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wenn unsere katholische kirche - und Kulturzentrum Deutscher Sinti ...

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„...WENN UNSERE KATHOLISCHE KIRCHEUNS NICHT IN IHREN SCHUTZ NIMMT“DIE KATHOLISCHEN BISCHÖFE UND DIEDEPORTATION DER SINTI UND ROMA NACHAUSCHWITZ-BIRKENAUVON ROMANI ROSE


Der Aufsatz kann online unter www.sinti<strong>und</strong>roma.de abgerufen werden.2


feindlichen Verbrechens in Händen zu haben. Aus all den angeführtenGründen erachten wir es als ein Gebot der Menschlichkeit,diese Vorgänge zur Kenntnis zu bringen <strong>und</strong> um Fürsprache<strong>und</strong> Prüfung zu bitten.“In einem weiteren, am gleichen Tag eingegangenen Bittschreibenan Bertram heißt es nochmals in aller Eindringlichkeit, dassihn „alle Zigeuner Deutschlands“ anflehen würden, im Namender deutschen Bischöfe etwas zu unternehmen, „denn <strong>wenn</strong><strong>unsere</strong> <strong>katholische</strong> Kirche uns nicht in ihren Schutz nimmt, sosind wir einer Maßnahme ausgesetzt, die moralisch wie auchrechtlich jeder Menschlichkeit Hohn spricht. Wir betonen hierbei,dass es hier nicht um einzelne Familien geht, sondern um14 000 <strong>katholische</strong> Angehörige der römisch-<strong>katholische</strong>n Kirche,<strong>und</strong> an die folgedessen <strong>unsere</strong> <strong>katholische</strong> Kirche nicht achtlosvorübergehen kann.“Eine nahezu wortgleiche „Bittschrift mit Tatsachenbericht“richteten die <strong>Sinti</strong> wenige Tage später an den Freiburger ErzbischofConrad Gröber. Sie appellieren an dessen „bekanntenGerechtigkeitssinn“ <strong>und</strong> betonen erneut den umfassendenCharakter der Verfolgungsmaßnahmen: Es handle sich um14.000 gläubige Katholiken, „die fest auf die Fürsprache Ew.Eminenz rechnen“. Erzbischof Gröber leitete eine Abschrift sowohlKardinal Bertram als auch Bischof Heinrich Wienken zu,der innerhalb der Bischofskonferenz als Unterhändler zu denstaatlichen Stellen fungierte. Gröber hatte sich schon AnfangApril 1943 an Wienken gewandt, um sich für eine „arbeitsame<strong>und</strong> friedliebende“ <strong>Sinti</strong>-Familie aus Freiburg einzusetzen. Deren„Wegführung“ – gemeint war die Deportation der Familie nachAuschwitz – habe, so Gröber, bei den Nachbarn „nicht geringeAufregung <strong>und</strong> herzliches Bedauern erweckt“.4


