die Hände <strong>und</strong><br />

begann gleichfalls neben dem Kuli zu beten. Kimgun sah nicht<br />

auf; er dachte, daß er unsichtbar bleibe, wenn er sich nicht<br />

rühre. Er war vom Taumel des Räucherwerks, von den Trommeln<br />

<strong>und</strong> Flöten <strong>und</strong> dem betenden Sang der Volksmenge<br />

wieder abwesend gemacht, als ob er eingeschlafen wäre. Unten<br />

am Pagodenberg hielt die Glocke zwischen den Stadtgärten im<br />

Abend. Die Korkbäume <strong>und</strong> Kokospalmen bogen sich über die<br />

Glockenwölbung, <strong>und</strong> immer noch kniete der Kuli Kimgun regungslos<br />

neben dem feinen Fräulein, das sich in den vermeintlichen<br />

Retter der Glocke verliebt hatte. – Die Glocke stand<br />

jetzt still. Eine Ehrenwache blieb zur Nacht am Platz, <strong>und</strong><br />

die Volksmenge lagerte sich neben den Rasenwegen um große<br />

Feuerhaufen, musizierte, kochte <strong>und</strong> tanzte <strong>und</strong> erwartete den<br />

nächsten Tag, wo die Glocke hinauf auf die Anhöhe zur Shwe<br />

Dagon-Pagode gebracht werden sollte. Der Essensgeruch, der<br />

Fettdunst gebratener Poularden <strong>und</strong> der Duft von gebackenen<br />

Bananen stiegen bis zur hohen Glockenwölbung <strong>und</strong> weckten<br />

den armen hungrigen Kimgun aus seinem Gebetstaumel auf.<br />

Er betrachtete das kleine Mädchen neben sich. Sie war zart,<br />

in eine rosaseidene Jacke <strong>und</strong> in einen grünseidenen Festrock<br />

gekleidet, mit silbernen Filigranblumen im schwarzen, hochfrisierten,<br />

parfümierten Haar <strong>und</strong> mit Rubinen <strong>und</strong> Goldringen<br />

in den feinen Ohrmuscheln. Kimgun, hungrig geworden,<br />

blähte die Nasenflügel bei dem Essensdampf auf, griff in den<br />

nächsten Palmenzweig <strong>und</strong> schwang sich wie ein Affe in die


Krone. Von dort reichte er, ohne ein Wort zu reden, dem Mädchen<br />

den Arm herunter, zog sie zu sich herauf <strong>und</strong> sprang mit<br />

ihr wie von einer schwankenden Brücke hinüber in die weißen<br />

Äste eines Gummibaumes <strong>und</strong> ließ sich, mit dem Mädchen<br />

auf der Schulter, an den Luftwurzeln <strong>und</strong> an Stricken von<br />

Schlingpflanzen in das Gartendickicht hinab. Breitlappige Bananenstauden<br />

versteckten die beiden. Kimgun bemerkte jetzt<br />

erst in den Lichtstreifen der Nachtfeuer, die durch die Blattspalten<br />

fielen, daß er splitternackt war. Das junge Mädchen<br />

erriet an seinen Augen, was er dachte, <strong>und</strong> reichte ihm den papierdünnen,<br />

teerosengelben Seidenschal von ihren Schultern.<br />

Der arme Kuli bekleidete seine Hüften mit dem Schal, <strong>und</strong><br />

dann traten beide Hand in Hand unbemerkt hinaus aus den<br />

Blättern unter die Leute.<br />

Kimgun ging zu einem der fliegenden Händler, die mit Fakkeln<br />

<strong>und</strong> Garküchenwagen am Wege standen. Er kaufte ein<br />

paar geröstete Bananen <strong>und</strong> warf dafür die lange Rubinenkette<br />

hin, die ihm um den Hals schlenkerte. Das feine junge Mädchen<br />

an seiner Seite, das den Wert der Kette kannte, zuckte<br />

erstaunt zusammen, dachte aber, ein heiliger Mann tut, was<br />

er will, <strong>und</strong> bew<strong>und</strong>erte Kimgun nur noch mehr. Der Händler<br />

glaubte in der Dunkelheit, die Rubinen seien rotes Glas, ließ<br />

Kimgun einige Bananen nehmen <strong>und</strong> hängte sich die Kette<br />

grinsend um. Kimgun kannte weder Rubinen noch <strong>andere</strong><br />

Edelsteine; er hatte in seinem Heimatdorf sein Leben lang nur<br />

den wertlosen Sand des Irawaddystromes gesehen. Der arme<br />

Kuli <strong>und</strong> das feine Mädchen setzten sich auf den Rasen <strong>und</strong><br />

aßen schweigend ihre Bananen. Kimgun dachte, daß es unter<br />

dem heiligen Hügel der Shwe Dagon-Pagode so <strong>und</strong> nicht<br />

anders sein müsse, <strong>und</strong> war gar nicht erstaunt über das feine<br />

Geschöpf, das ihm zugesprungen war.


Der Garten ohne Jahreszeiten<br />

V om Morgen bis zum Spätnachmittag fährt ein kleiner,<br />

kletternder Bahnzug in Ceylon von der Stadt Colombo<br />

unten am Meer hinauf zu der letzten Ansiedlung Nuwara-<br />

Cliya in den höchsten Bergen. Die Zimmetgärten von Colombo<br />

wandern hinab in die Tiefe. Die grünen Amphitheater<br />

der strauchigen Teepflanzungen <strong>und</strong> die Reisfelderterrassen<br />

versinken wie ausgespannte Fallschirme neben dem ansteigenden<br />

Schienengleis. Täler voll Silberseen blinken wie Riesenperlmuttermuscheln<br />

herauf, verlassene alte Tempeltürme<br />

stehen wie hochgerichtete Fernrohre an den Seen, zugespitzte<br />

Bergkegel, geformt wie Räucherhütchen, umragen als blaue<br />

Pyramiden den Horizont, <strong>und</strong> der Adams Peak wirft seinen<br />

berühmten dreieckigen Schatten als riesigen Sonnenuhrzeiger<br />

bis Sonnenuntergang über das Innere Ceylons, genannt das<br />

glänzende Eiland.<br />

Kurz vor Sonnenuntergang erreicht der Bahnzug in den<br />

Bergwellen auf der Höhe von vierzehntausend Fuß todstumme<br />

Mooswälder, große, moosumwucherte Laubholzwälder.<br />

Die Baummassen sind wie graue Versteinerungen regungslos<br />

ineinandergewachsen, als ob die Baumklumpen sich im kühlen,<br />

dünnen Luftzug gegenseitig festhielten, damit auf den<br />

schiefen Ebenen in der ungeheuren Höhe nicht jählings ein<br />

Schwindelgefühl ganze Wälderstrecken in die Tiefe reiße.<br />

Dort oben bei den silbernen Spiralen der Sturzbäche, auf<br />

dem Rasen vor den Waldrändern wohnen reiche Kaufleute


<strong>und</strong> hohe englische Beamte aus Colombo in ihren Villen. Dort<br />

sind englische Giebelhäuser mit Vorgärten vor den Erkern.<br />

Dort brennen die Laternen abends in den Gartenstraßen am<br />

Trottoir entlang wie in Europa. Dort oben sind Tennisplätze<br />

<strong>und</strong> Fußballrasen, <strong>und</strong> die Luft ist dünn wie die Gesichtshaut<br />

der blassen <strong>und</strong> blonden englischen Damen.<br />

Ein paar St<strong>und</strong>en von der Ansiedlung Nuwara-Eliya liegt an<br />

einem Bergabhang, wie an den �ronstufen des Ätherhimmels,<br />

der Edengarten von Ceylon. Ein Garten wie ein gewirkter,<br />

blaurot <strong>und</strong> gelber indischer Seidenschal, hingehängt an den<br />

Bergwald, feierlich, hoch über den Abgründen. Blumenbeete<br />

mit den Blumen aller Jahreszeiten schieben sich in die Höhe<br />

<strong>und</strong> in die Tiefe vor dem Äther des windstillen Himmels. Das<br />

Gartenantlitz erinnert an ein mit Indigo <strong>und</strong> Rötelschnörkeln<br />

tätowiertes Singhalesengesicht. Dort wachsen europäische<br />

Kornblumen, Veilchen, Astern, Kapuzinerkresse, Rosen, Anemonen,<br />

Tulpen, Primeln, Schlüsselblumen, Lotos <strong>und</strong> Kakteen<br />

unter Kokospalmen <strong>und</strong> bei Bananenbäumen.<br />

In diesem Garten der überirdischen Bergwelt waren der<br />

Singhalese Bulram <strong>und</strong> sein Weib Talora aufgewachsen. Beide<br />

waren hier oben angesehen als das verliebteste Ehepaar von<br />

Ceylon.<br />

Talora war mit neun Jahren Teemädchen gewesen. Sie hatte<br />

in den englischen Pflanzungen unterhalb Nuwara-Eliya mit<br />

h<strong>und</strong>ert andern Mädchen im April zur Ernte die Teekeime<br />

von den kleinen r<strong>und</strong>en Teestauden gepflückt. Bulrams Vater<br />

hatte sie von dort in den Edengarten geholt, weil sein Sohn,<br />

der bald vierzehn Jahre alt war, endlich eine Frau brauchte.<br />

Die kleine Talora wurde Bulram gegeben wie ein Ohrring<br />

oder ein Haarkamm, den die singhalesischen Männer tragen,<br />

<strong>und</strong> Bulram hatte sich nie gefragt, ob er je eine <strong>andere</strong> Frau<br />

wollte. Talora war das Geschenk seines Vaters für ihn, wie


sein eigener Leib ihm vom Vater ins Leben mitgegeben war.<br />

Wie der Ätherhimmel zum Edengarten gehörte – so selbstverständlich<br />

einfach <strong>und</strong> zufrieden nahm Bulram die kleine<br />

Talora als sein Weib hin. Und das Mädchen nahm den jungen<br />

Mann als Herrn <strong>und</strong> Gemahl an, so wie sie ihre Hände <strong>und</strong><br />

Füße als fraglos zu sich gehörig fühlte. »Die Singhalesen dort<br />

oben in den Berghöhen sind allwissend«, sagen drunten die<br />

Singhalesen an der Zimmetküste von Colombo über die Leute<br />

von Nuwara-Eliya. »Sie können dort oben zaubern, ohne daß<br />

sie selbst ahnen, daß sie Zauberer sind.« Und mit Ehrfurcht<br />

betrachten die Leute in den Tälern jene Bergseelen, die ihr<br />

Leben in der dünnen Luft verbringen.<br />

Ob Januar oder Juli, ob April oder Oktober – im Edengarten<br />

blühen die Märzveilchen, bei den Septemberastern sitzt die<br />

Julirose dunkel am Strauch, darunter das Schneeglöckchen<br />

sich versteckt. Flieder, Jasmin, Herbstzeitlosen, Lotos <strong>und</strong><br />

Kornblumen stehen in den Feldern, auf Beeten <strong>und</strong> an Teichen,<br />

bei den Hügelrasen, zwischen den Orangen, Myrten<br />

<strong>und</strong> Weihrauchbäumen, unter den Aloeblüten <strong>und</strong> bei Bananenpalmen.<br />

Bulram <strong>und</strong> Talora hatten hier hinter dem Haus des englischen<br />

Verwalters ihre kleine, weiße, niedere Hütte an der<br />

Gartenmauer, welche schräg den Berg hinaufsteigt. Die Blikke<br />

der beiden waren immer ruhig wie die windstillen Täler,<br />

wie der wolkenlose Himmel <strong>und</strong> ihre Gedanken nur von den<br />

Gesichtern der indischen <strong>und</strong> europäischen Blumenarten<br />

angefüllt. Der ewig stillstehende Blumengarten, darinnen nie<br />

Winter, nie Sommer, nie Frühling <strong>und</strong> Herbst wechselten <strong>und</strong><br />

die Büsche ohne Ausruhen ewig berauscht <strong>und</strong> unvergänglich<br />

blühten, darüber der Äther, todstill, ohne Lufthauch, eine unermeßliche<br />

Ruhe feierte – dieser Garten gab den Menschen einen<br />

Frieden in das Herz, der gleich dem Öl einer tausendjährig


ennenden Tempellampe ist, das eine stille, nie verlöschende<br />

Flamme nährt.<br />

Nie kam den Menschen in der dünnen Ätherluft dort oben<br />

die Kraft zu einer wilden Tat. Sie lebten in der Höhe, in der<br />

Luftleere, halb trunken, wie Mäuse unter der Glasglocke einer<br />

Luftpumpe. Sie waren in der verdünnten Luft einem sanft<br />

schläfrigen <strong>und</strong> zarten Zustand von Kraftlosigkeit verfallen,<br />

als hätte sich ihr Blut verflüchtigt, <strong>und</strong> nur eine ideale blaue<br />

Leere schwang in ihren Adern.<br />

Eines Abends sagte der Verwalter des englischen Gartens<br />

zu Bulram: »Höre! Du mußt mich morgen nach Colombo<br />

hinunterbegleiten. Ich muß den Pachtkontrakt mit der Regierung<br />

erneuern <strong>und</strong> außerdem zwei Ladungen Apfelreiser<br />

<strong>und</strong> Quittenschößlinge, die aus England angekommen sind,<br />

im Hafen abholen. Du bist zuverlässig, Bulram, <strong>und</strong> von allen<br />

Gartenaufsehern der vorsichtigste. Soviel ich weiß, warst du<br />

noch niemals drunten an der Küste, seit du lebst. Es wird dir<br />

Spaß machen, Menschen <strong>und</strong> Land da unten zu sehen. Talora<br />

wird dich für drei Tage entbehren müssen.« Bulram sagte:<br />

»Herr, solange Talora <strong>und</strong> ich verheiratet sind, waren wir noch<br />

keinen Tag getrennt.«<br />

Der Verwalter meinte: »Tröste deine Frau, Bulram, <strong>und</strong> sage<br />

ihr, daß du ihr einen schönen, bunten Colomboschal mitbringst.<br />

Halte dich morgen früh bereit. Der Zug geht um neun<br />

Uhr von Nuwara-Eliya ab. Um sechs Uhr früh müssen wir mit<br />

dem Dogcart hinüber zum Bahnhof der Ansiedlung fahren.«<br />

Am nächsten Morgen kletterte der Zug die Engpässe hinab,<br />

durch schallende Tunnel auf den schmalen Schleifenwegen<br />

der Bergwände, hinunter in die silbernen Täler von Ceylon.<br />

Bulram hatte einen schönen halbkreisr<strong>und</strong>en Schildkrotkamm<br />

im schwarzen Haar. Der Kamm hielt das Haar aus<br />

der Stirn zurück, <strong>und</strong> der Singhalese sah glatt gekämmt aus


wie ein europäisches Schulmädchen. Er wußte, daß man in<br />

Colombo drunten das Haar zurückgestrichen trug, <strong>und</strong> hatte<br />

sich im voraus großstädtisch frisiert. Um seine Beine schlug<br />

ein breites braunrotes, zitronengelb getüpfeltes Tuch <strong>und</strong> war<br />

wie ein Frauenrock um die Hüften von einem Ledergürtel zusammengehalten.<br />

Bulrams Oberkörper steckte in einer weißen<br />

kurzen Leinwandjacke, welche von Taloras Händen frisch<br />

gewaschen <strong>und</strong> frisch gebügelt war. Hinter seinem Ohr trug<br />

er zu Ehren des Reisetags einen Büschel dunkelblauer Kornblumen.<br />

Sein breiter goldener Ehering glänzte am großen Zeh<br />

seines rechten Fußes. Er ging barfuß <strong>und</strong> zog seine Pantoffeln<br />

nur vor seinem Herrn an. In einem kleinen grünbemalten<br />

Blechkoffer verwahrte Bulram nichts als seine Pantoffeln.<br />

Aber er hatte fürsorglich an viele Einkäufe für Talora gedacht<br />

<strong>und</strong> zum Schutze der Sachen gegen Insekten <strong>und</strong> Schlangen<br />

den Blechkoffer vom Verwalter erhalten.<br />

Bulrams Lunge hatte nie <strong>andere</strong> Luft als Höhenluft geschluckt.<br />

Der Zug senkte sich jetzt aus den nebligen Farnkrautwäldern<br />

zu den hitzigen Zimmetgärten Colombos hinunter,<br />

mit einer rasenden Schnelligkeit, wie ein Ballonkorb,<br />

der aus den Wolken fällt. Die brandige Tropenluft schlug<br />

Bulram wie roter Pfeffer um die Nase. Er mußte fortgesetzt<br />

niesen <strong>und</strong> sich die Nasenspitze reiben. Er, der immer unter<br />

dem ätherischen Himmel gelebt hatte, fühlte sich von Staub,<br />

Pflanzengerüchen <strong>und</strong> Erddünsten gereizt, als ob man seinen<br />

Gliedern ungewohnte Kleider anzöge. Der Zug fuhr zwischen<br />

protzigen Brotfruchtpalmen in die letzten Abgründe hinein.<br />

Als ob die Erde fortgesetzt den Rädern auswiche, so raste die<br />

Wagenkette zu Tal. Die Luft strotzte von den Gewürzen der<br />

Nelkenbäume <strong>und</strong> der Kampferstämme. Palmenkronen überwölbten<br />

den Schienenweg, menschenkopfgroße Früchte hingen<br />

in Bündeln; gelbe <strong>und</strong> braune Mangofrüchte, die droben


in Nuwara-Eliya nur blühen <strong>und</strong> niemals reifen, hingen wie<br />

Gewichtsteine zwischen gesträubten Riesenblättern. Wenn<br />

Bulram seinen Kopf zum Fenster hinausstreckte, glaubte er<br />

sich an den Fruchthaufen zu stoßen. Wie überfüllte Fruchtkörbe<br />

standen die Muskat- <strong>und</strong> Kokoswälder zu beiden Seiten<br />

des Bahngeleises.<br />

Kaffeebraune sehnige Singhalesen, dickblütig <strong>und</strong> üppig<br />

genährt, nackt <strong>und</strong> nur von der Bräune ihres Leibes bekleidet,<br />

drängten sich auf den Bahnstationen in den Tälern gleich<br />

Herden brauner, feister Maikäfer, die durcheinanderkrabbeln.<br />

Bulram verstand nicht, warum die Erde so viele Menschen<br />

hatte, so viele Nasen, Ohren, Mäuler <strong>und</strong> Augen, die ihn<br />

anstarrten, als wäre sein Gesicht eine Honigwabe, dran sich<br />

die Wespen hängen. Die Brust des einsamen Bergsinghalesen<br />

fühlte sich vor den Menschenmassen wie ein Kleefeld unter<br />

den Füßen einer Hammelherde. Blicke, Stimmen, Gerüche,<br />

Schritte trampelten über die blaue Ätherruhe seines Herzens.<br />

Sein Auge sah nichts mehr, <strong>und</strong> er fühlte sein Ohr von den<br />

Massengeräuschen durchlöchert wie eine Schießscheibe nach<br />

dem Scheibenschießen.<br />

Bulram versuchte, um sich zu beruhigen, die Gesichter der<br />

Menschen, die auf der Tagesfahrt in seinen Wagen aus- <strong>und</strong><br />

einstiegen, in Blumensorten einzuteilen. Er sagte zu sich:<br />

dieser ist eine sanfte Primel, dieser eine grelle Bohnenblüte,<br />

diese eine Tomatenblüte, dieser eine Narzisse. Aber die Blumenarten<br />

seines Gartens ohne Jahreszeiten, die er als einzigen<br />

Maßstab hier an alles anlegen konnte, reichten nicht aus. Als<br />

er abends um fünf Uhr an der Colombostation ankam, war<br />

er todmüde von den tausend Vergleichen <strong>und</strong> schwindlig <strong>und</strong><br />

hielt sich krampfhaft auf dem Kutscherbock des Wagens fest,<br />

der mit ihm <strong>und</strong> seinem Herrn zum Galle-Face-Hotel an das<br />

Meer fuhr.


