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Hannah Arendt: Besuch in Deutschland 1950 - sherm-Abi-Deutsch

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<strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong>: <strong>Besuch</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> <strong>1950</strong><strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong> gilt als bedeutende Philosoph<strong>in</strong> und politischeTheoretiker<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> ihrem Hauptwerk 11 Elemente undUrsprünge totaler Herrschaft" (deutsche Fassung: 7955)die Entwicklung und die Merkmale des Nationafsozialismusund Stal<strong>in</strong>ismusuntersucht.Der Auszug aus dem Essay" Nachwirkungendes Naziregimes"basiert auf Beobachtungen und Erfahrungen währendihrer Aufenthalte <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> <strong>in</strong> den Jahren 1949und <strong>1950</strong>. Als Jüd<strong>in</strong> musste <strong>Arendt</strong> 7933 aus <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong>emigrieren, um sich vor der Verfolgung durch die Nationalsozialistenzu retten.Die Nachwirkungen des NaziregimesIn weniger als sechsJahren zerstörte <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> dasmoralische Gefüge der westlichen Welt, und zwardurch Verbrechen, die niemand für möglich gehaltenhätte, während die Sieger die sichtbaren Zeugnisse;:e<strong>in</strong>er über tausendjährigen deutschen Geschichte <strong>in</strong>Schutt und Asche legten. Danach strömten <strong>in</strong> diesesverwüstete Land, das durch den Schnitt entlang derOder-Neiße-L<strong>in</strong>ie verkle<strong>in</strong>ert wurde und se<strong>in</strong>e demoralisierteund erschöpfte Bevölkerung kaum versor-.: gen konnte, Millionen von Menschen aus den Ostgebieten,dem Balkan und aus Osteuropa. DieserMenschenstrom fügte dem üblichen Katastrophenbildnoch spezifisch moderne Züge, nämlich Heimatverlust,soziale Entwurzelung und politische Recht-= losigkeit h<strong>in</strong>zu. Man mag bezweifeln, ob die Politikder Allüerten, alle deutschen M<strong>in</strong>derheiten aus nichtdeutschenLändern zu vertreiben - als ob es nichtschon genug Heimatlosigkeit auf der Welt gäbe -,klug gewesen ist; doch außer Zweifel steht, dass beidenjenigen europäischen Völkern, die während desKriegesdie mörderische Bevölkerungspolitik <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong>szu spüren bekommen hatten, die bloße Vorstelhmg,mit <strong>Deutsch</strong>en auf demselben Territorium zusammenlebenzu müssen, Entsetzen und nicht bloßWut auslöste.Der Anblick, den die zerstörten Städte <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong>bieten, und die Tatsache, dass man über die deutschenKonzentrations- und Vernichtungslager Bescheidweiß, haben bewirkt, dass über Europa e<strong>in</strong> Schatten-:zeterTrauer liegt. Beideszusammen hat dazu geführt,1ass man sich an den vergangenen Krieg schmerz-~3cherund anhaltender er<strong>in</strong>nert und die Angst vor;.-:.mftigenKriegen an Gestalt gew<strong>in</strong>nt. Nicht das.deutsche Problem", <strong>in</strong>sofern es sich dabei um e<strong>in</strong>en=3tionalen Konfliktherd <strong>in</strong>nerhalb der Geme<strong>in</strong>schaft:'er europäischen Nationen handelt, sondern der Alp-::-aum e<strong>in</strong>es physisch, moralisch und politisch ru<strong>in</strong>ierten<strong><strong>Deutsch</strong>land</strong>s ist e<strong>in</strong> fast ebenso entscheidenderBestandteilim allgeme<strong>in</strong>en Leben Europasgeworden wie die kommunistischen Bewegungen. 40Doch nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörungund Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wirdweniger darüber gesprochen als <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong>.Überall fällt e<strong>in</strong>em auf, dass es ke<strong>in</strong>e Reaktion auf dasGeschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es 45sich dabei um e<strong>in</strong>e irgendwie absichtliche Weigerungzu trauern oder um den Ausdruck e<strong>in</strong>er echten Gefühlsunfähigkeithandelt. Inmitten der Ru<strong>in</strong>enschreiben die <strong>Deutsch</strong>en e<strong>in</strong>ander Ansichtskartenvon den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen 50Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt.Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch dieTrümmer bewegen, f<strong>in</strong>det ihre genaue Entsprechungdar<strong>in</strong>, dass niemand um die Toten trauert; sie spiegeltsich <strong>in</strong> der Apathie wider, mit der sie auf das Schick- 55sal der Flüchtl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ihrer Mitte reagieren oder vielmehrnicht reagieren. Dieser allgeme<strong>in</strong>e Gefühlsmangel,auf jeden Fall aber die offensichtlicheHerzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeitkaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äu- 60ßerliche Symptom e<strong>in</strong>er tief verwurzelten, hartnäckigenund gelegentlich brutalen Weigerung, sich demtatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damitabzuf<strong>in</strong>den.Diese Gleichgültigkeit und die Irritation, die sich e<strong>in</strong>- 65stellt, wenn man dieses Verhalten kritisiert, kann anPersonen mit unterschiedlicher Bildung überprüftwerden. Das e<strong>in</strong>fachste Experiment besteht dar<strong>in</strong>,expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartnerschon von Beg<strong>in</strong>n der Unterhaltung an bemerkt 70hat, nämlich dass man Jude sei. Hierauf folgt <strong>in</strong> derRegel e<strong>in</strong>e kurze Verlegenheitspause; und danachkommt - ke<strong>in</strong>e persönliche Frage, wie etwa: "Woh<strong>in</strong>~ngen Sie,als Sie<strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> verließen?", ke<strong>in</strong> An-ZEIchenfür Mitleid, etwa dergestalt: "Was geschah 75mit Ihrer Familie?" - sondern es folgt e<strong>in</strong>e Flut vonGeschichten, wie die <strong>Deutsch</strong>en gelitten hätten (wassicher stimmt, aber nicht hierhergehört): und wenndie Versuchsperson dieses kle<strong>in</strong>en Experiments zufälliggebildet und <strong>in</strong>telligent ist, dann geht sie dazu 80über, die Leiden der <strong>Deutsch</strong>en gegen die Leiden deranderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zuverstehen gibt, dass die Leidensbilanz ausgeglichensei und dass man nun zu e<strong>in</strong>em ergiebigeren Themaüberwechseln könne. E<strong>in</strong> ähnliches Ausweichmanö- 85ver kennzeichnet die Standardreaktion auf die Ru<strong>in</strong>en.Wenn es überhaupt zu e<strong>in</strong>er offenen Reaktionkommt, dann besteht sie aus e<strong>in</strong>em Seufzer, aufchen die halb rhetorische, halb wehmütige


90 folgt: "IVarum muss die Menschheit immer nur Kriegführen?" Der Durchschnittsdeutsche sucht die Ursachendes letzten Krieges nicht <strong>in</strong> den Taten des Naziregimes,sondern <strong>in</strong> den Ereignissen, die zur Vertreibungvon Adam und Eva aus dem Paradies geführt95 haben.E<strong>in</strong>e solche Flucht vor der Wirklichkeit ist natürlichauch e<strong>in</strong>e Flucht vor der Verantwortung. [...] In<strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> [...] kann man der Versuchung kaumwiderstehen, den Besatzungsmächten für alles Er-100 denkliehe die Schuld zuzuschieben: In der britischenZone ist es die Furcht der Briten vor der deutschenKonkurrenz, <strong>in</strong> der französischen Zone der französischeNationalismus und <strong>in</strong> der amerikanischen Zone,wo die Lage <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht besser ist, die ame-105 rikanische Unkenntnis der europäischen Mentalität.[...]Aber die Wirklichkeit der Nazi-Verbrechen, desKrieges und der ~iederlage beherrschen, ob wahrgenommenoder verdrängt, offensichtlich noch das110 gesamte Leben <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong>, und die <strong>Deutsch</strong>enhaben sich verschiedene Tricks e<strong>in</strong>fallen lassen, umden schockierenden Auswirkungen aus dem Weg zugehen,Aus der Wirklichkeit der Todesfabriken wird e<strong>in</strong>e blo-115 ße ~fögIichkeit: die <strong>Deutsch</strong>en hätten nur das getan,"\'DZU andere auch fähig seien (was natürlich mit vielenBeispielen illustriert wird) oder wozu anderekünftig <strong>in</strong> der Lage wären; deshalb wird jeder, derdieses Thema anschneidet, ipso [acto der Selbstge-120 rechtigkeit verdächtigt. In diesem Zusammenhangwird die Politik der Alliierten <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> oft alserfolgreicher Rachefeldzug dargestellt [...], die beharrlicheBehauptung, dass es e<strong>in</strong>en ausgeklügeltenRacheplan gebe, dient als beruhigendes Argument für125 den Beweis, dass alle Menschen gleichermaßen Sünderseien.. Die Realität der Zerstörung, die jeden <strong>Deutsch</strong>en umgibt,löst sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em grüblerischen, aber kaum tiefverwurzelten Selbstmitleid auf, das jedoch rasch ver-130 fliegt, wenn auf e<strong>in</strong>igen breiten Straßen hässlichekle<strong>in</strong>e Flachbauten, die von irgende<strong>in</strong>er Hauptstraße<strong>in</strong> Amerika stammen können, errichtet werden, umansatzweise die trostlose Landschaft zu verdeckenund e<strong>in</strong>e Fülle prov<strong>in</strong>zieller Eleganz <strong>in</strong> supermo-135 