Einführung: Beseelte KonstruktionenMARC WELLMANN8Die Kinetische Kunst ist in ihrer heutigen Ausformungeine relativ junge Gattung und ein Produkt vonEntgrenzungstendenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ihre „Geburtsstunde“– Naum Gabos Kinetische Konstruktionvon 1919/20 (S. 6/7) – ist in einer deutlich umrandetenSchnittmenge von künstlerischen, wissenschaftlich-physikalischenund industriellen Motivendes frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts verortet, die im folgendenBeitrag von Heinz Stahlhut, Von <strong>der</strong> Utopie zurIronie, ausführlicher besprochen werden und die denAusgangspunkt für eine kurze Geschichte <strong>der</strong> KinetischenKunst mit beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung desWerks von Jean Tinguely (1925–1991) bilden. Danachgeht Peter Weibel in Kinetic Art und Cyber Art. Vomvirtuellen Volumen zum virtuellen Environment denaktuellen Entwicklungen dieser Kunstform nach, diesich als entscheiden<strong>der</strong> Wegbereiter von Computer<strong>kunst</strong>und von interaktiven Installationen darstellt.Hier seien ältere Berührungspunkte zwischenSkulptur und Mechanik behandelt, die ideengeschichtlichmit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> KinetischenKunst in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verbunden sind und die denHintergrund für das Konzept <strong>der</strong> Ausstellung RomantischeMaschinen – Kinetische Kunst <strong>der</strong> Gegenwartbilden. Das Georg-Kolbe-Museum ist alsSkulpturenmuseum seit seiner Gründung im Juni1950 vor allem mit <strong>der</strong> figürlichen Plastik des 19.und 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts befasst. Doch richtet sich dasInteresse mittlerweile auch verstärkt auf den seitden 1960er Jahren erweiterten Skulpturenbegriff bishin zu aktuellen zeitgenössischen Tendenzen <strong>der</strong>dreidimensionalen Kunst. Dabei spielt <strong>der</strong> dialogischeKontrast zur Tradition eine beson<strong>der</strong>e Rolleund die damit einhergehende Befragung <strong>der</strong> klassischenFunktion <strong>der</strong> Bildhauerei als Körper<strong>kunst</strong>.Bildhauerei und Kinetik berühren sich bereits inden Mythen, die sich um Hephaistos (lat. Vulkan),den Gott des Feuers und <strong>der</strong> Schmiede, ranken, demneben wun<strong>der</strong>samen mechanischen Erfindungenauch außerordentliche plastische Fähigkeiten zugesprochenwurden. Als <strong>kunst</strong>voller Handwerker soller menschenähnliche Automaten geschaffen haben,unter an<strong>der</strong>em den bronzenen Riesen Talos, <strong>der</strong> dieInsel Kreta zur Zeit von Minos bewachte. Noch eindringlicherim Zusammenhang dieses Themenkreisesist jedoch <strong>der</strong> Prometheus-Pandora-Mythos.