In seinem Antwortschreiben teilte Wienken mit, dass er leiderkeine Möglichkeit sehe, „dass dieser Vorgang als Einzelfalldurch die zentralen Stellen bearbeitet <strong>und</strong> eine Rückkehr derFamilie“ erwirkt werden könne.Spätestens im Mai 1943 musste den Verantwortlichen innerhalbder deutschen Bischofskonferenz jedoch klar sein, dass es sichmitnichten um „Einzelfälle“ handelte, sondern um eine vom NS-Staat planmäßig organisierte Vernichtungspolitik, die sich gegen<strong>unsere</strong> Minderheit in ihrer Gesamtheit richtete. Dies belegennicht nur die zitierten Bittschriften, sondern auch Vorgänge, diedie <strong>katholische</strong> Amts<strong>kirche</strong> in ihrem Kern betrafen: nämlich dieDeportation von <strong>Sinti</strong>- <strong>und</strong> Roma-Kindern aus <strong>katholische</strong>nHeimen bzw. Fürsorgeeinrichtungen. Die meisten Kinder warendorthin eingewiesen worden, nachdem man ihre Eltern inKonzentrationslager verschleppt hatte. Nach dem Willen dernationalsozialistischen Machthaber wurden jedoch auch diese inihren Augen „fremdrassigen“ Heimkinder zentral erfasst <strong>und</strong> imFrühjahr 1943 zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert.Den Bischöfen blieb der Abtransport der <strong>Sinti</strong>- <strong>und</strong> Roma-Kinder aus ihren Diözesen nicht verborgen. Am 6. März 1943schrieb der Hildesheimer Bischof Joseph Godehard Machens anKardinal Bertram: „In den letzten Tagen sind an vier Stellenmeiner Diözese – es können mehr sein – <strong>katholische</strong> Zigeunerkinderaus Heimen <strong>und</strong> Pflegestellen abgeholt worden durch diePolizei. Man befürchtet, dass ihr Leben in Gefahr ist ... Ich fragemich seit Tagen beklommenen Herzens, was kann geschehen,um <strong>unsere</strong> Glaubensbrüder zu schützen <strong>und</strong> zugleich vor<strong>unsere</strong>n Gläubigen deutlich genug herauszustellen, dass wir vonsolchen Maßnahmen abrücken, die nicht nur Gottes- <strong>und</strong>Menschenrechte missachten, sondern das moralische Bewusstseinim Volke untergraben <strong>und</strong> Deutschlands Namen schänden.“5


Die Regierung müsse wissen, so Machens, „dass die Bischöfegenötigt sind, laut zu ihren Gläubigen zu sprechen, <strong>wenn</strong> dieMaßnahmen fortgesetzt werden, weil sie diese Belehrung ihrerHerde schuldig sind <strong>und</strong> von Gott zu Schützern der Bedrängtenbestellt sind.“Am gleichen Tag schrieb der Dominikanerpater Odilo Braun,der später wegen seiner Verbindungen zum Widerstand vonder Gestapo verhaftet werden sollte, an den Fuldaer BischofJohannes Dietz, „dass die Zigeunerkinder, auch die katholischgetauften, bereits in den Städten erledigt werden“. Auch Braunforderte von den Bischöfen umgehende <strong>und</strong> konkrete Schrittezum Schutz der von der Deportation nach Auschwitz bedrohten<strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma. Dass selbst in Kardinal Bertrams eigenemBischofssitz in Breslau <strong>Sinti</strong>-Kinder aus einem <strong>katholische</strong>nKinderheim abgeholt wurden, bezeugt folgender Bericht der<strong>katholische</strong>n Ordensschwester M. Apollinaris Jürgens: „VomJugendamt wurden den Armen Schulschwestern des KinderheimsBreslau-Ohlewiesen im Zweiten Weltkrieg zwei ‚Zigeunerkinder’zugewiesen, ein Mädchen, Maria, <strong>und</strong> ein Säugling. Vonbeiden Kindern waren den Schwestern die Eltern nicht bekannt.Es mag – nach den Erinnerungen der Schwestern – im Jahr1943 gewesen sein, als plötzlich vier Männer der Gestapo imKinderheim erschienen <strong>und</strong> die beiden Kinder zu sehenwünschten. Schwester Hyacintha ging mit der kleinen, knapp10jährigen Maria ins Sprechzimmer <strong>und</strong> fragte unterwegs, obdas Kind wüsste, wohin es jetzt ginge. Die Antwort des Kindes:‚In den Himmel’. Schwester Hyacintha war zunächst verblüfft obdieser Antwort, später erschüttert. Als sie mit dem Kind insSprechzimmer kam, hieß es gleich, sie seien gekommen, dasMädchen abzuholen. Als Schwester Hyacintha dem KindWäsche <strong>und</strong> Kleider einpacken wollte, lehnten die Männer dasab, das sei nicht notwendig, <strong>und</strong> nahmen das Kind weg.6


