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Joachim Lottmann Auf der Borderline nachts um halb eins. Mein - Taz

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<strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong><br />

23. September 2007<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Bor<strong>der</strong>line <strong>nachts</strong> <strong>um</strong> <strong>halb</strong> <strong>eins</strong>.<br />

<strong>Mein</strong> Leben als Deutschlandreporter<br />

„…o<strong>der</strong> eines Bor<strong>der</strong>line-Journalisten wie <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>, bei dem Dichtung und<br />

Wahrheit nicht immer sorgfältig getrennt werden können.“<br />

Daniel Bax, die tageszeitung 31.10.2006<br />

„Dass man tief in den Fiktionen steckt, merkt man beim Lesen immer dann, wenn man es<br />

sich in <strong>der</strong> Reportage gerade bequem gemacht hat. Gerade sind die Sätze <strong>Lottmann</strong>s<br />

noch durch ein Schwabing spazieren gegangen, das man zu kennen glaubt, und dann<br />

geht Jolo durch eine Tür, und das stinknormale Wirtshaus Leopold hat sich in eine Art<br />

Hölle verwandelt, und in empirisch nachweisbaren Berliner Clubs tun sich Türen auf, die<br />

es dort erwiesenermaßen nicht gibt, und <strong>der</strong> Schlüssel, <strong>der</strong> sie aufsperrt, ist <strong>Lottmann</strong>s<br />

Prosa, die alles, was sie anfasst, in Fiktion verwandelt...<strong>Lottmann</strong>s Reportergestus ist<br />

natürlich reine Tarnung, <strong>Lottmann</strong> hält sich die Welt mit seiner Sprache vom Leib,<br />

<strong>Lottmann</strong> ist Ironiker aus Notwehr und absurd aus Realismus. Man darf ihm kein Wort<br />

glauben und muß es doch.“<br />

Claudius Seidel, FAS, 18.10.2004 über „Die Jugend von heute“<br />

Kapitelübersicht:<br />

Am Anfang - ein Abschied<br />

1. Die letzte lange Nacht <strong>der</strong> Popliteratur<br />

Die Verwandlung:<br />

2. Vom Pop-Schriftsteller z<strong>um</strong> Deutschlandreporter o<strong>der</strong> <strong>Mein</strong> Leben mit<br />

Stuckrad-Barre<br />

3. Karlsba<strong>der</strong> Wallraffiade: Graf <strong>Lottmann</strong> „ganz oben“<br />

Im Porträt: Frauen in Freiheit<br />

4. Kerstin Grether<br />

5. Nina Hagen<br />

6. Ariane Sommer<br />

7. Sophie Dannenberg<br />

8. Sarah Wagenknecht<br />

9. Kathrin Passig<br />

10. Anke Engelke<br />

11. 24 Stunden mit Alexa Hennig von Lange<br />

Reise ans Ende des Kulturbetriebs<br />

11. Berlin - Bob Geldof und <strong>der</strong> Charity-Schwindel<br />

12. Hannover - Film Festival Schwachsinn<br />

13. Standort-Kino: Wim Wen<strong>der</strong>s<br />

14. Fräulein Schwermut aus Bozen - Bettina Galvani<br />

15. Ferien in Klagenfurt - Bachmannwettbewerb<br />

1


16. Frankfurter Buchmesse - Marcel Reich-Ranicki<br />

17. Kölner Kin<strong>der</strong>oper - Elke Heidenreich<br />

18. Ovid in Kreuzberg – Thomas Kapielski<br />

19. Der Professor aus Wuppertal - Bazon Brock<br />

20. Odysee durch das deutsche Regietheater<br />

21. Liebe heute – Maxim Biller<br />

22. Christian Klar und ich: zweimal R.A.F.<br />

22. Berlin Augustraße 2007 – Jonathan Meese<br />

23. Cruisen mit Oliver Pocher<br />

Musiklandschaften<br />

23. Berlin - Die Echo Verleihung<br />

24. Dortmund - Philip Boa<br />

25. Maria am Ostbahnhof/Berlin - The Strokes<br />

26. Out of Mageburg - Tokio Hotel<br />

27. Palast <strong>der</strong> Republik - Einstürzende Neubauten<br />

28. Popstar aus Lüdenscheid - Jens Friebe<br />

Ohne Schrö<strong>der</strong> ins Merkelland<br />

29. AVUS - Deutschlands erste Autobahn<br />

30. Die Grünen werden grau (Fußnote: Dutschkes Pullover)<br />

31. Kanzlerdämmerung – Berliner Sommerfeste<br />

32. Politiker-Bashing und seine Folgen<br />

33. Der Papst in Köln - Gott führt uns zusammen<br />

34. Schlitz - Florian Illies<br />

35. München - allein auf dem Oktoberfest<br />

36. Berlin-Neukölln - Rächer <strong>der</strong> Rütli-Jugend (Netzeitung-Interview)<br />

37. Wann Männer heute Kin<strong>der</strong> wollen: Desperate Housewives und<br />

Superman<br />

37. KaDeWe - Weihnachten mit meinem Bru<strong>der</strong><br />

38. Sylvester mit Tom K<strong>um</strong>mer<br />

39. Geburtstag mit Günter Wallraff<br />

39. Die Reportage als „Gegendarstellung“: Eine Nacht mit <strong>Joachim</strong><br />

<strong>Lottmann</strong><br />

40. viva la revolution Kuba: Mit Ariadne von Schirach im Land Fidel<br />

Castros<br />

41. Mit Thomas Brussig im Olympiastadion<br />

2


Am Anfang – ein Abschied<br />

1. DIE LETZTE LANGE NACHT DER POPLITERATUR<br />

<strong>Mein</strong>e lieben Freunde,<br />

ich freue mich, dass Ihr alle gekommen seid. Wie Ihr wisst, wollen wir<br />

heute meinen Abschied von <strong>der</strong> Popliteratur, <strong>der</strong> sogenannten, feiern. Wir<br />

befinden uns in <strong>der</strong> letzten langen Nacht <strong>der</strong> Popliteratur. Viele<br />

Journalisten sind erschienen, ich kann sie nicht im einzelnen begrüßen.<br />

Auch von den Gästen mag ich niemanden beson<strong>der</strong>s hervorheben, will<br />

aber sagen, dass ich mich über den <strong>Auf</strong>tritt des großen Wolfgang<br />

Herrndorf, den nach mir letzten großen Vertreter <strong>der</strong> –<br />

dann toten – Popliteratur – beson<strong>der</strong>s freue. Er hat das Buch ‚In<br />

Plüschgewittern’ geschrieben, das bis auf den Titel sehr gut ist. Wolfgang<br />

Herrndorf war auch gestern nacht in dem Lokal ‚White Trash’ zugegen –<br />

Tex Rubinowitz hat es <strong>eins</strong>tmals kurz nach Wende gegründet, als<br />

bewussten Affront gegen die Wie<strong>der</strong>vereinigung. Herrndorf saß<br />

rechterhand neben mir gestern, und das war mir eine Ehre. Rubinowitz<br />

wie<strong>der</strong><strong>um</strong> saß linkerhand neben mir. Auch er ist heute anwesend<br />

und ich möchte ihn willkommen heißen. Ich freue mich auch über Bettina<br />

Semmer und ihr Kind Babettchen Semmer, die ihren Indien-Urlaub<br />

abgebrochen haben, <strong>um</strong> hier bei uns sein zu können. Bettina Semmer<br />

hatte Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre die Gemälde <strong>der</strong> Neuen Wilden Malerei<br />

gemalt, die <strong>um</strong>gebrehten Kühe, die bei mir in <strong>der</strong><br />

Wohnung hier im denkmalsgeschützten Kurvenstarhaus in <strong>der</strong> kleinen<br />

Präsidentenstraße 3 im dritten Stock im Wohnzimmer hängen. Ich werde<br />

diese Wohnung binnen Jahresfrist aufgeben, spätestens dann, wenn mein<br />

neues Buch mit dem Titel ‚Frauen in Freiheit’ herausgekommen ist. Und<br />

seinen Mann ernährt. Man muß als Schriftsteller, wenn man ein Buch<br />

zuende geschrieben hat, die Wohnung wechseln.<br />

Ich werde dann Berlin und das Thema wechseln. Immerhin ist ‚Frauen in<br />

Freiheit, in dem es <strong>um</strong> die Frauen rund <strong>um</strong> den Hackeschen Markt geht,<br />

nach ‚Deutsche Einheit’ schon mein zweites Berlin-Buch. Es wird nun Zeit,<br />

sich von den jungen Leuten, den Frauen rund <strong>um</strong> den Kurvenstar, ab- und<br />

den übrigen Menschen in Deutschland, den Alten, den Arbeitslosen, den<br />

Angestellten, den Seefahrern, den Bäckerburschen, den<br />

Computerfachhändlern undsoweiter zuzuwenden. In diesem<br />

Zusammenhang freue ich mich, dass schon heute ein Vertreter <strong>der</strong> älteren<br />

Generation gekommen ist, nämlich Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen, Professor für<br />

audiovisuelle Kommunikation in <strong>der</strong> Märzakademie Stuttgart und<br />

pensionierter Dozent literarischer Musikdesignkonzepte in Ohio, USA.<br />

Guten Abend, lieber Diedrich, schön, dass Du es noch geschafft hast.<br />

3


Ich will zu meinem Thema kommen, also für die anwesenden Redakteure<br />

und Medienberufler. Wie habe ich so alt werden können, wohin geht die<br />

Literatur, was passiert nach dem Urteil im Fall Maxim Billers und seines<br />

verbotenen Romans ‚ESRA’ mir <strong>der</strong> manchmal Popliteratur genannten<br />

Schreibweise? Wie wir alle wissen, habe ich immer das geschrieben, was<br />

ich direkt erlebt habe. Da das alle Schreibenden mehr o<strong>der</strong> weniger so<br />

tun, lag es bei mir an dem mehr. O<strong>der</strong> lag es daran, dass ich mehr erlebte<br />

als an<strong>der</strong>e? Wie man in <strong>der</strong> heutigen Ausgabe <strong>der</strong> Berliner Zeitung<br />

nachlesen kann, bin ich <strong>der</strong> <strong>Mein</strong>ung, dass alte Leute nichts mehr<br />

erleben und daher auch nichts aufzuschreiben haben. Schon des<strong>halb</strong> ist es<br />

bei mir mit <strong>der</strong> Popliteratur vorbei. An ihre Stelle tritt nun die sogenannte<br />

neue ernsthafte Literatur, von mir auch Die Neue Ernsthaftigkeit genannt.<br />

In meinem ersten Roman nach dem Tag X, also nach dem 20. Juli 2003,<br />

werde ich mich in einer unbekannten o<strong>der</strong> z<strong>um</strong>indest absolut<br />

bedeutungslosen ostdeutschen Hafenstadt, nämlich Rostock, <strong>um</strong> all jene<br />

kümmern, die in ihrem Leben das Wort Rainald Goetz o<strong>der</strong> Christian<br />

Kracht noch nie gehört haben. Apropo diese beiden Namen:<br />

<strong>Mein</strong> Abschied von <strong>der</strong> Popliteratur ist natürlich auch ein ganz spezifischer<br />

Abschied von den Popliteraten, den prominenten Popautoren <strong>der</strong> letzten<br />

beiden Dekaden,. Um die Popliteratur zu verteidigen, habe ich<br />

gebetsmühlenartig gerade in den letzten Jahren ihre angegriffenen<br />

Vertreter verteidigt. Da es niemanden gab, in den vielen Gesprächsrunden<br />

auf Partys, bei Freunden, in den Zeitungen, die diesen Job ausführten,<br />

habe ich es getan. Tex Rubinowitz meinte gestern in diesem seinen Lokal<br />

‚White trash’ in <strong>der</strong> Torstraße, linkerhand neben mir sitzend, Herta Feiler<br />

die Hand haltend, meine Lobrede auf Maxim Biller in <strong>der</strong> taz<br />

letzte Woche sei ein Kotau gewesen. Das stimmt und stimmt nicht. Denn<br />

inhaltlich meinte ich alles so, wie es da stand. Also dass Menschen über<br />

das schreiben dürfen sollen, was sie wirklich <strong>um</strong>treibt. Und wenn das eine<br />

furchtbare, unerfüllte, gemeine, gemein machende Liebe ist, ein<br />

Liebeskrieg, muss es eben das sein, worüber er schreibt. Das soll ihm<br />

dann nicht aus Persönlichkeitsschutzgründen untersagt sein. Wir stehen<br />

gesellschaftlich-kulturell gerade vor einer drohenden Zäsur auf diesem<br />

Gebiet. Es macht sich in breitesten Kreisen, selbst gerade bei Bild Lesern<br />

und Leuten, die sogenannte Spieler-Interviews in Sportsendungen sehen,<br />

die <strong>Mein</strong>ung breit, alle Menschen sollten ihr Recht auf die<br />

Privatsphäre härter – also mit neuen Gesetzen – durchsetzen können.<br />

Auch und sogar ein x-beliebiger Fußballspieler, z<strong>um</strong> Beispiel Manuel Frings<br />

vom SV Wer<strong>der</strong> Bremen, soll einen Reporter, <strong>der</strong> sein Kind fotografiert,<br />

belangen dürfen. Denn das Kind kann ja entführt werden, wenn es erstmal<br />

in <strong>der</strong> Zeitung steht o<strong>der</strong> so, und überhaupt geht die Privastsphäre ja<br />

niemanden was an. Und Dieter Bohlen soll nicht mehr schreiben dürfen,<br />

dass Naddel morgens die Zähne nicht putzt. Und Effenberg erst und so<br />

weiter. Schluß mit Gossip! Und Schriftsteller sollen nicht mehr über real<br />

existierende Nachbarinnen schreiben und was die anhaben und<br />

wie <strong>der</strong> Sex mit denen ist, son<strong>der</strong>n das soll jetzt endlich anständig<br />

untersagt werden dürfen. Die Schriftsteller sollen sich jetzt alles wie<strong>der</strong><br />

vollkommen ausdenken und ihre Geschichten im tra<strong>um</strong>losen<br />

4


Niemandsland spielen lassen, in fernen Welten, im zeitlosen Ra<strong>um</strong> ewiger<br />

richtig guter Literatur. Je weiter weg von unserer Wirklichkeit, <strong>um</strong>so<br />

besser. Siehe Klagenfurt jetzt Anfang des Monats. Elf von zwölf<br />

Gescichten spielten irgendwo im ackerzerfurchten Bergland von<br />

Anatolien o<strong>der</strong> im wilden Kurdistan, o<strong>der</strong> ein sterben<strong>der</strong> alter Mann<br />

bewegte sich ‚minituös’ und "herrlich genau beschrieben" die Treppe hinab<br />

z<strong>um</strong> Keller, wobei sein Gehirn bereits tot war. Alles bullshit. O<strong>der</strong> im<br />

Märchenland. O<strong>der</strong> in einem Land, wo altertümelnd gesprochen wird wie<br />

im Mittelalter und weise Feen sich versponnen ihre Öko-Trä<strong>um</strong>e<br />

gegenseitig erzählen, freilich ohne Sinn und Verstand. Auch 15 Jahre nach<br />

Beginn <strong>der</strong> Popliteratur, nach dem Roman ‚Mai, Juni, Juli’ und jetzt nach<br />

dem 11. September 2001 und dem Tod dieser Schreibweise<br />

am heutigen Tag – denn wer würde es jetzt noch wagen, das Schimpfwort<br />

Popliteratur auf sich zu beziehen – steht die deutsche Literatur schlechter<br />

und erbärmlicher denn je da. Was aber für mich kein Grund mehr sein<br />

soll, meine Mitstreiter von <strong>eins</strong>t weiter blind zu verteidigen. Nein, ich<br />

werde sie alle vergessen, die Krachts, Stuckrad-Barres, Alexa Hennig von<br />

Langes, <strong>Joachim</strong> Bessings, Jana Hensels und so weiter. Vergessen und<br />

vorher noch mal justieren, für die Archive. Das Bild, das ich von meinen<br />

schreibenden Pop-Kollegen zeichnete, war einfach nicht richtig. Ich hatte<br />

nur keine Lust, diese Leute, die von aller Welt auf so wi<strong>der</strong>wärtige,<br />

banausenhafte Weise attackiert wurden, nun meinerseits<br />

auch noch unter Feuer zu nehmen. Natürlich war es mir lieber, Jana<br />

Hensels schnörkellose, aufrichtige Beschreibung <strong>der</strong> Zerstörung ihrer DDR<br />

zu lesen, als mir komplett ausgedachte, sprachlich dezidiert und minituös<br />

ausformulierte<br />

Parabeln blutleerer amerikanisch-deutscher... ich kriege den Satz gar<br />

nicht zuende, so langweilig ist das zu Beschreibende, diese Kunstprosa<br />

unserer geför<strong>der</strong>ten Autoren ohne Leser. Ja, wie gesagt, immer für Jana<br />

Hensel, und immer gegen Gregor Hens und Konsorten. Und dennoch muß<br />

ich irgendwann auch einmal sagen, dass Jana Hensel verdammt h<strong>um</strong>orlos<br />

ist. O<strong>der</strong> dass Rainald Goetz mit dem Buch ‚Rave’ sich ewige Verdienste<br />

erworben hat in meinen Augen, ebenso mit dem Erstling ‚Irre’ und mit<br />

seiner Internetrevolution ‚Abfall für alle’. Das ist schon sehr viel. Aber<br />

wirklich genug für einen Zeitra<strong>um</strong> von 15 Jahren? Wieviel Mist hat<br />

er auch geschrieben, und WAS für ein Mist war das eigentlich, inhaltlich?<br />

Hat ihm da je einer auf die Finger geklopft? Diese RAF-Phantasien in<br />

‚kontrolliert’ haben mich komplett angeekelt, denn sie waren nicht nur<br />

bemerkenswert doof, son<strong>der</strong>n kamen auch noch als irgendwie cool daher,<br />

dabei war das ganze Buch vermurkst. Schwachsinnig, künstlich,<br />

ausgedacht, genauso ausgedacht wie die Hinterstübchen-Ergüsse ganz<br />

normaler lebensferner Graubärte, die immer den Petrarca-Preis kriegen.<br />

Hat das je einer gesagt? Dass 90 Prozent des Goetz-Outputs<br />

genau solch ein Schmarrn war, wertlos wie Peter Handkes 1000 Seiten<br />

über die ‚Niemandsbucht’? O<strong>der</strong> dass unsere Pop-Ikone Rainald trotz aller<br />