In diesem riesigen Steinhallenhotel an der Meeresbrandung,<br />

darinnen der Meerdonner Tag <strong>und</strong> Nacht wie ein Ungeheuer<br />

brüllend durch die Treppensäle, Korridore <strong>und</strong> Zimmer hallt,<br />

benahm sich Bulram wie ein Mondsüchtiger, der im Schlaf<br />

auf einer Dachkante aufwacht, sich nicht vor noch rückwärts<br />

zu gehen traut <strong>und</strong> überall den Absturz fürchtet. Die h<strong>und</strong>ert<br />

weißgekleideten Reisenden im Hotel, die Europäer mit ihrer<br />

weißen Haut, die vielen weißen Musselinkleider <strong>und</strong> die<br />

langen weißen Schleppen der Damen erschienen Bulram wie<br />

irrsinnig gewordene weiße fliegende Blütenbäume, helle Magnolien<br />

oder lichte Jasminbüsche, die ohne Wurzeln durch die<br />

offenen Türen der Steinwände aus <strong>und</strong> ein wandern konnten.<br />

Der scheue Bergsinghalese blieb vor Furcht wie ein Schatten<br />

an den Wänden kleben. Sein Herr, der englische Verwalter,<br />

fand ihn mehrmals im dunklen Korridor hocken, vor den<br />

Menschen am ganzen Leib zitternd. Bulrams Augen starrten<br />

besonders vor der Tür des menschenüberfüllten Speisesaales<br />

entsetzt aus dem Gesicht, wie einem, der zur Nachtst<strong>und</strong>e in<br />

die Dschungel geraten ist, die Raubtierscharen zur Tränke<br />

ziehen sieht <strong>und</strong> beim Anblick der Tigerfamilien ohnmächtig<br />

umfällt.<br />

Eines Morgens war Bulram plötzlich verschw<strong>und</strong>en. Niemand,<br />

nicht das Telephon, nicht die englische Colombopolizei,<br />

nicht Zeitungsannoncen konnten den Verlorenen zurückbringen.<br />

Acht Tage ließ der Verwalter nach Bulram forschen. Dann<br />

reiste er nach Nuwara-Eliya heim, glaubend, der Bergsinghalese<br />

habe sich heimlich aus dem Staub gemacht <strong>und</strong> sei vor<br />

Menschenfurcht zurück auf die hohen Berge, in seinen Garten<br />

ohne Jahreszeiten, zu seiner Frau Talora geflohen.<br />

Aber Bulram war nicht zu Hause. Talora stand voll Harmlosigkeit,<br />

klar, fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> sanft im Garten <strong>und</strong> lächelte wie<br />

eine Allwissende, während der Verwalter tief bestürzt war,


daß Bulram nicht zu finden sei. Talora antwortete, wie die<br />

ewig wolkenlose Bläue lächelnd: »Er wird kommen, Herr. Der<br />

Herr soll nicht um Bulram traurig sein.«<br />

Der Engländer schaute sie sprachlos an. Er hatte geglaubt,<br />

die Frau des Singhalesen müsse sich zu Boden werfen, weinen<br />

<strong>und</strong> sich die Haare raufen. Statt dessen sagte sie nur ewig<br />

lächelnd: »Er kann nicht verlorengehen, Herr. Bulram ist in<br />

meinem Herzen aufgehoben, Herr.«<br />

Und Talora ging jetzt durch den Garten, hielt vom Morgen<br />

bis zum Abend die Bewässerungsrohre in Ordnung, stellte die<br />

Wasserzerstäuber auf die Rasenplätze <strong>und</strong> tat Bulrams Arbeit<br />

neben ihrer Hausarbeit, als wäre sie Bulram selbst. Niemals<br />

zitterte ihre Hand vor Neugier nach dem verlorenen Mann,<br />

wenn sie dem Verwalter die Briefe des Postboten brachte. Niemals<br />

sprang ihr Auge hell auf, wenn die elektrische Gartenglocke<br />

klingelte <strong>und</strong> Fremde kamen, den Garten anzusehen,<br />

<strong>und</strong> es nicht Bulram war. Niemals zitterte ihr Fuß, wenn sie<br />

abends in das leere Häuschen trat, <strong>und</strong> nie ihr Finger, der morgens<br />

die Türklinke öffnete. Sie schien in einer ewigen blauen<br />

Ruhe in der Ätherhöhe dieses Gartens Tag <strong>und</strong> Nacht mit<br />

ihrem Mann unsichtbar zu verkehren, als gäbe es keine Nähe<br />

<strong>und</strong> keine Ferne im Weltall bei dem trunkenen Liebesbewußtsein<br />

ihrer Seele. Ein halbes Jahr verging. Da sagte die Frau des<br />

englischen Verwalters zu Talora: »Ich reise hinunter, um mir<br />

im englischen Basar von Colombo Kleider <strong>und</strong> Hüte zu kaufen.<br />

Ich kann dich mitnehmen. Vielleicht k<strong>und</strong>schaften wir<br />

Frauen mit mehr Glück aus, was aus Bulram geworden ist.«<br />

Die Dame reiste am nächsten Morgen mit Talora zusammen<br />

hinab an die Küste.<br />

Die Singhalesenfrau war niemals im Tal gewesen. Aber auf<br />

sie wirkte die Talluft anders als auf ihren Mann Bulram. Sie,<br />

die stets Stille, Abwesende, Traumwandelnde, wurde nicht


noch stiller, sondern wurde gesprächig, lebte auf. Sie zeigte auf<br />

der Reise ihre Zahnreihen <strong>und</strong> ihr rotes Zahnfleisch mit breitestem<br />

Lachen. Sie schmatzte mit den Lippen, sie schnalzte<br />

mit der Zunge, <strong>und</strong> ihre Augen hingen ihr mit vielen Blicken<br />

nach allen Seiten wie die Beeren von dunkeln Trauben in dem<br />

Kopf. Ihr M<strong>und</strong> schien alle Früchte der fruchtreifen Luft zu<br />

schmecken, <strong>und</strong> ihre Backen wurden vom hitzigen Atem der<br />

Talwälder aufgebläht <strong>und</strong> dick. Sie trug eine weiße Bluse mit<br />

bauschigen kurzen Ärmeln. je näher der Zug aus der Berghöhe<br />

hinunter in die Colombohitze des Tropennachmittags kam,<br />

desto unruhiger wurde Talora. Ihre nackten Unterarme schoben<br />

ungeduldig die lockeren Brüste hinter dem Blusenstoff<br />

hin <strong>und</strong> her, als wären das ein paar reife, unbequeme Früchte,<br />

die sie ablegen wolle, sobald der Zug hielt.<br />

Auch Talora war bald aus dem Hotel verschw<strong>und</strong>en. Ihre<br />

englische Herrin glaubte, sie suche ihren Mann in der Stadt.<br />

Man wartete drei Tage, suchte Talora, wie man Bulram gesucht<br />

hatte, aber die Singhalesin blieb unauffindbar. –<br />

Ein Jahr verging.<br />

Die Meeresbrandung vor dem Galle-Face-Hotel donnert<br />

unausgesetzt, die Tropensonne rollt im Land über die Zimmetgärten,<br />

<strong>und</strong> wie eine riesige Spiritusflamme brennt das<br />

rotviolette Morgenmeer.<br />

Weit draußen im Hafenwasser steht ein großer Dampfer mit<br />

hohen weißgetünchten Wänden. Er wirft seit St<strong>und</strong>en gelben<br />

Qualm aus vier Schornsteinen <strong>und</strong> ist zur Abfahrt bereit. Breite,<br />

schaukelnde Jollen <strong>und</strong> ein kleines, spitziges Motorboot<br />

bringen Kofferladungen <strong>und</strong> Ladungen von weißgekleideten<br />

Tropenreisenden an die Schiffswand. Jetzt wird die weiße Landungsstiege<br />

an der Schiffswand hochgezogen, <strong>und</strong> Ankerketten<br />

kreischen markerschütternde Schreie. Der Dampfer liegt<br />

noch immer still, umgeben von dem kurzen <strong>und</strong> ruckweisen


Gehüpf der Morgenwellen. Viele Köpfe von Reisenden biegen<br />

sich über die weißgestrichenen Eisengeländer der Schiffsstockwerke.<br />

Drunten reiten nackte, arme braune Singhalesen<br />

auf langen gelben Holzbalken in der Flut um das Schiff – Statt<br />

eines Ruders hat jeder Wasserreiter einen Kistendeckel oder<br />

ein Brett in der Hand. Manchmal wirft ein Passagier eine kleine<br />

Silbermünze über Bord. Dann schlüpfen alle die nackten<br />

jungen Kerle wie glatte Seeh<strong>und</strong>e von ihren schwimmenden<br />

Balken <strong>und</strong> fahren in das durchsichtige, gläserne Meer hinunter,<br />

wie auf einer grün angestrichenen Rutschbahn in die Tiefe.<br />

Drunten werden ihre Gliedmaßen gespenstisch wie Froschglieder,<br />

scheinen sich aufzulösen <strong>und</strong> verschwinden. Nach<br />

einer Weile erscheinen sie im Flaschengrün der Tiefe wieder,<br />

zappelnd <strong>und</strong> wie braunrote Schatten. Schwarzglänzende,<br />

triefende Köpfe tauchen aus dem Wasser, <strong>und</strong> einer zeigt das<br />

silberne Geldstück lachend zwischen seinen Zähnen.<br />

Dann schwingt sich jeder auf seinen Baumstamm, <strong>und</strong> alle<br />

reiten wieder um die Schiffswand. Mit viel Geschrei winken<br />

sie hinauf <strong>und</strong> ermuntern die Passagiere des abfahrenden Orientdampfers;<br />

<strong>und</strong> sobald ein Geldstück aufs Wasser klatscht,<br />

verschwinden wieder alle Balkenreiter lautlos im Meer. Bis<br />

zur Abfahrt des Dampfers vertreiben sich so die Reisenden die<br />

Zeit mit Geldwerfen.<br />

Bulram ist seit Monaten hier jeden Morgen auf einem Balkenstamm<br />

um die ausländischen Dampfer geschwommen. Er holt<br />

sich durch gewandtes Tauchen sein Geld aus dem Meer, das<br />

eilig verdiente Geld, das er nachts ebenso eilig in Spielhöllen<br />

bei braunen Dirnen <strong>und</strong> Reisbranntwein wieder ausgibt. Seitdem<br />

Bulram die Zimmetluft von Colombo riecht, ist in ihm<br />

der Gedanke an seine Berge, an Talora <strong>und</strong> an den Edengarten<br />

auf den Bergen tiefer versunken als je ein Geldstück im Meer.<br />

Er lebt in Colombo wie eine Fliege, die sich auf dem Zucker


eines Fliegenpapiers berauscht <strong>und</strong> vollsaugt. Wie ein samtner<br />

Panther streicht er sich nachts an den nelkenölduftenden<br />

kleinen Dirnen in den Freudenhäusern, <strong>und</strong> am Tag springt er<br />

nackt <strong>und</strong> blank in die Meerestiefe nach den blitzenden Münzen.<br />

Er sticht unzählige Male in den Meeresgr<strong>und</strong> hinunter,<br />

rudert seinen schwimmenden Balken abends mit einem Brett<br />

an Land, rollt sich dann wieder bei einem Nautsch-Girl auf<br />

einem Teppich wie ein Igel zusammen <strong>und</strong> läßt das armselige<br />

Geschöpf, das er sich für die Nacht gekauft, nicht mehr aus<br />

seinen Griffen, bis ihn die Frühluft weckt.<br />

Heute ist wieder eine backofenwarme Nacht. Vanille- <strong>und</strong><br />

Kampferbäume pressen ihren Duft aus den Gärten über der<br />

Stadt. Am großen, granitnen Wellenbrecher entlang der Seeseite<br />

moussiert die Brandung <strong>und</strong> wirft hohe weiße Geiser in<br />

die Dunkelheit. Sterne hängen gleich glitzernden Wasserblasen<br />

an der Nachtdecke. Die Front des Galle-Face-Hotels ist beleuchtet<br />

wie ein großes Transparent. Unter den elektrischen<br />

Bogenlampen der Strandpromenade tauchen vom Hotelportal<br />

her weiße Punkte auf: die weißen Hemdbrüste vieler Herren<br />

im schwarzen Abendanzug, Engländer <strong>und</strong> <strong>andere</strong> Europäer.<br />

Jeder Herr läßt sich von einem nackten Kuli in einem kleinen<br />

Rikschawagen ziehen. Die Herren sind ohne Hut. Sie machen<br />

vom Hotel nur einen kleinen Abendausflug in das Freudenviertel<br />

von Colombo. Die Reihen der kleinen Wagen verschwinden<br />

schnell am Ende des Strandweges hinter den Tenniswiesen in<br />

dunklen Eingeborenengassen.<br />

Bulram drückt sich hier in einer der Gassen still an den<br />

Wänden hin. Er ist in allen Häusern der Gasse wie der Mond<br />

bekannt. Die Wagenreihen mit den ausländischen Herren im<br />

Abendfrack sind an ihm vorübergerollt <strong>und</strong> halten jetzt vor<br />

ihm in der Straße.


Er sieht die Herren, von einem Hauseigentümer auf dem<br />

Straßenpflaster empfangen, in einer Haustür verschwinden.<br />

Alle Läden der Häuser sind geschlossen, <strong>und</strong> man hört nur<br />

gedämpft Kastagnetten, Geigen, Tamburine, einförmig wie<br />

die Musik summender Wasserkessel. Männer, welche kommen<br />

<strong>und</strong> gehen, verschwinden wie die Katzen lautlos in den<br />

Haustüren <strong>und</strong> um die Straßenecken.<br />

Neben Bulram öffnet sich ein Erdgeschoßladen. Ein Frauenarm<br />

langt heraus, <strong>und</strong> zwei Finger schnalzen. Bulram sieht<br />

im Halbdunkel unter dem hellen Sternhimmel zwei große,<br />

Reihen blendender Zähne <strong>und</strong> ein Paar nackte Brüste, die<br />

sich wie zwei kleine Säcke über das Fenstergesims quetschen.<br />

Bulram kennt die Frau nicht, aber er fragt in das dunkle Fenster:<br />

»Bist du frei?« Die Frau schnalzt mit der Zunge, <strong>und</strong> bei<br />

diesem Laut beginnen vor Bulram alle Steine der Straße, alle<br />

Sternflecken am Nachthimmel zu schaukeln.<br />

Der Singhalese will in das Haus eintreten. Aber der Hauseigentümer<br />

sagt ihm, er sei um eine Minute zu spät gekommen.<br />

Die an der Fensterecke sei eben drinnen von einem englischen<br />

Kapitän gerufen worden. Bulram stellte sich wieder unter das<br />

Fenster <strong>und</strong> wartete. Aber das Mädchen mit den lachenden<br />

Zähnen <strong>und</strong> der schnalzenden Zunge öffnete nicht mehr<br />

den Fensterladen <strong>und</strong> rief ihn nicht mehr. Acht Tage hielten<br />

Seeoffiziere <strong>und</strong> Matrosen ausländischer Kriegsschiffe ihre<br />

nächtlichen Gelage in dem Haus, <strong>und</strong> acht Tage lang wurde<br />

der armselige Singhalese vom Hauseigentümer abgewiesen; er<br />

schlief acht Nächte unter dem Fenster <strong>und</strong> blieb acht Nächte<br />

nüchtern. In der neunten Nacht, als die Dampfer den Hafen<br />

verlassen hatten, öffnete sich wieder der Fensterladen. Zwei<br />

nackte Brüste drückten sich über die Fensterbank, <strong>und</strong> helle<br />

Zähne glitzerten in einem lachenden M<strong>und</strong>; dem Singhalesen<br />

schoß sein hitziges Blut wie Sternschnuppen vor die Augen.


Bulram ging in das Haus, drückte das Mädchen an sich <strong>und</strong><br />

schloß dabei die Augen, wie es alle Orientalen tun, wenn sie<br />

ernstlich glücklich sind. Er blieb dann Tag <strong>und</strong> Nacht bei geschlossenen<br />

Fensterläden im Haus der Dirne.<br />

Am vierten Abend saß der Hauseigentümer mit seinen<br />

Fre<strong>und</strong>en wie immer draußen auf den Steinstufen vor der<br />

Haustür. Es wetterleuchtete hinter dem Hausdach. Da kam<br />

einer seiner Buben heraus <strong>und</strong> sagte ihm: »Herr, das Zimmer<br />

des Mädchens, welches hinter dem Eckfenster wohnt, ist wie<br />

leergefegt. Das Mädchen, das sich dort seit ein paar Tagen mit<br />

einem Singhalesen eingeschlossen hielt, ist verschw<strong>und</strong>en.<br />

Die Tür steht weit offen, aber niemand hat weder sie noch<br />

den Singhalesen fortgehen sehen. Vielleicht ist der Bursch<br />

ein Bergsinghalese gewesen <strong>und</strong> hat sich in einen Nachtblitz<br />

verwandelt <strong>und</strong> hat das Mädchen auf einer glühenden Wolke<br />

fort in die Berge geholt!« In demselben Augenblick kreischte<br />

der Fensterladen an der Straßenecke in den Eisenangeln, <strong>und</strong><br />

der Hauseigentümer rief: »Verflucht! Sie sind sicher miteinander<br />

durch das Fenster fortgesprungen. Verflucht! Sie ist<br />

verschw<strong>und</strong>en, wie sie gekommen ist! Eines Abends stand sie<br />

mit ausländischen Matrosen hier unter meiner Tür <strong>und</strong> trat<br />

ein <strong>und</strong> war viel begehrt <strong>und</strong> nannte sich mit dem lockenden<br />

Namen ’Talora’.<br />

Da auf den Stufen stand sie damals vor mir. Es wetterleuchtete<br />

wie heute; als werfe sie Feuer um sich <strong>und</strong> Feuer ins Haus,<br />

so kam sie. Nun sprang sie wie ein Blitz wieder fort.«<br />

�<br />

Nach Monaten klingelte abends die elektrische Glocke der<br />

Gartentür des Edengartens, <strong>und</strong> als man öffnete, standen


Bulram <strong>und</strong> Talora draußen. Beide vergnügt, lautlos <strong>und</strong> sanft<br />

wie immer.<br />

Der Verwalter fragte, <strong>und</strong> die Frau des Verwalters fragte,<br />

<strong>und</strong> alle Gartenaufseher fragten, wo die beiden nach zwei<br />

Jahren herkämen. Sie aber lächelten nur <strong>und</strong> deuteten in den<br />

wolkenlosen Himmel.<br />

»Herr, er war im Himmel«, lächelte Talora, <strong>und</strong> Bulram<br />

nickte immer wieder stumm Beifall, wenn seine Frau auf ihr<br />

Herz deutete <strong>und</strong> auf alle Fragen nichts andres antwortete als:<br />

»Herr, er war im Himmel!«<br />

Dann saßen beide wieder in dem Garten, knieten über<br />

den Blumenbeeten, arbeiteten mit der Rasenschere <strong>und</strong> mit<br />

dem Rechen. – Sie beugen sich noch heute wolkenlos wie der<br />

Ätherhimmel von Nuwara-Eliya über die Blumenreihen, dort<br />

oben in dem Garten ohne Jahreszeiten.


Im Mandarinenklub<br />

L ei-Futsche, einer der jüngsten <strong>und</strong> angesehensten der Mandarinen<br />

von Shanghai, war am gleichen Tage wie der junge<br />

chinesische Kaiser geboren; in derselben St<strong>und</strong>e, in derselben<br />

Minute, <strong>und</strong> sein Horoskop, das ihm die Sternk<strong>und</strong>igen aufstellten,<br />

stimmte eigentümlicherweise genau mit dem kaiserlichen<br />

Horoskop überein. Das wußte aber außer Lei-Futsche<br />

<strong>und</strong> seinem Fre<strong>und</strong> Te-Po, dem Astrologen, niemand, <strong>und</strong> der<br />

Mandarin hütete sich wohl, mit jemand anders als mit Te-Po<br />

darüber zu reden. Die Kaiserin-Witwe, die damals statt des für<br />

immer als unmündig erklärten Kaisers regierte, hätte Lei-Futsche<br />

seines Horoskopes halber sofort gehaßt <strong>und</strong> gefürchtet,<br />

so wie sie den jungen Kaiser haßte. Eines Nachmittags lud der<br />

Mandarin den Astrologen in den Mandarinenklub von Shanghai<br />

ein, zu einer ganz außergewöhnlichen St<strong>und</strong>e.<br />

Te-Po erstaunte darüber. Er betrachtete auf seinen Sternkarten<br />

die Stellungen der Sternhäuser <strong>und</strong> stutzte; er ersah, daß<br />

seinem Fre<strong>und</strong> heute der Tod drohte. Der Skorpion trat in das<br />

Haus des Planeten Jupiter, <strong>und</strong> dieser Planet war von lauter<br />

todbringenden Sternen umstellt <strong>und</strong> keine Rettung von irgendeinem<br />

günstigen Sternbild zu hoffen. Als Te-Po noch über<br />

die Sternstellung grübelte, hörte er die Messingmusik <strong>und</strong> die<br />

Trommler vor seiner Tür, <strong>und</strong> er zog sein enzianblaues Seidenkleid<br />

über das lilaseidene Unterkleid <strong>und</strong> stieg in die gelbe<br />

Sänfte, die ihm der Mandarin geschickt hatte.


