MACH - Marcus Mazzoni
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downtown<br />
connection<br />
Newsletter des Internationalen Straßenkinder-Archivs Nr. 1. Oktober 2000<br />
Print Design<br />
Zeitungsbeilage in der TAZ -<br />
Tageszeitung taz/Internationales<br />
die tageszeitung<br />
Straßenkinderarchiv<br />
Konzeption Layout und Typographie<br />
und Gestaltung der<br />
Zeitungsbeilage<br />
"downtown" - das ist dort, wo<br />
‘Straßenkinder’ leben.<br />
In Asien, Afrika, Europa, Lateinamerika.<br />
In Bukarest, Paris, Berlin. ‘Straßenkinder’<br />
gibt es überall auf der Welt.<br />
Wir arbeiten mit ihnen und erforschen die<br />
Ursachen des Problems.<br />
Wir haben viel Erfahrung und noch immer<br />
jede Menge Motivation.<br />
Wir nennen uns Archiv, sind aber keine<br />
Schreibtischtäter.<br />
Wir sitzen in einem Büro in Mitte, engagieren<br />
uns aber weltweit.<br />
Wir - das ist das<br />
Internationale Straßenkinder-Archiv Berlin.<br />
Seit Oktober 1999 gibt es unser Forschungs- und<br />
Beratungszentrum. Gegründet wurde es von Dr. Dolly<br />
Conto Obregón. Sie hat in Kolumbien zwei Jahre lang mit<br />
Kindern auf der Straße gelebt und Projekte in Guatemala<br />
und Bolivien aufgebaut. Heute leitet sie das<br />
Internationale Straßenkinder-Archiv und ist Dozentin an<br />
der Alice-Salomon- Fach-hochschule. Die Studentinnen<br />
Anu Neumeyer und Eva Rux unterstützen Dolly Conto bei<br />
ihrer Arbeit.<br />
Gefördert wird das Projekt durch den Berliner Senat, Abt.<br />
Frauenförderungsprogramm - Frauenforschung.<br />
Unsere Arbeit<br />
Obdachlose Kinder und Jugendliche gibt es nicht nur in<br />
den Metropolen der sogenannten Dritten Welt. Sie leben<br />
auch in europäischen Großstädten, laufen durch die<br />
Straßen wohlhabender Staaten wie Deutschland. Und<br />
täglich werden es mehr. Die Gründe dafür sind<br />
verschieden: Extrem ungleiche Einkommens- und<br />
Besitzverteilung, Bürgerkriege, Land-Stadt-Migration, die<br />
Verelendung breiter Bevölkerungsgruppen, unflexible<br />
Schulsysteme, Arbeitslosigkeit und vieles mehr.<br />
Wissenschaft und Medien haben darauf reagiert und sich<br />
in den letzten Jahren immer wieder mit dem Thema<br />
‘Straßenkinder’ beschäftigt. Viele Projekte nationaler und<br />
internationaler Organisationen suchen nach Lösungen für<br />
das "Problem”. Was diese Bemühungen bewirken und wie<br />
erfolgreich sie sind, ist jedoch selten dokumentiert oder<br />
gerät in Vergessenheit. Hier setzt das Internationale<br />
Straßenkinder-Archiv mit seiner Arbeit an:<br />
Wir beobachten vor Ort, was Projekte leisten, werten die<br />
Ergebnisse aus und veröffentlichen sie. Artikel, Bücher,<br />
Daten und Material aus allen Medien zum Thema<br />
‘Straßenkinder’ werden gesammelt und zugänglich<br />
gemacht. Wir betrachten die Problematik geschlechtsdifferenziert,<br />
Mädchen und Frauen, die auf der Straße<br />
leben, haben wir dabei besonders im Blick.<br />
Weil die Situation der Kinder und Jugendlichen schon lange<br />
zu einem globalen Problem geworden ist, müssen wir<br />
international zusammenarbeiten. Damit das besser<br />
funktioniert, wurde das Konzept „Downtown Connection“<br />
entwickelt. Dieses Konzept möchte Projekte, Organisationen<br />
und Einzelpersonen zusammen mit dem<br />
Straßenkinder-Archiv zu einem Dachverband vereinen Die<br />
Idee der "Downtown Connection” entstand gemeinsam mit<br />
Jugendlichen des Hausprojektes von der Kontakt- und<br />
Beratungs-stelle (KuB).<br />
Das Archiv hat bereits begonnen, als Zentrum für<br />
