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Heute im Angebot: Schulden machen - DIE NOVUM

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26. Januar 2011 Hintergrund die novum 3<br />

Mangelware Kita –<br />

wie der Platz zum<br />

Luxus wurde<br />

Über Eltern in Leipzig, die sich unter „mafiösen Verhältnissen“<br />

in Freie Kindertagesstätten einkaufen müssen<br />

Jetzt ärgere ich mich fast schon, dass<br />

ich überhaupt ein Kind bekommen<br />

habe“, sagt die 30-jährige Anja G. Ein<br />

Satz, der <strong>im</strong> Gedächtnis bleibt. Anja G.<br />

ist studierte Kunstpädagogin, momentan<br />

arbeitssuchend und Mutter eines<br />

einjährigen Jungen. Seit über einem<br />

halben Jahr sucht sie nun schon quer<br />

durch die Stadt Leipzig nach einer Kindertagesbetreuung<br />

– vergeblich.<br />

Ohne Geld kein Platz, scheint die Leipziger<br />

devise. denn Anja G. kennt Eltern,<br />

die gegen Bezahlung ihren Wunschplatz<br />

bekommen. Und dabei handele es sich<br />

nicht um kleine Summen. doch das<br />

kann sich die arbeitssuchende Anja G.<br />

einfach nicht leisten. „Wenn ich an die<br />

jetzige Situation denke, habe ich so eine<br />

Wut <strong>im</strong> Bauch“, sagt sie.<br />

die Umstände sind trostlos: Über<br />

200 freie Kindertagesstätten gibt es<br />

in Leipzig, für den Bedarf ist das der<br />

sprichwörtliche Tropfen auf den heißen<br />

Stein. Weil kurz nach der Wende<br />

die Geburtenrate fiel, wurden die Kitas<br />

aufgrund des fehlenden Bedarfs nacheinander<br />

rigoros geschlossen. 20 Jahre<br />

später klafft dort nun trotz zahlreicher<br />

Kita-neueröffnungen eine große Lücke.<br />

„In Leipzig geht der Trend zur<br />

Mehrkindfamilie und die Mütter von<br />

heute gehören zu den geburtenstarken<br />

Jahrgängen“, erklärt die Abteilungsleiterin<br />

für Kindertageseinrichtungen des<br />

Jugendamtes Petra Supplies die Situation.<br />

Im Jahr 2008 wurden in Leipzig<br />

laut Jugendamt rund 5.300 Kinder geboren<br />

– 1995 waren es nur halb so viele.<br />

Kinder sind eben schneller gemacht, als<br />

Kitas erbaut.<br />

die Eltern von heute treffen einen Kindergartenmarkt,<br />

auf dem nachfrage<br />

und <strong>Angebot</strong> kräftig auseinanderklaf-<br />

fen. Kein Wunder, dass sich Kindergartenleiter<br />

die Kinder dann heraussuchen.<br />

Oder besser: die Eltern des<br />

Kindes. Berufstätig sollten sie sein. Am<br />

besten noch gutverdienend. So kommt<br />

es nicht selten vor, dass neben Geld<br />

auch ein Sack Sand, ein Karton weißes<br />

Papier oder die Fördermitgliedschaft<br />

für den Kindergarten gegen den ersehnten<br />

Platz getauscht werden. „Bis zu 20<br />

Prozent Kindergartenplätze kommen<br />

auf solche Schmierungen“, weiß Monika<br />

Pompetzki*, Leiterin einer Kita <strong>im</strong><br />

Leipziger norden. die entscheidende<br />

Vorauswahl treffen viele Kitas schon<br />

durch Bewerbungsbögen. dort müssen<br />

Eltern ein Familienfoto einkleben oder<br />

Angaben zur Berufstätigkeit <strong>machen</strong>.<br />

Mit der Frage „Wie / womit könnten<br />

Sie sich ggf. einbringen?“ wird der Bewerbungsbogen<br />

dann abgerundet.<br />

„Seit über einem Jahr kommen mir solche<br />

Fälle durch dritte <strong>im</strong>mer wieder zu<br />

Ohren“, beklagt Annette Körner, Stellvertretende<br />

Stadtfraktionsvorsitzende<br />

von Bündnis 90 / die Grünen und<br />

Sprecherin des Jugendhilfeausschusses.<br />

Auch die Vorstandsvorsitzende des Gesamtelternrats<br />

Leipziger Kindertageseinrichtungen<br />

Konstanze Morgenrot<br />

kann von betroffenen Eltern erzählen.<br />

Und Thomas Kujawa, Sprecher des<br />

mitteldeutschen Unternehmens Familienfreund<br />

KG, setzt dem noch ein<br />