RAF-Rabulistik unpolitisch ist, undemokratisch, unsympathisch, niemals<br />

offen, niemals engagiert, immer dünkelhaft verharrend im eigenen Status<br />

und Besitzstand,wie ein Junker vor 100 Jahren? Undenkbar, dass ein<br />

5


Bismarck o<strong>der</strong> Goetz einen öffentlichen Streit führte, erfüllt vom Feuer <strong>der</strong><br />

Gedanken und <strong>der</strong> Menschenliebe. Ein D<strong>um</strong>pfmeister ist er, unser<br />

strahlen<strong>der</strong> Fürst Rainald, mit Verlaub: ein Arschloch. Ich<br />

persönlich bin froh, wenn ich nach meinem Rollenwechsel ins gegnerische<br />

Lager nie wie<strong>der</strong> an ihn denken muß.<br />

O<strong>der</strong> auch Die<strong>der</strong>ichsen, dieser an<strong>der</strong>e so furchtbar alte Name, ich weiß,<br />

er ist heute bei uns, und ich werde nichts Böses über ihn sagen, so wie ich<br />

noch nie von Kindesbeinen an – wir gingen zusammen zur Schule – etwas<br />

Unsolidarisches gegen ihn unternommen habe. Aber muss man bei all<br />

seinen Verdiensten, bei all seiner geradezu blendenden Klugheit, nicht<br />

auch einmal zu Protokoll geben, dass dieser Mann keine <strong>der</strong> Kriterien<br />

erfüllt, die man an einen Vertreter <strong>der</strong> <strong>Auf</strong>klärung, des Wortes, des<br />

H<strong>um</strong>anismus... na, ich will mich hier nicht vergalloppieren. Wenn ich sage,<br />

Voltaire hätte Diedrich nicht gemocht, denkt ja je<strong>der</strong> sofort: gut so,<br />

Voltaire ist ja auch schon lange tot. Wenn ich sage, Diedrich lebt wie<br />

Goethe in Weimar, denkt je<strong>der</strong>: na ja doch, ist doch cool. Nur:<br />

Popliteratur, zu <strong>der</strong> dieser Mann immer gezählt wird, ist eben gerade<br />

NICHT Goethe in Weimar, son<strong>der</strong>n eine Epoche davor. Die wilde Etappe<br />

Die<strong>der</strong>ichsens dauerte gerade einmal drei Jahre. Seitdem, und das heißt<br />

bei ihm: seit seinem 22. Lebensjahr, zehrt er von dieser kurzen Zeit <strong>der</strong><br />

Kreativität und <strong>der</strong> Genialität. Seit Jahrzehnten produziert <strong>der</strong> Mann einen<br />

<strong>der</strong>maßen scheußlichen weil vollständig uninspirierten Scheiß – exaktes<br />

Spiegelbild eines vollkommen abenteuerlosen Lebens – dass man sich an<br />

den Kopf fasst, wie das deutsche Feuilleton das niemals merken konnte.<br />

Und so weiter. Über jeden <strong>der</strong> Top Ten <strong>der</strong> Popliteratur könnte<br />

man <strong>der</strong>artig Desillusionierendes berichten. Eine kurze Phase <strong>der</strong> Wildheit,<br />

des echten Lebens, <strong>der</strong> guten Texte, und eine entsatzlich lange Folgezeit<br />

<strong>der</strong> Saturiertheit, <strong>der</strong> Ehrungen, <strong>der</strong> gegenseitigen Hype-Bildung, des<br />

Sich-Abschottens, <strong>der</strong> Arroganz und <strong>der</strong> wahnsinnig wertlosen Texte. Nur<br />

Stuckrad-Barre hat bis zuletzt einen äußerst heißen Reifen gefahren. Das<br />

ist auch <strong>der</strong> Grund, war<strong>um</strong> er heute in einer Drogen Entzugsklinik <strong>eins</strong>itzt<br />

und jetzt nicht bei uns sein kann. Von dieser Stelle aus daher einen<br />

herzlichen Gruß <strong>der</strong> Solidarität und den Wunsch, er möge bald wie<strong>der</strong><br />

gesund werden. Alles Gute, lieber Stucki, wir denken<br />

an Dich! Halt durch und wende Dich anschließend ebenfalls von diesem<br />

Zirkel schweigen<strong>der</strong> Pop-Päpste ab, die Dich in diese Sackgasse geschickt<br />

haben! Heuere wie<strong>der</strong> bei Harald Schmidt an, von dem Du einmal zu recht<br />

gesagt hast, an ihm imponiere Dir die moralische Dimension in seinem<br />

Denken und Handeln. Wende Dich<br />

ab vom falschen Christian Kracht, <strong>der</strong> sich seit seinem Durchbruch mit<br />

dem brillianten Roman Faserland ins Nirgendwo zwischen Kambodscha<br />

und Singapur zurückgezogen hat. Wobei auch für Kracht gilt: Ich habe ihn<br />

gelobt bis z<strong>um</strong> körperlichen und nervlichen Zusammenbruch. Weil<br />

Faserland ein so guter Text war. Weil seine Idee, Globalisierung ernst zu<br />

nehmen und in Asien zu leben, mir zunächst äußerst gut gefallen hat. Weil<br />

ich es auch mochte, dass er als Popautor konsequenterweise für H&M<br />

Reklame gemacht hat. Weil ich es nun einmal nicht leiden<br />

6


konnte, wenn weibliche Angestellte in Medienberufen gegen Kracht<br />

wetterten und stattdessen ‚ru<strong>der</strong>nde Hunde’ von Elke Heidenreich o<strong>der</strong><br />

‚Asche aufs Haupt meiner toten Mutter’ kauften. Aber muß ich nicht<br />

wenigstens z<strong>um</strong> Abschied einmal ausrufen dürfen: Faserland war gut, es<br />

war ein wun<strong>der</strong>voller Text, ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut,<br />

aber es war natürlich NICHT so gut wie ‚Mai, Juni, Juli’. Es fehlte, bei aller<br />

Lustigkeit, doch diese eine <strong>halb</strong>e weitere Dimension, die das an<strong>der</strong>e Buch<br />

eben doch auch noch hat, als kleine Dreingabe.<br />

Natürlich ist ‚Faserland’ ein herzensgutes Buch, anerkennenswert schon<br />

des<strong>halb</strong>, weil es <strong>der</strong> einzige konsequente Nichtentwicklungsroman ist, den<br />

ich kenne. Aber genial ist es natürlich NICHT. Das ist das an<strong>der</strong>e Buch,<br />

und Kracht weiß das und er verhält sich kindisch deswegen. Seit zehn<br />

Jahren verhält er sich einfach nur kindisch. Ein echter großer Autor hätte<br />

sich niemals so kindisch und abwehrend verhalten. Ein wirklicher großer<br />

Autor hätte sich über einen genialen Text immer und vorbehaltlos gefreut,<br />

ohne ängstlich zu überlegen, ob <strong>der</strong> eigene Text wohl schlechter sein<br />

könne. Auch Kracht ist somit nur ein kleiner Arsch, und das muß eben<br />

auch einmal gesagt werden, was ich hiermit tue. Aber damit will<br />

ich es auch erstmal bewenden lassen. Ich glaube, die Botschaft ist<br />

verstanden worden. Popliteratur war für eine kleine, feine Riege das<br />

Sprungbrett zu hohen <strong>Auf</strong>lagen und Wohlstand. Aber je<strong>der</strong> von denen hat<br />

sich postwendend von dem z<strong>um</strong> Schimpfwort gewandelten Begriff<br />

Popliteratur distanziert und hat hat ehrenhafter deutscher<br />

Großschriftsteller gemacht, auf Peter Handke, auf Freund <strong>der</strong><br />

Feuilletons. Ein guter Autor muss aber immer <strong>der</strong> größte Feind <strong>der</strong><br />

Feuilletons sein. Wenn man das aber ist, bekommt man eine Biographie<br />

wie <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>.<br />

Das ist natürlich nicht z<strong>um</strong>utbar, o<strong>der</strong> wie man heute nachsetzen würde:<br />

nicht wirklich. Ich verstehe sie also, die kleinen Arschlöcher, die<br />

Geistzwerge, die jahrzehntelangen Etikettenschwindler, will mich aber<br />

gerade von ihnen nun mit Nachdruck verabschieden. Übrigens auch von<br />

Alexa, die ich gerade im vor<strong>der</strong>en Bereich gesichtet habe, Alexa Hennig<br />

von Lange, die Autorin des phasenweise großartigen Romans ‚Relax’. Also<br />

die erste Hälfte des Romans ist so gut, weil Alexa da in Ich-Form von<br />

ihren sexuellen und an<strong>der</strong>en Exzessen aus ihrer Teenagerzeit berichtet,<br />

<strong>eins</strong> zu <strong>eins</strong>, so wie es wirklich war, ohne jede Distanz, o<strong>der</strong> wie ein<br />

Feuilletonist es ausdrücken würde: atemlos. Im zweiten Teil des Buches<br />

schreibt sie aus einer notgedrungen ausgedachten Perspektive eines<br />

Mannes:<br />

dieser Teil des Buches ist so tot wie eine Bleiente. Was aber niemand <strong>der</strong><br />

Autorin gesagt hatte. ‚Relax’ verkaufte sich 250.000 mal, und Alexa<br />

schrieb noch vier weitere Romane aus <strong>der</strong> Perspektive eines Mannes,<br />

eines so tot wie das an<strong>der</strong>e. Den Kritikern gefiels, die bekamen ja auch<br />

Geld fürs Lesen, und Alexa weiss bis heute nicht, welchen Mist sie seit<br />

Jahren herstellt. So, aber jetzt weißt Du es, Alexa! Komm nachher rüber,<br />

kannst bei <strong>der</strong> Podi<strong>um</strong>sdiskussion mitmachen...<br />

Ich will auch gar nicht länger meckern. Es ist ja auch so, dass es<br />

wesentlich mehr gute neue Autoren gibt als schlechtgewordene alte. <strong>Auf</strong><br />

7


eine Rebecca Casati kommen fünf unentdeckte Katha Schultes, auf einen<br />

heruntergekommenen Moritz von Uslar zehn neue Stefan Beuses, die sich<br />

NICHT auf Augenhöhe mit MTV-Stars fühlen, und selbst wenn, so<br />

schreiben sie so gut wie Charlotte Roche in NEON.<br />

Ich begrüße daher ganz herzlich die vielen neuen und zu entdeckenden<br />

Nachwuchsstars, die heute hier sind und beson<strong>der</strong>s die sieben, die diese<br />

Nacht lesen.<br />

Mit dem grossen Herrndorf fangen wir an, beziehungsweise nach <strong>der</strong><br />

Ouvertüre meiner Nichte Hase fängt er an. Sarah Hase und ihre Freundin<br />

Mirna werden Gedichte vortragen, Herrndorf aus seinem Roman vorlesen,<br />

den Gerd Haffmans aus Zürich, den ich ebenfalls von hier aus grüße, ins<br />

Deutsche übersetzt hat. Ich grüße Julia Mantel aus Frankfurt, die zwei<br />

Geschichten aus dem For<strong>um</strong> <strong>der</strong> höflichen Paparazzi im Gepäck hat. Julia<br />

war 1998 o<strong>der</strong> so das ‚Gesicht des Jahres’ und schreibt ziemlich genau auf<br />

dem Niveau, das ich persönlich am liebsten lese.<br />

Ich freue mich auf Kristof Schreuf, dem einziger guten Teilnehmer <strong>der</strong><br />

diesjährigen Bachmann-Lesung in Klagenfurt. Es ist nur logisch, das er<br />

den letzten Platz belegte. Ich schätze diesen Autor wirklich<br />

außerordentlich, ebenso die Gruppe Bl<strong>um</strong>feld, <strong>der</strong>en Texte Schreuf<br />

schreibt. Herzlich willkommen auch all die an<strong>der</strong>en, die ich jetzt aus<br />

Zeitgründen nicht mehr erwähne, vor allem aber die Autorinnen Anja<br />

Fröhlich aus Köln am Rhein und Marlin Schwertfeger aus Berlin...<br />

Ich will also z<strong>um</strong> Schluß dieser kleinen Begrüssung kommen. Ich hoffe,<br />

meine Haltung für die zweite Lebenshälfte klargelegt zu haben. Für die<br />

Journalisten, die nicht schnell genug mitschreiben konnten, gibt es dieses<br />

Statement als vierseitige Fotokopie mit auf den Nachhauseweg. Ich heiße<br />

also hiermit und nochmals alle Besucher <strong>der</strong> Letzten Langen Nacht <strong>der</strong><br />

Popliteratur herzlich willkommen. Ich werde nun aus dem Stegreif ein<br />

paar Worte z<strong>um</strong> zeitlichen Ablauf <strong>der</strong> Gesamtveranstaltung sagen…<br />

Fußnote zu<br />

Die letzte lange Nacht <strong>der</strong> Popliteratur<br />

Dieses Kompendi<strong>um</strong> des Popjournalismus ist mehr als ein Buch. So wie je<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

‚Jugend von heute’ und ‚Zombie Nation' gelesen hat, alles über Popliteratur weiss (und<br />

nie mehr und etwas darüber lesen o<strong>der</strong> sagen muß), kann je<strong>der</strong> deutsche Student für<br />

wenig Geld dieses 'Bor<strong>der</strong>line'-Taschenbuch erwerben und sich diesen historischen<br />

Ableger des englischsprachigen NEW JOURNALISM aneignen. Er kann es neben die ‚20<br />

Jahre TEMPO’-Jubilä<strong>um</strong>sausgabe stellen o<strong>der</strong> neben die neuen Hefte von Vanity Fair. Er<br />

ist dann klüger.<br />

Klüger als die, die heute noch schreiben. Vor allem kann er dann selber Artikel verfassen,<br />

wenn das Bafög mal knapp wird. Es ist nämlich ganz einfach, wie ich gesehen habe.<br />

Bekanntlich bin ich selbst erst im hohen Alter Deutschlandreporter geworden. Wie wir in<br />

vorangegangener Rede lesen konnten, schloß ich erst mit <strong>der</strong> Popliteratur ab, nach 32<br />

Romanen für die Schublade, an meinem 45. Geburtstag am 14. April 2003, während<br />

einer t<strong>um</strong>ultuarischen Veranstaltung im 'Kurvenstar' am Hackeschen Markt in Berlin<br />

Mitte. Und danach erst wurde ich Journalist.<br />

Die Veranstaltung hieß "Nie wie<strong>der</strong> 44, nie wie<strong>der</strong> Popautor" und zog die Medien an, das<br />

muß man wirklich sagen. Zwei Dinge hatte es vorher nicht gegeben: Dass Reporter sich<br />

für mich interessierten, und dass ich meine Geschichten Popliteratur nannte. Popliteratur<br />

war ein Schimpfwort und ist es noch. Aber man zieht damit Leute. Und ebenso ist es mit<br />

dem Wort Bor<strong>der</strong>line-Journalismus.<br />

8


Niemand, nicht einmal Tom K<strong>um</strong>mer, würde es wagen, dieses Schimpfwort auf seine<br />

eigenen Texte zu beziehen. Es ist, als würde eine attraktive Fernsehmo<strong>der</strong>atorin, z<strong>um</strong><br />

Beispiel Brigitte Slomka, topless die Ansagen sprechen. Der Ruf wäre ruiniert, aber alle<br />

würden die Sendung anschalten. Des<strong>halb</strong> weiß ich mit Sicherheit, dass mich dieses Buch<br />

reich machen wird, wie auch schon die Romane, seitdem sie unter <strong>der</strong> falschen Flagge<br />

<strong>der</strong> Popliteratur segeln. Natürlich wird keine Zeitung mehr einen Beitrag von mir drucken.<br />

So wie kein seriöses Feuilleton mehr meine Romane bespricht. Aber ich bin auch schon<br />

längst im Internet. Ich bin, während Sie diese Zeilen lesen, bereits Blogger geworden.<br />

Die Frage, die dieses eingeschobene Vorwort zu behandeln hat, ist die <strong>der</strong> Genese. Wie<br />

wurde ich Deutschlandreporter und war<strong>um</strong>? Nun, es lag ein bißchen an besagter<br />

Veranstaltung, und ein bißchen an Stuckrad-Barre. Er war ja nicht erschienen, weil er in<br />

einer Entzugsklinik lag und versuchte, die berufsbedingte Kokainsucht loszuwerden. Ich<br />

hatte ihn - Sie erinnern sich - von <strong>der</strong> Bühne aus herzlich gegrüßt und gute Besserung<br />

gewünscht. Die Reaktion des Publik<strong>um</strong>s, fast alles Medienvertreter, war seltsam<br />

gewesen. Sie alle lachten! Und zwar häßlich und höhnisch und schadenfroh. Sie<br />

verstanden mich also völlig falsch. Ich hörte, wie sie "Ha ha ha, genau! Richtig so, gib's<br />

ihm!" und <strong>der</strong>gleichen riefen. Dem armen Stucki in <strong>der</strong> Intensivstation wurde<br />

ausgerichtet, ich hätte ihn fertiggemacht, hätte ihn in aller Öffentlichkeit "verarscht".<br />

Nun überlegte ich. War Benjamin nicht <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> immer getan hatte, was ich<br />

for<strong>der</strong>te? Und war<strong>um</strong> tat ich es dann nicht selbst? Wichtig war zunächst, dass ich den<br />

Eindruck gerade rückte, <strong>der</strong> entstanden war. Ich schrieb meinerseits einen Artikel für die<br />

Zeitung, den ich '<strong>Mein</strong> Leben mit Stuckrad-Barre' nannte. Es war mein erster Artikel für<br />

eine Zeitung, und er war gar nicht einmal so schlecht geworden. Vor allem bemerkte ich,<br />

dass vor allem im ersten Teil ein Ton angeschlagen war, den es in den deutschen<br />

Zeitungen bis dahin nicht gab.<br />

Über mehrere Seiten beschrieb ich so redundant wie eindringlich die Mode des Stuckrad-<br />

Dissens auf Avantgarde-Parties. Erst durch die Wie<strong>der</strong>holung entstand dieses Gefühl, wie<br />

bohrend schmerzhaft und gnadenlos die Ablehnung war, die <strong>der</strong> drogengeschwächte<br />

junge Mann über Jahre hatte aushalten müssen. Es war also mehr als nur ein<br />

nachrichtlicher Text; er enthielt literarische Elemente. Das fehlte bisher, und diese Lücke<br />

wollte ich mit weiteren Texten ausfüllen.<br />

Ich heuerte beim SPIEGEL an, unterschrieb einen Einjahres-Vertrag („<strong>Mein</strong> Jahr beim<br />

Spiegel“ erzähle ich übrigens in fortlaufenden Fußnoten), und nahm Deutschland ins<br />