Acht Sänftenträger, Soldaten, Trommler, Ausrufer rannten<br />

mit ihm in langem Zug durch die winkeligen Shanghaistraßen.<br />

Sie kamen zuletzt durch die Budenreihe der Bilderstraße,<br />

wo die Straßenmaler hinter den weißen Reisbildern saßen;<br />

Bilder füllten, wie weiße lange Fahnen, von der Decke bis zur<br />

Erde, jede der Buden. Und Te-Po dachte bei sich: Das Leben<br />

auf dieser Welt ist wie eine Bilderbude. Jeder hängt in sein<br />

Herz eine Reihe Erinnerungsbilder auf, wie die Straßenmaler<br />

tun, <strong>und</strong> die Bilder baumeln vor den Augen wie die Reispapierblätter<br />

im Wind, bis wir die Augen für immer schließen. Nicht<br />

einmal ein paar Bilder kann man in den Tod mitnehmen, auch<br />

die Bilder bleiben zurück, wenn der Maler stirbt.<br />

Vor dem schmalen Gasseneingang an der Mauer des Mandarinenklubs<br />

in einem der engsten Shanghaiwinkel hielt die<br />

Sänfte. Im Mandarinenklub geben sich die Aristokraten der<br />

Stadt ihre gegenseitigen Einladungen. Der Klub besteht aus<br />

einem Gartenhof voll künstlicher Felsen; offene <strong>und</strong> geschlossene<br />

Lusthäuser aus rotem lackierten Holz stehen auf den<br />

kleinen künstlichen Gebirgen, zwischen Pflanzen <strong>und</strong> künstlichen<br />

Teichspiegeln. Die geschweiften, grauen Ziegeldächer<br />

der Häuser füllen in der sorgsam ausstudierten Wirrnis des<br />

engen Gartenraumes wie Riesenkähne den Himmel. Te-Po,<br />

geleitet von den sich bückenden Dienern, trat durch die unscheinbare<br />

Straßentüre ein. Zur linken Hand befindet sich die<br />

offene Halle des Hausaltars; vergoldete Holzwände umschließen<br />

von drei Seiten ein mächtiges goldenes Buddhabild. Die<br />

vierte Seite ist nach dem Hofraum offen. Ein langer Tisch voll<br />

Opferspeisen, wie ein Bahnhofbüfett, steht dort immer zur<br />

Schau, umgeben von einer Reihe brennender Kerzen. Te-Po<br />

bemerkte, daß der Opfertisch heute besonders reich mit gebratenen<br />

Ferkeln, gebräunten <strong>und</strong> dampfenden Gänsen <strong>und</strong><br />

Hühnern angefüllt war. Der Fettgeruch vom Altar schlug ihm


warm wie der Dunst einer Garküche entgegen. Te-Po verstand,<br />

daß wahrscheinlich sein Fre<strong>und</strong>, der Mandarin, diese üppigen<br />

Opferspeisen in der unbewußten Vorahnung des Todes gestiftet<br />

hatte. Der Gartenraum glitzerte maigrün im blauen Nachmittag.<br />

Nicht höher als mannshoch über den Teichen stehen<br />

die roten Balustraden der hölzernen Lusthäuser. Durch das<br />

Gewirr der künstlich ausgesägten <strong>und</strong> ausgehöhlten Felsen<br />

führen winzige Steinstufen hinauf. Der ganze Hof aus Steingebirgen<br />

hat kaum einige fünfzig Schritte im Umfang. Aber<br />

die Lusthäuser auf den Anhöhen verstellen mit ihren Giebeln<br />

die hohe Umrahmungsmauer des Hofes so geschickt, daß<br />

man sich in einem meilenweiten Felsenchaos glaubt. Manchmal<br />

schiebt sich eine Mauer mit gipsernem <strong>und</strong> rotbemaltem<br />

Drachenkopf herein in die Wirrnis, <strong>und</strong> die Teiche liegen wie<br />

schwarze Abgründe eng gezwängt vor den kulissenartigen<br />

Gebirgen; im pechschwarzen Wasser glänzen die goldenen<br />

Dachrinnen, die roten Balustraden, grüne Maiblätter <strong>und</strong><br />

hohe Schilfstände. Der Mandarin Lei-Futsche empfing seinen<br />

Fre<strong>und</strong> im Pavillon gegenüber der Halle des Hausaltars. Obgleich<br />

beide langjährige Fre<strong>und</strong>e waren, verbeugten sie sich<br />

eine lange Weile nach chinesischer Sitte, als ob sie sich eben<br />

erst kennengelernt hätten. Sie lächelten fortwährend, ohne<br />

daß der eine dem andern seine Sorgen verriet, <strong>und</strong> sagten<br />

einander schöne Sätze, Anfänge von Gedichten <strong>und</strong> wohlwollende<br />

Sprüche.<br />

»Ist die blaue Luft nicht die Wohltat des Himmels an die<br />

Erde!« wisperte der Mandarin <strong>und</strong> zog die vielen Ö-Laute<br />

der chinesischen Sprache singend hinaus. Sein Fre<strong>und</strong> Te-Po<br />

antwortete ihm ebenso: »Und ist die Luft nicht das Reich der<br />

Singvögel, der Drachen <strong>und</strong> Gedanken! Mögen die Singvögel<br />

heute alle Drachen aus der Luft verbannen <strong>und</strong> mit deinen<br />

Gedanken um die Wette singen!« Der Mandarin komplimen-


tierte unter zierlichen Verbeugungen seinen Fre<strong>und</strong> zu der<br />

schwarzpolierten Opiumbank, die wie ein niedriges, vierekkiges<br />

Podium im Hintergr<strong>und</strong> des Pavillons stand. Auf zwei<br />

dünnen, kupferroten Seidenkissen nahmen die beiden Herren<br />

Platz <strong>und</strong> zogen ihre Beine hoch. Der Mandarin klatschte in<br />

die Hände. Ein Diener, in langem himmelblauem Hemd, das<br />

bis an die Diele reichte, trat ein, stellte neben jeden Herrn<br />

zwei zugedeckte Teetassen <strong>und</strong> dazu zwei Schalen gebackener<br />

Mandelkerne. Die Herren hoben zum Gruß die Teetasse<br />

hoch, <strong>und</strong> jeder schob mit dem Porzellandeckel vorsichtig das<br />

neuartige Teekraut, das in der Tasse schwamm, zur Seite, <strong>und</strong><br />

jeder schlürfte ein wenig von dem heißen, grünen Teesaft. Ein<br />

zweiter Diener hatte inzwischen eine kleine silberne Spirituslampe<br />

zwischen die Herren gestellt <strong>und</strong> überreichte zwei<br />

lange Opiumpfeifen aus Elfenbein. Jeder der Herren zündete<br />

eine winzige Opiumkugel, welche auf dem Pfeifenkopf lag, an<br />

der Flamme an, <strong>und</strong> jeder sog sein Opium mit ein paar langsamen<br />

Zügen auf; es war nur eine Erfrischungspfeife, keine<br />

Schlafpfeife, welche die beiden Herren rauchten. Sie gaben<br />

ihre Pfeifen dem Diener zurück, <strong>und</strong> unten aus dem Garten<br />

tauchten die Köpfe von zwei zehnjährigen Mädchen auf <strong>und</strong><br />

das Gesicht einer blassen Frau. Die Frau war in dunkelblaue,<br />

fast schwarze Seide gekleidet, die Mädchen in hellblaue Seide,<br />

ähnlich den Dienern.<br />

Die Diener führten wichtig <strong>und</strong> behutsam die kleinen Damen<br />

die Felsenstufen herauf. Die drei weiblichen Geschöpfe<br />

hatten künstlich verkrüppelte Huffüße <strong>und</strong> trippelten mit den<br />

Füßen kurz wie Ziegen aufstoßend herein. Ihre grünseidenen<br />

Schuhe hatten einen weißen Absatz in der Mitte unter dem<br />

Fuß, so daß jedes Weiblein wie auf kleinen weißen Stelzen<br />

balancierte.


Die drei Damen hatten sich etwas verspätet <strong>und</strong> fürchteten<br />

sich jedenfalls vor der Ungnade des Mandarins. Der aber<br />

rief ihnen fre<strong>und</strong>liche Sätze zu: »Hat deine Zunge heute die<br />

schönsten Flügel mitgebracht?« fragte er die dunkelblau gekleidete<br />

Frau. Diese verbeugte sich fortwährend zitternd <strong>und</strong><br />

lächelnd, ihr Haar war fest gebürstet <strong>und</strong> gescheitelt, glatt wie<br />

schwarzer Lack. Es war Mi-Lee, die Historiensängerin, welche<br />

bei Gastmählern im Mandarinenklub alte Sagen <strong>und</strong> Heldenlieder<br />

vortrug. Ihr Gesicht wurde immer blässer, je mehr sie<br />

sich verbeugte, <strong>und</strong> war in dem dämmerigen Pavillon wie ein<br />

Silbergerät, das auch noch im Schatten leuchtet.<br />

Dann ließ sich die blasse Mi-Lee auf einen Schemel nieder,<br />

<strong>und</strong> die beiden Mädchen saßen zu ihren Füßen bei Saiteninstrumenten,<br />

die ihnen die Diener brachten. Mi-Lee hüstelte<br />

<strong>und</strong> begann mit ihrem kleinen, weißen Taschentuch den<br />

Mädchen zu winken. Die schlugen die Saiten an, als ob viele<br />

Gläser klirrten, <strong>und</strong> unter ihren Fingern sprang ein Gegirr von<br />

Tönen in die Luft, als ob ein Haufen wilder Insekten surrte<br />

<strong>und</strong> schwirrte. Die brummende <strong>und</strong> rasselnde Musik füllte<br />

den Pavillon, <strong>und</strong> die Töne tanzten wie ein pfeifender Kreisel.<br />

Das hohle Dach des Lusthauses gab wie eine Muschel das Gesumm<br />

h<strong>und</strong>ertfach zurück. Eingesponnen von Musik, Opium<br />

<strong>und</strong> Teeduft, saßen die beiden Herren auf ihrer gemeinsamen<br />

Bank. Jeder von ihnen knabberte geröstete Mandelkerne<br />

zwischen den Vorderzähnen, <strong>und</strong> jeder sah belustigt aus,<br />

<strong>und</strong> keiner zeigte seine trauernden Gedanken dem andern.<br />

Mi-Lee wurde blasser von Sek<strong>und</strong>e zu Sek<strong>und</strong>e <strong>und</strong> erschien<br />

dem Astrologen zuletzt wie eins der weißen Reispapierbilder<br />

aus der Budenstraße. Die Historiensängerin neigte den Kopf,<br />

drückte die Augen zu, stützte das Kinn in die Hand, die das<br />

Taschentuch hielt, <strong>und</strong> begann mit näselnder Stimme wie<br />

eine Singorgel zu erzählen: »Der Vogel Blaufeder kam in den


kaiserlichen Garten, flog auf das Porzellanhaus des Kaisers,<br />

das hinter dem Schildkrötenteich liegt.« – »Wer muß heute<br />

sterben?« fragte der junge Kaiser seinen Eunuchen. »Der Vogel<br />

Blaufeder schreit über den Teich, das ist ein Zeichen, daß<br />

von der Kaiserfamilie heute ein Mitglied stirbt!« – »Wer muß<br />

heute sterben?« fragte der Eunuch <strong>und</strong> gab die Frage an die<br />

Ohrmuschel des Türhüters weiter. Der Türhüter, der den jungen,<br />

gefangenen Kaiser eingeschlossen hält, fragte: »Wer muß<br />

heute sterben?« <strong>und</strong> er betrachtete den kaiserlichen Gärtner,<br />

der zwischen den roten Fuchsien im Garten unter den Fenstern<br />

saß. »Wer muß heute sterben?« fragte der Gärtner mit<br />

den Augen seine Frau, die bei der Lieblingsfrau der drei Gemahlinnen<br />

des Kaisers Dienerin war.<br />

Die Gärtnersfrau zitterte <strong>und</strong> ließ ihr Teetäßlein fallen, daß<br />

es zu Porzellanstaub zerbrach. Das Täßlein hatte ihr ihre junge<br />

kaiserliche Herrin geschenkt. Die Gärtnersfrau schaute erschrocken<br />

zu ihrem Mann, <strong>und</strong> ihre Augäpfel verschwanden,<br />

<strong>und</strong> vieläugige Tränen schauten ihren Mann an. Ihre Tränen<br />

glitzerten wie die Splitter von der Porzellantasse der Kaiserin,<br />

<strong>und</strong> der Gärtner riß sich an der Gartenschere, mit der er<br />

die Fuchsie beschnitt, <strong>und</strong> trocknete das Blut seines Fingers<br />

an seinem schwarzen Zopf ab, der sich über seine Schulter<br />

auf dem Achatsand des Gartens ringelte. Der Türhüter sah<br />

durch das Fenster verständnisvoll den Gärtner an, der sich<br />

geschnitten hatte. Der Türhüter biß die Zähne aufeinander,<br />

daß es knirschte <strong>und</strong> der Eunuch des Kaisers sich nach ihm<br />

umsah. Der Eunuch wurde noch gelber als die Seide des Kaisers<br />

<strong>und</strong> erzitterte am ganzen Leib, da er über den Türhüter<br />

<strong>und</strong> Gärtner <strong>und</strong> über die Gärtnersfrau fort die kleine Tasse<br />

der Kaiserin in Splittern sah. Der Kaiser aber stand auf, trat<br />

an das Fenster, warf sein Taschentuch hinaus in den Gartenwind,<br />

damit das Tuch den Vogel Blaufeder verjage. Der Vogel


flog nicht fort, sondern blieb <strong>und</strong> schrie bis zum Nachmittag,<br />

bis zur St<strong>und</strong>e, da die alte Kaiserinwitwe mit ihrem Hofstaat<br />

in den Garten des jungen Kaisers trat <strong>und</strong> vor den Augen des<br />

Kaisers die erste der drei jungen Kaiserinnen, die der Kaiser<br />

am liebsten hatte, in dem Wasser des Schildkrötenteichs vom<br />

Eunuchen, dem Türhüter <strong>und</strong> Gärtner ertränken ließ.«<br />

Mi-Lee, die Historiensängerin, war alt geworden, als sie<br />

das Lied der grausamen Kaiserin vor dem Mandarinen <strong>und</strong><br />

seinem Fre<strong>und</strong> zu Ende gesungen hatte. Gestützt auf die<br />

Diener, blasser, als sie gekommen, verließ sie das Lusthaus im<br />

Mandarinenklub. Lei-Futsche hatte ihr dieses Gedicht selbst<br />

aufgeschrieben <strong>und</strong> vor ein paar Tagen zugesandt. Sie wußte,<br />

daß der Tod darauf stand, wenn sie eine Legende aus dem Kaiserhaus<br />

öffentlich sang. Aber Mi-Lee kannte den Mandarin,<br />

<strong>und</strong> ihm zuliebe, auf die Gefahr des Sterbens hin, sang sie das<br />

Lied.<br />

Einer muß heute sterben, wußte sie, als sie fortging, entweder<br />

diejenige, die gesungen hat, oder einer von denen, die<br />

zugehört haben.<br />

Die Kulis brachten ihren Herrn, den Mandarin, eine St<strong>und</strong>e<br />

später in der Sänfte nach Haus; aber als sie die Sänfte im<br />

Hofe seiner Wohnung niedersetzten, saß er tot darin <strong>und</strong> stieg<br />

nicht mehr aus.<br />

In derselben Nacht noch wurde der Sterndeuter von den<br />

Ausrufern, Trommlern <strong>und</strong> von Holzklappern geweckt, welche<br />

mit großem Lärm den Tod des jungen Kaisers noch vor<br />

Mitternacht in den Straßen von Shanghai ausriefen.<br />

Te-Po denkt noch heute darüber nach, ob sein Fre<strong>und</strong>, der<br />

Mandarin Lei-Futsche, zum Gefolge der Kaiserseele gehörte,<br />

weil er mit dem Kaiser zu gleicher Zeit geboren wurde <strong>und</strong> mit<br />

dem Kaiser zugleich gestorben ist.


Die Auferstehung des Ozuma<br />

O zuma, der reiche Schildkrothändler von Nagasaki, hatte<br />

draußen vor der Stadt auf dem Hügel ein Haus mit einem<br />

Kirschgarten. Er zählte h<strong>und</strong>ertfünf Jahre, sein Haar war weiß<br />

wie Milch, seine Hände dürr wie Schachtelhalme, aber sein<br />

Körper war ungebeugt. Er stand aufrecht in seinem Landhaus,<br />

dessen Papierwände weit aufgezogen waren, <strong>und</strong> er ließ die<br />

Leute von der Bergstraße aus durch sein Haus hindurch in<br />

seinen blühenden Kirschgarten schauen. Dort standen die<br />

Bäume wie mit rosa Daunen behangen, <strong>und</strong> darunter blühten<br />

scharlachne Rotdornhecken, die waren alt <strong>und</strong> verwachsen<br />

wie Korallenzweige. Zwei Fuß hoch über der Straße stand<br />

Ozuma in seinem schlafrockartigen, perlhuhngrauen Kaftan<br />

auf den strohgelben Bambusmatten seines Zimmers. Er hatte<br />

zur Rechten die Bergstraße, zur Linken seinen rosa Blütengarten,<br />

darinnen jeder Blütenbaum voll Bienen wie ein Kochtopf<br />

brummte. So war es alle Tage im hellblauen Frühling, aber<br />

heute war ein grauer Frühlingsregentag. »Es regnet Fruchtbarkeit<br />

in den Garten <strong>und</strong> Gedanken auf die Straße«, sagte<br />

Ozuma, der alte <strong>und</strong> einsame, zu sich.<br />

Alle seine Familienmitglieder waren tot. Enkel hatte er keine.<br />

Das Schmerzhafteste für einen Japaner ist sonst die Einsamkeit.<br />

Aber sie war es nicht für Ozuma. Er redete mit allen Dingen,<br />

wie der Regen auf alle Dinge sein Echo gibt, <strong>und</strong> fand sich<br />

niemals einsam.


Seinem Hause gegenüber war das Teehaus der Bergstraße,<br />

das einzige am Wege. Dort fuhren die Rikschawagen, von Kulis<br />

gezogen, aus der Stadt <strong>und</strong> brachten viele Europäer herbei.<br />

Ozumas Kirschgarten war bis Europa <strong>und</strong> Amerika berühmt<br />

<strong>und</strong> stand, mit einem Stern versehen, in den Reisehandbüchern<br />

der Fremden. Wenn ein ausländisches Schiff am Vormittag<br />

im Hafen von Nagasaki, unten am Berg, im Frühlingstag<br />

vor Anker ging, dann rollte ein paar St<strong>und</strong>en später ein<br />

Dutzend der winzigen Wagen hinauf in den Bambuswald <strong>und</strong><br />

fuhr bei Ozumas Haus vorbei zum Teehaus, <strong>und</strong> die Fremden<br />

kamen herüber <strong>und</strong> blickten von der Straße durch das Haus<br />

bew<strong>und</strong>ernd in Ozumas Kirschenblüte. Ozumas offenes Haus<br />

war dann wie die kleine Bühne eines Wandertheaters von Zuschauern<br />

belagert, <strong>und</strong> der Alte stand wie der einzige Schauspieler<br />

auf der Bühne, mit seiner kurzen Bronzepfeife, die er<br />

ab <strong>und</strong> zu am Aschentopf vor sich ausklopfte. Er hatte so viel<br />

eingewurzelte Falten in seinem Gesicht, daß man glaubte, er<br />

lache immer. Wenn Ozuma noch so traurig <strong>und</strong> gedankenvoll<br />

war, glaubte jeder, daß er in sich hineinkichere. Und doch<br />

war er inwendig so ernst wie ein Dutzend Gräber. Aber seine<br />

Falten lachten unabhängig von einem ernsten Innern wie<br />

eine Maske, die ihm längst nicht mehr gehörte <strong>und</strong> die er wie<br />

ein Schauspieler vor sein wirkliches Gesicht geb<strong>und</strong>en hatte.<br />

Ozuma hatte noch, als er neunzig Jahre alt war, Englisch<br />

gelernt, zu der Zeit, als das Fremde Mode wurde in Japan. Er<br />

sprach damals öfters mit dem Reisevolk vor seinem Hause,<br />

<strong>und</strong> einmal hatte er eine Aussprache mit einem amerikanischen<br />

Geistlichen. Der erzählte ihm von der Auferstehung<br />

allen Fleisches. Seitdem verging kein Frühjahr, wo der alte<br />

Ozuma, gläubiger als jeder Christ, nicht auf die Auferstehung<br />

allen Fleisches wartete. Auf die Auferstehung aller, die ihm<br />

gestorben waren, auf die Auferstehung seiner eigenen Jugend


<strong>und</strong> Leibeskraft <strong>und</strong> auf die Auferstehung seiner feurigsten<br />

Liebeserinnerungen.<br />

Es war heute einer der letzten Frühlingstage, <strong>und</strong> Ozuma<br />

hatte sein Haus wie immer weit offen. Der alte Teewirt <strong>und</strong><br />

dessen Frau drüben bemerkten, als sie an diesem Morgen ihre<br />

papiernen Hauswände aufschoben, daß der alte Mann plötzlich<br />

über Nacht schwarze Haare bekommen hatte, schwarze<br />

Augenbrauen <strong>und</strong> rote, sehr rote Wangen <strong>und</strong> rote, sehr rote<br />

Lippen. Der Wirt <strong>und</strong> die Wirtin kicherten wie Mäuse, die<br />

über ein Stück Speck hüpfen, <strong>und</strong> sie stießen sich gegenseitig<br />

mit den Ellenbogen an. Aber sie sagten nichts zueinander, sie<br />

wechselten nur einen Blick.<br />

Die Wirtsfrau bürstete die roten Wolldecken, worauf die<br />

Fremden am Nachmittag sitzen sollten, der Wirt kauerte sich<br />

hinter seine Rechenmaschine, schob die bunten Holzperlen<br />

hin <strong>und</strong> her <strong>und</strong> lachte in sich hinein. Als es Nachmittag<br />

wurde, hatten der Wirt <strong>und</strong> die Wirtin schon ganz vergessen,<br />

daß Ozuma sich künstlich jung gefärbt hatte; sie fanden<br />

seine Farbe schon natürlich <strong>und</strong> waren selbst wie um sechzig<br />

Jahre verjüngt bei Ozumas Anblick. Der Wirt holte ganz in<br />

Gedanken seine Okarina hervor <strong>und</strong> pfiff ein Lied, das er seit<br />

sechzig Jahren nicht mehr gepfiffen hatte. Die Wirtin steckte<br />

sich eine rote Nelke aus ihrem Nelkentopf ins Haar <strong>und</strong> lachte<br />

jeden Augenblick zu Ozuma hinüber, wie vor sechzig Jahren.<br />

Damals war sie Tänzerin in Nagasaki gewesen <strong>und</strong> hatte<br />

manche Nacht vor dem reichen Ozuma in den Teehäusern des<br />

Freudenviertels von Nagasaki getanzt. Ozuma aber saß drüben<br />

vor seinem bronzenen Aschentopf in seinem offenen Haus<br />

auf der gelben Strohmatte <strong>und</strong> lachte wie immer mit tausend<br />