Erfahrungsaustausch und Information die internationale<br />
Zusammenarbeit zu koordinieren. So gewinnen wir eine<br />
Gesamtübersicht zu Projekten und neuesten Forschungsergebnissen<br />
und vor allem erfahren wir: Was wurde bisher<br />
unternommen, was zutun bleibt, welcher Schritte die<br />
nächsten sein sollen, etc.<br />
Durch die Downtown Connection können Theorie und<br />
Praxis zusammenwirken. Und je mehr dieses Netzwerk<br />
wächst, desto größer werden auch unsere Chancen, auf<br />
politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene Einfluß zu<br />
nehmen.<br />
Daß sich wissenschaftliche und praktische Erfahrungen<br />
ergänzen müssen, gilt auch für unsere<br />
Angebote & Aktivitäten<br />
Sie können die Infothek nutzen, wir bieten Seminare an,<br />
Veranstaltungen in Schulen, organisieren Video-Abende<br />
und Vortragsreihen, vermitteln Praktikumsstellen und<br />
natürlich unterstützen wir internationale Projekte.<br />
Unser Angebot richtet sich an Pädagogen, Streetworker,<br />
Eltern, Studierende, WissenschaftlerInnen, JournalistInnen<br />
und alle, die sich für das Thema ‘Straßenkinder’<br />
interessieren und für unsere<br />
Ziele & Visionen<br />
•Bewusstsein und Verantwortung gegenüber dem Problem<br />
sozial gefährdeter Mädchen und Jungen - Beides wollen<br />
wir durch unsere Arbeit stärken.<br />
• Straßenkinderprojekte mit gewinnorientierten<br />
Konzepten - Wir wollen helfen, sie aufzubauen, damit<br />
daraus<br />
• Selbstständigkeit und Unabhängigkeit für Kinder und<br />
Jugendliche erwachsen. Als aktive Mitglieder in eigenen<br />
Unternehmen können sie für eine gemeinsame Zukunft<br />
leben, lernen, arbeiten und produzieren. Das alles geht<br />
natürlich nur mit einer soliden<br />
Finanzierung<br />
Wir bekommen öffentliche Zuschüsse, doch die reichen für<br />
das Internationale Straßenkinder-Archiv bei weitem nicht<br />
aus. Die Stellenkosten können davon nur teilweise<br />
gedeckt werden.<br />
Wir haben selbst eine Stiftung gegründet, die offiziell als<br />
gemeinnützig und mildtätig anerkannt ist: Die Conto-<br />
Freitag Kinderfonds Stiftung (Steuernummer 848/12687).<br />
Sie soll unsere Arbeit langfristig absichern und das<br />
Modellprojekt Downtown Connection finanziell tragen, um<br />
Kindern und Jugendlichen den Ausstieg aus dem<br />
Straßenleben, eine Ausbildung und einen Beruf zu<br />
ermöglichen.<br />
Natürlich können auch Sie uns helfen, zum Beispiel als<br />
Fördermitglied für 120 DM pro Jahr. Informationen,<br />
Aktivitäten und Veranstaltungen inklusive - und unsere<br />
Zeitung:<br />
"downtown connection"<br />
Der Newsletter des Internationalen Straßenkinder-Archivs.<br />
Darin dreht sich alles um das Leben auf der Straße:<br />
Berichte aus der Projektarbeit, Porträts von Kindern und<br />
Jugendlichen, die selber berichten, erzählen und zu Wort<br />
kommen, Buchtipps, Hinweise zur aktuellen Diskussion.<br />
Sie lesen gerade unsere erste Ausgabe, lange geplant,<br />
doch manches lässt sich bestimmt noch verändern. Also<br />
sparen Sie nicht mit Anregung, Fragen oder Kritik, wir<br />
freuen uns über Resonanz und würden gern wissen, wie<br />
wir bei Ihnen ankommen!<br />
In der nächsten Ausgabe erfahren Sie mehr darüber, wie<br />
die "Downtown Connection” vorankommt.<br />
Persönliche Eindrücke in<br />
einem Straßenkinderprojekt<br />
in Nicaragua<br />
Im Rahmen des Studiums der Erziehungswissenschaften<br />
(Schwerpunkt Sozialpädagogik) an der Technischen<br />
Universität Berlin absolvierte ich von September1998 bis<br />
Febr.1999 in Managua/Nicaragua ein Praktikum in einem<br />