Den Säugling holten sie aus seinem Bettchen mit der Bemerkung,Wäsche <strong>und</strong> dergleichen sei nicht notwendig. Langestanden die Schwestern unter dem Schock des Geschehens,das sich plötzlich ohne Voranmeldung <strong>und</strong> rasch abwickelte ...Von den Kindern haben die Schwestern nie mehr etwas gehört."Im Frühjahr 1943, spätestens nach dem Eintreffen deranonymen Bittschriften, konnte innerhalb der deutschenBischofskonferenz – wo man über die Vernichtung der Judengenauestens informiert war – kaum mehr ein Zweifel amgenozidalen Charakter der gegen <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma gerichtetenstaatlichen Maßnahmen bestehen. Dies bestätigt ein vonWienken in Auftrag gegebener Bericht des „Katholischen Hilfswerks“beim Bischöflichen Ordinariat Berlin, den dieser am27. Mai 1943 an Kardinal Bertram <strong>und</strong> an Erzbischof Gröberübersandte. Der mehrseitige Text, der im April oder Mai 1943verfasst wurde, trägt den Titel „Zur Lage der Zigeuner“. UnterPunkt III „Sondermaßnahmen ohne gesetzliche Regelung“ wirdfestgestellt: „In der Praxis konnte beobachtet werden, dassZigeuner aus ihren Wohnbezirken <strong>und</strong> Arbeitsstätten entfernt<strong>und</strong> gruppenweise abtransportiert wurden ... neuerdings verlautet,dass sie nach Auschwitz kämen. Zigeunerkinder wurdenplanmäßig aus Heimen <strong>und</strong> Familien, wo sie untergebrachtwaren, entfernt <strong>und</strong> ebenfalls abtransportiert. Auch die alsHausangestellte <strong>und</strong> Pflegekinder in <strong>katholische</strong>n Heimen untergebrachtenKinder wurden behördlicherseits herausgeholt.“Weiterhin führt der Bericht an, die Zugehörigkeit einer Person zuden „Zigeunern“ werde vom „Reichskriminalpolizeiamt“ – dasseit September 1939 als Amt V des berüchtigten SS-„Reichssicherheitshauptamt“firmierte – festgestellt. Was der Berichtallerdings nicht sagt, ist, dass diese Klassifikation als „Zigeuner“oder „Zigeunermischling“ nicht zuletzt durch die Mithilfe derbeiden großen Amts<strong>kirche</strong>n möglich geworden war.7


Um dies zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick notwendig. Inseinem gr<strong>und</strong>legenden Erlass vom 8. Dezember 1938 ordneteHeinrich Himmler als Reichsführer SS die vollständige Erfassungaller im Deutschen Reich lebenden <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma an. Mit der„Feststellung der Rassenzugehörigkeit“ wurde die in Berlin ansässige„Rassenhygienische Forschungsstelle“ unter Leitungvon Dr. Robert Ritter betraut. In dem Erlass ist explizit von derbeabsichtigten „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ dieRede. Um dieses Ziel zu erreichen, führten Ritter <strong>und</strong> seineMitarbeiter im gesamten Reichsgebiet <strong>und</strong> in enger Kooperationmit dem SS- bzw. Polizeiapparat „rassenbiologische Untersuchungen“an <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma durch. Unsere Menschen wurdenunter Androhung von KZ-Haft gezwungen, ihre Verwandtschaftsverhältnissepreiszugeben. Für die Erstellung umfassenderFamilienstammbäume griffen die „Rasseforscher“ zudem auf Unterlagenstaatlicher <strong>und</strong> kirchlicher Stellen zurück. Insbesonderedie Kirchenbücher waren eine wichtige Quelle, um „Zigeuner“bzw. Personen mit „zigeunerischer Abstammung“ zu identifizieren.Schon im Vorwort von Ritters Habilitationsschrift „Ein Menschenschlag“aus dem Jahr 1937, die seinen Ruf als führender„Zigeunerforscher“ des Dritten Reiches begründete, hatte diesersich lobend über die Unterstützung seiner Arbeit durch daserzbischöfliche Ordinariat in Freiburg <strong>und</strong> das bischöflicheOrdinariat Rottenburg geäußert. Ritter weiter: „So gingen unsauch immer wieder zahlreiche Pfarrer, Ärzte, Richter, Lehrer,Justiz- <strong>und</strong> Polizeibeamte in jeder Hinsicht hilfsbereit an dieHand.“Am 13. September 1940 sandte der „Reichsminister für diekirchlichen Angelegenheiten“ eine Abschrift des genanntenHimmler-Erlasses an die Deutsche Evangelische Kirche <strong>und</strong> anden Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, KardinalBertram. Dieser ließ im November 1940 im Kirchlichen Amtsblatt8