Falten, trotzdem er wie immer traurig war. Hinter ihm strahlte<br />

der Kirschblütengarten im grauen Regentag wie in rosa<br />

bengalischer Beleuchtung. Der Luftzug des Abends trieb


ein Blütengestöber in das Haus, so daß es auf einmal nicht<br />

mehr leer schien. Die Fremden, die den ganzen Nachmittag<br />

die Bergstraße heraufgefahren waren, kehrten jetzt um, <strong>und</strong><br />

als die letzte Rikscha den Berg hinunterrasselte, saß der alte,<br />

junggeschminkte Ozuma immer noch hinter seinem Aschentopf<br />

<strong>und</strong> rührte sich nicht. Er ist eingeschlafen, sagte das Auge<br />

des Wirtes drüben im Teehaus zum Auge der Wirtin, <strong>und</strong><br />

sie blinzelten einander zu <strong>und</strong> verstanden sich. Wir wollen<br />

warten, bis er aufwacht, antwortete die Wirtin ihrem Mann,<br />

indem sie sich auf eine der rotwollenen Decken niederkauerte<br />

<strong>und</strong> sich ihre kleine Pfeife anzündete. Der Wirt tat, wie seine<br />

Frau wollte, <strong>und</strong> hockte sich neben sie, <strong>und</strong> beide rauchten<br />

schweigend <strong>und</strong> hüteten sich, die Asche am Aschengefäß laut<br />

auszuklopfen, um den Nachbarn Ozuma nicht zu wecken.<br />

Und nun geschah etwas, was niemand weiß, niemand gesehen<br />

hat als nur ich, der ich euch das erzähle.<br />

Der junggeschminkte Ozuma stand plötzlich auf <strong>und</strong> kam<br />

über die Straße herüber in das Teehaus; seine Augen knisterten<br />

vor Vergnügen, als er zu der Wirtin sagte: »Mondscheinchen,<br />

du sollst tanzen wie früher.« Die alte Wirtin lispelte etwas,<br />

das war leiser als das Grasrascheln. Sie stand verschämt<br />

auf, von ihrem Blut verjüngt beschienen wie ein Kirschgarten,<br />

<strong>und</strong> sie hob den Saum ihres Kleides ein wenig über die Fußspitze<br />

hinauf <strong>und</strong> begann zu tanzen, aber der Wirt, ihr Mann,<br />

stand gelb im Gesicht wie ein Büschel brennendes Bambusstroh<br />

da <strong>und</strong> trat zornig dazwischen <strong>und</strong> sagte: »Das ist mein<br />

Weib <strong>und</strong> nicht deines, Ozuma. Mein Weib tanzt nicht mehr<br />

für dich, auch wenn du ihr alle Schildkrötenschalen aus dem<br />

Nagasakiwasser in Gold gefaßt zu Füßen legst. Scher dich fort,<br />

Ozuma, ich teile mein Weib nicht mit deinem Geldsack.«<br />

Ozuma aber klatschte in die Hände, dreimal, da kamen<br />

sechs Kulis hinter der Hausecke vor <strong>und</strong> warfen dem Wirt


Holzasche in die Augen, banden ihn <strong>und</strong> legten ihn mit dem<br />

Gesicht auf den Boden, damit er nicht zusähe, wie seine Frau<br />

vor Ozuma tanzte. Ozuma sog begierig die Luft ein von dem<br />

Haar, von der Haut <strong>und</strong> von dem Seidenkleide der Frau. Aber<br />

er beherrschte sich <strong>und</strong> bat um nichts weiter als um die Nelke,<br />

die die Frau im Haar trug. Die Frau aber verweigerte ihm die<br />

Blume <strong>und</strong> sah Ozuma nicht mehr an. Da stand Ozuma auf<br />

<strong>und</strong> legte einen Beutel mit ,Gold, einen Schmuckkasten aus<br />

Schildkrot <strong>und</strong> eine weiße Korallenkette auf die Strohmatte<br />

neben den geb<strong>und</strong>enen Wirt. Ozuma selbst band dann den<br />

Mann los <strong>und</strong> sagte klagend zu ihm: »Erschlag mich, Nachbar,<br />

ich liebe deine Frau, aber sie liebt mich nicht.« Der Wirt rieb<br />

sich die Asche aus den Augen <strong>und</strong> sagte: »Sie liebt dich nicht,<br />

Ozuma, darum sollst du leben, h<strong>und</strong>ert Jahre <strong>und</strong> mehr leben<br />

<strong>und</strong> dich nach ihr totsehnen. Nimm nur dein Gold, deine Geschenke,<br />

ich erschlage dich nicht, nicht um alles Gold in der<br />

Welt.«


Die Segelboote von Yabase im Abend<br />

heimkehren sehen<br />

H anake hatte allen Körperschmuck, den ein japanisches<br />

Mädchen sitzend, trippelnd <strong>und</strong> liegend zeigen muß, um<br />

zu den göttlichen Schönheiten der Vergänglichkeit gezählt<br />

zu werden. Ihr Hals war biegsam wie eine Reiherfeder, ihre<br />

Arme kurz wie die Flügel eines noch nicht flüggen Sperlings.<br />

Saß sie auf der Matte <strong>und</strong> bereitete ihren Tee, so arbeitete<br />

sie vorsichtig wie unter einer Glasglocke. Ging sie abends mit<br />

ihrer Dienerin auf den hohen Holzschuhen zum �eater, so<br />

war sie unauffällig, als hätte sich ihr Körper mit der Sonne zur<br />

Ruhe gelegt <strong>und</strong> als ginge nur ihr Schatten mit der Dienerin<br />

<strong>und</strong> der Papierlaterne den Weg zu den Schatten. Lag sie in der<br />

Nacht hinter den geschlossenen Papierwänden ihres Hauses<br />

mit frisiertem Kopf auf der Schlummerrolle <strong>und</strong> zog mit den<br />

Fingerspitzen den seidenen Schlafsack ans Kinn, so war ihr<br />

feines, vom Mond beschienenes Gesicht vornehm, als wäre es<br />

aus Jadestein geschnitten, <strong>und</strong> erschien unzerbrechlich <strong>und</strong><br />

unvergänglich.<br />

Hanake war das reichste Mädchen am Biwasee, nicht bloß<br />

reich an der äußeren Schönheit, welche die Frauen ruhig <strong>und</strong><br />

wunschlos macht – auch reich an Besitz. Die Götter der Vergänglichkeit<br />

hatten sie mit ihren glänzendsten Geschenken,<br />

mit Schönheit <strong>und</strong> Geld, verwöhnt. Aber auch die Göttin der<br />

Unendlichkeit hatte ihr eine Seele in die Augen gegeben, so


daß ihre Augen weinen konnten, denn die Wollust der Tränen<br />

ist das höchste Geschenk dieser Göttin.<br />

Lange, ehe der Krieg Japans mit Rußland begann, hörte<br />

Hanake in ihrem Haus am Biwasee von Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>innen,<br />

die im Sommer über die Berge von Kioto zum Besuch<br />

zu ihr an den See kamen, daß die Fremden vom Westen wie<br />

böse Heuschreckenschwärme in Japan erwartet würden, um<br />

die Männer zu töten, die Frauen zu verschleppen <strong>und</strong> sich<br />

in das Land zu teilen. Auf dem Biwasee würde man dann<br />

bald Schiffe sehen, die Rauch ausstießen <strong>und</strong> die Seetiefe mit<br />

Schrauben aufwühlten. Auf Eisen würden bald Eisenwagen,<br />

rasselnd wie Gewitterwolken, täglich durch Japan eilen. Diese<br />

Wagen würden die Fremden in Massen nach Kioto <strong>und</strong> an die<br />

Ufer des Biwasees bringen. Die leichten Vogelkäfige der Bambushäuser<br />

würden verschwinden, <strong>und</strong> Steinhäuser, wie man<br />

sie im Westen der Erde baut, würden zum Himmel wachsen,<br />

<strong>und</strong> überall würde dann Rauch <strong>und</strong> Eisenlärm sein. Denn die<br />

Fremden lieben das Eisenrasseln <strong>und</strong> können ohne die betäubende<br />

Stimme des Eisens nicht leben: Sie lieben, das Leben<br />

als einen ewigen Krieg anzusehen. Sie sind wie Donnergötter,<br />

ungeduldig <strong>und</strong> aufstampfend, <strong>und</strong> sie werden schlimmer als<br />

Wolkenbrüche <strong>und</strong> schlimmer als Taifune Japan verheeren, so<br />

sagt man.<br />

Hanake, die keine Eltern hatte <strong>und</strong> nur mit ein paar Dienerinnen<br />

<strong>und</strong> Dienern noch das Haus ihres Vaters bewohnte,<br />

hörte gruselnd die Berichte ihrer Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> erfand mit ihren<br />

Fre<strong>und</strong>innen kleine Spottlieder, welche die Dämonen des<br />

Westens verhöhnten, Lieder, die sie abends bei den Bootsfahrten<br />

in lampenerleuchteten Booten auf dem Biwasee sangen.<br />

Eines Abends – die Sonne war eben untergegangen, der<br />

See war hell, als wäre er aus Porzellan, weiß <strong>und</strong> glänzend,<br />

der Himmel war golden, als hätte Hanake eine ihrer Truhen


geöffnet, die aus Goldlack waren <strong>und</strong> die Geheimfächer enthielten<br />

– trat Hanake auf den Landungssteg, der vor ihrem<br />

Haus in den See reichte <strong>und</strong> den links <strong>und</strong> rechts hohes Schilf<br />

umwiegte.<br />

In der Richtung nach Yabase erschienen drei Segelboote. Die<br />

drei Segel glitten wie senkrechte Papierwände über das abendglatte<br />

Wasser. Man sah keine Menschen, denn jedes Segel<br />

reichte so tief, daß es das Boot verdeckte. Die aufgepflanzten<br />

Segel wurden größer <strong>und</strong> kamen näher; Hanake fühlte eine<br />

Bangigkeit, als kämen mit den drei Segeln drei weiße, unbeschriebene<br />

Blätter aus ihrem Schicksalsbuch geschwommen,<br />

<strong>und</strong> plötzlich las sie, als eine Sek<strong>und</strong>e von Windstille die Segel<br />

schlaff werden ließ, ein japanisches Schriftzeichen, zufällig<br />

entstanden aus den Falten jeder Segelleinwand. Das erste<br />

Boot sagte: »Ich grüße dich.« Das zweite Boot sagte: »Ich liebe<br />

dich.« Das dritte Boot sagte: »Ich töte dich.«<br />

Nach der kurzen Windstille, die knappe Sek<strong>und</strong>en dauerte,<br />

wechselte der See seine Farbe; wie vergossene schwarze Tusche<br />

über weißes Papier lief eine Finsternis über die Seefläche,<br />

<strong>und</strong> ganz unvermittelt setzte ein trompetender Seesturm ein,<br />

der alle drei Segel fast flach auf das Wasser legte, als müßte die<br />

Leinwand den Seeschaum reiben; Hanake tat einen Schrei vor<br />

Entsetzen, da sie glaubte, die Segelboote müßten unter dem<br />

plötzlichen Wind <strong>und</strong> in den kreiselnden Wellen versinken.<br />

Aber die drei Boote hoben sich wieder. Geschickte Hände regierten<br />

die Segel. Doch diese sah Hanake nicht mehr. Sie hatte<br />

zugleich mit dem Schrei, als das aufgeregte Schilf ihr um den<br />

Nacken schlug, einen Sprung in die Luft gemacht, wie eine<br />

elektrisierte Katze, <strong>und</strong> war in das Wasser gefallen; <strong>und</strong> als<br />

sie die Augen öffnete, sah sie ein Rudel Fische <strong>und</strong> wußte, daß<br />

sie unter dem Wasser war, als wäre sie selbst ein Fisch. Dann<br />

verlor sie das Bewußtsein.


Als sie aufwachte, lag sie in ihrem Zimmer. Es war Nacht,<br />

eine Kerze brannte, <strong>und</strong> ihre Lieblingsmagd, welche »Singende<br />

Seemuschel« hieß, kniete neben ihr <strong>und</strong> weinte in beide<br />

Hände. Man hatte sie umgekleidet, aber sie roch noch das Seewasser,<br />

von dem ihr Haar naß war, <strong>und</strong> sie besann sich sofort<br />

wieder auf die drei Schiffe, <strong>und</strong> ihre erste Frage war: »Sind die<br />

drei Segelboote, die aus Yabase kamen, untergegangen?«<br />

Die Magd antwortete nicht, hörte auf zu weinen <strong>und</strong> streichelte<br />

die Hände ihrer Herrin, entzückt, sie wieder lebend zu<br />

sehen.<br />

»Sind die drei Segelboote untergegangen?« fragte Hanake<br />

beharrlich.<br />

Aber die »Singende Seemuschel« hatte keine Segelboote<br />

gesehen. Die Magd hatte die Herrin auf dem Kies im Schilf<br />

gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> geglaubt, das junge Mädchen sei von der Landungsbrücke<br />

ins Wasser gefallen <strong>und</strong> habe sich durch einen<br />

Zufall selbst gerettet.<br />

»Schiebe die Seefenster auf«, sagte Hanake zur Magd. Diese<br />

tat, wie ihr befohlen. Draußen lagen der See <strong>und</strong> der Himmel<br />

wie ein einziges schwarzes Loch: kein Stern, kein Mond, kein<br />

Licht auf dem See. Hanakes Fenster schienen in einen Abgr<strong>und</strong><br />

zu schauen, <strong>und</strong> dem jungen Mädchen war, als müsse<br />

sie zum zweitenmal ertrinken, so schmerzhaft wurde ihr die<br />

Finsternis draußen. Und in ihrer Brust war eine Leere, so unendlich<br />

wie die Nacht über dem Biwasee, als habe sie einen<br />

großen Verlust erlitten, als wäre mit den drei Booten ihr Herz<br />

fortgezogen; <strong>und</strong> totenstill war das kleine Bambushaus.<br />

»Schließe das Fenster <strong>und</strong> hole mir den grauen Papagei,<br />

nicht den grünen <strong>und</strong> nicht den gelben – den grauen, ›Singende<br />

Seemuschel‹, den mein Vetter mir vor ein paar Wochen<br />

mitgebracht hat aus Nagasaki.«


Die Magd gehorchte, brachte den grauen Papagei <strong>und</strong> wurde<br />

dann von ihrer Herrin schlafen geschickt. Aber sie hörte in<br />

der Nacht bis zum Morgen, wie Hanake ihren grauen Papagei<br />

drei Sätze lehrte: »Ich grüße dich! Ich liebe dich! Ich töte<br />

dich!« Und sie sah an der weißen Papierwand den Schatten<br />

ihrer Herrin aufrecht neben dem Schatten des Vogels sitzen.<br />

Und immer, wenn der Vogel sagen sollte: »Ich liebe dich!«,<br />

dann lachte er so unheimlich knarrend, daß es der Magd<br />

gruselte. Während der ganzen Nacht lachten <strong>und</strong> sprachen<br />

Hanake <strong>und</strong> ihr Vogel zusammen. Und ganz früh rief Hanake<br />

zwei Dienerinnen, die sie frisierten, <strong>und</strong> »Seemuschel«, die<br />

Lieblingsmagd, die alle Verstecke des Hauses kannte, mußte<br />

aus dem ältesten Lackkasten zwei winzige kostbare Satsumavasen<br />

holen, die sich in der Familie seit H<strong>und</strong>erten von Jahren<br />

vererbt hatten, <strong>und</strong> mußte am Seeufer zwei Schwertlilien abschneiden,<br />

eine blaue <strong>und</strong> eine gelbe. Die Vasen mit je einer<br />

Lilie wurden von Hanake in eine Nische gestellt <strong>und</strong> ein auf<br />

weiße Seide geschriebenes Gedicht eigenhändig an die Wand<br />

gehängt. Das Gedicht hieß:<br />

Auf dem See steht ein weißes, segelndes Boot.<br />

Mein Herz, mein leises,<br />

Mein Auge, mein heißes, -<br />

Die Menschen, die einsam sind,<br />

Sind wie die Boote von Yabase,<br />

Die blaß hintreiben im Abendwind.<br />

Hanake hatte an diesem Tag allen ihren Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>innen<br />

absagen lassen <strong>und</strong> saß drei St<strong>und</strong>en vor Sonnenuntergang<br />

schon am Fenster, das auf den See sah. Auf dem<br />

Seespiegel brannte die Sonne wie ein helles Herdfeuer, <strong>und</strong><br />

Hanake hielt einen Fächer zwischen sich <strong>und</strong> das grelle Licht.


Aber von Zeit zu Zeit strengte sie sich an, dem Licht zu trotzen,<br />

<strong>und</strong> suchte mit aufmerksamen Augen die funkelnde Seefläche<br />

ab <strong>und</strong> wünschte die drei Segel herbei, die gestern abend ihre<br />

Ruhe mit fortgenommen hatten. Auf Hanakes Kleid waren<br />

Schwertlilien gewebt, blaue <strong>und</strong> gelbe auf silbrigem Gr<strong>und</strong>,<br />

<strong>und</strong> ihr Kopf sah aus der silbrigen Seide, als schaute er aus<br />

dem Kamm einer hellen Welle.<br />

Sie hatte seit gestern abend noch nicht geschlafen, <strong>und</strong> das<br />

Schauen auf die sonnenfeurige Seefläche brannte ihr fast die<br />

Augen aus, so daß sie für einen Augenblick die Augenlider<br />

schloß <strong>und</strong>, ohne es zu wissen, einschlief.<br />

Sie hatte vielleicht eine kleine St<strong>und</strong>e geschlafen, da weckte<br />

sie der graue Papagei, der ihr auf die Schulter kletterte <strong>und</strong><br />

ihr ins Ohr krächzte: »Ich liebe dich!« <strong>und</strong> dazu schnarrend<br />

lachte.<br />

Hanake hob das Köpfchen aus der silbrigen Seide <strong>und</strong> sah<br />

am Landungssteg ein großes gerafftes Segel. Das war so nah<br />

an ihrem Fenster, daß sie die Segelleinwand an die Maststange<br />

klatschen hörte. Sie bog sich vorsichtig aus dem Fenster <strong>und</strong><br />

sah, daß das Segelboot festgeb<strong>und</strong>en war. Aber im Boot war<br />

kein Mensch zu sehen.<br />

Das ist eines der drei Boote, sagte atemstockend ihr heimkehrendes<br />

Herz. Aber sie wußte nicht, war es das erste, das<br />

zweite oder das dritte Boot.<br />

Da trat ihre Lieblingsmagd, die »Singende Seemuschel«, herein<br />

<strong>und</strong> brachte einen zusammengerollten Brief.<br />

»O Herrin, diesen Brief sollt Ihr lesen <strong>und</strong> Euch für einen<br />

hohen Besuch bereithalten«, flüsterte die Magd.<br />

Im Brief stand: »Gestern, als wir nach Sonnenuntergang bei<br />

Deinem Hause kreuzten, schöne Hanake, hatten wir das Unglück,<br />

Dich zu erschrecken, aber auch das Glück, Dir das Leben<br />

zu retten. Und das allergrößte Glück, Dich zu sehen, um Dich


nie mehr zu vergessen, wurde mir zuteil. Ich sende Dir heute<br />

meinen treuesten Fre<strong>und</strong>, der Dich gestern rettete, der Dich<br />

heute zu mir über den See bringen soll <strong>und</strong> in meine Arme,<br />

die Dich sehnsüchtig erwarten. Ich grüße Dich, Hanake.«<br />

Der Brief war unterschrieben mit dem Namen eines jungen<br />

Prinzen aus dem kaiserlichen Hause. Und Hanake wußte als<br />

guterzogene Japanerin, daß es eine ungeheure Ehre bedeutet,<br />

daß ein kaiserlicher Prinz sie seiner Liebe würdigte, <strong>und</strong> sie<br />

ließ den Fre<strong>und</strong> des Prinzen sogleich zu sich herein ins Zimmer<br />

bitten.<br />

Die Diele zitterte, <strong>und</strong> ein prächtiger junger Mann trat ein.<br />

Hanake fiel vor ihm auf die Knie <strong>und</strong> berührte mit der Stirn<br />

die Diele, wie es die japanische Begrüßungssitte vorschreibt.<br />

Aber es war nicht, als ob ein Mensch, sondern als ob ein stürmisches<br />

kleines Pferd ins Zimmer gekommen sei. Sie hörte<br />

den Mann mit beiden Füßen mehrmals kräftig aufstampfen,<br />

<strong>und</strong> aus seiner Brust drangen ein paar hohle seufzende Laute.<br />