Visier. Eine meiner ersten Stationen war ein Adelstreffen in Karlsbad. Ich sollte als Quasi-<br />

Günter-Wallraff die Sitten und Gebräuche des europäischen Hochadels für das<br />

Hamburger Nachrichtenmagazin auskundschaften. Ich blieb 72 Stunden in dem Kurort<br />

und schrieb anschließend in einem kleinen Redaktionszimmer in <strong>der</strong> Brandstwiete<br />

darüber. Dabei merkte ich, dass diese Geschichte, an<strong>der</strong>s als die davor über Stuckrad,<br />

von mir unbewußt vorzensiert wurde. Bei 'Stuckrad' hatte ich noch nicht gewußt, für<br />

welche Zeitung ich schrieb. Jetzt wußte ich es. Und ich schrieb irgendwie spiegellike. Die<br />

Sätze wurden kürzer, Nebensätze kamen gar nicht mehr vor, alles ratterte im Subjekt-<br />

Prädikat-Objekt-Stil daher. Das war an<strong>der</strong>s, aber war es schlecht? War es vielleicht sogar<br />

besser? Mir war es unheimlich, und ich wollte sehen, ob dieser Stil wie<strong>der</strong> wegging,<br />

indem ich auch für die Frankfurter Allgemeine und die Süddeutsche schrieb.<br />

Dazu später mehr. Am Ende schrieb ich neben dem SPIEGEL auch noch für die linke 'taz',<br />

die linksradikale 'jungle world', die rechte 'Welt am Sonntag' und viele an<strong>der</strong>e Zeitungen.<br />

Wir werden das noch sehen. Und vereinzelt, wo es nötig wird, kommentieren.<br />

9


Die Verwandlung<br />

2. Vom Pop-Schriftsteller z<strong>um</strong> Deutschlandreporter o<strong>der</strong> MEIN LEBEN<br />

MIT STUCKRAD-BARRE<br />

Es war wohl fast fünf Jahre her, noch tief im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t, als ich in<br />

einem heruntergekommenen Eimsbütteler Lokal - ich glaube, es hieß 'Beach<br />

Star' - die wohl klügste Frau ihrer Epoche, die Foucault-Expertin Nicola<br />

Reidenbach traf, <strong>um</strong> ihr meine Verlobte vorzustellen. Das Gespräch raste auf<br />

hohem Niveau dahin, man verstand sich 'blendend', schließlich war auch die<br />

Verlobte, Chefin des Literaturhauses Hamburg, nicht blöd. Doch dann kam<br />

die Rede auf Stuckrad-Barre. Die Ablehnung dieses Autors durch die beiden<br />

female intellectuals übertraf alle Brandreden <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte.<br />

Selbst ein Ajatollah Khomeini hätte einen Salman Rushdi nicht so hassen<br />

können wie diese Ikonen <strong>der</strong> Frauenkultur den kleinen Popautor. Das D<strong>um</strong>me<br />

war nur: alle ihre Arg<strong>um</strong>ente hatte ich schon gehört. Eitelkeit, Narzismus, <strong>der</strong><br />

hat kein Thema, <strong>der</strong> kann nicht schreiben, <strong>der</strong> kann nicht lieben, <strong>der</strong> ist ein<br />

kleines Arschloch, <strong>der</strong> ist soll erstmal richtig arbeiten, <strong>der</strong> verhöhnt die<br />

kleinen Leute, <strong>der</strong> schreibt nur ab, <strong>der</strong> schreibt nur was alle schreiben, <strong>der</strong> ist<br />

totaler Mainstream, <strong>der</strong> sieht scheiße aus, und so weiter. Das alles hatte ich<br />

schon mehrmals gehört - von den beiden Damen selbst. Ich rief also aus:<br />

"Wie oft haben wir bereits über Stucki gestritten! Eure Wut muß sich doch<br />

allmählich gelegt haben!"<br />

Sie sahen mich zwei Sekunden lang erregt an, <strong>der</strong> Scha<strong>um</strong> tropfte von ihren<br />

Lippen. Dann machten sie weiter. Sie höhnten, kreischten und berserkerten,<br />

daß sich die Tische bogen, und noch von draußen hörte ich ihre sich<br />

gegenseitig anfeuernden Injurien gegen den Mann. Das ist heute, ein <strong>halb</strong>es<br />

Jahrzehnt danach, nicht an<strong>der</strong>s. Wir haben eine Vereinbarung, das Thema zu<br />

meiden, aber irgendwann zu später Partystunde kommt es doch immer auf.<br />

Und zwar auch auf Partys, wo die beiden Hyänen gar nicht erscheinen. Kurz<br />

gesagt: auf ALLEN Partys. Irgendwann kommt immer die Stuckrad-Stunde,<br />

meistens in <strong>der</strong> Küche <strong>um</strong> <strong>halb</strong> drei Uhr <strong>nachts</strong>, wo sich <strong>der</strong> Rest <strong>der</strong> Gäste<br />

schmatzend und gut gelaunt eingefunden hat. Und alle vertreten dieselbe<br />

<strong>Mein</strong>ung. Alle kotzen sich aus, übergangslos, auf Knopfdruck, als hätten sie<br />

seit Stunden darauf gewartet. Dieser Mistkerl, dieses Brechmittel, dieser<br />

Hochstapler, <strong>der</strong> kann nichts, <strong>der</strong> kommt mir schon aus den Ohren raus, das<br />

ist keine Literatur, <strong>der</strong> glaubt wohl nur weil er gut aussieht sei er schon wer,<br />

<strong>der</strong> ist doch nur mit Anke Engelke zusammen, was die an dem findet möchte'<br />

ich mal wissen, dieser Pisser, dieser Idiot, wo ist denn da eigentlich die<br />

Lebensleistung, für mich hat <strong>der</strong> keine Existenzberechtigung, <strong>der</strong> kennt die<br />

normalen Menschen doch gar nicht, <strong>der</strong> ist doch nur angesagt weil alle<br />

denken er sei angesagt, <strong>der</strong> ist nur ein Produkt <strong>der</strong> Medien, <strong>der</strong> kriegt NIE<br />

den Literaturnobelpreis, <strong>der</strong> sieht scheiße aus und so weiter. Man hat das<br />

Gefühl: Wäre <strong>der</strong> schmächtige kleine Gescholtene zufällig unter den Gästen,<br />

10


würden sie ihn johlend hochzerren und ohne Umwege am Fensterkreuz<br />

aufhängen. Sie würden nicht eine Sekunde zögern.<br />

Ich habe mich immer gefragt, war<strong>um</strong> das so ist. War<strong>um</strong> wird Benjamin von<br />

Stuckrad-Barre so gehaßt? War<strong>um</strong> erkennt man nicht, daß 'Soloalb<strong>um</strong>' einer<br />

<strong>der</strong> zehn besten Romane <strong>der</strong> Bundesrepublik ist und 'Deutsches Theater' das<br />

klügste Buch, das zur Zeit auf den Son<strong>der</strong>tischen <strong>der</strong> Buchläden liegt? Sein<br />

Ritt durch die Medien war gut durchdacht und genau so, wie ich es mir von<br />

einem politisch bewußten Menschen, ja einem Marxisten immer gewünscht<br />

hatte. Er war nicht ein Opfer <strong>der</strong> Medien, also <strong>der</strong> Umstände, des Systems,<br />

des Kapitalismus et cetera, son<strong>der</strong>n ein Benutzer und bewußts<strong>eins</strong>stiften<strong>der</strong><br />

Entlarver desselben. Wo er hinkam, kannte er die ungeschriebenen Gesetze<br />

und setzte sie gnadenlos <strong>um</strong>. Woher er sie kannte? Durchs Hinschauen! Der<br />

Mann hat eben mit seinem Fernseher wirklich gearbeitet, anstatt sich<br />

berieseln zu lassen. Seine Mittel: Übertreibung, Beschleunigung,<br />

Ästhetisierung. Seine Lehrer: Schlingensief, Harald Schmidt, J.D. Salinger.<br />

Natürlich auch Kracht und <strong>Lottmann</strong>. Sein Busenfreund Rainald ("Irre") hat<br />

ihn dagegen ästhetisch eher behin<strong>der</strong>t.<br />

'Soloalb<strong>um</strong>' ist das eine und einzige Buch, das je<strong>der</strong> Mensch schreiben kann<br />

und meiner Ansicht nach auch sollte (nach Ba<strong>um</strong> und Kind). Je<strong>der</strong> trägt eben<br />

EIN gutes Buch in sich, das ist sein Stoff. Danach erst beginnen die second<br />

or<strong>der</strong> Erfahrungen, das Ausgedachte, die Literatur, also <strong>der</strong> Krampf.<br />

Benjamin wußte das und hielt sich daran. Er wußte: einen weiteren Roman<br />

wird es nicht geben, allenfalls Bluff. Also ging er mit 'Soloalb<strong>um</strong>' auf eine<br />

deutschlandweite Lesereise und schrieb darüber sein nächstes Buch: 'Live<br />

Alb<strong>um</strong>'. Danach hatte er den Status, <strong>um</strong> in je<strong>der</strong> Zeitschrift schreiben zu<br />

dürfen. Er testete den Print-Bereich komplett durch und veröffentlichte seine<br />

Erfahrungen darin in dem dritten Buch 'Remix'. Je<strong>der</strong> Leser kann seine<br />

Erkenntnisreise für wenig Geld nachvollziehen und mit ihm profitieren:<br />

Medien, was ist das, wie geht das, tut das weh, was geschieht da? Medien,<br />

für o<strong>der</strong> gegen die Arbeiterklasse? Wer schafft an, wer blutet, wer wird<br />

betrogen?<br />

Als nächstes warf er sich auf die Musiksen<strong>der</strong> VIVA und MTV. Nicht, weil er<br />

DIESEN Teil <strong>der</strong> Medien auch noch im Selbstversuch durchleuchten und<br />

analysieren wollte. Das auch. Aber vor allem, weil dort und nur dort seine<br />

sexuellen Bedürfnisse zu stillen waren. Hätte Nora Tschirner die Tagesthemen<br />

mo<strong>der</strong>iert, wäre er dorthin gegangen. Sogar wenn er dann Angela Merkel<br />

hätte interviewen müssen. Aber sie war bei MTV. Und so machte er da eine<br />

Show, die noch rasanter war als Schlingensiefs 3000er Sendung an gleicher<br />

Stelle. Schon auf seiner legendären Lesereise hatte er vorgemacht, wie man<br />

eine <strong>Auf</strong>trittsform in die Luft sprengt. Seine eigenen Texte las er valentinesk<br />

und total gaga vor, als hätte ihn <strong>der</strong> Stechapfel gestochen. Er brüllte auf <strong>der</strong><br />

Bühne, als wolle er Hartmann den Job beim Schauspielhaus abluchsen. Sah<br />

er hübsche Mädchen in <strong>der</strong> ersten Reihe, fegte er die Manuskripte vom Tisch<br />

und unterhielt sich nur mit ihnen. Ältliche Buchhändlerinnen ließ er vom<br />

Saaldienst abführen, wegen angeblichem Bombenalarm. Und so fort. Nie ließ<br />

er es zu, eine Sache zweimal zu machen. Deswegen stellte er Sylvester 2001<br />

alle Lesungen ein und ward nicht mehr gesehen. Nur am 19. Juli wird er in<br />

'Die letzte lange Nacht <strong>der</strong> Popliteratur' auf die Rampe steigen, aber nur <strong>um</strong><br />

11


einer Kunstform Ade zu sagen, die er für sich nur sehr kurz und konsequent<br />

benutzt hatte.<br />

Die Frage, war<strong>um</strong> Stuckrad so gehaßt wird, ist damit noch immer nicht<br />

beantwortet.Verzeiht man ihm nicht, die Britpop-Band 'Oasis' obsessiv<br />

verehrt und z<strong>um</strong> heimlichen Thema von 'Soloalb<strong>um</strong>' gemacht zu haben? Ich<br />

verstand das sehr gut, erinnerte es mich doch an meine Bret-Easton-Ellis-<br />

Verehrung in 'Deutsche Einheit'. Es GIBT Obsessionen dieser Art, und sie<br />

kommen in <strong>der</strong> Literatur viel zu kurz. Zudem mag ich 'Oasis'. Aber als<br />

Intellektueler hatte er damit natürlich ausgespielt, 'SPEX' kündigte ihm das<br />

Abo und so weiter. Doch <strong>der</strong> Stuckrad-Haß hat an<strong>der</strong>e Gründe. Sein<br />

Privatleben? Vier Gruppen von Menschen <strong>um</strong>geben ihn: Die Leser, die ihn<br />

natürlich lieben und kaufen, ungefähr 100.000 Leute. Die sogenannte<br />

'Szene', die ihn wie beschrieben haßt und lynchen möchte, circa 2.000.000<br />

Leute. Die Pop-Autoren, die ihn durch die Bank innigst mögen und verdammt<br />

gut leiden können, das ist eine <strong>eins</strong>tellige Zahl von Leuten. Und schließlich<br />

ich, <strong>der</strong> Autor dieser didaktischen Abhandlung: natürlich verehre ich ihn. Er<br />

fiel mir 1997 auf, lange vor seinem Romandebut, als er recht scharfsinnig<br />

über Alexa Hennig von Lange schrieb. Ich nahm sofort Kontakt auf, wir trafen<br />

uns. Eine Freundschaft entwickelte sich, wir gingen gern spazieren, am<br />

liebsten die Biller-Route Hofgarten, Leopoldstraße, Hohenzollernstraße,<br />

Habsburgerstraße. Er war knapp über 20 Jahre alt, hätte fast mein Sohn sein<br />

können und war entsprechend klüger und schneller als ich. Ich bekam immer<br />

schon nach fünfundzwanzig Minuten Kopfschmerzen, weil mich das schnelle<br />

Sprechen extrem anstrengte. Die Erfahrung, so schnell denken und reagieren<br />

zu müssen, hatte ich nie vorher gemacht. Das war wirklich ein heller Geist,<br />

zu hell sogar, ich machte mir Sorgen. So einer, dachte ich, stirbt früh.<br />

Damals wußte ich noch nicht, daß er alles richtig machen würde in den<br />

folgenden Jahren. Dass er nicht verbrennen würde in den Medien, son<strong>der</strong>n<br />

den Strahl <strong>um</strong>kehrte. Auch hatte er damals Pech bei den Mädchen. Ich<br />

vermutete damals, das würde so bleiben. Z<strong>um</strong>al sich das Pech während <strong>der</strong><br />

Anke-Zeit in lebensbedrohliche Verzweiflung steigerte. Ich machte mir Ende<br />

<strong>der</strong> 90er wirklich große Sorgen. In aufrüttelnden Faxen beschwor ich ihn, sich<br />

nicht das Leben zu nehmen. Er zweifelte erstmals fast an sich selbst. Helge<br />

Malchow hatte ihm 'Mai, Juni, Juli' zugesteckt, und Benjamin bekannte<br />

plötzlich, er hätte 'Soloalb<strong>um</strong>' niemals schreiben können, wenn er das Buch<br />

zufällig vorher schon gelesen hätte. Dann hätte er sich nach dem<br />

Drittstudi<strong>um</strong> vom sagenhaften Reicht<strong>um</strong> seiner Vorfahren, <strong>der</strong> von Stuckrads<br />

und von Barrés, ernähren müssen und wäre nutzlos gestorben. Einmal rief<br />

ich ihn Mitte 1999 an und hatte Anke am Apparat. Zu meiner freudigen<br />

Überraschung plapperte sie in <strong>der</strong>selben halsbrecherisch schnellen Diktion<br />

wie Freund Stuckrad, unzähmbar, glutvoll, über Stock und Stein, von<br />

unbeschreiblicher Komik dabei und nicht endend und nicht beeinflußbar: irre!<br />

Ich dachte, daß sich da zwei gefunden hatten, die eine Liebe vom an<strong>der</strong>en<br />

Stern zelebrierten und freute mich für Stucki. Ich habe mir nie wie<strong>der</strong> Sorgen<br />

<strong>um</strong> ihn gemacht, obwohl ich mitbekam, daß er Anke erst nach Jahren ganz<br />

und gar erobern und bezwingen konnte. Er hat es getan, er hat es geschafft,<br />

und als ich zuletzt heimlich in <strong>der</strong> Bild Zeitung las, 'Deutschlands großer<br />

12


Dichter von Stuckrad-Barre' habe Anke Engelke 'aus seinem Leben geworfen',<br />

konnte ich das so deuten: Das Problem ist bewältigt, und zwar positiv.<br />

Was ist heute mit ihm, am Vorabend <strong>der</strong> Abschieds-Gala? Was macht er noch<br />

in Zürich, was wurde aus <strong>der</strong> Anke-Nachfolgerin, die ihn verließ, und war<strong>um</strong><br />

floppte <strong>der</strong> Film? Zunächst zu letzterem: Natürlich wußte Stuckrad, was<br />

deutsche Filmer aus einem Stoff wie 'Soloalb<strong>um</strong>' machen würden, nämlich<br />

eine Teenie-Komödie, sozusagen 'Eis am Stiel, Teil 14', mit dem Höhepunkt,<br />

daß <strong>der</strong> Held sich den Schwanz im Autofenster einklemmt und eine ganze<br />

Nacht nicht freibekommt. Sie würden aus Gold Scheiße machen, das war ihm<br />

VORHER klar. Aber er wußte auch: Er konnte in seinem Leben nur diesen<br />

einen großen Kinofilm machen, weil er nur diesen einen großen Roman hatte<br />

schreiben können. Und so machte er es. Weil er auch dieses Medi<strong>um</strong> testen<br />

wollte. Weil sein Erkenntnisinteresse größer war als sein Stolz. Weil Weisheit<br />

ihm wichtiger war als Ehre. Und weil er Nora Tschirner bekam (Hauptrolle).<br />

Er will soviel wissen wie möglich. Dafür bleibt er gern <strong>der</strong> Stachel im Fleisch<br />

des deutschen Kulturkörpers. Denn das ist ohnehin die Funktion <strong>der</strong><br />

Popliteratur gewesen.<br />

3. Karlsba<strong>der</strong> Wallraffiade: Graf <strong>Lottmann</strong> „ganz oben“<br />

Ich werde angekleidet. Ich, heute <strong>Joachim</strong> Graf <strong>Lottmann</strong>. Daß die Schuhe<br />

so passen, wie eine Haut, hätten wir nicht gedacht. Und auch <strong>der</strong><br />

maßgeschnei<strong>der</strong>te Frack, das weite Frackhemd, die massiv goldenen<br />