Straßenkinderprojekt .<br />
Das Projekt heisst "Quincho Barrilete" (Quincho = span.<br />
Vorname, barrilete = Drachen) und wurde 1991 mit<br />
finanzieller Unterstützung aus dem Ausland von der<br />
Italienerin Zelinda Rocha gegründet. Seither hat sich die<br />
Einrichtung kontinuierlich vergrössert. Heute zählt sie 37<br />
MitarbeiterInnen mit unterschiedlichen Qualifikationen.<br />
Eine Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation<br />
"Ärzte ohne Grenzen" besteht seit 1997.<br />
Im "Quincho Barrilete" können insgesamt etwa 250 Kinder<br />
und Jugendliche im Alter von 7 bis 20 Jahren (darunter<br />
etwa 40 Mädchen) Betreuung und Förderung durch eine<br />
abgestufte Hilfeplanung erhalten:<br />
Die Einrichtung bietet Kindern und Jugendlichen neben der<br />
Grundversorgung (Essen, Hygiene und medizinische Hilfen)<br />
Freizeitbeschäftigungen sowie praktische und kreative<br />
Tätigkeiten. Auch sorgt das "Quincho Barrilete" für eine<br />
schulische und berufliche Ausbildung der Kinder und<br />
Jugendlichen. Bei den psychologischen und sozialpädagogischen<br />
Beratungen versucht die Einrichtung, die<br />
Eltern einzubeziehen und die Kinder wieder in ihre Familie<br />
zu integrieren.<br />
Alle Angebote berücksichtigen die Bedürfnisse und<br />
Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen.<br />
• Arbeit auf der Straße (Streetwork)<br />
Gundversorgung, medizinische Hilfe,<br />
Verteilen von Kondomen<br />
• Die Anlaufstelle als erster Zufluchtsort (Patio)<br />
Grundversorgung, medizinische Hilfe,<br />
Freizeitangebote, Alphabetisierungskurs<br />
• Zwei Mädchenhäuser, ein Jungenhaus für den längerfristigen<br />
Aufenthalt mit schulischer und beruflicher<br />
Ausbildung in- und außerhalb des Projektes und<br />
psychologischer und sozialpädagogischer Betreuung<br />
Da ich mich besonders für die Mädchensozialisation und<br />
die Situation der Straßenmädchen interessiere, habe ich<br />
überwiegend mit Mädchen im Alter von 12 bis 18 Jahren in<br />
einem der Mädchenhäuser "Las Chicas" gearbeitet.<br />
Darüber hinaus lernte ich die Arbeit auf der Straße und auf<br />
dem Patio (Zufluchtshof) kennen.<br />
Mein erster Arbeitstag<br />
Als ich um 8.00 Uhr ankam, waren alle Mädchen an einem<br />
großen Tisch im Innenhof versammelt. Wie jeden Morgen<br />
nach dem Frühstück wurden Probleme und Tagesabläufe<br />
besprochen. So hatte ich Zeit, die Mädchen ungestört zu<br />
beobachten. Nach der Versammlung stürzten gleich einige<br />
Mädchen auf mich zu und fragten mich aus: "Du bist schon<br />
23 Jahre alt, warum hast du denn noch keine Kinder und<br />
keinen Mann?" Die Tatsache, daß ich unverheiratet und<br />
kinderlos bin, hat sie immer wieder beschäftigt.<br />
Im Laufe des Tages kamen immer mehr Mädchen, die nur<br />
tagsüber im Projekt betreut werden. Von 9.00 bis 11.00 Uhr<br />
nahmen viele am Näh-Unterricht teil. Sie lernen Maß zu<br />
nehmen und danach Schnittmuster zu erstellen. Stoffe sind<br />
Mangelware, und so wird an Schnittmusterpapier geübt.<br />
Die Fortgeschrittenen arbeiten an alten Nähmaschinen.<br />
Zwischen 12.00 und 13.00 Uhr gab es Mittagessen, das<br />
eines der Mädchen gekocht hatte. Die täglichen Pflichten<br />
des Koch- und Aufräumdienstes werden nach einem<br />
genauen Plan geregelt. Nach dem Essen können lese- und<br />
schreibunkundige Kinder und Jugendliche einen<br />
Alphabetisierungskurs besuchen, andere Mädchen gehen<br />
zu ihrem Unterricht in die Schule oder lernen das Backen<br />
in der hauseigenen Bäckerei. Die Brote und Kekse nehmen<br />