Hanake wartete mit gesenktem Angesicht lange Zeit auf die<br />

Anrede des kaiserlichen Gesandten, denn sie durfte sich erst<br />

erheben, wenn der Begrüßte sie dazu aufforderte.<br />

Nach einer Weile, als immer noch keine Anrede erfolgte,<br />

hob Hanake leicht ihr Gesicht von der Diele, die noch unter<br />

den stampfenden Füßen des Mannes zitterte. Wie zwei Steine<br />

aus einer Schleuder geworfen, fielen des jungen Mannes starke<br />

Augen in des Mädchens blinzelnden Blick. »Ich liebe dich!«<br />

schrien ihr diese ungeduldigen Augen entgegen, <strong>und</strong> Hanake<br />

senkte von neuem ihr Gesicht, das abwechselnd weiß <strong>und</strong> rot<br />

wurde von Blutfülle <strong>und</strong> Blutschwäche.<br />

»Antworte!« sagte plötzlich der Mann laut.<br />

»Ich liebe dich!« sagte Hanake, tief auf die Diele gebeugt, als<br />

wäre die Diele ein Ohr, in das sie hineinflüsterte. Zugleich fiel<br />

ihr ein, daß der Befehl »Antworte!« sich wahrscheinlich auf


den Brief des Prinzen bezogen habe. Aber es war nicht mehr<br />

zurückzunehmen. Ihre Lippen hatten deutlich gesprochen:<br />

»Ich liebe dich!« <strong>und</strong> den zwei Männeraugen geantwortet, die<br />

sie gefragt hatten.<br />

Dann fühlte sich das junge Mädchen von zwei hastigen<br />

Händen um den Leib gefaßt. Wie ein Häufchen Seide hob sie<br />

der ungeduldige Mann hoch <strong>und</strong> trug sie aus dem Haus, den<br />

Landungssteg entlang. In demselben Augenblick hatte sich<br />

der Abendwind erhoben, <strong>und</strong> der seidene Ärmel von Hanakes<br />

Kleid bauschte sich <strong>und</strong> fiel wie eine Kapuze über den Kopf des<br />

Mannes, der sie auf den Armen trug. Und als Hanake aufsah<br />

<strong>und</strong> ehe sie noch den Ärmel zurückziehen konnte, erblickte<br />

sie ein zweites großes Segel, das eben an der Landungsbrücke<br />

vorbeizog. Ein Schauder, kälter als der Wind, rieselte ihr über<br />

die Haut. Denn in dem Boot stand ein Mann, der war kein Japaner.<br />

Er hatte keine schöne gelbe Elfenbeinhaut. Er war grau<br />

im Gesicht wie Moder, wie ein Stein, der lange auf dem Seegr<strong>und</strong><br />

gelegen hat, <strong>und</strong> seine Haut war runzlig wie die Haut<br />

der Kröten. Er hatte ein erschreckend gelbes Haar. Das war<br />

hell wie Hobelspäne, <strong>und</strong> seine Augen waren fischblau, <strong>und</strong><br />

eine unordentliche Seele blickte Hanake wirr an, als stürze ein<br />

surrendes häßliches Insekt auf Hanake los <strong>und</strong> wolle sie stechen.<br />

Sie wußte: es war der Amerikaner, der abends hier am<br />

Biwasee im Uferschilf Wildenten jagte. Morgens <strong>und</strong> abends<br />

hatte sie oft den Knall aus seiner Jagdbüchse gehört, <strong>und</strong> dann<br />

waren, zu Tode geängstigt, kreischend <strong>und</strong> entsetzt Scharen<br />

von Wildenten über Hanakes Haus geflogen.<br />

Das junge Mädchen wartete eine Sek<strong>und</strong>e; es ließ das Boot<br />

des häßlichen Fremden vorübergleiten <strong>und</strong> zog dann erst den<br />

Ärmel vom Kopf des Geliebten. Denn daß der Mann, der sie<br />

trug, ihr Geliebter war, sagten ihr seine Hände, die beim Tra-


gen Hanakes Blut anredeten <strong>und</strong> ihr von großen Zärtlichkeiten<br />

erzählten, die sie ihr glühend versprachen.<br />

Nach einer Weile ging das Boot vor dem Wind, <strong>und</strong> drinnen<br />

lag Hanake mit dem Kopf zwischen den Knien des Mannes,<br />

der wie ein Feuerdrache in Hanakes Haus gestürzt war <strong>und</strong><br />

der wie ein großer Zauberer den Biwasee jetzt in ein riesiges<br />

Seidenbett verwandelt hatte, darinnen die beiden eingebettet<br />

lagen. Und Hanake sah das Wasser ohne Grenzen, den Himmel<br />

ohne Grenzen <strong>und</strong> die Liebe zu dem plötzlich erschienenen<br />

Mann ohne Grenzen.<br />

Sie fragte nicht: »Wie heißt du?« Sein Name war ohne Namen.<br />

Sie fragte nicht: »Wohin fahren wir?« Ihre Fahrt war<br />

ohne Fahrt. Das Segel stand senkrecht zwischen Wasser <strong>und</strong><br />

Himmel, <strong>und</strong> sie wußte, das Segel hatte ein Spiegelbild unten<br />

im See, so wie ihr Gesicht im Schoß des Mannes das Spiegelbild<br />

des geliebten Gesichtes geworden war.<br />

Das Segelboot glitt nah am Schilfufer hin. Das Mädchen verstand:<br />

Der Mann vermied es, auf die Höhe des Sees zu segeln,<br />

damit nicht Boote, die von Yabase kämen, ihnen begegneten.<br />

Da knallte ein Schuß im Röhricht, <strong>und</strong> braune Wildenten<br />

strichen aus dem Schilf heraus aufkreischend über die Seefläche.<br />

Ein zweiter Schuß schallt, <strong>und</strong> Hanakes Geliebter wirft<br />

die Arme in die Luft, springt auf, wie von einem Strick in die<br />

Höhe gerissen, <strong>und</strong> stürzt kopfüber in den abenddunkeln See.<br />

Kein Schrei; nur das Aufklatschen des Wassers, <strong>und</strong> der Hall<br />

der Schüsse am Ufer des Biwasees entlang springt durch die<br />

Stille. Hanake greift unwillkürlich mit beiden Händen über<br />

den Bootsrand in das Wasser, wohin der Geliebte verschwand,<br />

<strong>und</strong> als sie die Hände aus dem Wasser zieht, sind sie blutig. Sie<br />

fällt lautlos auf den Boden des Bootes, das im Winde weitertreibt.


Hanakes Diener sehen vom Fenster, daß das Boot, in dem<br />

die Herrin fortfuhr, draußen nicht weit vom Ufer steuerlos im<br />

Kreis treibt <strong>und</strong> daß ein <strong>andere</strong>s Boot aus dem Schilf heraus<br />

die Seewölbung ersteigt <strong>und</strong> hinter dem Wasser verschwindet.<br />

Ein paar der Diener schwimmen hinaus <strong>und</strong> bringen das Boot<br />

mit der ohnmächtigen Hanake an den Landungssteg.<br />

Zur gleichen St<strong>und</strong>e wie am vorhergehenden Abend liegt<br />

Hanake ohnmächtig in dem Zimmer, das auf den See geht; bei<br />

derselben Kerze, die gestern brannte, sitzt ihre Lieblingsmagd,<br />

die »Singende Seemuschel«, <strong>und</strong> wartet auf das Erwachen ihrer<br />

Herrin.<br />

Als diese gar nicht zu sich kommen will, kommt die Magd<br />

auf den Einfall, den grauen Papagei zu holen, der von den drei<br />

Sätzen immer nur den einen gelernt hat: »Ich liebe dich.« Als<br />

sie den Vogel neben die Kerze in das Gemach bringt, schreit er<br />

sofort: »Ich liebe dich!« Da zuckt das Gesicht der ohnmächtigen<br />

Hanake zusammen, als habe ihr einer einen unendlichen<br />

Schmerz angetan. Ihre Lippen seufzen tief auf, ihr Gesicht<br />

verändert die Farbe <strong>und</strong> wird wie Asche im Aschentopf, der<br />

neben der Kerze steht. Die Magd beugt sich erschrocken über<br />

ihre Herrin, <strong>und</strong> wie sie noch zweifelt: Ist das der Tod, der<br />

Hanake so entfärbt?, da schüttelt der Papagei sein Gefieder,<br />

schlägt mit den Flügeln um sich <strong>und</strong> schreit plötzlich <strong>und</strong> unvermittelt:<br />

»Ich töte dich!«<br />

Die »Singende Seemuschel« starrt entsetzt den Vogel an,<br />

dessen großer Schatten vor der Kerze wie der Schatten eines<br />

mächtigen schwarzen Segels über die Wände des Gemaches<br />

fliegt.<br />

Die Magd greift mit beiden Händen nach dem um sich<br />

schlagenden Papagei. Der Vogel schreit zum zweitenmal: »Ich<br />

töte dich!« Die Hände der Magd packen das Tier <strong>und</strong> drükken<br />

dem Papagei den Hals zu, damit er nicht zum drittenmal


das schauerliche »Ich töte dich!« schreien kann. Der Vogel<br />

verdreht seine Augen, läßt mit einem Ruck die Flügel schlaff<br />

hängen, spreizt die Krallen <strong>und</strong> hängt als lebloser Vogelbalg in<br />

den Händen der Magd.<br />

Hanake schlägt die Augen auf. Die Magd wirft die Vogelleiche<br />

auf die Diele <strong>und</strong> ruft:<br />

»O Herrin, Ihr kommt wieder! Ihr wart weit fort!«<br />

Hanake richtet sich auf, sitzt auf der Diele <strong>und</strong> sagt in Gedanken:<br />

»Ich glaube, ich komme von den Toten.«<br />

Dann sprach sie lange nicht mehr. Sie sah nicht den toten<br />

Papagei. Sie weinte nicht über den Tod ihres Geliebten. Sie ließ<br />

sich von der Magd umkleiden, <strong>und</strong> als ihr diese ein Hauskleid<br />

bringen wollte, sagte sie, <strong>und</strong> ihre Augen sahen durchdringend<br />

durch die geschlossenen Wände des Hauses:<br />

»Ich sehe im Abend Boote von Yabase kommen. Ich sehe,<br />

man bringt mir ein rotes Scharlachkleid, wie es die Hofdamen<br />

tragen. Aber die h<strong>und</strong>ert Segel, die jetzt von Yabase kommen,<br />

zeigen in den Segelfalten keine Schriftzeichen mehr. Jedes<br />

Segel ist glatt wie eine leere Hand. H<strong>und</strong>ert leere Hände kommen<br />

in mein Haus.<br />

Bringe mir ein weißseidenes Unterkleid, ›Singende Seemuschel‹,<br />

damit ich das rote Scharlachkleid, das man mitbringt,<br />

darüberziehen kann.«<br />

Die Magd widersprach ihrer Herrin nicht. Sie öffnete nur ein<br />

wenig die Schiebewand nach dem See. Aber sie sah keine Lichter<br />

von Booten in der Nacht draußen, kein Bootskiel rauschte<br />

im Wasser, nur das Schilf zischte unten um das Haus <strong>und</strong> in<br />

der Ferne um den Landungssteg.<br />

Hanake ist hellsehend geworden, dachte die Magd. Dann<br />

ging sie durch die Kammern des Hauses nach den Wandschränken,<br />

wo die Kleider gefaltet in großen Lacktruhen lagen.


Sie ließ sich von zwei Mägden leuchten. Und die eine Magd<br />

erzählte halblaut:<br />

»Wißt ihr schon, unsere Männer, die zur Nachtzeit aus Yabase<br />

herüberkamen, sagten, man erzählte sich in allen Teehäusern,<br />

daß der Fre<strong>und</strong> eines kaiserlichen Prinzen von einem<br />

Europäer auf dem See erschossen worden sei. Der blutige<br />

Körper des Toten wurde in Yabase auf den Kies gespült, <strong>und</strong><br />

heimkehrende Boote haben gesehen, wie der fliehende Europäer,<br />

der Wildenten im Schilf gejagt hat, durch einen Fehlschuß<br />

den Fre<strong>und</strong> des Prinzen tötete. Der Prinz selbst kam<br />

dann an das Ufer, wo die Leiche seines Fre<strong>und</strong>es lag. Der Prinz<br />

hat seinen Fre<strong>und</strong> lange angesehen, aber nicht geweint, sagen<br />

die Leute. Er hat gefragt, ob in der Nacht noch jemand über<br />

den See fährt; <strong>und</strong> als er hörte, daß unsere Männer noch über<br />

den See fuhren, sandte er eine kleine Kleidertruhe <strong>und</strong> ließ sie<br />

in das Boot unserer Männer stellen. Die Truhe ist für Hanake.<br />

›Morgen, ehe die Sonne im Mittag steht, wird der Prinz selbst<br />

zu Hanake kommen‹, sagte ein kaiserlicher Diener heimlich<br />

zu unseren Männern.«<br />

»In der Truhe ist ein rotes Scharlachkleid für Hanake«, sagte<br />

die »Singende Seemuschel« zu den Mägden.<br />

»Woher weißt du das?« fragten beide Mägde erstaunt. »Niemand<br />

durfte bis jetzt in die Truhe sehen.«<br />

»Wir wissen das bestimmt«, nickte die Gefragte.<br />

Sie nahm das weißseidene Unterkleid über den Arm <strong>und</strong><br />

schickte die Mägde in die Küche…<br />

Am nächsten Tag um die Mittagsst<strong>und</strong>e kam ein Segel auf<br />

Hanakes Haus zu.<br />

Die »Singende Seemuschel« sagte zu Hanake, die im Purpurkleid<br />

auf der Altane saß <strong>und</strong> weiß <strong>und</strong> rosa geschminkt war,<br />

so dick gepudert <strong>und</strong> geschminkt, als verberge sie das Gesicht<br />

hinter einer rot <strong>und</strong> weißen Maske:


»Das ist nicht der Prinz, der da kommt. Denn ich sehe nur<br />

ein Segel, Herrin, <strong>und</strong> Ihr sagtet gestern nacht voraus, es würden<br />

h<strong>und</strong>ert Segel kommen. Alles, was Ihr sagtet, als Ihr von<br />

den Toten erwachtet, ist eingetroffen. Wenn aber der Prinz<br />

nur in einem Boot kommt, dann habt Ihr Euch geirrt, weil Ihr<br />

von h<strong>und</strong>ert Booten gestern redetet.«<br />

»Schweig <strong>und</strong> empfange den Prinzen«, sagte Hanake. »Geh<br />

mit allen Mägden <strong>und</strong> allen Dienern dem Prinzen zur Landungsbrücke<br />

entgegen, denn ich kann noch nicht gehen, meine<br />

Füße zittern noch. Ich kann den Prinzen nur hier im Haus<br />

empfangen.<br />

Als ich im Tode lag unter den Toten, aber mit meinem Geliebten<br />

nicht vereinigt war, fragte meine Seele alle Toten:<br />

›Was habe ich getan, daß ich meinen Geliebten nicht unter<br />

den Toten finde?‹<br />

›Du hast noch dem Leben verweigerten Gehorsam zu geben‹,<br />

sagten die Toten, <strong>und</strong> ich erwachte wieder.<br />

Ich weiß es, ich habe gefrevelt. Ich habe meinen Leib einem<br />

Prinzen, einem Sohn des Himmels, entziehen wollen <strong>und</strong><br />

habe einen <strong>andere</strong>n Mann umarmt. Aber der Geliebte konnte<br />

meinen Leib nicht mit in den Tod nehmen, weil ich erst lernen<br />

mußte, dem Leben zu gehorchen.«<br />

Die Magd weinte über Hanakes Worte, aber Hanake verbot<br />

es ihr <strong>und</strong> sagte:<br />

»Wir wollen nicht neuen Ungehorsam auf dies Haus laden.<br />

Ich darf nicht weinen, wenn ich auch bis an die Augen voll<br />

Trauer bin. Meine Füße aber zittern, <strong>und</strong> ich kann dem Prinzen<br />

nicht entgegengehen. Ich kann meine Füße noch nicht<br />

zum Gehorsam zwingen.<br />

Wenn der Prinz dich fragt: ›Wo ist Hanake?‹, sage – <strong>und</strong> laß<br />

dir nichts merken – sage: ›Verzeihung, Sohn des Himmels,<br />

meine Herrin trauert um ihren toten Lieblingspapagei. Aber


wenn meine Herrin des Prinzen Angesicht sieht, wird ihre<br />

Trauer zur Freude werden <strong>und</strong> doppelt glänzen, wie dein weißes<br />

Segelboot, o Herr, im Biwasee.‹«<br />

Und wie der Schiller auf starrem, poliertem Porzellan glänzte<br />

Hanake bis zum Abend, solange der Prinz in ihrem Haus<br />

war <strong>und</strong> mit ihr spielte. Und auch als sie ihr Scharlachkleid<br />

öffnete <strong>und</strong> ihren kleinen weißgepuderten Leib nackt in die<br />

Arme des Prinzen legte, sang sie Lieder <strong>und</strong> zwitscherte mit<br />

den Lippen. Der Prinz sagte am Abend:<br />

»Dein Leib ist mir lieb, weil er kühl ist wie die Schneeflocken<br />

<strong>und</strong> mich aufweckt wie die Kälte am Wintermorgen.<br />

Und nun singe mir noch zum Abschied das Lied vom Biwasee,<br />

das nur auf weiße Seide geschrieben werden darf.«<br />

Die »Singende Seemuschel« saß hinter der Papierwand im<br />

Nebenzimmer, wo sie Gitarre spielen mußte, solange der Prinz<br />

die nackte Hanake umarmte. Aber als die treue Magd hörte,<br />

daß der Prinz das Lied von ihrer Herrin verlangte, das nur<br />

eine sehnsüchtig Liebende singen darf, da konnte sie sich nicht<br />

mehr des Schluchzens erwehren. Und während die Hände der<br />

»Singenden Seemuschel« auf der Gitarre spielten, wimmerte<br />

ihre schluchzende Brust.<br />

Hanake, die in ihr Scharlachkleid schlüpfte, raschelte mit<br />

der Seide, damit der Prinz das Wimmern der Magd nicht höre.<br />

Dann wollte sie singen. Aber der Prinz fragte, ehe sie begann:<br />

»Weint jemand hinter der Wand?«<br />

»O nein«, lächelte Hanake, »das sind nur Brieftauben, die ich<br />

in einem Käfig halte, <strong>und</strong> ihre Köpfe glucksen, weil sie zuviel<br />

gefüttert wurden.«<br />

»Singe jetzt!« sagte der Prinz.


Das Wimmern hinter der Papierwand verstummte, <strong>und</strong> Hanake<br />

sang das Lied:<br />

»Auf dem See steht ein weißes, segelndes Boot.<br />

Mein Herz, mein leises,<br />

Mein Auge, mein heißes, -<br />

Die Menschen, die einsam sind,<br />

Sind wie die Boote von Yabase,<br />

Die blaß hintreiben im Abendwind.«<br />

Hanake hatte während des Singens ihren Kopf in den Schoß<br />

des Prinzen gelegt <strong>und</strong> mit offenen Augen zur Decke gestarrt.<br />

Ihr Körper war in dieser Stellung wie an jenem Abend auf dem<br />

Biwasee im Boot, als sie mit dem Kopf im Schoß ihres Geliebten<br />

gelegen.<br />

Plötzlich fährt Hanake, wie von einem Schuß getroffen, auf.<br />

Sie wirft die Arme in die Luft <strong>und</strong> fällt ohne Aufschrei auf die<br />

Diele, wo sie in tiefer Ohnmacht liegenbleibt.<br />

Der Prinz wird blaß. Auf seinen Ruf kommt die Magd hinter<br />

der Papierwand hervor. Der Prinz sieht die verweinten Augen<br />

derselben <strong>und</strong> denkt, daß Magd <strong>und</strong> Herrin wirklich in Trauer<br />

seien über den toten Papagei. Er ist erstaunt darüber <strong>und</strong> sagt:<br />

»Deine Herrin ist noch schwach von Trauer über ihren toten<br />

Papagei. Pflege deine Herrin; <strong>und</strong> wenn sie aufwacht, sage ihr,<br />

ich käme morgen abend <strong>und</strong> h<strong>und</strong>ertmal wieder.«<br />

Die Magd verneigt sich vor dem Prinzen, sie verbirgt ihre<br />

verweinten Augen <strong>und</strong> lügt:<br />

»Sohn des Himmels, verzeiht meiner Herrin! Aber der Tod<br />

ihres Papageis ging ihr nicht so sehr zu Herzen wie jetzt der<br />

Abschied von Euch. Die Trauer darüber hat sie gleich einer<br />

Ohnmacht überfallen.«


Als Hanake wieder zu sich kommt, sieht sie fern im Abend<br />

über dem Biwasee das verschwindende Segel des kaiserlichen<br />

Bootes, <strong>und</strong> das Kielwasser treibt eine lange schwarzlinige<br />

Welle von der Mitte des Sees bis an Hanakes Haus.<br />

Hanake murmelt: »Die Magd sagt h<strong>und</strong>ertmal wird er wiederkommen!<br />

Ich will lieber h<strong>und</strong>ert verschiedene Männer umarmen,<br />

ihr Götter! Erlaßt es mir, einem Mann Liebe heucheln<br />

zu müssen h<strong>und</strong>ertmal hintereinander. Ich schwöre euch: Ich<br />

will mich lieber auf dem Liebesmarkt zu Tokio hingeben, wo<br />

fünftausend Mädchen sich jede Nacht einem andern Mann<br />

anbieten. Aber erlaßt mir, o Götter, die Qual, <strong>und</strong> bindet mich<br />

nicht h<strong>und</strong>ert Nächte an den einen Mann, der sich einredet,<br />

daß ich ihn liebe.«<br />

Die untergehende Sonne schminkte den Himmel wie das<br />

Gesicht eines Freudenmädchens. Karminrosig <strong>und</strong> violettsilbrig<br />

färbten sich alle Wolken über dem Biwasee, wie die fünftausend<br />

Mädchengesichter auf dem Liebesmarkt zu Tokio.<br />

Dann hörte Hanake lautes Gelächter, laute Männer- <strong>und</strong><br />

Frauenstimmen, das Räderrasseln von kleinen Rikschawagen<br />

<strong>und</strong> das Geschrei von Kulis. Eine Schar ihrer Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />

Fre<strong>und</strong>innen war in Wagen <strong>und</strong> Tragsesseln von der Landstraße<br />

hergekommen <strong>und</strong> rief jetzt von draußen ins Haus<br />

nach Hanake. Dann drängten die Gesichter ihrer Fre<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>innen in das Nebenzimmer, <strong>und</strong> Hanakes Gesicht<br />

wurde wieder höflich <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> unbeschrieben wie<br />

eine weiße Eierschale.<br />

Sie warf noch rasch einen Blick aus dem Fenster. Das Segel<br />

des kaiserlichen Bootes war hinter der Seehöhe verschw<strong>und</strong>en.<br />

Der See lag gradlinig, <strong>und</strong> nur wie eine kleine schwarze<br />

Schnur zog sich am Horizont das Kielwasser des verschw<strong>und</strong>enen<br />

Bootes hin. Die Kielwelle erreichte nicht mehr Hanakes


Haus <strong>und</strong> verlor sich wie ein abgerissenes Band draußen auf<br />

der Seefläche.<br />

Hanakes Herz war leichter. Sie trat aus dem Seegemach in<br />

das nebenan liegende Gemach, in das die Fre<strong>und</strong>e hereindrängten.<br />

Das Haus war jetzt voll von zwitschernden Frauenstimmen<br />

<strong>und</strong> gurgelnden Männerkehlen, die den Atem auf<br />

japanische Sitte laut <strong>und</strong> achtungbezeugend einzogen.<br />

Nachdem alle eine Weile voreinander auf den Knien gelegen<br />

hatten <strong>und</strong> sich verbeugt hatten, rutschten sie zusammen,<br />

bildeten einen Halbkreis um Hanake <strong>und</strong> hockten auf den Seidenkissen<br />

am Boden, <strong>und</strong> das Zimmer war laut wie ein Baum,<br />

in dem eine Sperlingsschar plaudert.<br />

Gerüchte, daß ein kaiserlicher Prinz sich nach Hanake umsähe,<br />

hatten sich bei den Fre<strong>und</strong>en verbreitet; aber niemand<br />

wußte Genaues, <strong>und</strong> niemand wußte vom Besuch des Prinzen.<br />

Alle waren des Mordes wegen gekommen, der sich auf dem<br />

See in der Nähe von Hanakes Haus ereignet haben sollte. Sie<br />

wollten wissen, ob Hanake den Schuß gehört habe? Ob der Europäer<br />

fehlgeschossen oder auf den Japaner gezielt habe? Ob<br />

Hanake damals am Fenster gestanden habe? Und ob nach dem<br />

Schuß das Seewasser rot von Blut gewesen sei? …<br />

Hanakes Gesicht verlor keinen Augenblick die starre Politur.<br />

Die Magd hatte ihr, als sie aus der Ohnmacht aufgewacht war,<br />

das Scharlachgewand ausgezogen <strong>und</strong> ihr ein blaues Gewand<br />

gereicht, auf dem nur Seewellen <strong>und</strong> Wolken eingewebt waren,<br />

<strong>und</strong> hatte die Schminke <strong>und</strong> den Puder erneuert <strong>und</strong> den klingenden<br />

Haarschmuck in ihrem Haar fester gesteckt, als man<br />

das Herannahen der Fre<strong>und</strong>e hörte.<br />

Jetzt reichten die »Singende Seemuschel« <strong>und</strong> die <strong>andere</strong>n<br />

Mägde den Gästen Tee <strong>und</strong> Pfefferminzzucker herum <strong>und</strong><br />

kleine winzige Kuchenwürfel.


Als die Schar der Fragen sich wie eine Dornenhecke um Hanake<br />

aufbaute, suchte die »Singende Seemuschel« nach einem<br />

rettenden Gedanken, um ihrer Herrin zu helfen. Sie lief fort,<br />

holte den toten Papagei, kam wehklagend herein <strong>und</strong> sagte:<br />

»Ach, Herrin, seht, der Papagei liegt im Sterben!«<br />

Aber wie war sie verblüfft, als Hanake sie abwies <strong>und</strong> lächelnd<br />

zu den Gästen sagte:<br />

»Ich glaube, meine Magd ist irrsinnig geworden von der<br />

Ehre, die uns heute widerfuhr. Sie zeigt mir den Papagei, der<br />

seit gestern tot ist <strong>und</strong> der uns heute schon helfen mußte, einen<br />

kaiserlichen Prinzen zu belügen.«<br />

Im Zimmer wurde es still, wie wenn alle Spatzen aus einem<br />

Baum fortgeflogen sind.<br />

Alle Gäste verstanden, daß der Prinz dagewesen war, alle<br />

verstanden, daß Hanake ihn nicht liebte; <strong>und</strong> daß man einen<br />

Prinzen belügen könnte, war ihnen auch noch verständlich.<br />

Aber welch ein Frevel, laut über den Sohn des Himmels zu<br />

spotten <strong>und</strong> einzugestehen, daß man ihn belogen hatte!<br />

Als wären allen Gästen die Teetassen aus den Händen gefallen<br />

<strong>und</strong> als wäre der Tee vergossen, so erschrocken saßen alle<br />

<strong>und</strong> starr. Keiner rührte mehr einen Teeschluck an. Und als<br />

Hanake mit kalten, glitzernden Augen sagte:<br />

»Der Prinz wird nicht von dieser Lüge sterben. Ich bin auch<br />

nicht an seiner Liebe gestorben« – da schlossen die Fre<strong>und</strong>innen<br />

vor Schreck ihre Augen. Die Männer richteten sich<br />

auf, <strong>und</strong> wie eine Schar Krebse, die nach rückwärts krabbelt,<br />

verließ die Fre<strong>und</strong>esschar das Gemach, teils aus Furcht, weil<br />

in diesem Haus gegen den Sohn des Himmels gefrevelt wurde,<br />

teils erschrocken vor Hochachtung, weil die Luft hier noch<br />

voll sein mußte von der Leidenschaft <strong>und</strong> der Nähe des kaiserlichen<br />

Prinzen.


Unter kaum hörbar gewisperten Entschuldigungen verließen<br />

die letzten das Haus, bestürzt <strong>und</strong> eilfertig, als wären die Zimmer<br />

des Hauses voll Feuer, das sie alle verbrennen könnte.<br />

Hanake aber ließ das Zimmer aufräumen, ließ sich von der<br />

»Singenden Seemuschel« eine Schlummerrolle unter das Genick<br />

schieben, streckte sich auf der Diele aus <strong>und</strong> schlief fest<br />

ein.<br />

Am nächsten Abend erschien ein Segel auf der Seehöhe. Es<br />

kam wie ein selbstbewußter Schwan lautlos auf Hanakes Haus<br />

zugeschwommen. Aber die Landungsbrücke bei dem Haus<br />

blieb leer. Nur die Köpfe der Schilfblüten bewegten sich <strong>und</strong><br />

verneigten sich vor dem kaiserlichen Boot <strong>und</strong> vor dem Prinzen,<br />

der ans Land stieg.<br />

Die Papierfenster <strong>und</strong> die Bambustüren von Hanakes Haus<br />

waren geschlossen <strong>und</strong> öffneten sich nicht, als der Prinz klopfen<br />

ließ. Wie eine Laterne ohne Licht lag am See das gegitterte<br />

Holzhaus mit den weißen Papierscheiben. Ein vorüberfahrender<br />

Schiffer in seinem Boot sagte den Leuten des Prinzen, daß<br />

Hanake am Morgen alle ihre Dienstboten entlassen habe. Sie<br />

habe ihr Haus zugeschlossen <strong>und</strong> sei nur mit einer Magd auf<br />

ihrem Segelboot in den See hinausgefahren; aber niemand<br />

wußte, wohin die Fahrt gegangen.<br />

Das kaiserliche Boot kreuzte die ganze Nacht auf der Seefläche<br />

in der Nähe von Hanakes Haus. Aber die Papierfenster<br />

des Hauses blieben dunkel, <strong>und</strong> das lautlose kaiserliche Boot<br />

verschwand gegen Morgen hinter der Seehöhe.<br />

Am nächsten Abend kamen h<strong>und</strong>ert kaiserliche Segelboote<br />

von Yabase. Sie kamen an wie h<strong>und</strong>ert weiße Fächer, die sich<br />

über den See spannten. Sie kreuzten über den ganzen Biwasee,<br />

während der ganzen Nacht, von Ozu bis Yabase, von Karasaki<br />

bis Katata, von Seta bis Amazu. Und als leuchteten sie in die


Unterwelt des Sees, so zogen sie die hellen Scheinbilder der<br />

h<strong>und</strong>ert weißen Segel durch die Seetiefe nach sich.<br />

Die nächsten Abende wiederholte sich das Schauspiel der<br />

h<strong>und</strong>ert Segelboote, die Hanake suchen sollten <strong>und</strong> die sich<br />

durch den Seenebel verteilten wie h<strong>und</strong>ert weiße Seidenspinnerschmetterlinge,<br />

die in einem grauen riesigen Spinnenwebnetz<br />

hängengeblieben wären.<br />

�<br />

Jede kleine japanische Stadt eröffnet abends einen Liebesmarkt,<br />

der sich Yoshiwara nennt. Der Yoshiwara in Tokio ist<br />

einer der größten Liebesmärkte in Japan, wo die schönsten<br />

Mädchen vom Inland <strong>und</strong> aus allen Provinzen zusammenkommen,<br />

wo sich verwaiste Mädchen vom Ertrag der Liebe<br />

zu ernähren suchen, wo verarmte Mädchen mit dem Erlös der<br />

Liebe ihre alten Eltern zu erhalten suchen. Auf diesen Liebesmärkten<br />

verkauft sich die Liebe natürlich <strong>und</strong> schandlos.<br />

Unschuldig <strong>und</strong> feurig, wie die Sterne der Milchstraße<br />

nachts am Himmel, beleuchten sich nach Sonnenuntergang<br />

die schöngepflegten, sauberen <strong>und</strong> breiten Straßen des Liebesmarktes.<br />

Das große eiserne Gitter, das den Stadtteil des Liebesmarktes<br />

von der Stadt trennt, steht, von Polizisten bewacht,<br />

weit offen. Hinter dem offenen Tor, in der Mitte der Eingangsstraße,<br />

zieht sich im Frühlingsabend eine rosige Wolke hin<br />

durch die Luft: die rosigen Blüten blühender Kirschbäume,<br />

welche in der Mitte der Straßenlinie eingehegt stehen. Links<br />

<strong>und</strong> rechts von der Straße beleuchten die kleinen einstöckigen<br />

Häuser mit weißen langen Lampionketten ihre Balkone.<br />

Lautlos <strong>und</strong> feierlich <strong>und</strong> ruhig beleuchtet, liegt hier der<br />

Weg offen zu den fünftausend Mädchenschönheiten. In den<br />

weiten Seitenstraßen, welche die Eingangsstraße kreuzen, be-


ginnt der Liebesmarkt. Hier stehen saubere, ebenfalls mit weißen<br />

Lampenketten erleuchtete Häuser. Die Erdgeschosse aller<br />

dieser Häuser zu beiden Seiten der Straße zeigen große, offene,<br />

vergoldete Gemächer. Die sind durch hölzerne Gitterstäbe wie<br />

goldene Käfige von der Straße getrennt <strong>und</strong> innen beleuchtet<br />

von elektrischen Glühbirnen.<br />

In jedem langen Gemach sitzen in einer Reihe der Straße<br />

entlang dreißig bis fünfzig junge schmalschultrige Mädchen,<br />

in blumige kostbare Seidengewänder gehüllt. Jede sitzt auf<br />

einem kleinen Seidenkissen wie ein Schaustück in einem<br />

Schaufenster.<br />

Die langen Reihen der weißgepuderten <strong>und</strong> rosageschminkten<br />

Gesichter, unter schwarzen hohen Frisuren, die mit goldenen<br />

Nadeln bedeckt sind, enden nicht. Und Viertelst<strong>und</strong>e um<br />

Viertelst<strong>und</strong>e kannst du durch die Straßen gehen, vorüber an<br />

den Heeren der Tausenden von jungen Mädchen.<br />

Die Wände jedes Gittergemaches sind schwer geschnitzt.<br />

Aus Goldlack <strong>und</strong> rotem Lack stehen lebensgroße Bäume darin,<br />

springen lebensgroße Tiger <strong>und</strong> Drachen an den Lackwänden<br />

entlang, fliegen lebensgroße Kraniche <strong>und</strong> Paradiesvögel,<br />

größer als die kleinen Mädchen, an den Wänden der Gemächer<br />

hin.<br />

Wie dreißig weiße Perlen, in einer Reihe aufbewahrt in einer<br />

goldenen oder roten Truhe, leuchten perlenweiß die eir<strong>und</strong>en<br />

gepuderten Mädchengesichter in jedem Gemach. Mal sitzen<br />

da dreißig in eisvogelblauen Gewändern, mit scharlachnen<br />

Blumen bestickt, mal dreißig in smaragdgrünen Gewändern,<br />

mit scharlachnen Blumen bestickt, mal fünfzig in weißen Gewändern,<br />

mit regenbogenfarbigen Schmetterlingen bestickt,<br />

mal fünfzig in schwarzen Gewändern, darunter die Schleppen<br />

von rosa-, grün- <strong>und</strong> blauseidenen Gewändern abgestuft vorschauen.


Jedes Mädchen hat neben sich einen großen Porzellantopf,<br />

darin Holzasche um Kohlenglut liegt. Sie rauchen kleine silberne<br />

Pfeifen, in die nur eine Prise Tabak geht, nicht mehr, als<br />

Daumen <strong>und</strong> Zeigefinger zu einer kleinen Tabakkugel drehen<br />

können, <strong>und</strong> zünden diese mit einem Stückchen Kohle in feiner<br />

silberner Zange an. Die eine frisiert sich vor ihrem kleinen<br />

Spiegel; die <strong>andere</strong> schreibt mit einem Tuschepinsel auf<br />

ihrem Schoß auf einem langen Reispapierstreifen einen Brief;<br />

die nächste trinkt Tee aus einer fingerhutgroßen Tasse; <strong>und</strong><br />

wieder eine fächelt sich, <strong>und</strong> wieder eine <strong>andere</strong> liest in einem<br />

kleinen Büchlein einen Roman. Eine zupft eine Mandoline,<br />

<strong>und</strong> eine <strong>andere</strong> wispert ein Lied dazu. Eine kommt an das<br />

Gitter getrippelt, hebt vorsichtig ihre drei Schleppen, winkt<br />

verstohlen ein paar Fremden; eine <strong>andere</strong> kommt an das Gitter<br />

<strong>und</strong> plaudert mit Mutter <strong>und</strong> Geschwistern, die zum Besuch<br />

auf der Straße stehen, fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> bescheiden.<br />

Eine vielh<strong>und</strong>ertköpfige Menschenmenge, Männer, Soldaten,<br />

Frauen <strong>und</strong> Kinder, ziehen gesittet, flüsternd <strong>und</strong> lächelnd, mit<br />

hell beschienenen Gesichtern, durch die erleuchteten Straßen,<br />

vorüber an den vergitterten Gemächern der Erdgeschosse. Und<br />

st<strong>und</strong>enlang bis nach Mitternacht wandern die Volksmengen<br />

jeden Abend vor den fünftausend Mädchen auf <strong>und</strong> ab, stehen<br />

als Besucher an den Gittern, treten als Besucher in die Häuser,<br />

kaufen sich Gesang, Musik, Tanz <strong>und</strong> Liebe, nachdem jeder<br />

Mann auf der Straße unter den dreißig eines Gemaches seine<br />

Wahl getroffen hat.<br />

Hier in eines der Häuser des Tokioyoshiwara trat Hanake<br />

mit ihrer Magd ein <strong>und</strong> blieb h<strong>und</strong>ert Nächte, um h<strong>und</strong>ertmal<br />

ihren Leib zu verkaufen, wie sie es den Göttem versprochen<br />

hatte, um sich dadurch freizukaufen von dem Gehorsam gegen<br />

den Sohn des Himmels.


Sie verkaufte sich jungen Männern, welche die Liebe kennenlernen<br />

wollten, <strong>und</strong> alten, von der Lebenssorge abgetöteten<br />

einsamen Männern, welche die Liebe noch einmal erleben<br />

wollten, ehe sie starben; sie verkaufte sich den in den Krieg<br />

gehenden Soldaten <strong>und</strong> den aus Schlachten heimgeschickten<br />

Invaliden; sie verkaufte sich Studenten, Handwerkern, Adeligen<br />

<strong>und</strong> Kulis. Nur den Ausländern, den Europäern <strong>und</strong> Amerikanern,<br />

verweigerte Hanake ihren Leib.<br />

Aber eines Abends kam ein junger Amerikaner, ein hübscher<br />

Marineoffizier, in das Haus <strong>und</strong> forderte für sein gutes Geld<br />

vom Hausbesitzer Hanake. Es war in den Tagen, da die amerikanische<br />

Flotte im Hafen von Yokohama lag <strong>und</strong> die Amerikaner<br />

der japanischen Nation einen Ehrenbesuch machten.<br />

Vom Stadtgouverneur war der Befehl ergangen <strong>und</strong> an den<br />

Straßenecken angeschlagen: »Japaner! Ihr dürft nicht vor den<br />

Europäern ausspucken! Ihr dürft ihnen auch keine Stöcke in<br />

den Weg werfen, daß sie stolpern. Auf den Straßen sollt ihr<br />

nicht zu dicht neben den Europäern gehen. Ihr sollt alle europäischen<br />

Barbaren überhaupt höflich behandeln, als wenn sie<br />

gesittete Asiaten wären. In den Besuchstagen der amerikanischen<br />

Flotte soll kein Mädchen in den Yoshiwaras sich einem<br />

Ausländer verweigern dürfen.«<br />

Hanake verweigerte sich trotzdem. Und da es gerade die<br />

h<strong>und</strong>ertste Nacht war, in der sie den Göttern abgedient hatte,<br />

floh sie mitten in der Nacht samt ihrer Magd durch eine Hintertür<br />

aus dem Yoshiwarahause, ließ ihre Kleidung <strong>und</strong> ihren<br />

Schmuck zurück <strong>und</strong> eilte in ihren Alltagskleidern aus dem<br />

Yoshiwara. Verhüllt <strong>und</strong> unbemerkt entkam sie im Gedränge<br />

der vielh<strong>und</strong>ertköpfigen Menge. Sie trug nichts bei sich als<br />

einen kleinen Vogel in einem winzigen Käfig.<br />

Eines der Mädchen in dem Yoshiwara hatte ihr eine St<strong>und</strong>e<br />

vor der Flucht den Vogel verkauft, eben als der amerikanische


Offizier in das Haus trat. Im Schreck der Flucht hatte Hanake<br />

den Vogelkäfig krampfhaft in der Hand behalten, ohne ihn<br />

loszulassen.<br />

Der Vogel war ein Nachtigallenmännchen <strong>und</strong> saß verblüfft<br />

in dem kleinen Käfig, denn er war eben erst von seinem Weibchen,<br />

mit dem er einen <strong>andere</strong>n Käfig geteilt hatte, getrennt<br />

worden.<br />

Die beiden Frauen wollten den Vogel unterwegs füttern, aber<br />

er fraß nicht. Sie reisten beide mit dem w<strong>und</strong>erlichen Vogel in<br />

der Nacht mit dem nächsten Zug nach dem Biwasee <strong>und</strong> kamen<br />

am nächsten Mittag wieder in Hanakes Haus am See an.<br />

Die Magd öffnete die Fenster <strong>und</strong> ließ frische Luft durch die<br />

Kammern streichen. Es war Herbst geworden, <strong>und</strong> mit jedem<br />

Luftzug flogen welke Blätter von den Uferbäumen herein.<br />

Das Seewasser zeigte nicht mehr die blaue Sommerfarbe, es<br />

war tiefgrün. Die Sonne stand schräg <strong>und</strong> warf gespenstige<br />

Schatten. Das lebhafte Schilf war abgemäht, <strong>und</strong> die Stoppeln<br />

standen lautlos <strong>und</strong> tot.<br />

Aber Hanake wurde von der Herbstwelt nicht traurig gestimmt.<br />

Das Leben im Yoshiwara ging noch in lauten Bildern<br />

durch ihr Blut. Sie war täglich h<strong>und</strong>ertmal bew<strong>und</strong>ert worden,<br />

hatte h<strong>und</strong>ertmal gefallen, hatte h<strong>und</strong>erttausendmal lachen<br />

müssen, ohne lachen zu wollen, war h<strong>und</strong>ertmal umarmt worden,<br />

ohne eine Umarmung zu ersehnen. Die Bew<strong>und</strong>erung<br />

war ihrem Körper zur Gewohnheit geworden. Hanake wußte<br />

jetzt fast nicht mehr, warum sie einst aus diesem Haus hier<br />

am See fortgegangen war. Sie hatte den Tag mit dem Prinzen<br />

beinah ganz vergessen, sie hatte kaum noch den Abend mit<br />

dem Geliebten in Erinnerung. Sie hörte nur noch den Schuß<br />

im Ohr <strong>und</strong> sah sich noch im Boot auf dem Schoße des Geliebten<br />

liegen, wenn sie wollte. Aber sie konnte sich nicht mehr<br />

des Gesichts ihres toten Geliebten erinnern, nicht mehr seine


Stimme erinnernd zurückrufen. Die H<strong>und</strong>erte von Gesichtern<br />

<strong>und</strong> Stimmen, die im Yoshiwara Hanake bew<strong>und</strong>erten, hatten<br />

das Gesicht <strong>und</strong> die Stimme des Geliebten aus ihrer Erinnerung<br />

verdrängt. Hanake war auch darüber nicht traurig, nur<br />

verw<strong>und</strong>ert.<br />

Es wurde Abend. Die Magd hatte das Haus bestellt. Da bemerkte<br />

Hanake das kleine halbtote Nachtigallenmännchen im<br />

Käfig <strong>und</strong> dachte: Ich will dich fliegen lassen, kleiner Vogelmann.<br />

Vielleicht fliegst du zurück ins Yoshiwara nach Tokio<br />

zu deinem Weibchen.<br />

Sie öffnete den Käfig. Da schoß der kleine Vogel heraus.<br />

Anstatt aber aus dem offenen Fenster zu fliegen, warf er sich<br />

wie ein Wütender in Hanakes Frisur <strong>und</strong> riß wie wahnsinnig<br />

geworden mit den beiden kleinen Krallenfüßen in den Haaren<br />

des erschrockenen Mädchens <strong>und</strong> fiel dann wie tot an Hanake<br />

herunter auf die Diele.<br />

Hanake zitterte vor Schreck <strong>und</strong> sank in die Knie. Sie verstand,<br />

daß das Vogelmännchen, das sie von dem Weibchen<br />

getrennt hatte, sich an ihr rächen wollte <strong>und</strong> vor wütender<br />

Aufregung gestorben war. Hanake hielt die Finger an ihr<br />

schmerzendes Haar. Aber es war, als sei der Liebesschmerz<br />

des Vogels in ihr Herz gedrungen <strong>und</strong> habe auch in ihrer Seele<br />

wieder alle Liebeserinnerungen geweckt.<br />

In der Ferne auf dem See tauchten drei Segel auf. Sie zogen<br />

der Seelinie entlang, langsam, <strong>und</strong> verschwanden. Hanake<br />

erkannte, als sie vom See weg auf die weiße Wand ihres Zimmers<br />

sah, plötzlich wieder in der Erinnerung das Gesicht ihres<br />

Geliebten. Sie schauderte vor Entzücken.<br />

Sie wollte das Gesicht des Geliebten mit ihren Augen auf der<br />

weißen Wand festhalten. Aber die Gesichtszüge verschwanden,<br />

<strong>und</strong> die Erinnerung erlahmte wieder, <strong>und</strong> Hanake wurde<br />

verstört <strong>und</strong> tief traurig.