Manschettenknöpfe, die Schärpe, die Fliege - gigantisch. Wie angegossen.<br />

Völlige Stille <strong>um</strong>gibt mich im Grand Hotel. Es gibt nur mich und die feinen<br />

Kleidungsstücke. Und zwei dienstbare Schnei<strong>der</strong>innen, die ich aber ka<strong>um</strong><br />

wahrnehme. Viele hun<strong>der</strong>t Euro kostet das Leihen, jeden Tag. Allein <strong>der</strong><br />

Zylin<strong>der</strong> 40 Euro für die wenigen Minuten, in denen man ihn aufhat. Es<br />

gibt ein Video von Madonna, das einen Stierkämpfer in den <strong>eins</strong>amen<br />

Momenten vor dem <strong>Auf</strong>tritt zeigt. So fühle ich mich jetzt.<br />

Keine großen Taschen. Das Handy muß <strong>der</strong> Diener hinterhertragen. Der ist<br />

zugleich SPIEGEL-Fotograf und heißt Paul Schirnhofer, heute nur 'Paul'.<br />

Daß er fotografiert, fällt nicht auf, denn von den 300 hochwohlgeborenen<br />

Gästen halten ungefähr 299 eine Digitalcamera in die Luft und blitzen.<br />

Man gewöhnt sich daran, so ist die Zeit. Außer Benedikt XVI und<br />

Schirmherr S. k. und k. M. Otto II von Habsburg - und eben mir - knipst<br />

je<strong>der</strong>. Der Schirmherr, er wäre heute Kaiser, würde die Monarchie endlich<br />

wie<strong>der</strong> eingeführt, ließ sich vertreten, und Benedetto scheut Reisen.<br />

Karlsbad war auch nie etwas für Päpste. Goethe, Schiller, Marx, vielleicht<br />

sogar Gysi haben hier gekurt, die Liste hat kein Ende. Es gibt praktisch<br />

keinen Namen aus den letzten 250 Jahren, den man hier nicht fände. Und<br />

für alle hat <strong>der</strong> Ort eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung gehabt. Goethe sagte, er<br />

könne nur in drei Städten wohnen, Weimar, Rom und Karlsbad. Er<br />

verliebte sich regelmäßig dabei in junge heiratsfähige Mädel nie<strong>der</strong>en<br />

Adels, was ihm woan<strong>der</strong>s nicht gelang.<br />

Klei<strong>der</strong> machen Leute. Also echt jetzt. Von Anfang an fühlte ich mich edel,<br />

wichtig, huldvoll, gravitätisch, wie soll ich es zusammenfassen: groß. Drei<br />

13


Köpfe größer als 'Paul'. Der hatte nämlich die Klei<strong>der</strong>ordnung nicht<br />

eingehalten. "I gäh hoit ois Fotograaf" hatte er gewitzelt und sich in<br />

seinen üblichen, leicht welligen C & A Nadelstreifenanzug gezwängt. Ein<br />

Fehler.<br />

Noch nie war ich so verhaltenssicher. Der Handkuß kam mir wie von selbst<br />

über die Lippen und ebenso die Konversation und das selbstgefällige 'Wir'.<br />

Kein Wun<strong>der</strong> bei 150 herausgeputzt schönen Damen, 60 Prozent davon "in<br />

keiner Weise partnerschaftlich gebunden" (Mitveranstalter Michael<br />

Kahlberg). So ganz nach Etikette klang das nicht. Aber anregend. Ich sage<br />

dem Mann, <strong>der</strong> die Medien betreut, er möge mich bittschön nur mit genau<br />

solchen Damen bekanntmachen: "Ich recherchiere auch ein wenig in<br />

eigener Sache, wissen Sie."<br />

Adlige stellt man sich SOUVERÄN vor. Beim Karlsba<strong>der</strong> Adelstreffen, und<br />

das ist <strong>der</strong> kleine Schönheitsfehler, mischen lei<strong>der</strong> auch Bürgerliche mit.<br />

Man erkennt sie sofort. Nicht am übertriebenen Posieren, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong><br />

Unsicherheit. Am durchgedrückten Kreuz, am nervösen Hin- und<br />

Hergucken, an den gewöhnlichen Gesichtern. Frauen sieht man nie in<br />

Hosen, das ist schon mal gut. Und es scheint - nur für Frauen - eine<br />

bestimmte Altersgrenze zu geben, und zwar sobald Großmütterliches, ja<br />

graues Haar aufzuscheinen beginnt. Das soll nicht sein. Die Illusion <strong>der</strong><br />

Heirat incl. Familiengründung darf nicht schon im Vorfeld optisch<br />

behin<strong>der</strong>t werden. Denk' ich mal.<br />

Am ersten Abend fällt mir ein Flavio-Briatore-Typ auf, über 50, bestimmt<br />

bürgerlich weil unsicher. Weißhaarig, braungebrannt, mit rotseidenem<br />

Halstuch und Angstaugen. All<strong>eins</strong>tehend. Er ist <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> z<strong>um</strong> Ball<br />

kommt, und <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Frauenjagd beginnt. Ein verzweifelt<br />

Suchen<strong>der</strong>. Obwohl ich ihn dreist beobachte, sieht er mich nicht, weil er<br />

nur Frauen sieht.<br />

Schnell füllt sich <strong>der</strong> große Saal im Hotel Imperial, ein Ding, das auf dem<br />

Berg thront wie Man<strong>der</strong>ley auf dem Himalaya. Eine Geraldine Chaplin in<br />

jung fällt mir sofort auf, weil ihre Schönheit stärker strahlt als <strong>der</strong> Reaktor<br />

von Tschernobyl am Tag des Unfalls. Sie ist sehr selbstsicher, was man an<br />

einer ziemlichen Genervtheit erkennt. Kein Zweifel: diese Kostüme sind<br />

einfach ein enormer Verstärkungsfaktor. Wer gut aussieht, wird nun gleich<br />

zur Prinzessin. O<strong>der</strong>, in meinem Fall, z<strong>um</strong> Erbprinz von Burma. Flavio<br />

Briatore startet hier nicht in <strong>der</strong> Pole Position.<br />

Aber er kämpft sich heran. Nach einem Glas Champagner steht er schon<br />

etwas ungelenk, das heißt aufdringlich, <strong>halb</strong> stehend und <strong>halb</strong> sitzend, am<br />

Tisch zweier all<strong>eins</strong>tehen<strong>der</strong> Damen - und bringt sie alle fünf Sekunden<br />

z<strong>um</strong> Lachen. Nicht schlecht. Sein Angstblick ist schon weg. Ich halte den<br />

Da<strong>um</strong>en hoch und mache ihm ein 'respect!'-Zeichen. Er sieht es nicht.<br />

Später setzt sich ein 'echter' Adliger dazu, mit goldenen Blazerknöpfen,<br />

roten Haaren und inzuchtbedingter Blässe, ein junger Mann noch, den<br />

seine Eltern wahrscheinlich hierhin abkommandiert haben wie früher ins<br />

Internat. Altersmäßig und vom Stand her paßt er besser zu den Damen.<br />

Aber Flavio gibt Gas. Die Damen sehen nur ihn. Er macht sie an diesem<br />

Abend glücklich. Der Windsor-Sprößling schmiert ab.<br />

14


Limousinen fahren vor, aber nie ein Mercedes mit Fahrer, immer nur Opel<br />

Zafira, Skóda Tristessa und so weiter. Das liegt wohl am Land. In<br />

Tschechien fährt man nur häßliche Autos. Sie passen zu den häßlichen<br />

Menschen draußen, die grundsätzlich im Jogging Anzug auf die Straße<br />

gehen. Schon im Fremdenführer wird man gewarnt, diese Proleten im<br />

Adidas-Outfit nicht zu unterschätzen. Die meisten seien Russen und so<br />

unermeßlich reich wie kriminell. Wenn das kein Gefahrenpotential für Graf<br />

<strong>Lottmann</strong> ist! Wenn mir die Hand ausrutscht ob des ungebührlichen<br />

Betragens eines Plebs, stecken gleich sieben Kugeln in <strong>der</strong> Lunge. Ich<br />

versuche aufzupassen und gehe in den Ballsaal zurück.<br />

Und jetzt hab' ichs: die Tanzschule! Diese seltsamen Institute, die es bis<br />

in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts gab, wo es ebenfalls<br />

diese elendig verunsicherten loserhaften Typen gab. Die Zeit war an ihnen<br />

vorbei gegangen. Je<strong>der</strong> spürte unbewußt den schleichenden Untergang<br />

ihrer Kultur, ihrer Art. Die Musik, die Sexiness spielte woan<strong>der</strong>s. Es war<br />

die Nachhut einer Gesellschaft; und wir wissen doch, daß <strong>der</strong> Spaß<br />

grundsätzlich immer ganz vorne im Zug ist, in <strong>der</strong> Avantgarde. Und sie<br />

schlichen übers Parkett und hatten Pickel. Sie sprachen sich hölzern und<br />

ahnungslos gegen Drogen aus und waren doch so unglücklich weil arm im<br />

Geiste, daß viele von ihnen schon vor <strong>der</strong> Zeit starben. War es jetzt<br />

wie<strong>der</strong> so?<br />

Z<strong>um</strong> Glück nicht ganz. Manchmal sicher. Aber dann kamen immer wie<strong>der</strong><br />

diese Momente, in denen alles paßte. Wenn die Lichter ausgehen, nur die<br />

Kerzen brennen, tausende von Lilien extrem betörenden Duft verströmen,<br />

und die Musik - also das echte Orchester - leise spielt, einen leichten<br />

Walzer vielleicht, und man von den Frauen nur die herrlichen Klei<strong>der</strong> und<br />

nicht die verkorksten Gesichter sieht, und alle schon milde und glücklich<br />

gestimmt sind von den raffinierten Getränken und dem teuren Essen, und<br />

einfach jedes Gespräch als liebenswürdig und keines mehr als<br />

grottenlangweilig empfunden wird, dann ist es die perfekte Illusion. O<strong>der</strong><br />

auch, ich wage es zu sagen, das Glück.<br />

Doch anstatt dabei selig zu bleiben, weiterzuschweben auf <strong>der</strong> Wolke, wird<br />

<strong>der</strong> schöne Schein regelmäßig nach nur wenigen Minuten brutal<br />

gebrochen. Das Orchester verst<strong>um</strong>mt - sind die alle so alt, daß sie nicht<br />

länger als zehn Minuten spielen können? - und vom Band kommt 'Feel'<br />

von Robbie Williams, und zwar in <strong>der</strong> weichgespülten Instr<strong>um</strong>entalfassung<br />

für Supermärkte amerikanischer Kl<strong>eins</strong>tädte. Vorbei ist es mit Habsburg,<br />

<strong>der</strong> Schlagergeschmack von Friseusen, Putzfrauen und Aldi-Angestellten<br />

tri<strong>um</strong>phiert. Und es gibt tatsächlich einen DJ, <strong>der</strong> dafür echtes Geld<br />

bekommt, daß er 'Let's get loud' o<strong>der</strong> 'It's raining men' auflegt, o<strong>der</strong> noch<br />

schlimmeres Zeug, etwa Mainstream-Soul aus den 70ern. O<strong>der</strong> Let's twist<br />

again von Cubby Checker. Wobei man sagen muß, daß letzteres schon<br />

wie<strong>der</strong> eine Leistung ist. Also ICH wäre nicht darauf gekommen, daß<br />

ausgerechnet dieses Gekrächze in die morschen Knochen <strong>der</strong> Adligen<br />

einfahren würde wie ein Blitz, wie die Fanfare z<strong>um</strong> letzten Balz-Gefecht.<br />

Man möchte dem DJ (junger Mann, Gel im Haar, Frack, Fliege) auf die<br />

Schulter tippen und sagen: "<strong>Mein</strong> Bester, Twist ist nicht mehr angesagt<br />

heute. ABBA haben sich getrennt. Soul ist auch nicht mehr das, was es<br />

15


noch vor 35 Jahren war. Wollen Exzellenz nicht einmal die Hitparade<br />

DIESES Jahrhun<strong>der</strong>ts berücksichtigen, wenn es schon kein Walzer sein<br />

darf?" Er würde kein Wort verstehen und einen dieser Robotersätze sagen,<br />

die an je<strong>der</strong> Ecke fallen: "Schaun'S, wir sahn net fixiert aufs Klassische,<br />

wir spuin aa mo<strong>der</strong>ne Sochn, wie Beatles und Bill Haley. Koane Vorurteile<br />

- für uns zählt nur die Qualität!" Ein schmieriges Lächeln, eine<br />

Verbeugung, und weiter gehts mit 'Angie'.<br />

Da braucht man natürlich eiserne Nerven. Nur ein beherzter Angriff auf<br />

die Königin des Abends kann mich zerstreuen. Ich habe mit Hilfe des<br />

Presse-Attachés und <strong>der</strong> offiziellen Gästeliste ihren Namen, ihre Stellung<br />

und ihre Begleiter recherchiert. Also die junge Geraldine Chaplin heißt in<br />

Wirklichkeit Edle Loredana von Carnap-Quernheimp, und die beiden<br />

ritterlichen Figuren links und rechts von ihr sind ihre Eltern. Schwer<br />

ausz<strong>um</strong>achen, wer Vater und wer Mutter ist. Beide haben ein Profil wie <strong>der</strong><br />

späte Mitterrand und leiten mindestens eine europäische Mittelmacht wie<br />

Frankreich. Ich stelle Loredana am Buffet, gehe 'erfreut' auf sie zu, den<br />

rechten Arm leicht erhoben. Auch sie zeigt sich erfreut, es kommt spontan<br />

z<strong>um</strong> Handkuß, und da mir nichts einfällt, sagt sie ganz natürlich:<br />

"Wie schön Sie wie<strong>der</strong>zusehen. Vor zwei Jahren war das, nicht wahr?"<br />

"Oh... ja ja, gewiß, gnädiges Fräulein... wir sahen uns flüchtig."<br />

"Ihr Name war..." Sie runzelt die schöne Stirn, was kurios aussieht, als<br />

würde Nofretete Falten bekommen können. Ich nehme Haltung an, neige<br />

den Oberkörper leicht vor.<br />

"Graf <strong>Lottmann</strong>."<br />

"Ach!"<br />

"Und gnädiges Fräulein ist wie<strong>der</strong> mit den lieben Eltern in Karlsbad, wie<br />

ich hörte?"<br />

Schnell kommen wir ins Gespräch. Als sie über eine Bemerkung von mir<br />

lacht, bekommen meine Worte Flügel. Ich erkenne mich selbst nicht<br />

wie<strong>der</strong>. Was immer ich sage: es scheint durch einen unsichtbaren<br />

Transformator elegant, geistreich und 'amüsant' zu werden. Loredana<br />

wirft den Kopf nach hinten und lacht. Und auch ich finde alles, was sie<br />

äußerst und wie sie es tut, hinreißend. Trotzdem schickt es sich nicht,<br />

diese erste Konversation in die Länge zu ziehen. Ich spüre das. Aber es ist<br />

so schön. Ich schaffe es nicht, mir diesen Ruck zu geben. Wir reden über<br />

NICHTS, aber es ist wie Engelsgeflüster. In dem Moment schnauft <strong>der</strong><br />

Fotograf mit seiner <strong>um</strong>fangreichen Fotoausrüstung heran, macht mir<br />

k<strong>um</strong>pelhaft irgendwelche Zeichen. Gleich wird er mich wie<strong>der</strong> ärgern und<br />

lautstark mit 'Na, Reporter <strong>Lottmann</strong>, schon fündig geworden, ha ha'<br />

ansprechen. Er ist so unsensibel. Und macht immer diese gestellten<br />

Grinsefotos. Dem muß ich zuvorkommen, indem ich mich fürs Erste von<br />

Loredana trenne: Ich verweise darauf, meine Tischdame nicht warten<br />

lassen zu wollen, nicke martialisch, mache kehrt.<br />

Später falte ich den Kollegen zusammen. Er solle mir nicht die Recherche<br />

ver<strong>der</strong>ben. Und nicht werlose, weil gestellte Fotos machen:<br />

"Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Die Leute dürfen nicht merken, daß sie<br />

fotografiert werden. Nehmen Sie einen Zoom. Einen 3000 ASA Film,<br />

keinen Blitz. Wir brauchen poetische, atmosphärische Bil<strong>der</strong>."<br />

16


"Jo, nocha nähmen da Herr dö Kamera doch gleich sölbst indde Hond."<br />

"Genau das werde ich tun, Paul, verdammter Halunke."<br />

Er machte weiter seine Knipsfotos, baute sich direkt vor die Leute auf und<br />

wartete, bis sie sich in Pose warfen. Und rief mir von weitem "Hallo Herr<br />

Kollege!" zu. Seit 20 Jahren fotografierte er die gekrönten Häupter<br />

Europas.<br />

Gegen Ende des ersten Abends hatte sich 'Flavio Briatore' zu Loredana<br />

vorgearbeitet. Er eroberte sie. Stundenlang standen sie zusammen und<br />

lachten. Und dann tanzten sie, und auch beim Tanzen redeten, flirteten,<br />

lachten sie und unterhielten sich im wahrsten Sinne des Wortes königlich.<br />

Ein Filou, dieser Typ. Knapp 30 Jahre älter als sie. Was wohl die<br />

Mitterrand-Eltern dazu sagten? Mit durchgedrücktem Kreuz stolzierten sie<br />

weg, wie Erpel.<br />

Der zweite Tag begann auf <strong>der</strong> Rennbahn. Wie<strong>der</strong> neues Outfit, neue<br />

Hüte, hellgrau für die Herren, explodierend bunt für die Damen. Der PR-<br />

Mensch macht mich mit einer Dame bekannt, die ganz beson<strong>der</strong>s 'auf <strong>der</strong><br />

Suche' sei. Ich bedanke mich, ich hatte ihn ja dar<strong>um</strong> gebeten. Die Frau<br />

entspricht genau dem Anfor<strong>der</strong>ungsprofil, das ich ihm beschrieben hatte:<br />

<strong>um</strong> die 40, schlank, kin<strong>der</strong>lieb, anlehnungsbedürftig. Und vor mir steht<br />

tatsächlich: Marisa Berenson aus 'Barry Lyndon', zwanzig Jahre nach<br />

ihrem tiefen Fall. Sie hatte sicher viel Pech gehabt im Leben, damals mit<br />

Mr. Lyndon, alias Ryan O'Neil. Ich verstehe das. Ich reiche ihr meinen<br />

Arm, wir gehen zu den Pferden, und <strong>der</strong> verschmitzte PR-Mensch, ein<br />

lustiger Nie<strong>der</strong>bayer ohne Titel, macht sich hän<strong>der</strong>eibend davon.<br />