des Erzbischöflichen Ordinariats Breslau unter Bezugnahme aufdiesen Erlass eine Anordnung veröffentlichen, wonach Auszügevon Kirchenbüchern, um die „Zigeuner“ bäten, diesen nicht ausgehändigtwerden dürften, sondern vielmehr von den kirchlichenStellen direkt den zuständigen Polizeibehörden zu übermittelnseien. Entsprechende Anordnungen wurden auch in anderenKirchlichen Amtsblättern veröffentlicht, etwa in der DiözeseRottenburg.Auf der Basis der mit Unterstützung der Kirchen gewonnenengenealogischen Daten erstellte Ritters Institut nahezu 24.000„Rassegutachten“, die wiederum die Gr<strong>und</strong>lage für die Deportationoder – in selteneren Fällen – für die Zwangssterilisation von<strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma bildeten. Wer als „Zigeuner“ oder „Zigeunermischling“klassifiziert worden war, hatte kaum eine Chance,dem Vernichtungsapparat zu entgehen. Die Gutachten bildetenmithin eine entscheidende Voraussetzung für den nationalsozialistischenVölkermord an <strong>unsere</strong>r Minderheit, der mit denAnfang März 1943 beginnenden Deportationen nach Auschwitz-Birkenau seinen Höhepunkt erreichte.Und wie reagierte das Episkopat unter Leitung von KardinalBertram angesichts dieses Verbrechens, vor dessen Dimensiondie Kirchenführer nicht mehr die Augen verschließen konnten?Bei der Mehrheit der Bischöfe stieß der Aufruf von Machens,„<strong>unsere</strong> Glaubensbrüder zu schützen“ <strong>und</strong> „laut zu den Gläubigenzu sprechen“, auf Ablehnung. Nach einem langwierigeninternen Diskussionsprozess ließen die Bischöfe im September<strong>und</strong> Oktober 1943, also über ein halbes Jahr nach demMachens-Brief, den so genannten Dekalog-Hirtenbrief vonden <strong>katholische</strong>n Kanzeln verlesen.9