demen Schaufenstern feilzubieten. Verglichen mitder Haltung der <strong>Deutsch</strong>en angesichts all ihrer verlorenenSchätze, verspüren die Menschen <strong>in</strong> Frankreichund Großbritannien e<strong>in</strong>e tiefere Trauer über die vergleichsweisewenigen zerstörten Wahrzeichen ihrer140 Länder. In <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> wird die verstiegene Hoffnunggeäußert, das Land werde das "modernste" Europas;doch dies ist bloßes Gerede, und kaum hatjemand von dieser Hoffnung gesprochen, dann versteifter sich kurz später im Gespräch darauf, dass dernächste Krieg <strong>in</strong> allen anderen europäischen Städten "~dasselbe anrichten werde wie der vergangene <strong>in</strong> deutschenStädten - was natürlich möglich ist, was andrerseitsaber nur e<strong>in</strong> erneuter Beleg für die Verwandlungder Realität <strong>in</strong> bloße Möglichkeit ist. JenerUnterton von Genugtuung, den man oftmals <strong>in</strong> den ';i1Gesprächen der <strong>Deutsch</strong>en über den nächsten Kriegheraushören kann, signalisiert jedoch nicht, wie soviele Beobachter behauptet haben, das bösartige Wiederauflebendeutscher Eroberungspläne, sondernstellt nur e<strong>in</strong>en weiteren Kunstgriff dar, um vor der "3Wirklichkeit zu fliehen: angesichts e<strong>in</strong>er unterschiedslosenund endgültigen Zerstörung würdenämlich die deutsche Situation ihre Brisanz verlieren.Der wohl hervorstechendste und auch erschreckends- 'te Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt jedoch<strong>in</strong> der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, alshandele es sich um bloße Me<strong>in</strong>ungen. Beispielsweisekommt als Antwort auf die Frage, wer den Krieg begonnenhabe - e<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>eswegs heiß umstrittenes The- .=;:ma - e<strong>in</strong>e überraschende Vielfalt von Me<strong>in</strong>ungenzutage. In Süddeutschland erzählte mir e<strong>in</strong>e Frau vonansonsten durchschnittlicher Intelligenz, die Russenhätten mit e<strong>in</strong>em Angriff auf Danzig den Krieg begonnen- das ist nur das gröbste von vielen Beispie- i-len. Doch die Verwandlung von Tatsachen <strong>in</strong> Me<strong>in</strong>ungenist nicht alle<strong>in</strong> auf die Kriegsfrage beschränkt;auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, dassjeder das Recht auf e<strong>in</strong>e eigene Me<strong>in</strong>ung habe, e<strong>in</strong>eArt Gentlemen's Agreement, dem zufolge jeder das i,Recht auf Unwissenheit besitzt - und dah<strong>in</strong>ter verbirgtsich die stillschweigende Annahme, dass es aufMe<strong>in</strong>ungen nun wirklich nicht ankommt. Dies ist <strong>in</strong>der Tat e<strong>in</strong> ernstes Problem, nicht alle<strong>in</strong>, weil Ause<strong>in</strong>andersetzungendadurch oftmals so hoffnungslos :;,:werden (man schleppt ja normalerweise nicht immerNachschlagewerke mit sich herum), sondern vorallem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaftglaubt, dieser allgeme<strong>in</strong>e Wettstreit, dieser nihilistischeRelativismus gegenüber Tatsachen sei das We- ';:0 1·.'sen der Demokratie. Tatsächlich handelt es sich dabei ;natürlich um e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terlassenschaft des Naziregi- .meso•Aus: <strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong>: <strong>Besuch</strong> <strong>in</strong> <strong><strong>Deutsch</strong>land</strong> <strong>1950</strong>. Aus: dies.: Zur Zeit. Politische iEssays (Hrsg. Marie Luise Knott). Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. 1e Rotbuch Verlaq, "'('0 '''' ''''') 1


11 Schreiben Sie e<strong>in</strong> "Abstract" zu dem vorliegenden Text. E<strong>in</strong> "Abstract" ist e<strong>in</strong>e prägnanteInhaltsangabe, die sich auf den wesentlichen Gehalt e<strong>in</strong>er Vorlage beschränkt.E<strong>in</strong> "Abstract't kann die Lektüre e<strong>in</strong>es Orig<strong>in</strong>aldokuments zwar nicht ersetzen soll dem Leseraber dabei helten, zu entscheiden, ob das gen aue Studium des Orig<strong>in</strong>als notwendig oderhilfreich ist, um e<strong>in</strong>e bestimmte Problemstellung zu bearbeiten.Sie müssen den Text also zunächst sehr sorgfältig lesen und bearbeiten und anschließende<strong>in</strong>e bewusste Auswahl treffen.Ihre Darstellung muss auf 120 Wörter beschränkt se<strong>in</strong>.11AB11Merkmale e<strong>in</strong>es Abstracts:• Sachliche Richtigkeit des Dargestellten• Prägnanz (Beschränkung auf das Wichtigste)• Verständlichkeit (Klarheit der Sprache und Struktur)• Objektivität (Verzicht auf persönliche Wertungen)Bs3

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