"Leben Sie in einer Beziehung?" fragt mich die Unglückliche als erstes.<br />

Darauf bin ich so unvorbereitet, daß ich mich in geheimnisvolles<br />

Schweigen flüchte. In mir rasen die Gedanken. Was sagt man da?<br />

Schweigend gehen wir durch den Torf. Die Gesellschaft sieht prächtiger<br />

denn je aus. Ich sehe 'Flavio', und er steht mit seinem 'Schwiegervater'<br />

eng zusammen, <strong>der</strong> euphorisch auf ihn einredet. Loredana sehe ich nicht.<br />

Flavio wirkt weniger euphorisch als <strong>der</strong> alte Herr; er steht gebückt vor<br />

dem, also vor Mitterrand, und <strong>der</strong> sitzt und redet unaufhörlich. Da muß in<br />

<strong>der</strong> Nacht etwas geschehen sein.<br />

Nun überschlagen sich die Ereignisse. Ich komme richtig rein in den<br />

Laden, lerne in schneller Folge Dutzende von Blaublütlern gut kennen. Ein<br />

Wort gibt das an<strong>der</strong>e, ein Freund winkt den nächsten heran. Mrs. Lyndon<br />

wird in den nächsten Ballnächten meine Begleitung, aber eine Hand voll<br />

weiterer Bewerberinnen sind im Rennen. Loredana ignorierte Flavio auf<br />

<strong>der</strong> Rennbahn, begrüßte ihren Vater, den neben ihm gebückt<br />

Verharrenden keinesfalls. Daraufhin schnappte ich mir den Mann. Ich<br />

wollte wissen, was passiert war.<br />

Er gab mir seine Visitenkarte. <strong>Auf</strong> geschöpften Büttenpapier stand da<br />

etwas von Professor, Direktor, Doktor, und noch irgendwas<br />

Wohlklingendes, auch <strong>der</strong> Name klang wie ausgedacht, 'Burgherrenschloß'<br />

o<strong>der</strong> so, aber er war bürgerlich. Scheiße, dachte ich. Er erriet meinen<br />

Gedanken sofort:<br />

"Wilhelm Zwo hatte die Erhebungsurkunde schon auf dem Schreibtisch,<br />

als er abdankte."<br />

17


"Ja, d<strong>um</strong>m gelaufen."<br />

"Und selbst? Aus <strong>der</strong> baltischen Linie, Graf <strong>Lottmann</strong>?"<br />

"Ja! Woran haben Sie das erkannt, mein Lieber?"<br />

Er strahlte. Es tat ihm gut, daß ich ihn, den Bürger, 'mein Lieber' genannt<br />

hatte.<br />

Ich sprach ihn nun in pl<strong>um</strong>per Vertraulichkeit auf Loredana an. Ach, sie sei<br />

noch so jung, noch nicht einmal 30 wahrscheinlich, seufzte er ein bißchen<br />

verlogen. Sie ist 20 und genau das hat dir doch so gefallen, dachte ich<br />

gehässig. Wir blieben auf <strong>der</strong> verlogenen Ebene:<br />

"Ist es nicht traurig, eine so anmutige Frauensperson kennenzulernen,<br />

und dann womöglich doch alleine wie<strong>der</strong> zurückfahren zu müssen?" fragte<br />

ich mitfühlend. Ein kleines verdächtiges 'he he he' kam aus seinem<br />

schmächtigen Brustkorb, direkt über dem rotseidenen Halstuch, und dann<br />

trat er näher an mich heran und wurde wirklich ehrlich:<br />

"Am ersten Abend lernt man sich kennen. Am zweiten flirtet man. Am<br />

dritten streitet und trennt man sich. Und am vierten gibts den<br />

Heiratsantrag."<br />

"Aber Sie haben sich doch schon jetzt gestritten?"<br />

"Warten Sie's nur ab. Man exponiert sich nicht in Karlsbad. Vor allen<br />

Leuten. Man sammelt Visitenkarten. Je<strong>der</strong> fährt mit fünf, sechs<br />

Visitenkarten nach Hause, und dann, nach einer Schamfrist, baut man die<br />

Beziehung in aller Ruhe auf."<br />

Ich hatte verstanden. Flavio hatte sich am ersten Abend 'exponiert', und<br />

des<strong>halb</strong> mußte er jetzt kürzertreten. Er hatte vierzehn Kliniken in<br />

Süddeutschland und Osteuropa. Wenn er könnte, würde er wahrscheinlich<br />

wirklich gern mithelfen, das womöglich überschuldete Gut <strong>der</strong> von<br />

Carnap-Quernheimps zu retten. Aus Passion für schöne Dinge, für die<br />

Vergangenheit, für Werte an sich. Er war alt genug, <strong>um</strong> sich für sowas zu<br />

engagieren. Das Leben lag ja im Großen und Ganzen schon hinter ihm.<br />

Am zweiten Abend fand <strong>der</strong> Frühjahrsball statt, im legendären 'Grand<br />

Hotel Pupp', das seit 1701 Adlige von Welt aufnimmt. Ich hatte mich<br />

darauf verlegt, grundsätzlich jede Frau anzulächeln und möglichst schnell<br />

zur Sache zu kommen. War ich betrunken, konnte mir schon mal <strong>der</strong> Satz<br />

"Gnädigste, darf ich <strong>um</strong> Ihre Handyn<strong>um</strong>mer bitten?" rausrutschen. O<strong>der</strong>,<br />

und das war wohl <strong>der</strong> Gipfel an Trunkenheit:<br />

"Verehrteste, gnädigste Frau, ich beobachte Sie seit einer Viertelstunde.<br />

Ich möchte mit Ihnen leben!"<br />

Kicher, kicher. Comme amusant! Quel trefflich Witz... die Stimmung war<br />

eben danach. Sie schlug immer wie<strong>der</strong> in die eine und in die an<strong>der</strong>e<br />

Richtung. Mal strengste Intensität <strong>der</strong> Form, <strong>der</strong> Schönheit, <strong>der</strong> Gefühle,<br />

und dann doch wie<strong>der</strong> nur Mensa-Fete. Was das ist? Mensa-Feten gab es<br />

früher in <strong>der</strong> Uni, und sie waren <strong>der</strong> definitive Abgrund <strong>der</strong> menschlichen<br />

Möglichkeiten, und diese völlig unbefriedigten Studentinnen gingen da hin.<br />

Die dann wohl ganz am Ende mit dem Chilenen abzogen, solange hab ichs<br />

nie ausgehalten. Heute MUSS ich aushalten, ich werde dafür bezahlt.<br />

Und es ist ja auch viel schöner. In einem Seitenflügel singen fünfzig<br />

Herren plötzlich sudetendeutsche Lie<strong>der</strong>, erschreckend laut, überstimmen<br />

das Orchester. Der Kronprinz von Burma zieht mit Gefolge vorbei. Der<br />

18


späte Knut Hamsun alias Max von Kienling gibt eine imposante<br />

Erscheinung ab, sodaß bei seinem Anblick Leute unwillkürlich "Ah" und<br />

"Oh" sagen, wie im Hörspiel. Er wirkt so sensationell, weil er inmitten <strong>der</strong><br />

Frack-Gesellschaft im Räuberzivil gekommen ist, in einer alten<br />

Gartenjacke und einer rußgeschwärzten Streifenhose aus dem<br />

amerikanischen Sezessionskrieg. Er ist ein sogenanntes Original, und er<br />

ist von allerhöchstem Stand. Gäbe man ihm zwanzig Kartäschen und<br />

genügend Pferde, würde er noch in dieser Nacht die gottlosen<br />

Postkommunisten in Prag festsetzen lassen und die Macht den<br />

Habsburgern zurückgeben.<br />

Doch dann lande ich wie<strong>der</strong> an einem Tisch, an dem ein Kassenarzt mit<br />

Goldrandbrille darüber doziert, daß unter den 68ern die guten Sitten<br />

abhanden gekommen seien. Und seine 14jährige Tochter sagt<br />

pflichtgemäß, es sei gut, daß sie hier "die Sitten lernen" könne, denn<br />

woan<strong>der</strong>s gäbe es sie ja nicht mehr. "Welche Sitten?" frage ich, und sie<br />

sagt, naja, daß man keine Jeans anzieht.<br />

Sowas will man nicht wirklich länger als zehn Minuten ertragen, z<strong>um</strong>al die<br />

Mutter auch noch wie die ehemalige FDP-Generalsekretärin Pieper<br />

aussieht (was hier viele tun); also nächster Tisch, nächster Versuch.<br />

Endlich einer, <strong>der</strong> dem Klischee des Reaktionärs entspricht. Die Tschechin<br />

sei "beste Frau von Welt", mit <strong>der</strong> laufe immer was, und das liege an den<br />

'Heloten'-Männern <strong>der</strong> Tschechen. Mit denen sei nichts los. Karlsbad<br />

gehöre jetzt dem Russen, und das sei perfide, denn die hätten bei<br />

Kriegsende 260.000 Deutsche totgeschlagen. Der Weltkrieg sei ein Kampf<br />

<strong>der</strong> Kulturen gewesen, Abendland gegen Asien, und die Proleten hätten<br />

gewonnen. Und so weiter. Schließlich stürze ich mich geradezu auf<br />

Loredana.<br />

Die Wahrheit dieses Adelstreffens ist, daß wir dasselbe tun wie die 298<br />

an<strong>der</strong>en auch: Wir erzählen uns unsere Leben (vulgo: wir lernen uns<br />

kennen). Alle reden, und alle reden über sich. Zwar gibt es auch die Form<br />

des gepflegten Tischgesprächs, wo dann tatsächlich über die EU-<br />

Erweiterung o<strong>der</strong> die Pisa-Studie o<strong>der</strong> die Wirtschaft <strong>der</strong> Tiger-Staaten<br />

konversiert wird. Aber das ist die Ausnahme. Und so erzählt mir die<br />

Königin <strong>der</strong> Nacht alles über ihr ungeliebtes Studi<strong>um</strong>, ihre beruflichen<br />

Trä<strong>um</strong>e als Kind, die drei großen Lieben, die sie gehabt habe, die<br />

unmenschlichen Eingriffe des Mitterrrand-Vaters in ihr Leben in <strong>der</strong><br />

Teenagerphase, die Bücher, die Vorlieben, die Zukunftsvorstellungen. Im<br />

Vergleich dazu berichtet die angediente 40jährige Heiratswillige von ihrem<br />

mittelständischen Betrieb (Großgärtnerei), ihrer Scheidung, ihren drei<br />

Kin<strong>der</strong>n, ihren Erziehungsprinzipien, ihrem Mann, einem Bankrotteur<br />

(lei<strong>der</strong>). Eigentlich habe ich keine Lust, erst die ganzen Visitenkarten<br />

einzusammeln. Es soll schneller gehen. Madame hat ein Zimmer im 'Pupp',<br />

ganz prachtvoll und herrlich, aber mit einer Freundin zusammen. Vom<br />

Ballsaal z<strong>um</strong> Zimmer sind es nur ein paar Schritte, und wir köpfen bei<br />

offenem Fenster und lauer Frühlingsnacht eine Flasche Champagner.<br />

Mitternacht ist gerade gekommen, in <strong>der</strong> Nacht z<strong>um</strong> 1. Mai, und ich habe<br />

für diesen Moment extra ein paar Zeilen auswendig gelernt, die ich nun<br />

mit samtener Stimme murmele:<br />

19


"Im wun<strong>der</strong>schönen Monat Mai,<br />

Als alle Knospen sprangen,<br />

Da ist in meinem Herzen,<br />

Die Liebe aufgegangen."<br />

Wir kommen nicht weit, weil die Freundin ebenfalls mit einem Galan in<br />

den Rokoko-Ra<strong>um</strong> poltert. Wir waren noch beim ersten Glas. Ich hätte es<br />

auch zu viert ausgehalten, aber die Leute waren pikiert o<strong>der</strong> so. Eben<br />

enttäuscht, daß sie nicht allein waren. Also ging ich wie<strong>der</strong>, z<strong>um</strong>al mir die<br />

Biographie Loredanas ungefähr dreißigmal besser gefallen hatte als die<br />

<strong>der</strong> bankrotten Bl<strong>um</strong>enfrau. So ist das eben. Man vergleicht. Je<strong>der</strong> zeigt<br />

seine Waren in Karlsbad, und je<strong>der</strong> kann kaufen o<strong>der</strong> weitergehen. Alles<br />

ganz menschlich. We're livin' in a free world, yeah! Gegen die Börse sagt<br />

ja auch keiner ein Wort, und zwar zu recht.<br />

Dann lerne ich Katharina Wosch kennen. Sie behauptet, nur z<strong>um</strong> Spaß da<br />

zu sein. Ihre Schwester habe hier jemanden gefunden und geheiratet.<br />

Aber sie, Katharina, denke nicht daran. Ihr gehe es <strong>um</strong>, ja, wie gesagt,<br />

<strong>um</strong> 'Spaß'.<br />

"Welchen 'Spaß' denn?"<br />

Na, Spaß eben. Sie ist geschätzte 39,9 Jahre alt und all<strong>eins</strong>tehend. Sie<br />

steht <strong>eins</strong>am am Gelän<strong>der</strong>, guckt nichtssagend ins Nichts. Ich glaube ihr<br />

kein Wort.<br />

"Nehmen Sie das hier nicht auf die leichte Schulter", sage ich warnend<br />

und gehe weiter. Das Fest hat Millionen gekostet. Da kann man nicht so<br />

ignorant sein.<br />

Der dritte Abend ist ein Kostümball. Ich gehe als 'Danton'. Lei<strong>der</strong> sehe ich<br />

eher wie <strong>der</strong> selige Franz-Josef Strauß unmittelbar vor seinem Jagdunfall<br />

aus. Das Kostüm und die weiße bauschige Perücke machen mich feist,<br />

böse und undemokratisch. Und immer noch ist <strong>der</strong> Fotograf in <strong>der</strong> Nähe,<br />

<strong>der</strong> mich mit 'Herr Kollege' anredet und alle Camouflage sinnlos macht. Er<br />

knipst weiter ungerührt seine grellen, farbverzerrenden Blitzbil<strong>der</strong> aus<br />

nächster Nähe:<br />

"Ja! Baby, zeig's mir! Ja! Sehr gut! Lächeln! Cheeese!"<br />

Ich nehme ihn beiseite:<br />

"Paul, kommen Sie mal. Sehen Sie die Leute da, die sich gerade<br />

gegenseitig mit ihren IXUS-40-Kameras ablichten? Das sind genau die<br />

Fotos, die <strong>der</strong> Spiegel NICHT drucken wird."<br />

"Hörn'S, Herr Graf! I hob letzte Woche die Königin Sylvia von Schweden<br />

fotographiert. Wollen Sie mir allen Eanstes sogn, wie i orbeiten muaß?!"<br />

Ich kapitulierte.<br />

"Aber, bittschön, Paul, sagen'S wenigstens net immer 'Herr Kollege' zu<br />

mir. Vor allem, wenn i mit dem gnädigen Fräulein beisammen steh, <strong>der</strong><br />

Loredana, Sie wissen schon..."<br />

Loredana ging nämlich als 'Mozarts Muse' und sah bezaubernd aus. Sie<br />

gestand mir nun, daß sie Goethe im Original gelesen habe und sogar<br />

selber eine A<strong>der</strong> z<strong>um</strong> Schreiben habe. Ja, ein ganzes Buch habe sie<br />

verfaßt, und sogar veröffentlicht. Einen Roman.<br />

"Wo ist das Werk denn erschienen?" fragte ich höflich. Sie nannte den<br />

größten deutschen Verlag.<br />

20


"Wissen Ihre lieben Eltern schon davon?"<br />

Oh ja, natürlich. Der alte Freiherr hatte getobt, aber sie hatte ihm<br />

versprochen, daß es nur ein Steckenpferd sei und bleibe. Ich interessierte<br />

mich für das Buch, dessen Titel ich schon einmal gehört hatte, o<strong>der</strong> so<br />

ähnlich. Hatte Francoise Sagan nicht solche Romane geschrieben, 'Traurig<br />

im Regen'? 'Leichtes Herz im Juni'? 'Gripsholm, melancholisch'? Loredana<br />

sagte, im 'Pupp' gebe es neben dem Billiard Room einen Internet-<br />

Anschluß, und da könnten wir ihren Bestseller abrufen, <strong>der</strong> auszugsweise<br />

auf ihrer Website stehe. Ich wollte zustimmen, aber Paul kam dazwischen.<br />

Er haßte mich.<br />

"Aber Hallo, <strong>der</strong> Herr Kollege!"<br />

Ich erklärte Loredana die Situation: dies sei mein Diener Paul, <strong>der</strong> sich<br />

nebenher noch ein Taschengeld dazu verdiene, indem er anspruchslose<br />

Fotos für ein Hamburger Nachrichtenmagazin herstelle. Ich scheuchte ihn<br />

weg. Aber wir blieben im 'Kaiserbad', in dem ohne Vorwarnung deutsche<br />

Kunstlie<strong>der</strong> von Schubert, Sch<strong>um</strong>ann und auch Mozart z<strong>um</strong> besten<br />

gegeben wurden.<br />

Der Ra<strong>um</strong> war ideal dafür. Wun<strong>der</strong>bar unrenoviert, aus den tiefsten Tiefen<br />

des vorvorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts, dunkelbraun gebeiztes Holz, <strong>der</strong> schiere<br />

Wilhelminismus ohne jeden Neuanstrich seit 1875. Die Adligen standen<br />

alle da und taten andächtig. Wahrscheinlich war es immer schon so<br />

gewesen. Auch vor 100 Jahren haben diese ekligen deutschen Kunstlie<strong>der</strong><br />

niemandem gefallen, diese falschen Opernstimmen, bei denen man kein<br />

Wort versteht, und alle haben 'andächtig' dagestanden und so getan, als<br />

wäre es was. Und haben 'Kultur' dazu gesagt, als Entschuldigung.<br />

Die vielen weißen Perücken stehen vor allem den jungen Frauen gut.<br />

Später wird ein Singspiel von Mozart aufgeführt, und dabei passiert etwas<br />

Wahnsinniges, bei dem dieses ganze Adelstreffen implodiert. Denn<br />

draußen im Garten startet plötzlich ein ohrenbetäubendes Feuerwerk.<br />

Jemand hat die Zeit wohl verwechselt. Das Mozart-Singspiel wird aber<br />

fortgesetzt. So hat man Zauberflöte und Feuerwerk gleichzeitig, quasi im<br />

selben Ra<strong>um</strong>, und die Folge ist, daß die Adligen, einem fehlgeleiteten<br />