»Kleiner Vogel«, seufzte Hanake, »zeige mir den Weg zu<br />

meinem Geliebten!«<br />

Der kleine Vogelkörper zuckte plötzlich auf der Diele zusammen<br />

<strong>und</strong> flatterte taumelnd an die Papierwand. Dort stand in<br />

einer Nische neben einer Blumenvase ein winziger Lackkasten.<br />

Der um sich schlagende Vogel warf das Lackkästchen<br />

aus der Nische. Die winzige perlmutterbeschlagene Schublade<br />

des Kästchens fiel heraus, <strong>und</strong> der Vogel stürzte dann tot zur<br />

Diele. Aus der offenen Schublade aber flatterten im Windzug<br />

ein paar Seidenpapiere zu Hanake hin.<br />

Zwischen den Seidenpapieren lagen kleine Stückchen des<br />

platten Schaumgoldes, womit die Japaner ihr Briefpapier<br />

schmücken. Aber Hanake verstand auch den tödlichen Wert,<br />

den das Schaumgold für den Lebensmüden hat. Rasch entschlossen<br />

legte sie sich ein paar Blättchen des dünngefalzten<br />

Rauschgoldes auf die Lippen, tat ein paar Atemzüge <strong>und</strong> hüllte<br />

ihr Gesicht in die Ärmel ihres Kleides. Dann sank sie erstickt<br />

auf die Diele am offenen Fenster hin.


Das Abendrot zu Seta<br />

E in japanischer Winter am Biwasee ist nicht so kalt <strong>und</strong><br />

nicht so schneereich wie die meisten deutschen Winter,<br />

aber doch liegt oft fußhoch eine weiße Schneerinde am Seerand,<br />

auf den Hausdächern <strong>und</strong> in den Gabeln der Bäume.<br />

See <strong>und</strong> Himmel sind dann vom Winterdunst eingewickelt.<br />

Der See liegt wie ein dunkles Zelt im Nebelrauch, <strong>und</strong> wie<br />

weiße Insektenschwärme kommen die Schneeflocken an. Ihr<br />

kreiselnder Tanz im Wind ist im Wintertag das einzige Leben<br />

am See, dessen Spiegel blind ist, auf dem sich kein Segel zeigt,<br />

dessen Schilffelder abgemäht sind <strong>und</strong> der einer Wüste aus<br />

grauem Basalt ähnelt.<br />

Die Japaner tragen in der weißen Jahreszeit drei bis vier wattierte<br />

graue <strong>und</strong> bräunliche Seidenkleider übereinander. Sie<br />

kennen keine Öfen. Nur eine kleine Kohlenglut in einem Messingbecken<br />

wärmt die hingehaltenen Fingerspitzen. Aber die<br />

Japaner haben viel Eigenwärme in sich. Sie sind gewöhnt an den<br />

Verkehr mit offener Luft in luftreichen, leichten Bambusholzhäuschen,<br />

hinter dünnen Papierwänden <strong>und</strong> Papierscheiben,<br />

gekleidet in den drei <strong>andere</strong>n Jahreszeiten in luftige Seiden-<br />

<strong>und</strong> Kreppstoffe <strong>und</strong> eingehüllt in das bequeme Schlafrockkostüm,<br />

das den Gliedern Spielraum zur Eigenbewegung läßt. So<br />

sind sie ein ges<strong>und</strong>es, warmblütiges Volk geblieben. Die Seele<br />

der Japaner ist ebenso warmblütig wie ihre reinlichen, gutgelüfteten<br />

<strong>und</strong> leeren Papierzimmer. Keine Möbelstücke sind in<br />

ihren Zimmern, der saubere Strohmattenboden des Gema-


ches muß alle Möbel ersetzen. Er stellt Tisch, Stuhl, Sofa <strong>und</strong><br />

Sessel dar, ist handdick, aus dünnstem, feinstem Rohrmattengeflecht,<br />

ist nachgiebig, leicht elastisch, <strong>und</strong> du darfst ihn nur<br />

mit Strümpfen, nie mit Schuhen betreten. In diesen leeren<br />

Gemächern, deren Wände leicht getönte Bambusstrohfarbe,<br />

mehlweißes Papier oder gelbliche Naturhölzer zeigen, hebt<br />

sich das Menschenantlitz ab wie ein Porträt auf ungestörtem<br />

Hintergr<strong>und</strong>; <strong>und</strong> die Gesten der Menschen in diesen leeren<br />

Gemächern werden in den kleinsten Bewegungen wichtig <strong>und</strong><br />

bleiben deiner Erinnerung eingeprägt wie die Schriftzüge auf<br />

weißem Papier.<br />

Als farbiger natürlicher Zimmerschmuck stehen in den offenen<br />

Schiebetüren die Ausblicke auf die maigrünen, sommergelben,<br />

herbstbraunen <strong>und</strong> winterblauen Landschaftsbilder,<br />

der Flug vorüberziehender Vögel, wandernde Wolken <strong>und</strong><br />

Menschen. Unwillkürlich befürworten die leeren farblosen<br />

Gemächer die Liebe zur farbigen Außenwelt. Die Welt, die<br />

immer im Türrahmen erscheint, wenn eine Schiebetür sich<br />

öffnet, wirkt im leeren Zimmer doppelt lebhaft als Landschaft<br />

oder als Mensch, der zu Besuch kommt; jeder Mensch wird<br />

zum lebenden Bild, wenn er sich zu dir auf die Leere der Diele<br />

zwischen die leeren Wände setzt. Man kann sich leicht denken,<br />

daß sich dann alle Landschaftsreize steigern <strong>und</strong> den<br />

Hausbewohnern so wichtig werden wie einer europäischen<br />

Hausfrau die Möbelstücke.<br />

In den leeren Gemächern von Seta am Biwasee ist das<br />

Abendrot vor den Türen zu Seta eine Berühmtheit geworden,<br />

<strong>und</strong> das Abendrot von Seta gesehen haben ist wie Bienenhonig<br />

dem Ärmsten <strong>und</strong> verspricht dir noch nach langen Jahren<br />

einen sanften Tod …<br />

In Seta lebte die Frau eines verarmten Adligen. Ihr Mann<br />

war im Krieg gegen die Europäer gefallen, ebenso ihre zwei


Söhne. Diese Frau reiste öfter im Sommer oder im Frühling<br />

zur Kirschblütenzeit nach Kioto oder nach dem Wallfahrtsort<br />

Nara oder nach den heiligen Tempeln von Nikko, um dort, im<br />

Gebet in den Tempeln, an heiligen Orten ihrem Mann <strong>und</strong><br />

ihren zwei Söhnen näher zu sein.<br />

In Kioto, im Tempel der fünftausend Kriegsgenien, stehen<br />

in den zehn langen Reihen je fünfh<strong>und</strong>ert aufrechte goldene<br />

Götter. Jeder Gott hat zwanzig bis dreißig Arme, schwingt<br />

Speere <strong>und</strong> Schwerter; <strong>und</strong> man sagt: Sollte Kioto einmal von<br />

Feinden angegriffen werden <strong>und</strong> in höchster Not sein, dann<br />

ziehen die fünftausend Götter aus der langen hölzernen Tempelhalle<br />

aus <strong>und</strong> werden die alte Kaiserstadt verteidigen.<br />

In diesen Tempel ging die verwitwete Frau am liebsten, denn<br />

dort traf sie im Gebet ihren Mann. Wenn sie vor den fünftausend<br />

Götterbildern niederkniete, sprach er in ihr Ohr wie ein<br />

Lebender.<br />

Die feuerrote, düstere <strong>und</strong> fensterlose Lackhalle, darinnen<br />

die fünftausend goldenen Götter nur von den riesigen offenen<br />

Türen beleuchtet wurden, gab der Witwe ein aufregend<br />

wohliges Gefühl. Wenn sie über die h<strong>und</strong>erttausend goldenen<br />

Speere <strong>und</strong> Schwertspitzen schaute, glaubte sie ein Kriegsgetümmel<br />

vor sich zu sehen. Von den zehn Reihen der Götter<br />

steht immer eine Reihe höher hinter der andern, so daß man<br />

sich vor einem Berg von Lanzen, Schwertspitzen, goldenen<br />

Armen <strong>und</strong> goldenen Heiligenscheinen befindet, als strömten<br />

dir goldene Götterscharen bergab entgegen.<br />

Als die Frau eines Tages wieder im Gebetstaumel die Halle<br />

verließ, sah sie draußen auf dem Bretterweg, der an der h<strong>und</strong>ert<br />

Fuß langen Halle entlangführt, einen Mann stehen, der<br />

sich, wie das die Japaner öfter tun, hier im Bogenschießen<br />

übte. Der Mann glich auffallend ihrem toten Gatten. Am<br />

einen Ende des Bretterwegs stand der Schütze mit dem alt-


modischen mannsgroßen Bogen, am <strong>andere</strong>n Ende des Bretterwegs<br />

war die weiße Scheibe angebracht, <strong>und</strong> an der ganzen<br />

Tempellänge entlang surrte der Pfeil des Schießenden. Wenn<br />

jetzt auch allgemein das Gewehr in Japan eingeführt ist, üben<br />

sich einige Japaner noch zum Vergnügen im Bogenschießen,<br />

<strong>und</strong> der Bretterweg am Tempel der fünftausend Kriegsgenien<br />

ist ein beliebter Übungsplatz in Kioto.<br />

Die Frau zitterte vor Erregung, als sie den Schützen sah, der<br />

das getreue Abbild ihres gestorbenen Mannes war. Ihr Auge<br />

hatte einen unwiderstehlichen, leidenschaftlichen Ausdruck,<br />

<strong>und</strong> ihr ganzer kleiner Körper wurde wie ein Stück Magneteisen<br />

<strong>und</strong> zog den Mann nach sich, den sie anschaute.<br />

Sie blickte den Schützen an, trat rückwärts wieder in die<br />

Tempelhalle zurück <strong>und</strong> ging an der untersten Reihe der Genien<br />

entlang, genau wissend, daß der Schütze Bogen <strong>und</strong> Pfeile<br />

wegstellen <strong>und</strong> ihr nachfolgen müßte. Sie kam in das dunkle<br />

Ende der Halle, wo Holztreppen, ähnlich Leitern, verstaubt,<br />

uralt <strong>und</strong> düster, zu einer dunklen Holzgalerie führen, die<br />

sich hoch unter dem Dach des Tempels über den fünftausend<br />

Genien hinzieht. Der Mann, der ihr gefolgt war, kam leise die<br />

dunkle Stiege herauf. Sie kauerte auf der obersten Stufe nieder<br />

<strong>und</strong> wollte ihn an sich vorübergehen lassen. »Deine Augen<br />

können surren wie Pfeile«, sagte der Mann <strong>und</strong> blieb neben<br />

ihr stehen.<br />

»Du siehst meinem verstorbenen Mann ähnlich«, sagte die<br />

Frau. »Deswegen habe ich dich angesehen.«<br />

Der Mann atmete schwer. Er senkte den Nacken <strong>und</strong> flüsterte<br />

rasch:<br />

»Wenn dich dein Mann so gern umarmt hat, wie ich dich<br />

jetzt hier umarmen möchte …«


Er sprach den Satz nicht fertig, faßte die Frau flink wie ein<br />

Affe eine Äffin, <strong>und</strong> die harte Tempeldiele wurde ihr Liebeslager.<br />

Danach sagte die Frau leise:<br />

»Was haben wir getan? Wir sind im Tempel der fünftausend<br />

Genien!«<br />

»Wollust schändet keinen Tempel«, antwortete der Mann.<br />

»Fünftausendmal will ich dich hier umarmen. Fünftausendmal<br />

wollen wir uns hier treffen.«<br />

Die Frau schauderte vor Glück. In die geheimnisvolle Tempelluft<br />

<strong>und</strong> Tempeldunkelheit schienen außer den fünftausend<br />

Kriegsgöttern fünftausend Liebesgötter eingedrungen zu sein.<br />

Und sie sagte zu dem Mann:<br />

»Wir wollen nicht wissen, wie wir heißen, wir wollen nicht<br />

wissen, wo wir wohnen. Wir wollen nicht verabreden, wann<br />

wir uns treffen. Wir wollen es den fünftausend Genien überlassen,<br />

daß sie unsere Wege zusammenführen. Und immer,<br />

wenn wir uns zusammenfinden, wollen wir nichts versprechen<br />

<strong>und</strong> nichts fragen <strong>und</strong> uns nur umarmen, wie wir uns<br />

hier umarmt haben.<br />

Ich will nicht wissen, ob du ein wirklicher Mensch bist oder<br />

nur eine Erscheinung, ähnlich meinem Mann. Ich will dich<br />

genießen wie die Abendröte, die jetzt über die Türschwelle<br />

dort tritt <strong>und</strong> die wirklich <strong>und</strong> unwirklich zugleich.«<br />

Die beiden hielten ihre Verabredung. Die Frau änderte nicht<br />

ihre Reisen <strong>und</strong> ihre Wallfahrten nach den andern Wallfahrtsorten.<br />

Und nachdem sie monatelang in Kioto täglich zu den<br />

verschiedensten St<strong>und</strong>en den Tempel der fünftausend Genien<br />

besucht <strong>und</strong> täglich den Schützen dort getroffen, umarmt <strong>und</strong><br />

geliebt hatte, reiste sie nach dem Wallfahrtsort Nara, ohne<br />

ihrem Geliebten bei ihrer Abreise ein Wort zu sagen.


In Nara war es Hochsommer. Die Wiese vor dem großen Zedernwald,<br />

darauf die feuerrote sechseckige Pagode steht, war<br />

umwimmelt von weißen, blauen <strong>und</strong> gelben Schmetterlingen.<br />

Im Wald bei den rotbraunen senkrechten Zedernstämmen<br />

stehen, dichtgedrängt wie Grabdenkmäler in einem Kirchhof,<br />

Steinlaternen in Gruppen <strong>und</strong> Gassen <strong>und</strong> begleiten alle<br />

Waldwege, dichtgedrängt wie versteinerte Völker. Schwarzbronzene<br />

Hirsche, von Künstlern als Statuen gegossen, ruhen<br />

auf Steinsockeln. Aber auch H<strong>und</strong>erte von lebenden Rehen<br />

<strong>und</strong> Hirschen gehen in großen Rudeln zahm auf allen Wegen,<br />

zahmer als Hühner in einem Hühnerhof.<br />

Als jene Frau mit dem Bahnzug nach Nara kam, stand ein<br />

großes Gewitter über dem Wald. Aber sie fürchtete sich nicht,<br />

nahm am Bahnhof einen Rikschawagen, fuhr bis zum Eingang<br />

des Waldes <strong>und</strong> schickte den Wagen zurück.<br />

Hier in Nara betete die Frau meist zu ihrem ältesten Sohn<br />

<strong>und</strong> kniete viele St<strong>und</strong>en in der Halle des großen Daibutsu,<br />

welches eines der riesenhaftesten Buddhabilder Japans ist.<br />

In einem roten mächtigen Holzbalkenhaus sitzt der haushohe<br />

Buddha, alt <strong>und</strong> schwerfällig geschnitzt, bräunlich vergoldet<br />

auf einer ungeheuren Lotosblume. Sein r<strong>und</strong>er Kopf reicht<br />

bis unter das Dach des Tempels. Drei haushohe Flügeltüren<br />

stehen offen. Aber das Licht von den Wiesen draußen kann<br />

den mächtigen Kopf, der bis in die Dämmerung des Dachstuhles<br />

reicht, kaum erhellen.<br />

Die Frau war in den Tempel getreten, kniete auf den Strohmatten<br />

nieder <strong>und</strong> vertiefte sich in ein stilles Gespräch mit<br />

ihrem verstorbenen ältesten Sohn. Da rollte der ferne Donner<br />

<strong>und</strong> war wie die näher kommende Stimme eines Gottes<br />

über ihr. Die schwüle Gewitterluft machte die große dunkle<br />

Tempelholzhalle noch dumpfer, <strong>und</strong> der Geruch des Räucherwerkes<br />

<strong>und</strong> der Geruch der alten sonnengewärmten Holzbal-


ken wurden der knienden Frau wie eine Last, als ob sich der<br />

schwere, mächtige Buddha über sie böge. Und sie mußte an<br />

den Mann denken, der sie Tag für Tag in Kioto im Tempel der<br />

fünftausend Genien umarmt hatte.<br />

Der Regen prasselte jetzt draußen auf das Tempeldach <strong>und</strong><br />

auf die ungeheure Holzgalerie vor dem Tempel. Ein Blitz flog<br />

herein, <strong>und</strong> der große goldene Buddha erschien für den tausendsten<br />

Teil einer Sek<strong>und</strong>e hell bis unter das Dach.<br />

Ist es wahr, Gott, dachte die Frau, daß die Wollust den Tempel<br />

nicht schändet, so laß den Mann aus Kioto eintreten <strong>und</strong><br />

mich in Nara hier bei dir wiederfinden.<br />

Über die Holzgalerien draußen kamen jetzt H<strong>und</strong>erte von<br />

Schritten, Schritte über die Wiesenwege, Menschenstimmen<br />

aus den Wäldern, Männer, Frauen <strong>und</strong> Kinder, lachend <strong>und</strong><br />

kreischend, die, vor dem Gewitter flüchtend, in die Halle des<br />

großen Daibutsubildes eindrangen.<br />

Die kniende Frau wollte wieder zu ihrem Sohn beten. Aber<br />

der Lärm des Regens, der vielen humpelnden Füße von Wallfahrern<br />

<strong>und</strong> der Menschenstimmen zerstreute sie, so daß sie<br />

unter die Gruppen der Leute an eine der offenen Türen trat<br />

<strong>und</strong> dem Sturzregen zusah, der die Landschaft in einen weißen<br />

Nebel hüllte.<br />

Blitz um Blitz blendete sie, daß sie sich von der Tür weg gegen<br />

die Gesichter der Menschen wenden mußte, von denen<br />

einzelne Gruppen, weiß im finstern Tempel, bei jedem Blitz<br />

aufleuchteten.<br />

Neben einer kleinen Frau <strong>und</strong> umgeben von einer Schar von<br />

Kindern, entdeckte sie plötzlich einen Mann, der ihrem Sohn,<br />

zu dem sie eben gebetet hatte, ähnlich sah. So müßte ihr Sohn<br />

jetzt aussehen, so seine Frau <strong>und</strong> seine Kinder, wenn er jetzt<br />

lebte <strong>und</strong> glücklich wäre.