Seine zentrale Passage lautet: „Tötung ist in sich schlecht, auch<strong>wenn</strong> sie angeblich im Interesse des Gemeinwohls verübt würde:an schuld- <strong>und</strong> wehrlosen Geistesschwachen <strong>und</strong> -kranken,an unheilbar Siechen <strong>und</strong> tödlich Verletzten, an erblich Belasteten<strong>und</strong> lebensuntüchtigen Neugeborenen, an unschuldigenGeiseln <strong>und</strong> entwaffneten Kriegs- oder Strafgefangenen, anMenschen fremder Rassen <strong>und</strong> Abstammung. Auch die Obrigkeitkann <strong>und</strong> darf nur wirklich todeswürdige Verbrechen mit demTode bestrafen“.Mit dieser sehr allgemein gehaltenen Form des Hirtenbriefswurde der ursprünglich von Bischof Machens <strong>und</strong> anderengeforderte entschiedene öffentliche Protest angesichts der Deportationvon <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma sowie Juden in die Vernichtungslagerbis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt. Ein konkreter Bezugzum ursprünglichen Anlass des Hirtenbriefs – die Verschleppungvon <strong>Sinti</strong>-Kindern aus <strong>katholische</strong>n Kinderheimen nach Auschwitz– war überhaupt nicht mehr erkennbar. Der verzweifelte Ruf<strong>unsere</strong>r Menschen nach Schutz <strong>und</strong> Beistand ihrer Kirche angesichtseiner Barbarei von ungeheuerem Ausmaß blieb unerhört.Die Maschinerie der Vernichtung lief unvermindert weiter. EinJahr nach den Bittschreiben an Bertram <strong>und</strong> Gröber, im Mai1944, wurden 39 <strong>Sinti</strong>-Kinder aus dem <strong>katholische</strong>n KinderheimSt. Josefspflege in Mulfingen nach Auschwitz deportiert. Bis aufvier Überlebende wurde sie alle in den Gaskammern ermordet.Dass man die Kinder bis zu diesem Zeitpunkt von der Deportationausgenommen hatte, hatte einen besonderen Gr<strong>und</strong>:Die „Rasseforscherin“ Eva Justin, engste Mitarbeiterin vonDr. Robert Ritter, benötigte die Kinder als Untersuchungsobjektefür ihre Doktorarbeit.10


Nach dem Holocaust erfuhren die überlebenden <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Romavon dieser Seite kaum Unterstützung; sie wurden lediglich in paternalistischerManier als „Randgruppe“ betreut. Insbesondereführende Vertreter der „<strong>katholische</strong>n Zigeuner- <strong>und</strong> Nomaden-Seelsorger“ wie Pfarrer Achim Muth oder die SozialarbeiterinSilvia Sobeck, die in den Siebzigerjahren als vermeintliche „Experten“einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf politischeEntscheidungsträger hatten, vertraten zutiefst rassistische Auffassungenüber „Zigeuner“.In der Grußbotschaft von Johannes Paul II. zum 60. Jahrestagder Befreiung von Auschwitz-Birkenau, die Kardinal Lustiger am27. Januar 2005 auf dem ehemaligen Lagergelände verlas,würdigte der Papst erstmals ausdrücklich die Holocaust-Opfer<strong>unsere</strong>r Minderheit: „Die Roma waren in Hitlers Plan ebenso fürdie totale Vernichtung vorgesehen. Man kann die Opfer anLeben nicht unterschätzen, die ihnen, <strong>unsere</strong>n Brüdern <strong>und</strong>Schwestern, im Todeslager von Auschwitz auferlegt wurden.“Trotz dieser wichtigen symbolischen Geste gibt es bis heutekein eindeutiges Bekenntnis des Vatikans oder der deutschenBischöfe zur Mitverantwortung der Katholischen Kirche mit Blickauf den vom NS-Staat organisierten Völkermord an den <strong>Sinti</strong><strong>und</strong> Roma <strong>und</strong> insbesondere zur Rolle der Kirche bei der Aussonderung<strong>unsere</strong>r Menschen <strong>und</strong> ihrer Deportation in dieKonzentrations- <strong>und</strong> Vernichtungslager. Für die Überlebendendes Holocaust <strong>und</strong> ihre Angehörigen ist diese ignorante Haltungihrer Kirche zutiefst bedrückend. Nicht wenige Angehörige<strong>unsere</strong>r Minderheit haben sich aufgr<strong>und</strong> dieser leidvollen Erfahrungvon der Katholischen Kirche abgewandt.12