Pavlow'schen Reflex folgend, alle gleichzeitig auf ihre Digitalcameras<br />

drücken und knipsen, knipsen, ohne Ende knipsen. Auch Paul rennt wie<br />

L<strong>um</strong>pi im Kreis her<strong>um</strong> und knipst und knipst, während es kracht, als<br />

würden die Bomben <strong>eins</strong>chlagen, und es jodelt, als wäre <strong>der</strong> Klassik-Kanal<br />

zu Stuhle gekommen und verrückt geworden.<br />

Wo bin ich? Was ist die Situation? Bin ich gaga, o<strong>der</strong> sinds die an<strong>der</strong>en?<br />

Ich renne nach draußen ins nächste Taxi. Aber was ist das auch für ein<br />

Land, in dem in allen Taxis Tag und Nacht 'Were are the Champions' von<br />

Queen gespielt wird? Was kann man da an<strong>der</strong>es verlangen?<br />

Am vierten Tag habe ich keinen Heiratsantrag gemacht. Ich habe mich<br />

vorzeitig von Paul z<strong>um</strong> Flughafen fahren lassen. Er wollte meine<br />

Visitenkarten sehen. Ich zeigte sie ihm. Neun Stück.<br />

"Reschpeckt, Herr Graf!"<br />

"Und selbst, Paul?"<br />

Er haut mir ein ganzes Kartenpaket in die Hand, wie einen Satz kleiner<br />

Spielkarten.<br />

21


"Aber Paul, da werden Sie ja bald zu uns gehören!"<br />

"Da sehn'S amal, wos Sie von einem kleinen Photographen noch lernen<br />

können."<br />

Ich ließ ihn in dem Glauben. Loredanas E-Mail-Adresse bekam er nicht zu<br />

sehen. Die hatte ich mir so gemerkt.<br />

IM PORTRÄT: FRAUEN IN FREIHEIT<br />

4. MIT KERSTIN GRETHER IN DER KASTANIENALLEE<br />

Wir drehen uns nach oben, z<strong>um</strong> Balkon, wo die Pet Shop Boys dröhnen.<br />

"Da! Unsere Party. Eben waren wir noch drin."<br />

Unfaßbar, daß man sich eben noch diesem Lärmbrei ausgesetzt hat. Jetzt<br />

wölbt sich ein dichter, stiller Romantikhimmel über das sommerliche,<br />

nächtliche Berlin, über den Park und die Kastanienallee. Ein Uhr dreißig -<br />

Zeit für einen Spaziergang. Neben mir: Kerstin Grether, 27, blond,<br />

Knabenfigur, Autorin des neuen Kultbuches über Magersucht und Pop-<br />

Lifestyle-Feminismus "Zuckerbabies".<br />

"Ich muß <strong>um</strong> <strong>halb</strong> elf Uhr morgens aufstehen, was sehr früh für mich<br />

ist..." Sie macht jetzt nämlich jeden Tag diese MTV-Sendung, des<strong>halb</strong>.<br />

Aber sie freut sich, mal am frühen Morgen all die an<strong>der</strong>en Menschen<br />

mitzubekommen, die normalen, die zur Arbeit müssen wie sie. Sehr<br />

aufregend. Kerstin Grether wohnt in dieser Straße, <strong>der</strong> Kastanienallee, die<br />

sie Castingallee nennt.<br />

"Das ist allgemein <strong>der</strong> Spitzname hier. Castingallee. Das finde ich gut, weil<br />

mein Roman doch auch vom Casting-Unwesen handelt."<br />

Sie fragt, von was "Deutsche Einheit", ein alter Roman von mir, handelt,<br />

und ich sage, vom Unwesen <strong>der</strong> Subventionsliteratur. Sie sieht mich<br />

durchdringend an.<br />

"Ja, ich habe noch NIE einen Preis bekommen. An<strong>der</strong>e wie Juli Zeh werden<br />

mit För<strong>der</strong>mitteln überschüttet."<br />

Kerstin murkst sich auch keine kunsthandwerklichen Fleißarbeiten ab,<br />

son<strong>der</strong>n beschreibt die Welt, in <strong>der</strong> wir leben, und das ist die Pop-Welt.<br />

Dafür gibts nur Hiebe. Das hat natürlich auch eine schöne Tradition und ist<br />

seit 20 Jahren so. Schon erstaunlich, wie es eine doch so wichtige<br />

Richtung wie die Popliteratur geschafft hat, bis z<strong>um</strong> heutigen Tage<br />

verfemt zu bleiben. Wir laufen an fünf neuen Internetcafés vorbei, alle<br />

offen. Die Kastanienallee wirkt wie geflutet von Leuten, und alle sehen<br />

jung aus, auch wenn sie es nicht sind. In die Stadt strömen jeden Monat<br />

zehntausend neue, lebenshungrige Menschen, getrieben einzig von dem<br />

Verlangen, sich nicht länger zu langweilen in einem Land, in dem einzig<br />

über Rente, Steuersatz und Hartz IV gestritten wird anstatt über große<br />

Utopien, Liebe, das Geschehen auf dem Planeten Erde...<br />

"Die Journalisten können noch so oft schreiben, <strong>der</strong> Berlin Hype sei vorbei<br />

- gegen diese Menschenmassen kommen sie nicht an. Sie sind die wahre<br />

Realität."<br />

22


Berlins geistiges Potential wächst immer noch, die Provinz stirbt weiter ab.<br />

Heißt: Die Popliteratur ist nicht totzukriegen, auch wenn in Klagenfurt ein<br />

weltfrem<strong>der</strong> Ossi mit einem Dresdenroman aus dem vorletzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t mit Geld und Preisen überschüttet wird. Der Mann wird weiter<br />

in seinem Keller schreiben, 13 Stunden am Tag, und das Essen von seiner<br />

Frau hinabgereicht bekommen. Aber Kerstin Grether lebt! Wolfgang<br />

Herrndorf lebt! Hier in <strong>der</strong> Kastanienallee, in <strong>der</strong> schon Nina Hagen<br />

aufwuchs. Wir sind das Volk!<br />

Wir kommen am Café Kani Mani vorbei. Hier hat Grether, <strong>eins</strong>t<br />

Wun<strong>der</strong>kind bei "SPEX", die Band Wir sind Helden interviewt, besser<br />

gesagt, <strong>der</strong>en Sängerin und Songschreiberin Judith Holofernes.<br />

"Schau, hier hat sie gesessen! Hat ein Eis geschlotzt. Und da habe ich<br />

gesessen."<br />

"Hast Du über die Jungs auch geschrieben?"<br />

"Kein Wort. Die Band ist Judith. Die Presse sieht das natürlich immer<br />

<strong>um</strong>gekehrt: die Jungs sind das ernste Fundament, das Girl nur <strong>der</strong><br />

Blickfang."<br />

Kerstin schrieb schon mit 13 für Fanzines, mit 15 dann für SPEX. Relativ<br />

früh setzte sie sich von dem altehrwürdigen, jungsgesteuerten<br />

Avantgardeblatt wie<strong>der</strong> ab, jedenfalls ein bißchen:<br />

"Diese bebrillten Nerds mit ihren Plattensammlungen. Für die ist<br />

Popliteratur, wenn jemand über seine Plattensammlung und seine Jugend<br />

aus den 80er Jahren schreibt. So Sätze, daß einer schon mit 17 Throbbing<br />

Grizzle gehört hat und seine Freundin das gar nicht verstanden hat."<br />

Dabei hat sie selbst 4000 Platten gesammelt. Aber sie schreibt nicht<br />

darüber, keine Angst. Ihre These ist folgende: Die männliche Sozialisation<br />

z<strong>um</strong> Pop geht über die Plattensammlung, die weibliche über die<br />

Magersucht. Sie kann das wortreich erklären. Jedes Mädchen in <strong>der</strong><br />

westlichen Welt, das den popkulturellen Zeichensystemen ausgesetzt ist<br />

(also alle), muß auf diese Schönheitsgebote irgendwie reagieren. We<strong>der</strong><br />

ist ´Zuckerbabys´ ein Roman gegen den Schönheitwahn, noch gar für ihn,<br />

son<strong>der</strong>n ganz realistisch über ihn. Genauer gesagt: über den<br />

fortgeschrittenen Medienkapitalismus, <strong>der</strong> bei ihr <strong>der</strong> Einfachheit <strong>halb</strong>er<br />

schlicht Jugendkultur heißt...<br />

Natürlich hat Kerstin auch eine Band. Sie muß oft über die<br />

Wechselwirkung von Musikmachen und Romanschreiben extemporieren.<br />

Das interessiert mich aber nicht. Was soll das sein, eine Band zu haben?<br />

Mit 27? Einen Satz kriegt sie dennoch unter:<br />

"In Hamburg ist das Paarbeziehungsmodell ein ganz an<strong>der</strong>es. Dort stehen<br />

die Jungs auf <strong>der</strong> Bühne, und die Mädchen sind Groupies. Da bin ich lieber<br />

nach Berlin gegangen!"<br />

Klar. Die Hamburger Jungs sind ja nun auch schon alle über 40, da wächst<br />

nichts mehr nach. Was ist denn nun mit dem Diät-Ding?<br />

"Durch dieses ewige Hungern wird den Frauen systematisch Energie<br />

geraubt."<br />

Ist sie denn selbst magersüchtig?<br />

"Nie gewesen. Nicht, als ich das Buch schrieb. Das habe ich ja immer<br />

abgelehnt. Ich war vielleicht eher <strong>der</strong> fette Typ. Schließlich war ich ja<br />

23


echt politisch, und es machte mir nicht mal viel aus, wenn sie mich im<br />

Haus Specki nannten. Nein, erst jetzt bin ich es."<br />

"Was?"<br />

"Ja, das war eine Reaktion darauf. Ich wollte nicht immer dasselbe sagen<br />

und tun."<br />

"Wie ist es denn so, als Magersüchtige?"<br />

"Lies das Buch."<br />

Sie strubbelt ihre Debbie-Harry-Haare zurecht. Sie hat sie extra mit Seife<br />

gewaschen, weil sie dann besser strubbeln. <strong>Auf</strong> dem Tisch liegt das neue<br />

"I-D" mit einer langen Fotostrecke über die neue Insi<strong>der</strong>-Autorin Kerstin<br />

Grether. Man kann sie jetzt perfekt fotografieren. Im Heft davor war<br />

Stuckrad-Barre dran.<br />

"Ich mag Stuckrad. Er hat für sich diesen kultur-industriellen Rahmen<br />

gewählt, das finde ich gut."<br />

"Genau. Er forscht für uns in diesen Bereichen, in die nicht je<strong>der</strong> rein<br />

kann. Sehr verdienstvoll."<br />

"Ein Michael Moore im Mediens<strong>um</strong>pf."<br />

"Des<strong>halb</strong> hassen ihn die Medien."<br />

"Logo. Alles Schweine da."<br />

"Halt! Journalisten sind eigentlich tolle Menschen. Was die alles machen,<br />

ehe sie einen Künstler interviewen. Wie die sich interessieren für einen.<br />

Und <strong>der</strong> Künstler ist dann meistens ignorant und arrogant!"<br />

Oft hat sie unbekannten Bands mit ihren genialischen Berichten den Weg<br />

geebnet, z<strong>um</strong> Beispiel Tocotronic, die sie zur Platte des Monats machte:<br />

"Danach konnten die überall spielen. Ich selbst habe für meinen Artikel 10<br />

Mark bekommen."<br />

Fünf Euro. Nicht viel, wenn die Leute sich dann auch noch beim<br />

Chefredakteur beschweren, weil Kerstin einen Interviewsatz gekürzt hat.<br />

Gerade bei Newcomern passiert es oft, daß sie Journalisten von oben<br />

herab behandeln. Bei jedem eigenen Satz des Schreibenden wittern sie<br />

Manipulation. Denn: Journalisten stehen in <strong>der</strong> sozialen Rangordnung ganz<br />

unten, bei den Politikern.<br />

"Da fragt man sich unwillkürlich, ob nicht auch Politiker ganz nette<br />

Menschen sind."<br />

"Hey! Gestern sah ich Renate Schmidt im Fernsehen, wie sie sagte: ´Was<br />

haben Sie immer gegen die Politiker? Die sind doch die einzigen, die sich<br />

den ganzen Tag mit den Kleinen Leuten beschäftigen´."<br />

"Ich verstehe, daß sie alle Alkoholiker werden."<br />

"Die Politiker?"<br />

"Die Journalisten."<br />

Wir passieren ein paar Teenie-Boutiquen. Kerstin kauft da gern ein. Sie<br />

lebt zwar seit ihrem 13. Lebensjahr in <strong>der</strong> (wirtschaftlichen) Krise, wie sie<br />

gerade im Kursbuch schrieb, shoppt aber trotzdem gern.<br />

"Teenie-Boutiquen sind einfach billiger. Wenn man den Körper dazu hat,<br />

wenn man das Gesicht dazu hat - war<strong>um</strong> nicht."<br />

Sie sagt aber auch den bedenklichen Satz:<br />

"Nachdem ich den Distinktionsterror 300 Seiten lang gebrandmarkt habe,<br />

übe ich einen noch schlimmeren Schönheitsterror aus als an<strong>der</strong>e..."<br />

24


Alles, was sie im Buch anprangerte, macht sie nun selber: das ist die<br />

Dialektik <strong>der</strong> <strong>Auf</strong>klärung, wie Adorno sie wohl übersehen hat. Pop-<br />

Literatur war ihre Art zu leben, zu denken und zu fühlen: "Ich wollte<br />

einfach die populäre Kultur beschreiben, die uns alle <strong>um</strong>gibt."<br />

Doch auf einmal findet sie sich stundenweise in einem besinnungslosen<br />

Kons<strong>um</strong>ismus wie<strong>der</strong>. Seit wann genau? Als <strong>der</strong> Verlag nach wenigen<br />

Tagen meldete, die erste <strong>Auf</strong>lage sei verkauft. Laut grölend schlägt sie<br />

Einkaufsschneisen in die westdeutschen Innenstädte. Dabei besteht sie<br />

darauf, daß Pop nicht bunt und schrill sei, son<strong>der</strong>n ernst und politisch.<br />

Wir kommen an <strong>der</strong> Teenieboutique ´crème fraiche´ vorbei. Kerstin zeigt<br />

auf einen Pucca-Rucksack, den sie gerne hätte. Es folgt das Café Naan, in<br />

dem sie mit ihrer Schwestern manchmal Kaffee trinkt. Im Pop-Kaufhaus<br />

´Uranus´ liegt ein hellblauer Blechwecker im Schaufenster, den sie sich<br />

holen wird, nach <strong>der</strong> dritten <strong>Auf</strong>lage von ´Zuckerbabies´. Am Ende<br />

unseres Spazierganges erreichen wir das legendäre John Lennon<br />

Gymnasi<strong>um</strong>.<br />

"Wie gern wäre ich auf dieses Gymnasi<strong>um</strong> gegangen! All die Graffittis...<br />

die Schüler durften selbst bestimmen, wie die Schule heißt!"<br />

"Ist die Jugend von heute denn jetzt wie<strong>der</strong> politisiert?"<br />

"Ja. Definitiv."<br />

Sie reicht die Wange z<strong>um</strong> Kuß. Kerstin Grether wohnt im Gymnasi<strong>um</strong>, in<br />

einem leerstehenden Nebentrakt. Sie tänzelt weg, leichtfüßig,<br />

mädchenhaft, magersüchtig, wird schnell verschluckt vom Dunkel des<br />

Schulhofes. Möge ihr Roman noch viele <strong>Auf</strong>lagen erleben!<br />

5. Mit NINA HAGEN im BKA-Zelt<br />

Draußen dieses blaue Zelt, je<strong>der</strong> kennt es, man fährt dran vorbei, auf dem<br />

Schloßplatz, dieses seltsame Gebilde aus Kin<strong>der</strong>lampen und blauem Neon:<br />

das BKA-Zelt. "Wir alten Hippies sind immer noch da, neben Gerhard<br />

Schrö<strong>der</strong>s Schreibtisch", sagt Nina Hagen dazu. Es ist ihr erster Satz an<br />

diesem Abend, beiläufig, fahrig, lustlos. Stimmt: <strong>der</strong> Kanzler arbeitet nur<br />

einen Pflastersteinwurf entfernt und soll, laut Nina, Kontakte mit ihr<br />

pflegen. Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf: Mißgestimmt und bockig<br />

absolviert sie die ersten N<strong>um</strong>mern, produziert Fehler über Fehler, trifft<br />

den Ton nicht, ärgert sich über das Publik<strong>um</strong>, das sich nicht provozieren<br />

läßt. Unbändiger Jähzorn packt sie. Minutenlang bricht sie ab, dann ist sie<br />

wie<strong>der</strong> lieb und säuselt, dann brüllt sie ohne Kontrolle wie ein BSEverseuchter<br />

Nachwuchs-Hitler. Die armen Leute denken betrübt: da<br />

schüttelt sich des Wahnsinns fette Beute. An<strong>der</strong>erseits war sie nie an<strong>der</strong>s.<br />

Ein Pflegefall. Nina-Hagen-Fans sind es aus einem Helfersyndrom heraus.<br />

Sie wissen: sie müssen ihr helfen, das durchzustehen, da auf <strong>der</strong> Bühne.<br />

Vor allem in dem Alter, da muß man schon ein bißchen aufpassen, denken<br />

die. Und spüren gleichzeitig, daß sie diese Furie im Ernstfall niemals<br />

stoppen könnten. Daß sie selbst in ihren besten, präsentesten Momenten<br />

nur fünf Prozent gibt; 95 Prozent lauern in <strong>der</strong> Reserve: böse, anarchisch,<br />

balla-balla. Was ist <strong>der</strong> Störfall von Tschernobyl gegen ein cholerisches<br />

25


Liebeslied <strong>der</strong> Hagen? Nichts! Deswegen die vielen Sicherheitskräfte. Das<br />

ganze Zelt ein Krankenhaus. Viele hun<strong>der</strong>t Ärzte und ein Patient. Aber die<br />

Lämmer schweigen alle, selten nur regt sich eine Hand z<strong>um</strong> Beifall,<br />

war<strong>um</strong>? Als externer Gast hat man das leicht peinliche Gefühl, einer doch<br />

recht intimen Party heruntergekommener enger Spinnerfreunde<br />

beizuwohnen. Wie die Bundeshauptversammlung <strong>der</strong><br />

Briefmarkensammler, da wird doch auch mehr geklatscht. Aber Nina-<br />

Hagen-Fans sind stille, st<strong>um</strong>me Wesen, altgewordene Ossis, vom Leben<br />