Bei dem zweiten Blitz aber erschrak sie. Es war nicht mehr<br />

das Gesicht ihres Sohnes. Es war jener Mann aus Kioto mit<br />

seiner Familie, die hier vor dem Gewitter in den Tempel geflüchtet<br />

waren. Bei dem dritten <strong>und</strong> vierten Blitz erkannte sie<br />

ihn deutlich <strong>und</strong> sah weg.<br />

Sie schlug rasch ihren kleinen Fächer auf, versteckte ihr Gesicht<br />

dahinter, drängte sich aus dem Tempel hinaus <strong>und</strong> eilte<br />

mitten in dem prasselnden Regen den Hügelweg hinunter in<br />

die graue dampfende Sommerlandschaft. Weit weg stellte sie<br />

sich unter einen Zedernbaum, versteckt hinter einer Steinlaterne.<br />

Ihr Haar war vom Regen aufgelöst, ihr Fächer aufgeweicht.<br />

Sie hatte ihre Schmucknadeln aus dem Haar verloren,<br />

ihr seidenes Festkleid klebte an ihr wie eine Fischhaut. Sie<br />

weinte <strong>und</strong> weinte. Sie hatte doch nicht wissen wollen, ob der<br />

geliebte Mann verheiratet wäre, ob er eine Familie hätte. Sie<br />

hatte diesen Geliebten zu einem Gott, zu einer Erscheinung<br />

machen wollen, zu einer wollüstig gruseligen Tempelvision.<br />

Sie hätte sich gern blind geweint, um das Bild aus ihren Augen<br />

auszulöschen <strong>und</strong> den Schützen aus dem Tempel der fünftausend<br />

Genien nicht als Gatten <strong>und</strong> Familienvater sehen zu<br />

müssen.<br />

Der Platzregen ließ nach, <strong>und</strong> die Spitze der roten sechseckigen<br />

Pagode, über den noch regendampfenden Wiesen, schien<br />

im Abendrot Feuer zu fangen. Das Abendrot ging durch die<br />

Wiesendämpfe, färbte die Zedernstämme rot, die Scharen der<br />

grauen moosigen Steinlaternen braun wie Kupfer.<br />

Das Abendrot beruhigte die Frau <strong>und</strong> gab ihr wieder den<br />

Glauben an inbrünstige Ungeheuerlichkeiten. Sie lächelte <strong>und</strong><br />

fühlte sich rot durchtränkt von dem abenteuerlichen Licht<br />

<strong>und</strong> sagte ganz einfach:<br />

»Die Blitze haben gelogen. Der Mann im Daibutsutempel<br />

eben war nicht der Mann aus dem Tempel der fünftausend


Genien, den ich wie die Abendröte mit Inbrunst liebe. Er kann<br />

nicht zugleich hier <strong>und</strong> in Kioto sein, wo ich ihn gestern verließ,<br />

ohne ihm etwas von meiner Reise nach Nara zu sagen.«<br />

Aber sie getraute sich doch nicht, noch einmal zum Daibutsutempel<br />

zurückzugehen; <strong>und</strong> sich zu überzeugen, fehlte ihr der<br />

Mut.<br />

Die Frau warf ihren zerknitterten Fächer fort, strich ihre Frisur<br />

glatt, schob ihren Gürtel zurecht <strong>und</strong> machte sich gesittet<br />

auf den Heimweg zum Bahnhof von Nara.<br />

Sie reiste durch Kioto, ohne den Tempel der fünftausend<br />

Genien aufzusuchen, <strong>und</strong> ging nach Seta in ihr Haus zurück,<br />

tagsüber gepeinigt von dem Gedanken, daß der Mann, den<br />

sie in Kioto liebte, Frau <strong>und</strong> Kinder hätte. Sie wurde nur am<br />

Abend erlöst von dem phantastischen Abendrot, das sich über<br />

Seta in den w<strong>und</strong>erbarsten Blutlinienwellen hinzieht, so daß<br />

alles Unwahrscheinliche wahrscheinlich wird, so daß die Bäume<br />

blutrot wie Korallenwälder werden <strong>und</strong> die Hügel wie die<br />

Brüste <strong>und</strong> Körperlinien hingelagerter Männer <strong>und</strong> Frauen,<br />

als sei die Erde hier am Abend zu Menschenfleisch <strong>und</strong> Menschenblut<br />

geworden <strong>und</strong> kenne nichts als umarmende Wollust<br />

<strong>und</strong> Liebe. Die untergehende Sonne am Himmel ist dann in<br />

ihrer Röte nur wie eine kleine Kerze in einem roten Gemach,<br />

in dem sich zwei umarmt halten, wo das Licht keinen Sinn hat<br />

<strong>und</strong> keinen Wert, weil die zwei, von Leidenschaft entbrannt,<br />

sich mit geschlossenen Augen ohne Licht sehen.<br />

Im Abendrot wurde der Biwasee rotgoldig glitzernd <strong>und</strong> wie<br />

von fünftausend goldenen Lanzenspitzen <strong>und</strong> goldenen Heiligenscheinen<br />

bewegt. Die Diele <strong>und</strong> die Wände im Haus jener<br />

Frau wurden düsterrot, als wären sie die uralten düsterroten<br />

Balken des Genientempels in Kioto, als wäre in dem Haus der<br />

Frau irgendwo die geheimnisvolle rote Balkentreppe, wo sie<br />

in der roten Tempeldunkelheit, auf der obersten Stufe, hinter


dem hohen Geländer, Tag für Tag den Mann treffen könnte,<br />

der sie wie das Feuer der Abendröte schnell umarmte <strong>und</strong><br />

nach der Umarmung wie die Abendröte in das Unbekannte<br />

wieder versänke.<br />

In den kältesten Wintertagen konnten die Bewohner von<br />

Seta jene Frau zur Spätnachmittagsst<strong>und</strong>e an dem geöffneten<br />

Fenster sehen, das auf das flüchtige Winterabendrot hinaussah<br />

– die Frau, die einen kleinen Fächer schwang, als wäre es<br />

ihr heiß im Abendrot, obwohl der Schnee auf dem Geländer<br />

des Altans lag <strong>und</strong> auf den Dächern der Holzhäuser von Seta.<br />

Auch wenn die Abendsonne im Winternebel keine Kraft<br />

zum Röten des Himmels hatte <strong>und</strong> nur wie ein kleiner Tropfen<br />

roter Kirschsaft das weiße Laken des Himmels betupfte,<br />

saß die Frau zwischen den zurückgeschobenen Papierwänden<br />

ihres Teezimmers <strong>und</strong> fächelte sich, als müßte sie das Abendrot<br />

mit jedem Fächerschlag anschüren.<br />

Der Frühling kam, <strong>und</strong> die Frau fürchtete sich immer noch<br />

vor einer Begegnung mit dem geliebten Mann <strong>und</strong> vor einer<br />

Enttäuschung. Sie beschloß, eine große Reise zu den Tempeln<br />

von Nikko zu machen, im Norden Japans, um dort zu ihrem<br />

zweiten Sohn zu beten.<br />

Die kurzweilige Bahnfahrt dorthin zerstreute sie, <strong>und</strong> sie<br />

lachte sich unterwegs wegen aller ihrer Zweifel aus <strong>und</strong> war<br />

schon, ehe sie nach Nikko kam, ganz im klaren, daß der Mann<br />

in Nara niemals der Mann von Kioto sein könnte, daß sie sich<br />

einfach in der Ähnlichkeit getäuscht hätte. Und sie nahm sich<br />

vor, sobald sie von ihrer Wallfahrt nach Nikko wieder zurückkäme,<br />

wollte sie den Tempel der fünftausend Genien wieder<br />

aufsuchen <strong>und</strong> versuchen, den Schützen zu treffen, der ihr<br />

versprochen hatte, sie fünftausendmal zu umarmen.<br />

Das Rasseln der Eisenbahnräder, das Vorüberfliegen großer<br />

Plakatfiguren – gemalte Männer <strong>und</strong> Frauen, die an den


Bahngleisen amerikanische Fahrräder, deutsches Bier, englische<br />

Grammophone anpriesen -, das eilige Leben in den eisernen<br />

Bahnhofshallen, alle die vorüberhastenden Eindrücke<br />

gaben der entmutigten Frau neuen Wirklichkeitsmut, <strong>und</strong> sie<br />

begann sich innerlich zu verspotten <strong>und</strong> bedauerte den langen<br />

Winter, der damit vergangen war, daß sie sich nur vom Abendrot<br />

in Seta, aber nicht von ihrem Geliebten hatte umarmen<br />

lassen.<br />

Die schieferblaue Bergwelt von Nikko mit einer Silbersonne<br />

über den silbernen Kiesbächen, mit blausteinigen Schluchten,<br />

deren Ränder von schwarzen zerzausten Kryptomerien<br />

umstanden sind, tauchte auf. Das liebliche Japan war verschw<strong>und</strong>en,<br />

<strong>und</strong> ein heroisches Japan lag hier, mit nasser Felsenschlucht,<br />

mit senkrechten weißen Wasserfällen unter einer<br />

Sonne, die einem weißen Metallspiegel glich. Wie kupferrote<br />

Wimpel hing das rotblättrige Frühlingslaub der Ahornbäume<br />

über den Gebirgswegen. Hie <strong>und</strong> da blühten auch ein paar rosige<br />

wilde Kirschbäume <strong>und</strong> an der Sonnenseite der Abhänge<br />

ganze Wälder von rosigen Kamelienbäumen.<br />

Das Bergwasser der Nikkoschlucht aber glitzerte, als wäre<br />

es die eherne Kette eines Rosenkranzes, daran Tausende von<br />

Gebeten gebetet werden.<br />

Die Frau suchte die Tempel auf, die auf grünen dunkeln<br />

Waldterrassen mit blaubronzenen Dächern <strong>und</strong> rotem Gebälk<br />

wie verwunschene Waldschlösser unter bärtigen tausendjährigen<br />

Kryptomerienbäumchen liegen.<br />

Viele Tempelwände sind mit kopfgroßen Chrysanthemumblumen<br />

aus erhabener Perlmutterarbeit geschmückt <strong>und</strong><br />

leuchten in sieben Regenbogenfarben. Auf andern Wänden<br />

sind aus goldenem Lack in Relief erhabene goldene Löwen<br />

<strong>und</strong> goldene Tiger in springenden Stellungen gearbeitet. Auf<br />

andern aus rotem Lack rote Fasanen, aus grünem <strong>und</strong> blauem


Perlmutter Pfauen, aus Elfenbein weiße Kaninchen <strong>und</strong> weiße<br />

Rehe <strong>und</strong> ganze Elfenbeinwände voll von weißen Päonien,<br />

umgeben von Schmetterlingsscharen aus Perlmutter. Diese<br />

Tempelwände unter grünen Waldbäumen, unter blauem <strong>und</strong><br />

weißem Wolkenhimmel <strong>und</strong> umwandert von gelbem Sonnenschein,<br />

scheinen mit ihrem irisierenden Perlmutter eine<br />

lebende Welt von immerblühenden hochzeitlichen Blumen<br />

<strong>und</strong> eine unvergängliche Welt von sich tummelnden wilden<br />

<strong>und</strong> zahmen Tieren zu sein.<br />

Die Frau kam auf die erste Terrasse, wo die drei berühmten<br />

Affen auf einem Tempeltor dargestellt sind, geschnitzt <strong>und</strong><br />

bemalt. Der erste Affe hält sich die Augen zu, der zweite Affe<br />

die Ohren, der dritte Affe hält sich den M<strong>und</strong> zu. Und ihre<br />

Bedeutung ist: Du sollst nichts Böses sehen, du sollst nichts<br />

Böses hören, du sollst nichts Böses reden.<br />

Wie leicht ist das getan für den, der geliebt wird, <strong>und</strong> wie<br />

schwer für den, der an der Liebe zweifeln muß, dachte die<br />

Frau <strong>und</strong> ging an den drei Affen vorüber. Und sie kam zu<br />

dem schönsten aller Tempeltore. Dessen weiße Säulen sind<br />

mit erhabenen Schnitzereien, mit Bäumen, Schilf, Kranichen,<br />

Drachen <strong>und</strong> Wolken geschmückt. An den Friesen der Säulen<br />

entlang wandern Scharen von winzigen, kleinen Göttern. Dieses<br />

Tor ist so vollkommen gearbeitet, daß es, als es fertig war,<br />

den Neid der Götter erweckt hätte, wenn man nicht an einer<br />

der Säulen absichtlich einen ungeschickten Fehler angebracht<br />

hätte, um die neidischen Götter zu versöhnen.<br />

»So vollkommen wie dieses Tor wäre die Liebe zweier Menschen<br />

auf Erden, <strong>und</strong> die Götter würden die Menschen beneiden<br />

müssen, wenn sich nicht glücklich Liebende immer einen<br />

künstlichen Liebeszweifel erfänden«, dachte die Frau <strong>und</strong> ging<br />

durch das kostbare Tor in den Tempelhof der zweiten Terrasse.


Hier ist zur rechten Hand über einer Tempeltür von einem<br />

Maler eine lebensgroße weiße Katze gemalt. Die scheint zu<br />

schlafen <strong>und</strong> schläft schon Jahrh<strong>und</strong>erte. Aber wer sie lange<br />

ansieht <strong>und</strong> sich einen Herzenswunsch dabei denkt, dem kann<br />

es, wenn sein Wunsch in Erfüllung gehen darf, begegnen, daß<br />

die schlafende Katze ihre Augen öffnet <strong>und</strong> ihn anblinzelt.<br />

»Oh, ihr Götter«, wünschte die Frau, die Katze über dem Tor<br />

betrachtend, »laßt eure Tempelkatze die Augen öffnen <strong>und</strong><br />

mich ansehen, wenn mein Geliebter in Kioto <strong>und</strong> jener Mann,<br />

den ich in Nara sah, zwei verschiedene Männer sind.«<br />

Die Frau starrte die schlafende Katze an, aber die gemalte<br />

Katze hielt die Augen geschlossen <strong>und</strong> blinzelte nicht.<br />

»Ist es möglich, daß ich recht gehabt haben sollte? Die beiden<br />

Männer sind einer <strong>und</strong> derselbe gewesen! Und mein Geliebter<br />

hat eine Familie <strong>und</strong> macht eine <strong>andere</strong> Frau außer mir glücklich?<br />

Oh, weiße Katze, schlage doch die Augen auf <strong>und</strong> sage<br />

damit nein! Oh, ich will dich ansehen, bis ich blind werde!«<br />

Die Katze hielt die Augen geschlossen, <strong>und</strong> die Frau verzweifelte,<br />

<strong>und</strong> ihr Herz schmerzte, als würde es ihr ausgerenkt.<br />

»Gut, o Götter, wenn ihr diesen Wunsch nicht erfüllt«,<br />

sprach sie plötzlich entschlossen, »dann laßt mich dem Mann<br />

noch einmal begegnen, um mich zu überzeugen; <strong>und</strong> zweifle<br />

ich dann nicht mehr, daß es derselbe ist, dann laßt mich blind<br />

werden mein Leben lang. Schlafende Katze, öffne jetzt deine<br />

Augen <strong>und</strong> sage ja!«<br />

Die Frau zitterte <strong>und</strong> hielt sich mit den Fingerspitzen an einer<br />

roten Lackwand des Tempelhofes. Die großen Kryptomerienbäume<br />

über den Tempeldächern bewegten sich schaukelnd für<br />

ein paar Sek<strong>und</strong>en <strong>und</strong> warfen Licht- <strong>und</strong> Schattennetze über<br />

die Tempeldächer, über die Lackwände <strong>und</strong> über die gemalte<br />

weiße Katze. Und im Licht- <strong>und</strong> Schattenspiel schien sich die


weiße Katze zu bewegen, sie blinzelte <strong>und</strong> zeigte für eine h<strong>und</strong>ertster<br />

Sek<strong>und</strong>e ihre senkrechten Pupillen.<br />

»Sie hat mich angesehen«, seufzte die Frau <strong>und</strong> klapperte<br />

humpelnd auf ihren Holzschuhen, demütig, mit gesenktem<br />

Kopf, als wäre sie um viele Jahre gealtert, durch die schmale<br />

Vorkammer in den Seitentempel.<br />

Da drinnen war ein langes Gemach, <strong>und</strong> hinter langen Glaswänden<br />

lagen in seidenen Futteralen die Schwerter verstorbener<br />

japanischer Helden <strong>und</strong> Könige, ihre Rüstungen <strong>und</strong> ihre<br />

Helme, aus Lack, Kork <strong>und</strong> Holz geschnitzt <strong>und</strong> mit Bronze<br />

beschlagen. Auch große Bogen <strong>und</strong> Köcher mit Pfeilen standen<br />

da.<br />

Die Frau blieb unwillkürlich vor einem großen schwarzen<br />

Bogen stehen <strong>und</strong> legte ihre warme Stirn an die kühle Glasscheibe<br />

des Glasschrankes. Es war menschenleer hier, nur<br />

vorher hie <strong>und</strong> da waren ihr Pilger begegnet auf den Treppen<br />

<strong>und</strong> den Terrassen der Tempel – Männer <strong>und</strong> Frauen aus allen<br />

Teilen Japans, welche Nikko besuchen.<br />

Wie sie jetzt an der Glasscheibe lehnt, sieht sie in dem spiegelnden<br />

Glas durch dieselbe Tür, durch die sie in die lange<br />

Kammer eingetreten ist, einen Mann kommen, der eine weißhaarige,<br />

gebeugte alte Frau begleitet. Die kleine Alte stützt<br />

sich auf einen Stock <strong>und</strong> auf den Arm des Mannes <strong>und</strong> sagt zu<br />

ihm: »Mein Sohn.«<br />

Die Frau wendete ihren Kopf betroffen von der Glasscheibe<br />

<strong>und</strong> warf nur einen Blick über ihre Schulter. Dann sah sie<br />

rasch wieder in den Glasschrank zurück, als wollte sie ihr<br />

Gesicht im Glas verbergen. Sie hielt den Atem an <strong>und</strong> ließ den<br />

Mann <strong>und</strong> die alte Frau an ihrem Rücken vorübergehen. Die<br />

Götter hatten ihr ihren Wunsch erfüllt! Sie hatte ihren Geliebten<br />

noch einmal gesehen, <strong>und</strong> sie wußte nun auch, daß er eine<br />

Mutter hatte wie <strong>andere</strong> Menschen <strong>und</strong> daß er ein Menschen-


sohn war, daß er nicht bloß Vater <strong>und</strong> Gatte war, so wie sie<br />

ihn in Nara gesehen hatte, daß er auch Kindespflichten kannte,<br />

seine alte Mutter an seinem Arm stützte, <strong>und</strong> daß er ihr nun<br />

nie mehr der Gott der Abendröte sein könnte, der Gott des<br />

Unbekannten, des Abenteuerlichen, der Gott der Inbrunst<br />

ohne Pflichten <strong>und</strong> ohne Schranken.<br />

Und nun wollte sie blind werden <strong>und</strong> nicht mehr in der Gegenwart<br />

<strong>und</strong> Wirklichkeit leben, sondern im Dunkeln sitzen,<br />

wie ein Herz in der Brust, ohne Licht, nur vom dunklen Blut<br />

umgeben.<br />

Gealtert <strong>und</strong> bekümmert kehrte die Frau von ihrer Wallfahrt<br />

nach Seta an den Biwasee zurück, ohne den Tempel der<br />

fünftausend Genien in Kioto zu besuchen, wie sie sich vorgenommen<br />

hatte.<br />

Ein brennender, feuriger Sonnensommer verwandelte den<br />

Biwasee täglich in eine weißglühende Masse. Zwischen dem<br />

flammigen Spiegel des Sees <strong>und</strong> dem flammigen Spiegel des<br />

Sonnenhimmels saß die Frau auf dem Altan ihres Hauses<br />

oder in einem schaukelnden Boot <strong>und</strong> ließ sich die tausend<br />

funkelnden Sonnenscheiben, die sich in den Wellen brachen,<br />

wie tausend Brenngläser in ihre Augen stechen. Wenn sie vor<br />

Schmerzen die Augen schloß, saß sie in einer feuerrot durchflammten<br />

Dunkelheit, als wäre sie mitten im Abendrot von<br />

Seta, als wäre sie die rote, untergehende Sonne selbst.<br />

Sie wurde blind, wie sie gewollt hatte. Aber auch erblindet<br />

sahen sie die Leute von Seta Sommer <strong>und</strong> Winter, Abend für<br />

Abend, mit dem Fächer auf dem Altan sitzen, zu der St<strong>und</strong>e,<br />

wo das Abendrot in Seta die irdischen Landschaften zu roten<br />

Götterlandschaften verwandeln kann <strong>und</strong> die irdischen<br />

gesetzmäßigen Menschengesichter in berauschte unirdische<br />

Göttergesichter.


An einem Winternachmittag, als der Nebel des Sees so dick<br />

lag, daß die Sonne schon am Mittag im Winterrauch wie<br />

eine papierne Scheibe blaß verschwand <strong>und</strong> ein Hauch von<br />

Abendröte erschien, saß die Blinde wieder mit begeistertem<br />

Ausdruck auf dem Altan <strong>und</strong> beschrieb der Dienerin, die ihr<br />

den Tee brachte, daß sie rote Wolken sähe, rot wie das Tempelgebälk<br />

eines Kiototempels, <strong>und</strong> daß fünftausend goldene<br />

Genien mit h<strong>und</strong>erttausend goldenen Armen über die roten<br />

Wolken geschritten kämen <strong>und</strong> daß ein Bogenschütze an der<br />

Spitze der Fünftausend ginge. Er winkte ihr auf der obersten<br />

Stufe einer roten Treppe.<br />

»So schön wie heute sah ich das Abendrot von Seta noch<br />

nie«, sagte die Blinde <strong>und</strong> lehnte den Kopf an das Altangeländer,<br />

von dem der kalte Schnee abbröckelte. Ihre kleine Teetasse<br />

klirrte. Sie setzte sie mit zitternden Fingern auf den Boden.<br />

Sie fächelte sich noch mit dem Fächer, indes ihr Gesicht die<br />

Helle des Schnees annahm. Dann starb sie lächelnd.

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