die Streetworker mit und verteilen sie oder sie werden an<br />
die Nachbarschaft verkauft - und natürlich auch von den<br />
Mädchen gegessen. Auch ich habe dabei immer mein<br />
zweites Frühstück bekommen.<br />
Am Nachmittag ging es dann im projekteigenen Kleinbus<br />
zum Theaterkurs. Auch die Jungen vom Jungenhaus<br />
"Romin Manrique" machten dabei mit. Alle waren sehr<br />
aufgeregt, denn in zwei Wochen sollte im Rahmen einer<br />
Solidaritäts- und Öffentlichkeitsveranstaltung die<br />
Aufführung in der Cinemateca stattfinden.<br />
Nach dem Theater gab es im Projekt Abendessen und<br />
später haben wir noch zwei Telenovelas ("Daily Soaps") im<br />
Fernsehen angeschaut. Um 21.00 Uhr war Schlafenszeit.<br />
Nach diesem interessanten und anstrengenden<br />
Tagesablauf hatte ich nun meinen ersten Eindruck von den<br />
Kindern und Jugendlichen und der Arbeit des Projektes<br />
gewonnen.<br />
Einblicke in die Straßenarbeit<br />
Die Mädchen haben im "Las Chicas II" (Mädchenhaus mit<br />
16 Bewohnerinnen im Alter von 12 bis 18 Jahren) einen<br />
ausgefüllten Tagesplan mit vielen Aktivitäten, die ich in<br />
den nächsten Wochen kennenlernte.<br />
Da ich nicht nur beobachten, sondern aktiv beteiligt sein<br />
wollte, begleitete ich die Streetworkerin Mayra. Sie sucht<br />
die Mädchen auf den Plätzen und in den Straßen auf, und<br />
es interessierte mich sehr, die Orte und Lebensumstände<br />
der Kinder und Jugendlichen zu sehen, denn<br />
normalerweise erhält man dort nur schwer Einblicke. Die<br />
Arbeit von Mayra mit den Prostituierten konzentriert sich<br />
auf den Park, in der Nähe der Cinemateca. Sie ist bei den<br />
Kindern und Jugendlichen auf der Straße schon bekannt,<br />
weil sie sich seit fünf Jahren um sie kümmert. Meistens<br />
haben wir uns im Park erst nur umgeschaut, um uns zu<br />
"zeigen". So können die Mädchen selbst entscheiden, ob<br />
sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen. Die Hilfe soll ihnen<br />
nicht aufgezwungen werden.<br />
Wir fragten die Mädchen nach ihrem Befinden und ihren<br />
Problemen und boten bei Bedarf erste medizinische Hilfe,<br />
Kondome, Anti-Baby-Spritzen und Brot aus der Bäckerei<br />
an. Die meisten der Straßenmädchen zwischen 12 und 14<br />
Jahren prostituieren sich. Viele von ihnen sind schwanger.<br />
Oft kommt es dabei zu Komplikationen wie Fehl- und<br />
Frühgeburten. Sie entstehen durch Stressfaktoren im<br />
Straßenleben: Mangelhafte Hygiene, fehlende<br />
medizinische Hilfe, Crack- und Klebstoff-Abhängigkeit.<br />
Klebstoffgläser können beim Schuhmacher gekauft<br />
werden; ein kleines Glas kostet fünf Cordobas -<br />
umgerechnet etwa eine Mark. Die Kinder verbrauchen<br />
ungefähr vier bis fünf Gläser am Tag. Der Preis der<br />
Prostituierten richtet sich nach den Kosten der<br />
Klebstoffgläser, das heißt, die Mädchen verkaufen sich<br />
auch für zwei bis drei Mark.<br />
Ein anderer Schwerpunkt in Mayras Arbeit sind schwangere<br />
Minderjährige, die mit ihren Familien in den Armenvierteln<br />
der Stadt leben. Auch zu ihnen nahmen wir Kontakt auf. Es<br />
ist in Nicaragua nicht ungewöhnlich, wenn Mädchen mit 16<br />
oder 17 Jahren Kinder bekommen, aber im Alter von 12 bis<br />
15 erschwert das ihr Leben enorm. Häufig gibt es keinerlei<br />
Hilfe vom Vater des Kindes, da er entweder selbst<br />
minderjährig ist oder nicht zu dem Kind und der Mutter<br />
steht. Oft auch beides zusammen.<br />
Die Arbeit mit Mayra war für mich sehr aufregend und<br />
interessant und auch anstrengend.<br />
Nach meinem Einblick in die Straßenarbeit besorgte ich mir<br />