Sahnehäubchen drauf: „diese Schmierfälle<br />

sind keine Seltenheit – Szenarien<br />

Mike Hillebrand (mikehillebrand.com); Michael Senst<br />

wie diese gibt es auch in Chemnitz oder<br />

dresden.“ nur die Eltern scheuen die<br />

Öffentlichkeit. Auch Anja G. möchte<br />

ihren vollen namen nicht bekannt geben<br />

– aus Angst, erst recht keinen Platz<br />

mehr zu bekommen.<br />

das dilemma ist also in aller Munde.<br />

nur das Jugendamt selbst will von all<br />

den Schmierungen noch nie gehört haben.<br />

„Wenn uns konkrete Skandalfälle<br />

bekannt werden, werden wir dem nachgehen“,<br />

konstatiert Petra Supplies. doch<br />

auch sie weiß um das Ungleichgewicht<br />

von <strong>Angebot</strong> und nachfrage auf dem<br />

Kindergartenmarkt. die Lösung sieht<br />

sie in dem zentral verwalteten Kita-Sys-<br />

„Bis zu 20 Prozent Kindergartenplätze<br />

kommen auf solche Schmierungen“<br />

tem der Stadt <strong>im</strong> Internet. Kivan wird<br />

es genannt und heißt ausgeschrieben<br />

Kindertagesstättenverwaltungsanwendung.<br />

Was für die einen ein raffiniertes<br />

Wort fürs Galgenraten sein mag, deklarieren<br />

die anderen als „innovatives und<br />

zukunftsgerichtetes <strong>Angebot</strong>“, so Bürgermeister<br />

Thomas Fabian. Gemeint ist<br />

das Portal www.meinkitaplatz-leipzig.<br />

de. die Stadt lobt das „deutschlandweit<br />

einzigartige Reservierungssystem“ gen<br />

H<strong>im</strong>mel und ist sich sicher: die digitalisierung<br />

war trotz auftretenden Fehlern<br />

der richtige Weg.<br />

Leiterin Monika Pompetzki* sieht das<br />

hingegen anders. die alten Wartelisten<br />

seien sogar verbindlicher, hört man<br />

hier. „Zwar kontrolliere ich regelmäßig<br />

eingegangene Kivan-Reservierungen.<br />

Aber wenn ein Kind nicht in die Grup-<br />

pe passt, sitze ich die persönliche Meldefrist<br />

einfach aus. Sodass die Reservierung<br />

dann wieder aus dem System fällt“,<br />

so Pompetzki*. „Schließlich ist ein Kindergarten<br />

kein Hotel, in dem ich einen<br />

Platz buchen kann. Immerhin muss ich<br />

auf eine sinnvolle Gruppenkonstellation<br />

achten. Außerdem will ich, dass die<br />

Eltern den Beitrag bezahlen können.“<br />

Und hier stehe sie auch nicht alleine<br />

auf weiter Flur. „Wer behauptet, er habe<br />

das System noch nie manipuliert, der<br />

lügt“, so Pompetzki*. Aus dem Grund<br />

sprechen Insider auch vom „Kiwahn“.<br />

Ein Kiwahn, das oft ignoriert und manipuliert<br />

wird – nicht nur von den Leitungen,<br />

sondern auch von den Eltern:<br />

„denn ein Computer kann nicht mehr<br />

als null und Eins“, erläutert die Leiterin.<br />

Und dabei kostest das System der Stadt<br />

Leipzig über 20.000 Euro <strong>im</strong> Jahr.<br />

Wenn unter diesen Umständen tatsächlich<br />

Schmiergelder fließen, braucht sich<br />

niemand zu wundern. „Ich würde mich<br />

aber freuen, wenn betroffene Eltern die<br />

Situation nicht widerstandlos hinnehmen“,<br />

sagt Anja G. und meint damit die<br />

von vielen Eltern beschriebenen „mafiösen“<br />

Verhältnisse.<br />

der stellvertretende Bürgermeister von<br />

Mittweida Ralf Schreiber vergleicht<br />

diese Tauschgeschäfte in den sächsischen<br />

Großstädten sogar mit denen in<br />

der ddR. doch die Mittweidaer sind<br />

vor solchen Schmierungen verschont:<br />

„In Mittweida bekommt jedes Kind einen<br />

Platz“, bestätigt Schreiber. Schließlich<br />

ist die Kindertagesstätte direkt vor<br />

der Tür. dafür müssen die Eltern 20 Kilometer<br />

zur Arbeit fahren. das ist aber<br />

eine andere Geschichte.<br />

*Name von der Redaktion geändert<br />

Friederike Ebeling

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