Der Titan Prometheus ist <strong>der</strong> Sage nach ein Menschenformer,<strong>der</strong> für seine Kreaturen das Feuer vomSonnenwagen des Helios stahl. Als Strafe für denFeuerraub des Prometheus schuf Hephaistos imAuftrag von Zeus eine künstliche Frau aus Lehm, dieden Menschen zugeführt wurde. Aus <strong>der</strong> ebenfallsmitgegebenen „Büchse“ (eigentlich „Krug“) entwichendie verschiedensten Plagen, mit denen dasEnde des Goldenen Zeitalters, in dem die Menschheitvon Arbeit, Krankheit und Tod verschont gebliebenwar, eingeläutet wurde. Die strukturelle Verwandtschaftdieser Erzählung mit dem alttestamentarischenSchöpfungsmythos ist evident. Weniger interessierenhier die Analogien zwischen Pandoraund Eva als vielmehr die motivisch ähnlich beschaffeneFigur eines Bildhauer-Demiurgen, <strong>der</strong> aus Ton(hebr. adhama) einen Menschen formt und ihm denOdem des Lebens einhaucht. Von hier aus führt eindirekter Weg zur Legende des Golems von Rabbi Löwo<strong>der</strong> zu Mary Shelleys Briefroman Frankenstein orThe Mo<strong>der</strong>n Prometheus.Die Grenzziehung zwischen dem Künstlichenund dem Natürlichen, dem Leblosen und dem Beseeltenist eine Frage, die seit <strong>der</strong> Antike immer wie<strong>der</strong>zur Kunst <strong>der</strong> Bildhauerei führt. Als Urvater <strong>der</strong>griechischen Bildhauerei lässt sich <strong>der</strong> sagenumwobeneMechaniker und Architekt Daidalos benennen.Außer <strong>der</strong> Konstruktion des Minotaurus-Labyrinthssowie jener Flügel, die seinen Sohn Ikarus das Lebenkosteten, wurden Daidalos in <strong>der</strong> Antike dieSchaffung von äußerst lebensechten Statuen für denminoischen Hof zugeschrieben, die im Gegensatzzur früharchaischen Plastik die steife Haltung aufgaben,die Arme abwinkelten, die Beine auseinan<strong>der</strong>stelltenund die Augen öffneten. 1 Die Lebensähnlichkeitmeinte nicht sklavische Naturtreue, wie dieKünstlichkeit von Lebendabformungen o<strong>der</strong> die Todesnähevon Wachsfiguren vor Augen führt, son<strong>der</strong>neine eigentümliche Beseelung des Stofflichen, die<strong>der</strong> plastischen Kunst gegeben ist. Die in Ovids Metamorphosenerzählte Geschichte von Pygmalion,<strong>der</strong> sich in eine von ihm selbst geschaffene Aphrodite-Statueverliebt, die dann durch göttliche Fügungzum Leben erweckt wird, handelt von <strong>der</strong> Überschreitung<strong>der</strong> Grenze zwischen dem Leblosen unddem Natürlichen durch den künstlerischen Akt. RoheMaterie verwandelt sich in den Händen des Bildhauerszu einer Form, die den Rang des Lebendigenzwar nicht von vornherein beansprucht, aber durchausin den Verdacht geraten kann, mit <strong>der</strong> göttlichenSchöpfung zu konkurrieren. In diesem Sinne richtetesich das biblische Abbildungsverbot vor allem gegenplastische Bildwerke. Die rigide Ablehnung desStatuen- und Götzen-Kults, wie sie die hebräischeKultur bei den Ägyptern und später bei den Griechenund Römern erlebte, setzte sich in den Gemeindendes Christentums und dann im Islam fort. Im frühenMittelalter wurde die Bildhauerei nur im Kontext <strong>der</strong>Architektur geduldet. Erst ab dem 12. Jahrhun<strong>der</strong>temanzipierte sich diese Kunstform wie<strong>der</strong> von ihrerFunktion als dienen<strong>der</strong> Bauschmuck hin zur autonomenFreiplastik. Weitaus stärker als Maler warenBildhauer mit dem Vorwurf demiurgischer Anmaßungkonfrontiert. Auch war ihre Kunst in ähnlichenmagisch-mythischen Zusammenhängen lokalisiertwie die <strong>der</strong> Konstrukteure von Maschinen undAutomaten.Die Leistungen von Daidalos und Hephaistoswurden noch auf dem Horizont antiker Mechanik mitihren durchaus avancierten Kenntnissen von Hebel-,Wasser- und Dampfkraft imaginiert, wie sie unteran<strong>der</strong>em durch die Bücher Herons von Alexandrienbezeugt sind. Während <strong>der</strong> heute geläufige Begriff„Maschine“ auf eine technische Apparatur hindeutet,<strong>der</strong>en Funktion im Sinne einer eindeutigen Zweckgebundenheitrational beherrschbar scheint ist das9