ein Buch mit einer Anleitung zum Basteln von Handpuppen<br />
und die dazu benötigten Materialien. Zweimal in der Woche<br />
habe ich dann mit den Mädchen des Mädchenhauses<br />
Handpuppen gebastelt. Die Idee, später daraus ein<br />
Theaterstück zu schreiben, konnte zwar nicht verwirklicht<br />
werden. Aber es war ein sehr kommunikativer Kurs, und<br />
die Mädchen waren mit viel Spaß dabei.<br />
Arbeit im Patio (Zufluchtshof)<br />
Ein anderer Arbeitsbereich von "Quincho Barrilete" ist der<br />
Patio. Als eine erste Anlaufstelle soll er Kinder und<br />
Jugendliche von der Straße wegführen.<br />
Es sind überwiegend Jungen im Alter von 7 bis 16 Jahren,<br />
die dieses Angebot annehmen. Wenn sie um 8.00 Uhr auf<br />
dem Hof sind, müssen sie ihre Klebstoffgläser und ihre<br />
persönlichen Sachen einschließen.<br />
So versuchen die Streetworker, die Kinder drogenfrei zu<br />
halten, während sie im Patio sind.<br />
Etwa um 9.00 Uhr am Tag meines Besuches gab es<br />
Frühstück, das einer der Jungen vorbereitete, der schon<br />
200 Millionen oder<br />
keine? Eine polemische<br />
Anmerkung zum Zahlenspiel<br />
mit Straßenkindern<br />
und -jugendlichen<br />
weltweit:<br />
Weltweit gibt es 100 bis 200 Millionen Kinder und<br />
Jugendliche, die auf der Straße leben und arbeiten - sagt<br />
die UNICEF.*<br />
"Straßenkinder gibt es nicht!" - sagt der Soziologe Prof.<br />
Manfred Liebel.**<br />
Das Spiel mit ungeprüften Zahlen und die mehr oder<br />
weniger fundierten Begriffsdefinitionen zu Straßenkindern<br />
- sind sie nicht ein medienwirksames Mittel, um<br />
Aufmerksamkeit und Mitleid zu erregen?<br />
Da guckt man doch zweimal hin, wenn man das liest: 100<br />
bis 200 Millionen Straßenkinder auf der Welt!<br />
Worin liegt der Sinn dieser Zählungen, deren Ergebnisse<br />
Spannweiten von einer Größenordnung aufweisen, dass<br />
man sich fragen muss: Wie kommen diese Resultate<br />
eigentlich zustande? Wer fragt hier wonach?<br />
Hochrechnungen sind gewiss erlaubt - aber mit einer<br />
Divergenz bis zu 100 Millionen? Wird da nicht mit<br />
gesellschaftlichen Missständen gepokert als handele es<br />
sich um ein rein quantitatives Problem? Ist man nicht eher<br />
bereit, das Elend dieser Welt zur Kenntnis zu nehmen,<br />
wenn es sich in Ziffern ausdrückt, die schwindelerregende<br />
Höhen erreichen?<br />
Merkwürdigerweise werden bei diesen Berechnungen so<br />
gut wie nie die Auswirkungen thematisiert, die sich daraus<br />
für die Gemeinschaft der Volkswirtschaften aller Völker<br />
ergeben. Global operierende Unternehmen, die in Händen<br />
von Aktionären mit unterschiedlichem Wohnsitz sind,<br />
verkaufen ihre expansive Ausdehnung als Segen für eben<br />
diese Volkswirtschaften und für die Menschheit. Dabei<br />
wird keinem Ökonomen und keinem Politiker<br />
gegengerechnet, dass die Konzentration auf dem<br />
Weltmarkt, die ständige Erhöhung der Produktivität durch<br />
Automation oder Unternehmens-Zusammenschlüs-se<br />
überall auf der Welt soziale Katastrophen auslöst - mit<br />
nicht mehr quantifizierbaren Kosten. Von diesen sozialen<br />
Katastrophen sind vor allem Länder der sogenannten<br />
Dritten Welt betroffen. Und gerade dort leben die meisten<br />
Straßenkinder.<br />
Ihre Anwesenheit zeigt uns, wie sehr unsere<br />
Gesellschaften vom Zerfall bedroht sind, wie unstabil die<br />
Familien als kleinste Gesellschaftseinheit werden. Und<br />
Kinder müssen sehr verzweifelt sein, um von ihren Eltern<br />
wegzulaufen!<br />
Aber dass sie da sind, sieht jeder, der nachts durch die<br />