Gegenwärtig bilden <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma mit etwa 10 bis 12 MillionenAngehörigen die größte Minderheit in Europa. Die furchtbare Erfahrungder systematischen Vernichtung im nationalsozialistischbesetzten Europa, der eine halbe Million <strong>unsere</strong>r Menschenzum Opfer fiel, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis dernationalen <strong>Sinti</strong>- <strong>und</strong> Roma-Minderheiten eingebrannt. Aus demhistorischen Gedächtnis der jeweiligen Mehrheitsgesellschaftenhingegen wurde dieser Zivilisationsbruch fast vollständig verdrängt.Als Konsequenz des Holocaust gibt es heute in der internationalenPolitik eine große Sensibilität für die unterschiedlichen Erscheinungsformendes Antisemitismus. Demgegenüber existiertim Falle der <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma weder ein Bewusstsein für diehistorische Dimension der an <strong>unsere</strong>r Minderheit begangenenVerbrechen noch für den gegenwärtigen Rassismus, dem<strong>unsere</strong> Menschen in vielen Staaten ausgesetzt sind.Nach Untersuchungen der „Europäischen Beobachtungsstellefür Rassismus“ sind <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma wie keine andere Gruppevon Diskriminierung <strong>und</strong> Ausgrenzung betroffen. In Ost- wiein Westeuropa verzeichnen die Behörden seit Jahren einendeutlichen Anstieg rassistisch motivierter Gewalt: Allein inTschechischen Republik fielen seit der Wende 27 Angehörige<strong>unsere</strong>r Minderheit Morden mit neonazistischem Hintergr<strong>und</strong>zum Opfer, ohne dass dies zu einem öffentlichen Aufschreigeführt hätte.In Anbetracht dieser dramatischen Lage habe ich am 30. Mailetzten Jahres mit Unterstützung der nationalen Roma-Organisationen aus den Niederlanden, Österreich, Polen, derSlowakei <strong>und</strong> der Tschechischen Republik ein Bittgesuch umeine Privataudienz an Benedikt XVI. gerichtet.13


Der Auschwitz-Überlebende Franz Rosenbach <strong>und</strong> ich habendem Papst das Dokument bei einer Generalaudienz auf demPetersplatz überreicht. Es endet mit den Worten:„Wie ich aus vielen Gesprächen weiß, ist bei <strong>unsere</strong>n Überlebendender Schmerz darüber, dass ihre Kirche ihnen angesichtsder Deportation in die Vernichtungslager keinen Schutzgewähren konnte, immer noch lebendig. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong>wäre eine päpstliche Audienz Ausdruck der Fürsorge für dieBrüder <strong>und</strong> Schwestern aus <strong>unsere</strong>r Minderheit, die seit vielenGenerationen eng mit dem <strong>katholische</strong>n Glauben verb<strong>und</strong>en ist.Angesichts der schwierigen Menschenrechtssituation <strong>unsere</strong>rMinderheit in vielen Staaten Europas würde die KatholischeKirche damit nicht zuletzt ein Zeichen der Hoffnung auf Überwindungvon Ausgrenzung <strong>und</strong> auf gesellschaftliche Gleichstellungder <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma setzen.“Nach über einem Jahr warten die <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma noch immerauf eine Antwort des Heiligen Vaters.14


Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf folgendeNeuerscheinung:Die Stellung der Kirchen zu den deutschen <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma.Im Auftrag der Gesellschaft für Antiziganismus-Forschung e.V.herausgegeben von Udo Engbring-Romang <strong>und</strong> Wilhelm Solms(Beiträge zur Antiziganismus-Forschung Band 5)Marburg 2008 (ISBN 978-3-939762-02-7)www.antiziganismus.deDieser Band enthält auch einen Aufsatz von Antonia Leugers mitdem Titel „Die Verfolgung der <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> Roma im Dritten Reich inPublikationen <strong>katholische</strong>r Kirchenhistoriker“ (S. 27 – 33).15


© Dokumentations- <strong>und</strong> <strong>Kulturzentrum</strong><strong>Deutscher</strong> <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> RomaBremeneckgasse 269117 Heidelbergwww.sinti<strong>und</strong>roma.deGefördert durch den Beauftragten derB<strong>und</strong>esregierung für Kultur <strong>und</strong> MedienJuli 200816

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