Besiegte. Natürlich nicht nur. Es sind auch Leute versteckt im alten<br />

Kin<strong>der</strong>-Zirkus-Zelt, wenige nur, die wissen: hier erleben sie die größte<br />

Rocksängerin, die Deutschland nach dem Krieg hatte, vielleicht sogar die<br />

einzige. Die größte Zerstörerin, eine echte Künstlerin. Leichtfüßig<br />

explodierend macht sie das gesamte Spektr<strong>um</strong> alternativer Kultur nie<strong>der</strong>:<br />

subkulturell Versprengte aus drei Dekaden, frauenbewegte Linke,<br />

Sexualkämpfer jeglicher Schattierung, Transen, Glatzenfrauen, Esoteriker,<br />

Ost-Nostalgiker, Kin<strong>der</strong>selige, Hippies, Radikalökos, Indienfahrer,<br />

Altrocker, Verschwörungstheoretiker, UFO-Gläubige, AIDS-Theoretiker<br />

und Zeugen von Sebnitz - nur Nina Hagen selbst ragt aus allem hervor<br />

wie Jesus mit <strong>der</strong> Peitsche im Tempel, <strong>der</strong> die Geldwechsler vertreibt. Sie<br />

ist <strong>der</strong> permanente Gegenimpuls zu allem, was sie präsentiert. Sie bedient<br />

die Min<strong>der</strong>heiten - und verbrennt sie genüßlich. Sie säuselt mit verdrehter<br />

Piepsstimme irgendwelche Indienkitsch-Weisheiten und schmeichelt damit<br />

den im Publik<strong>um</strong> ausharrenden Esoterikern, aber die wissen bald nicht<br />

mehr, ob sie Männlein o<strong>der</strong> Weiblein ist. Dann wie<strong>der</strong> "fetzt" die Band,<br />

und die Puhdys- und Peter-Maffay-Fans beginnen mit den grauen Matten<br />

zu wippen, doch selbst dieses wi<strong>der</strong>liche Fetzen wird von Nina schon nach<br />

sechzig Sekunden durch ausbrechende Zerstörungswut, durch<br />

Grimassieren, Übertreiben, anarchisches Grölen z<strong>um</strong> Einsturz gebracht. Es<br />

ist, als schriee sie gegen die D<strong>um</strong>mheit an, und wenn Nina schreit,<br />

schweigt bald <strong>der</strong> Rest. Und die Band, eben noch "echt tierisch geile<br />

Rock'n'Roller", stehen als Mainstream-Schweinerock-Langweiler da, die<br />

auch für Udo Jürgens 'fetzige' Stimmung machen würden. Zur Strafe<br />

müssen sie nun Zarah-Lean<strong>der</strong>-Lie<strong>der</strong> spielen, erst süßlich (Freude bei <strong>der</strong><br />

Lesbenfraktion), dann als Stuka-Angriff. Ein Hurrican tobt hernie<strong>der</strong>,<br />

graue Panther fallen in Ohnmacht. "Der Wind hat mir ein Lied erzählt",<br />

wer ahnt schon, daß Stalingrad daraus wird. An<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> ewige Casdorf<br />

bricht sie auch das nach Belieben und schlechter Laune wie<strong>der</strong> ab; über<br />

den deutschen Kulturscharmützeln steht eine, die selbst Englisch besser<br />

singt als Jennifer Lopez und besser kompiliert als Frank Zappa, weit<br />

drüber. Da wird auch sekundenweise Sabrina Setlur abgehängt, die arme<br />

doofe Maus. Wehe, wenn Nina Hagen rappt, das tat sie nämlich schon, als<br />

das Frankfurter p.c.-Äffchen noch die Brust bekam, da wird dann alles<br />

nochmal eine Dimension gewalttätiger, kraftvoller, härter, potenter -<br />

anschließend ist <strong>der</strong> aktuelle deutsche Hiphop als folgenlose<br />

Gesinnungssingerei enttarnt.<br />

Man hat in je<strong>der</strong> Sekunde das Gefühl, daß sie nicht weiß, was sie im<br />

nächsten Moment sagen wird. Was sie sich gleich einfallen läßt. Welche<br />

Laune sie gleich reiten wird. Und immer wie<strong>der</strong> wird Berlin thematisiert,<br />

26


Schrö<strong>der</strong>s herrliche neue Hauptstadt. Und sie ist immer am besten, wenn<br />

sie Großdeutsches intoniert. Wenn sie eine Hitlerrede imitiert, kriegte<br />

selbst <strong>der</strong> Führer Angst. O<strong>der</strong> wenn sie von Honecker erzählt. O<strong>der</strong> von<br />

Menschenliebe, Tantra, den Pyramiden, den UFOS, <strong>der</strong> ewigen Sonne in<br />

idischen Tempeln: alles bullshit, unterm Strich. Subkultureller Brei z<strong>um</strong><br />

Gehirnverkleben. Die ständigen "Ich liebe Euch alle!"-Appelle ans<br />

Publik<strong>um</strong> haben soviel Gewicht wie dieselben von Yoko Ono <strong>der</strong><strong>eins</strong>t. Sie<br />

hat nicht das geringste Lampenfieber, würde auch ohne Skrupel auf <strong>der</strong><br />

Bühne zwei Stunden lang den SPIEGEL lesen können, so egal ist ihr das<br />

Publik<strong>um</strong>, und die Presse erst recht. Sie ist nunmal keine Dienstleisterin,<br />

son<strong>der</strong>n hat etwas zu sagen. Aber nicht diesen Idioten hier.<br />

Tja, so paradox kanns zugehen. Das Leben ist es sowieso, und bei großen<br />

Künstlern spielen die Paradoxien dann oft ganz verrückt. War<strong>um</strong> es nicht<br />

zugeben? War<strong>um</strong> nicht gleich mit <strong>der</strong> Stimme einer Dreijährigen plappern?<br />

Nina ist so frei. Mitten in <strong>der</strong> Show wirft sie dann noch ein ambitioniertes<br />

Benefizprojekt an: 'Kin<strong>der</strong> zurück'. Da soll man spenden, kann<br />

Gegenstände ersteigern, es geht <strong>um</strong> einen 'guten' Zweck, und wem dabei<br />

nicht schlecht wird, dem ist die ganze Spenden- und Charityverlogenheit<br />

<strong>der</strong> enthirnten Warengesellschaft noch nicht aufgegangen. Für die ganz<br />

Langsamen quakt Nina, nun Daisy Duck im Zeichentrickfilm, die<br />

Spendenaufrufe gleich mehrmals: für die von Schän<strong>der</strong>n entführten<br />

Kin<strong>der</strong>, damit sie nicht mehr von Nazis im Freibad ertränkt werden, o<strong>der</strong><br />

so ähnlich. Das Ganze wäre Comedy, wenn es nicht Nina Hagen wäre.<br />

Aber so ist es Schlingensief, <strong>der</strong> in seinem zweiten Leben als Andreas<br />

Baa<strong>der</strong> auf die Welt kommt, o<strong>der</strong> besser <strong>um</strong>gekehrt.<br />

Nina, Tochter des Verräters Hagen (Hans Hagen, Brechtassistent, von <strong>der</strong><br />

Stasi lange Jahre verhaftet, seine Stelle nahm Wolf Biermann ein), ist ein<br />

mo<strong>der</strong>ner Dekonstruktivist. All die herrschenden Verabredungen,<br />

<strong>Mein</strong>ungen, Wahrheiten werden als gemacht entlarvt und hübsch zerlegt<br />

in ihre Einzelteile. Vor allem wird das sogenannte Authentische nachhaltig<br />

zugrunde gerichtet. Nina benutzt ihren früheren Ruhm als Treibstoff für ihr<br />

bitterböses, lichtbringendes Tun in <strong>der</strong> Gegenwart des vereinigten<br />

Deutschlands. Johann Wolfgang von Goethe wird ebenso verbrannt wie<br />

Transenkitsch, Opernpathos, Mutter Theresa, Gutböse-Nazischelte,<br />

Min<strong>der</strong>heitenfolklore, ja sogar <strong>der</strong> Medienkanzler und Große<br />

Kommunikator: Nina flüstert aufgeregt von heimlichen Treffen, die sie mit<br />

Gerhard Schrö<strong>der</strong> habe, von "gigantischen Thesen und Hypothesen", die<br />

sie mit ihm tausche, und daß diese Gespräche so bedeutsam seien, daß<br />

sie demnächst die Öffentlichkeit davon unterrichten werde (vom<br />

Bundeskanzleramt war dazu bis Redaktionsschluß keine Stellungnahme zu<br />

erhalten). Daß hinter einer restlos abgewirtschafteten 'Kultur' nur eine<br />

ebenso tote Alternativ- und Subkultur steht und daß dieses Deutschland<br />

nach <strong>der</strong> Vereinigung nur noch eine Pappkulisse mit Kasperlefiguren ist,<br />

würde selbst den Kasperlefiguren selbst deutlich - wenn die Nina Hagen<br />

Show (bisher nur im Internet live zu verfolgen unter www.kanal.web.tv)<br />

endlich einen guten Sendeplatz im Fernsehen bekäme. Aber dann wäre<br />

dies Land nicht das, was es ist.<br />

27


6. Mit Ariane Sommer im „90 Grad“<br />

Natürlich fand ich Ariane Sommer immer schon klasse. Aber als sie dann<br />

vor mir stand, im Café des Literaturhauses in <strong>der</strong> Fasanenstraße... doch<br />

ich will <strong>der</strong> Reihe nach berichten. Jede Geschichte hat ihre ganz<br />

beson<strong>der</strong>e Vorgeschichte, wußte schon Lukrez, und die von Ariane<br />

Sommer ist nicht nur beson<strong>der</strong>s lang, son<strong>der</strong>n beson<strong>der</strong>s einzigartig, ja<br />

verblüffend.<br />

Als Pubertieren<strong>der</strong> sah ich einmal <strong>nachts</strong> im Fernseher unter dem Bett<br />

den Film "Ekel" von Roman Polanski, in dem die blutjunge Cathérine<br />

Deneuve eine verhaltensgestörte, autistische Blondine spielt, in<br />

Schwarzweiß. Ich komme noch darauf zurück.<br />

Am 19. Januar 1982, ich war nun schon ausgewachsen, erlebte ich den<br />

ersten und ganz sicher auch letzten epileptischen Anfall meines Lebens.<br />

Ich hatte mit einer jungen Frau, mit <strong>der</strong> ich <strong>eins</strong>t die Schulbank<br />

"gedrückt" hatte, wie es so sinnig heißt (natürlich drückt man etwas ganz<br />

an<strong>der</strong>es), eine Woche lang nichtsexuellen Verkehr gehabt. Ich hatte sie<br />

immer schon morgens getroffen, in dieser Woche, dann waren wir<br />

spazieren gegangen, dann in die Museen (sie war kunstinteressiert, als<br />

Tochter eines großen deutschen Nachkriegsmalers), dann in die Cafés,<br />

dann wie<strong>der</strong> die Boulevards entlang (d.h. die Leopoldstraße in München<br />

herauf und herunter und wie<strong>der</strong> herauf), dann nach Hause, wo wir<br />

Alkohol tranken. <strong>Mein</strong> Ziel war es natürlich, mit <strong>der</strong> jungen Künstlerin zu<br />

schlafen. Wir hatten das nämlich schon auf dem Schulhof verabredet. Ich<br />

hatte sie damals gefragt: "Wenn ich keine Freundin hätt', gell, und Du<br />

amal keinen Freund... dann..." Sie nickte: "Dann gehn wir miteinan<strong>der</strong>."<br />

Und so war es gekommen. <strong>Mein</strong>e Freundin Kirstin Ruge hatte mit mir<br />

Schluß gemacht, und <strong>der</strong> Maler Jan Philipp v. Bertheaux hatte mit ihr aus<br />

Standesgründen die Trennung vollziehen müssen, was ihm gewiß nicht<br />

leicht gefallen war. Wir waren beide solo. Ich löste das alte Gelöbnis ein<br />

und fuhr von Hamburg, wo ich geboren war, nach München, wo ich zur<br />

Schule gegangen war mit besagter Dame. Sie empfing mich mit offenen<br />

Armen, wie sich denken läßt. In ihrem kleinen Zimmer in <strong>der</strong> Maxvorstadt<br />

tranken wir immer mehr Alkohol. Sie war wirklich ein schönes Mädchen<br />

geworden, fast schon eine richtige kleine Frau und wahrlich gut<br />

entwickelt. Sie hatte herrliche Brüste, eine sehr helle Haut und fast<br />

weiße, langsträhnige, glatte und dichte Blondhaare, die ihr nervös ins<br />

Gesicht hingen und die sie immer wie<strong>der</strong> ebenso nervös wegpustete. Die<br />

Haare waren gefärbt, aber das waren die von Cathérine Deneuve auch. In<br />

<strong>der</strong> Schule, auf den Innentüren <strong>der</strong> Knabentoiletten, hatten <strong>eins</strong>t<br />

eingekratzte Botschaften auf Eva Maria, so hieß die Schöne, aufmerksam<br />

gemacht: "Try Eva fast hand Maria", "Eva fast hand Maria rides best",<br />

und so weiter. Es gab an <strong>der</strong> Schule mehrere Mädchen mit diesen in<br />

Bayern häufigen Vornamen, aber ich glaubte, es könne nur meine<br />

hübsche Banknachbarin sein, mein Deneuve-Lookalike. Ein Fehler? Ich<br />

war jedenfalls nervlich beschädigt ins Bett gegangen, als mich Eva Maria<br />

am ersten Abend nicht angefaßt hatte. Auch ich hatte sie natürlich nicht<br />

28


angefaßt, so etwas muß in unserem Kulturkreis stets die Frau machen;<br />

das ist ihr kulturhistorisch verbrieftes Recht, alles an<strong>der</strong>e zählt als<br />

Vergewaltigung. Nun, die vielen Stunden des Redens, Lachens und<br />

Scherzens hatten mein Nervenkostüm wundgescheuert. Ich bin<br />

normalerweise ein nervlich sehr stabiler Mensch. Ich könnte Jahre auf<br />

einer <strong>eins</strong>amen Insel durchhalten, ohne depressiv zu werden. Aber das<br />

Soziale strengt mich an. Etwas in mir for<strong>der</strong>t anschließend eine<br />

Kompensation in Form von körperlicher Wärme. Das muß gar nicht Sex<br />

sein, da Sex ebenfalls etwas Soziales ist und anstrengt. Nein, ich muß<br />

meinen armen, vom Kommunizieren wirr gewordenen und heißgelaufenes<br />

Kopf auf eine wohlwollende, üppige, noch stramme weil junge Brust<br />

betten. Am liebsten ist es mir, die Frau schläft schon, und ich höre ihren<br />

ruhigen, gleichmäßigen Herzschlag. Das, nur das, zusammen mit <strong>der</strong><br />

warmen, gut durchbluteten Haut, dem nachtwarmen Körper unter <strong>der</strong><br />

gem<strong>eins</strong>amen Decke, beruhigt mich und macht das grelle, sinnlose,<br />

uferlose Geplapper und Geschnatter des Tages vergessen. Die vielen<br />

"<strong>Mein</strong>ungen", die keine sind, die ganze Verirrung und Fehlsteuerung eines<br />

jungen Menschen im Hoch- o<strong>der</strong> Spät- o<strong>der</strong> Postkapitalismus, diese<br />

ahnungslose Verzweiflung eines Gehirns ohne Bewußtsein. Welch ein<br />

Segen, wenn solch ein Geist endlich ruht und alles seinem<br />

gewissenhaften, unbeschädigten, ja blühenden Frauenkörper überläßt...<br />

Jedoch, es kam ja nicht dazu. Ich wurde am ersten Abend nach 14 1/2<br />

Stunden <strong>der</strong> charmantesten Konversation nervlich erschöpft und mental<br />

zugrundegerichtet abgeschoben, und am zweiten Tag wie<strong>der</strong>holte sich <strong>der</strong><br />

Ablauf. Auch am dritten. Ich zitterte schon, konnte keine Zigarette mehr<br />

halten, hatte brüllende Kopfschmerzen. Und wie das so ist, je<strong>der</strong> kennt<br />

das ja: Je länger das "reizende Verhältnis" körperloser Zugeneigtheit<br />

andauerte, desto unmöglicher wurde es, die aufgebaute physische<br />

Sperrmauer zu durchbrechen. Am Ende des siebenten Tages rief ich<br />

verzweifelt, nein, ich konnte es nur noch flüstern, nein, nur röcheln:<br />

"Wollen wir jetzt nicht zusammen ins Bett gehen?"<br />

Sie verstand nicht, was ich gesagt hatte. Ich glaube wirklich, sie zwang<br />

mich, den Satz zu wie<strong>der</strong>holen. Sie wich dann ruckartig einen <strong>halb</strong>en<br />

Meter zurück und drehte dabei ihr Gesicht weg, stand dann auf, stand<br />

dann da im Ra<strong>um</strong> auf ihren zwei strammen Beinen, irgendwie recht<br />

selbstbewußt. Sie sagte noch, obwohl sie gewiß fassungslos war: "Du...<br />

du m<strong>eins</strong>t... ob ich dich als Mann will?!" Sie sprach das Wort Mann so<br />

seltsam aus, wie Martin Luther es getan hätte, wenn er über Mann und<br />

Waib gepredigt hätte. Als ich "Ja" sagte, geschah das Schrecklichste, was<br />

ich je erlebt habe. Eva Maria bekam einen hysterischen Lachkrampf. Das<br />

schreibt sich so einfach dahin, aber in echt ist es furchtbar. Noch heute<br />

höre ich manchmal dieses gekreischte Lachen, <strong>nachts</strong>, wenn ich alleine<br />

wach liege... Damals, in dieser Nacht vom 19. <strong>Auf</strong> den 20. Jänner 1982,<br />

vor über 20 Jahren also, bewegte ich mich rückwärts und<br />

angstgeschüttelt aus dem Zimmer, <strong>der</strong> dunklen Treppe entgegen, die ich<br />

Etage für Etage nach unten stürzte, ohne Jacke und Mantel. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong><br />

Plattform <strong>der</strong> ersten Etage erlitt ich den besagten Ausbruch von Epilepsie,<br />

den ich nicht weiter schil<strong>der</strong>n will, <strong>um</strong> den Leser nicht zu verschrecken.<br />

29


Hannelore Kohl ist bekanntlich an einer Krankheit namens Lichtallergie<br />

gestorben. Sie hat sich nicht gekillt, weil <strong>der</strong> Alte sie schlecht behandelte,<br />

wie <strong>der</strong> stern behauptete, nein. Sie ertrug das Licht nicht, und eines<br />