Innenstädte asiatischer, lateinamerikanischer,<br />
afrikanischer und auch europäischer Metropolen läuft.<br />
Natürlich mag man sich hier ungern vorstellen, dass es<br />
weltweit 100 (oder 200?) Millionen sein könnten. Das<br />
wären ja mehr Kinder als Deutschland Einwohner hat - und<br />
ihre Versorgung würde das gesamte deutsche<br />
Bruttosozialprodukt auffressen - denn zu 100 Millionen<br />
Kindern gehören 100 Millionen Familien.<br />
Das Straßenkinder-Archiv wird nichts beitragen zur<br />
Disskussion darüber, wie viele Straßenkinder es denn nun<br />
tatsächlich gibt. Vielmehr wollen wir herausfinden und<br />
dokumentieren, warum es Kinder und Jugendliche aus<br />
unerträglichen Verhältnissen auf die Straße treibt und<br />
welche sozialen Probleme damit verbunden sind. Und wir<br />
wollen versuchen, wirksame Lösungen zu entwickeln.<br />
Mit Sicherheit können wir sagen: Es gibt auf der Welt zu<br />
viele Straßenkinder.<br />
*Informationsblatt von August und November 1997;<br />
verschiedene andere Organisationen übernehmen diese<br />
Zahlen<br />
** in seiner letzten Vorlesungsreihe WS99/2000 an der<br />
Technischen Universität Berlin<br />
älter und seit längerer Zeit im Projekt integriert war. Nach<br />
dem Frühstück half ich den Kindern beim Lesen, Schreiben<br />
und Rechnen oder bastelte und malte mit ihnen. Danach<br />
gingen wir auf einen Sportplatz in der Nähe, um Baseball<br />
und Fußball zu spielen. Nachdem wir uns dort ausgetobt<br />
hatten, kamen wir schmutzig und hungrig in das Projekt<br />
zurück, wo erst einmal Duschen und Wäsche waschen<br />
angesagt war. Die Duschen waren kalt, und ich brauchte<br />
manchmal gute Überredungskünste. Zwischen 12.00 und<br />
13.00 Uhr gab es Mittagessen; dabei war es war schwer, die<br />
aufgeregten und hungrigen Kinder ruhig an die Tische zu<br />
bringen.<br />
Der Patio ist bis 16.00 geöffnet, aber viele Kinder<br />
verlassen das Projekt schon kurz nach dem Mittagessen<br />
und gehen zurück auf den Mercado Oriental (einen<br />
bekannten Markt in Managua). Wer im Projekt blieb konnte<br />
Videos anschauen, malen, basteln oder sich noch einmal<br />
auf dem Sportplatz austoben.<br />
Die Arbeit mit den Kindern im "Quincho Barrilete" hat mir<br />
viel Freude gemacht.<br />
Anu Neumeyer,<br />
studentische Hilfskraft im Straßenkinder-Archiv<br />
Wir bedanken uns...<br />
...bei unseren Kooperationspartnern für die gute<br />
Zusammenarbeit:<br />
Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Frauen –<br />
Förderprogramm Frauenforschung<br />
Gesellschaft für internationale Kultur- und Bildungsarbeit<br />
e.V., Träger des Archivs<br />
Conis, Informationssysteme GmbH<br />
Fachbereich 13 Informatik und die Pressestelle der<br />
Technischen Universität Berlin<br />
Internationale Akademie an der Freien Universität Berlin<br />
Kontakt- und Beratungsstelle (KUB e.V.) und an die<br />
Jugendlichen des Hausprojekts<br />
Stiftung "Kinder in Not"<br />
Piranha<br />
taz<br />
und den vielen Straßenkinder-Projekten im Ausland<br />
...für Geld- und Sachspenden bei<br />
Berufsbildung Forum e.V.<br />
Neuhland<br />
...für Bücher als Beleg oder Rezensionexemplare bei<br />
folgende Verlage:<br />
Votum, IKO, Elefanten Press, Leske+Budrich, Suhrkamp,<br />
Rowohlt, Brandes & Apsel, Peter Hammer, Agimos,<br />
Medienzentren Mezen, Anrich, ISS e.V., Vervuert<br />
Verlagsgesellschaft<br />
...besonders bei allen,<br />
die unsere Projekte ASEM (Mosambik)<br />
"Hillbrowkids"(Johannesburg), die Conto-Freitag-<br />
Kinderfonds Stiftung und unsere Arbeit unterstützt haben