Tages wurde sie immun gegen das Gegenmittel (Al<strong>um</strong>ini<strong>um</strong>hydroxid),<br />

mußte immer im Keller bleiben, was auf die Dauer doof war. Die Parallele<br />

zu mir liegt auf <strong>der</strong> Hand: Das Soziale war für mich das Licht, gegen das<br />

ich allergisch war, und <strong>der</strong> ruhende, mir nichts Böses wollende junge<br />

Frauenkörper das Gegenmittel. Ein alter Frauenkörper o<strong>der</strong> auch ein Tier<br />

wirkten nicht, da ich mich vor beidem fürchtete. Alte Frauen gemahnten<br />

mich an meine Mutter, die den armen Vater so gequält hatte, und Tiere<br />

waren geistesgestört und übertrugen Krankheiten. Nur überirdisch<br />

blonde, kratzerfreie Engel brachten die optimale Wirkung, Wesen wie die<br />

somnambule Cathérine Deneuve von 1964 o<strong>der</strong> die zugekokste Ariane<br />

Sommer ohne Slip auf <strong>der</strong> Stretchlimo-Rückbank von 2002. Frauen auf<br />

Drogen waren sowieso gut. Wenn sie in die tiefen Kissen versanken und<br />

in die endlose Ferne des Dämmers... aber greifen wir nicht vor, bleiben<br />

wir bei Hannelore Kohl und meiner Lichtallergie. Diese Eva fast hand<br />

Maria hatte also einen Nervenzusammenbruch bei mir herbei geführt.<br />

Was bedeutete das? Ich konnte fortan an<strong>der</strong>t<strong>halb</strong> Jahre lang nicht allein<br />

sein, <strong>nachts</strong> nicht schlafen, nicht schreiben, nicht Geld verdienen, und ich<br />

befand mich die ganze Zeit in einem Zustand <strong>der</strong> Angst. Das war wirklich<br />

nicht schön. <strong>Mein</strong>e Freunde halfen mir, doch tatsächlich wußte niemand,<br />

wie es wie<strong>der</strong> aufwärts gehen solle mit mir, am wenigsten ich. Damals<br />

war es noch nicht üblich, junge Leute z<strong>um</strong> Psychiater zu schicken. Man<br />

hielt Zustände wie meine für normale Erscheinungen einer<br />

Selbstfindungsphase. Da ich so kaputt war, gelang es mir nicht, Frauen<br />

für die Nacht aufzutreiben, schon gar keine blonden und auch keine mit<br />

mächtigen, straffen Brüsten. Wenn ich es versuchte, dachten sie, ich<br />

wolle bloß mit ihnen ins Bett und wandten sich angeekelt ab (genau wie<br />

dieDeneuve in Ekel, daher <strong>der</strong> Titel). Also, sie dachten, ich wolle sie<br />

penetrieren. Sie waren besessen von dem Gedanken. Hätte ich gesagt,<br />

ich wolle bloß neben ihnen liegen während sie schlafen und das blöde<br />

Penetrieren mache ich bloß so nebenbei, hätten sie wie<strong>der</strong> hysterisch<br />

gelacht wie Eva Fasthand und mich in die nächste Bedrouille getrieben.<br />

Ich hatte also kein "Gegenmittel" mehr. <strong>Mein</strong>e ratlosen Freunde nahmen<br />

mich auf Partys mit. Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen nahm mich JEDEN ABEND mit<br />

in eine Bar mit vielen Menschen. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Obwohl ohne<br />

Gegenmittel, war ich mehr denn je dem ausgesetzt, was mir so zusetzte<br />

wie Hannelore Kohl das Licht: dem Sozialen. Die Folge war, daß ich fast<br />

ein Jahr lang immer kurz vor <strong>der</strong> Epilepsie und auch dem Selbstmord<br />

stand. Ich hatte mir selbst das Versprechen gegeben, genau ein Jahr lang<br />

durchzuhalten. Erst am 20. Januar 1983 wollte ich das Gift nehmen.<br />

Diese Überlegungen wurden irgendwie publik, und meine Freunde<br />

beschworen irgendein Mädchen, sich doch <strong>um</strong> Gottes Willen mit mir<br />

einzulassen. Na, so "irgend<strong>eins</strong>" war es nicht, es war schon blond, sehr<br />

blond sogar und gut bestückt. Vom 14. Dezember 1982 an hatte ich<br />

wie<strong>der</strong> mein "Gegenmittel". Aber es dauerte bis in den Sommer 83<br />

hinein, bis ich wie<strong>der</strong> ein Gleichgewicht zwischen Geselligkeit und Ruhe<br />

30


fand, und bis ins Jahr 1986 hinein, bis ich wie<strong>der</strong> schreiben konnte. <strong>Mein</strong><br />

zerfetztes Nervenkostüm mußte erst wie<strong>der</strong> zusammenwachsen, und das<br />

brauchte, wie man sieht, viele Jahre. Ich wurde auch nie wie<strong>der</strong> so nett<br />

und naiv wie vordem. Ich bedaure das sehr. <strong>Mein</strong>e ungewöhnliche Art<br />

hatte man früher für kindsköpfig gehalten und "verrückt" (das Wort, das<br />

die einfachen Leute gebrauchen, wenn sie lustig meinen), nun jedoch<br />

hielten mich manche für "böse", womit sie meinten, daß sie mich nicht<br />

verstanden. Und da sie mich nicht verstanden, hatten sie Angst vor mir.<br />

Nicht nur Rainald Goetz, auch viele junge Frauen empfanden so, was es<br />

mir schwer machte, sie zu erobern. Ich fand das schade.<br />

Ich will hier eines klarstellen: Es ist mir nie <strong>um</strong> Sex gegangen. Den<br />

Geschlechtsverkehr selbst finde ich oft langweilig. Also dann, wenn die<br />

Frau über dreißig ist, Frauenzeitschriften liest und "gut im Bett" sein will<br />

(und womöglich noch Glatze trägt und ein Tattoo am Oberschenkel, das<br />

mann "witzig" finden soll). Ich gebe zwar zu, daß mir nichts soviel Spaß<br />

gemacht hat wie das Vögeln mit <strong>der</strong> Superblondine Kirstin Ruge, woran<br />

ich heute noch seligen Auges und zu Tränen gerührt zurückdenke. Ja, ich<br />

kann mich an jedes einzelne Mal erinnern, an jede Sekunde, und es ist<br />

das einzige, weswegen mein Leben einen Sinn gehabt hat. Gut, das gebe<br />

ich ja alles zu. Aber was meine Nervenkrankheit anbelangt, so zählte <strong>der</strong><br />

Sex überhaupt rein gar nicht. Es ging <strong>um</strong> die Nähe. <strong>Mein</strong>e Mutter war<br />

überraschend gestorben, als ich sechs Monate alt war, und mein armer<br />

Vater hatte vergessen, einen Ersatz zu beschaffen. So erklärt sich das,<br />

<strong>um</strong> nur das Wichtigste zu nennen. Auch mein Vater mochte übrigens<br />

junge Blondinen gern, weswegen er nach Bayern zog und dort ein<br />

Internat für Mädchen leitete. Zur Nachhilfe bei uns zu Hause erschienen<br />

ausschließlich wahre Busenwun<strong>der</strong>, sodaß meinem Bru<strong>der</strong> und mir die<br />

Ohren glühten, sobald wir nur die Tür aufgemacht hatten o<strong>der</strong> den Tee<br />

servierten. Papi hatte wirklich Geschmack, und die zweite Frau, die ihn<br />

später so tyrannisierte, bemerkte von allem nichts.<br />

Doch was ist nun mit Ariane Sommer? Vielleicht war schon ihr Nachname<br />

ein Wink des nahenden Schicksals. Denn im Sommer des Jahres 2002<br />

"überschlugen" sich die Ereignisse, wie es im schlechten Deutsch heißt.<br />

Da war zunächst eine Frau, die hieß, äh, das sagen wir jetzt mal nicht,<br />

aber mit <strong>der</strong> war ich seit dem Mauerbau o<strong>der</strong> länger liiert, bis sie sich<br />

von mir trennte. Der Leser ahnt es: da bahnt sich eine Wie<strong>der</strong>holung an!<br />

Und in <strong>der</strong> Tat, ich schlief <strong>nachts</strong> wie<strong>der</strong> allein, und das gesellige Trinken<br />

mit Fremden brachte mich <strong>um</strong>. Gewitzt wie ich war, sah ich mich nach<br />

etwas Neuem <strong>um</strong>. Ich war nun aber keine 28 mehr wie Victor Ward. Die<br />

jungen Mädchen liefen nun schon vor mir weg, bevor ich überhaupt etwas<br />

Unsittliches gesagt hatte. Seltsam war das. Die starke nervliche<br />

Anspannung ließ mich nun sehr schnell altern. Nach nur vier Wochen<br />

ohne "Gegenmittel" sah ich bereits zehn Jahre älter aus. Da ich beruflich<br />

erfolgreich war, gab es durchaus Frauen, die mit mir schlafen wollten.<br />

Und keine üblen Weiber, mein lieber Scholli! Starke Frauen, die tough<br />

waren, etwas geleistet hatten im Leben! Die Kin<strong>der</strong> waren aus dem Haus<br />

und das Tattoo am Oberschenkel war keineswegs weniger witzig als sonst<br />

immer! Da war jemang jung geblieben, wow! Und ich konnte nicht<br />

31


mithalten. Der Sex strengte mich an, brachte meinen Kreislauf<br />

durcheinan<strong>der</strong>. Es war nicht direkt schlecht, aber ich bekam einfach<br />

Depressionen davon. Wegen <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>wärtigen Worte, die dabei<br />

gesprochen wurden? O<strong>der</strong> weil dabei geschwiegen wurde? O<strong>der</strong> beides,<br />

weil meistens geschwiegen wurde und wenn nicht, man Worte hörte wie<br />

"... weil, weißt du, du mußt dich selbst lieben, dann werden dich auch alle<br />

an<strong>der</strong>en lieben, denn es ist ja so, daß..." und das Herz einen jähen<br />

Ausfallschritt hin z<strong>um</strong> Herzinfarkt machte, weil man gar nicht mehr<br />

wußte, was man und in welcher Schärfe... ach, es lohnt nicht, darüber zu<br />

schreiben, es ginge auch am Thema vorbei. Das Thema heißt ja: Wie<br />

begegnete ich meiner Tra<strong>um</strong>frau Ariane Sommer! Und wir waren gerade<br />

im Frühsommer 2002, beim Durchlaufen diverser Kandidatinnen,<br />

sozusagen im Vorlauf. Um nicht zu langweilen, mache ich es kurz: Eine<br />

junge Ossi-Frau wurde mir von einem Schriftstellerkollegen empfohlen.<br />

Sie sei sehr sauber, meinte er, sehr reinlich, außerdem könne er sich für<br />

sie verbürgen. Im Osten heiratete man ja früher jung; er war mit ihr von<br />

1988 bis 1999 verheiratet gewesen, dennoch zählte sie ka<strong>um</strong> 30 Jahre.<br />

Mit ihr hatte er seine größten Erfolge als DDR-Un<strong>der</strong>ground-Geheimtip<br />

gehabt, mit ihr war er <strong>eins</strong>t aufgestiegen: das sprach doch, glaube ich<br />

wirklich, total für das Girl (Thomas <strong>Mein</strong>ecke, ein an<strong>der</strong>er Kollege, sagt zu<br />

allen Schriftstellerfrauen immer "girl", wohl weil er aus Amerika kommt).<br />

Sie war auch sofort bereit, mich z<strong>um</strong> Freunde zu nehmen. Lei<strong>der</strong> war sie<br />

von Natur aus unsicher. Sehr unsicher. Diese Eigenschaft definierte sie.<br />

Der Kollege und Ex-Mann sagte es mir gleich. Es sei schon immer ihr alles<br />

überschattendes Problem gewesen. Man habe jahrelang daran gearbeitet.<br />

Doch <strong>um</strong>sonst. Mehrere Therapien habe sie abgebrochen. Und in <strong>der</strong> Tat:<br />

das Mädchen sagte nichts vor lauter Unsicherheit. Ich mußte für zwei<br />

reden. Umso anstrengen<strong>der</strong> war das sogenannte Soziale für mich in<br />

diesem Fall. Es war, als müsse Hannelore Kohl ihre Schwiegertochter im<br />

Hochsommer in die Türkei begleiten. Ich brannte schon am ersten Abend<br />

vollkommen aus. Als ich mich dann zu ihr legte, schlief sie nicht ein,<br />

son<strong>der</strong>n war immer noch unsicher. Sie weinte dabei. Sagte aber nicht,<br />

war<strong>um</strong>. Es war entsetzlich. Die ganze Nacht lag sie wach und weinte,<br />

während ich aus schierer Nervenüberreizung und Totalerschöpfung<br />

<strong>eins</strong>chlief. Wir trafen uns noch fünf weitere Nächte, immer geschah<br />

dasselbe, ich mußte reden bis kurz vorm epileptischen Anfall. Da floh ich<br />

aus <strong>der</strong> Stadt und erholte mich bei meiner Ex-Frau. Gott sei Dank ging<br />

das noch. Aber sie kannte mich ja und wußte, was ich brauchte und wie<br />

arg es <strong>um</strong> mich stand.<br />

Als nächstes kam, im Mai 2002, eine junge Musikerin in mein Leben, die<br />

ich wählte, da offenbar sie mich gewählt hatte. Sie spielte die Erste Geige<br />

bei den Berliner Philharmonikern, war Anfang 30 und verrückt nach mir,<br />

wie es zunächst schien. Seit dem dritten Lebensjahr übte sie täglich<br />

vierzehn Stunden auf <strong>der</strong> kostbaren (sehr teuren) Violine. <strong>Auf</strong>gewachsen<br />

war sie in einem Barockschloß. Sie war ein durch und durch prämo<strong>der</strong>ner<br />

Charakter, in dem extremen Maße, wie ich ein postmo<strong>der</strong>ner<br />

Charakter war. Wir hatten ideengeschichtlich keinerlei gem<strong>eins</strong>ame<br />

Schnittmenge und konnten uns, wenn kein Dritter im Ra<strong>um</strong>e war, nicht<br />

32


verständigen. Sie war sehr blond, hatte große, kobalt-, nein preußischblaue<br />

Augen, und als ich sie fragte, ob wir nicht heiraten wollten, hatte<br />

sie ja gesagt. Sicherlich war es <strong>halb</strong> im Scherz gewesen, aber eben auch<br />

<strong>halb</strong> im Ernst. Das reichte mir. Sie hielt mich für einen großen Dichter, für<br />

einen heutigen Hugo von Hoffmannthal wahrscheinlich, einen göttlichen<br />

Verseschmied. Sie war noch Jungfrau. Der einzige Freund, den sie einmal<br />

gehabt hatte, war von ihr fortgeschickt worden. Hatte er sie geschlagen?<br />

Betrogen? Beides? War er Trinker gewesen? Homosexuell? Gemein?<br />

Unsensibel? Blöd? Nein, er hatte gegen irgendeine juristische Petitesse<br />

verstoßen, irgendeine Prinzipienreiterei war das gewesen von ihrer Seite<br />

aus, niemand hatte einen Schaden gehabt, ganz im Gegenteil: <strong>der</strong> Mann<br />

hatte ein Foto von ihr mit Geige, das er gemacht hatte, sie züchtig<br />

angezogen und ernst blickend, einem Freund mit Galerie überlassen,<br />

ohne sie zu fragen. Das war <strong>der</strong> Trennungsgrund. Daß er nicht vorher<br />

gefragt habe. Natürlich hätte sie ja gesagt, aber er habe nicht gefragt.<br />

Das regte sie noch Jahre später auf, diese Verletzung eines Prinzips. Fast<br />

täglich fing sie davon an, und jedem neuen Bekannten erzählte sie den<br />

"Skandal". Man kann sich gut vorstellen, wie solch eine Frau tot <strong>um</strong>fiele,<br />

erführe sie auch nur von einem Promille meiner Tabu- und<br />

Prinzipienverletzungen, die ich täglich und vorsätzlich beging!<br />

In Gesellschaft hatten wir wun<strong>der</strong>volle Erlebnisse, auch wenn es mich<br />

natürlich nervlich über alle Maßen und jede Vorstellung, die sich ein<br />

normaler Mensch davon machen könnte anstrengte. Wir begannen den<br />

Tag manchmal mit einer Wohltätigkeits-Matinée am Vormittag (sie spielte<br />

Geige), schüttelten Hände, machten small talk, wechselten dann zu<br />

einem Brunch bei befreundeten Musikern (sie spielte Geige), o<strong>der</strong> einer<br />

Geburtstags-Party in <strong>der</strong> ehemaligen Ossi-Theaterszene (sie spielte...),<br />

o<strong>der</strong> einem richtigen Konzertabend in <strong>der</strong> Staatsoper (sie...), <strong>der</strong> mit<br />

Kollegen, Librettisten und Verwandten in <strong>der</strong> Kantine ausklang. Danach<br />

fuhr ich sie nach Hause, nervlich schon das World Trade Center nach dem<br />

Anschlag. Ich fieberte <strong>der</strong> Nacht entgegen. Doch jedesmal, wenn ich die<br />

Treppen hochsprang, fragte sie befremdet, wieso ich mitginge. Ob ich<br />

vielleicht eine Intimität erzwingen wolle, die normalerweise niemals<br />

stattfände? Es kam stets zu äußerst häßlichen Szenen. Und immer wurde<br />

ich ungetröstet nach Hause geschickt, wo mich nur viele Vali<strong>um</strong><br />

ruhigstellen konnten.<br />

Für sie war <strong>der</strong> Fall klar. Ich konnte mich sogar in sie hineinversetzen: Es<br />

war ein sogenannter großartiger Abend gewesen, war das nicht genug im<br />

aktuellen Stadi<strong>um</strong> <strong>der</strong> Verlobung? Was wollte er denn noch, <strong>der</strong><br />

unersättliche Herr Dichter? Einen Kuß? Nun, dann zeige er wenigstens<br />

Mut und raube einen! Das trüge ihm eine saftige Ohrfeige ein, würde aber<br />

als Pluspunkt gewertet werden. Ja, das Burgfräulein hätte ihn nur noch<br />

lieber nach solch einer schneidigen Tat... aber sein Ohr auf ihre<br />

unberührte Brust legen, z<strong>um</strong> schieren Pennen, oh mein Gott! Der Mann<br />

war ja unmöglich!!<br />

Und so verlor ich sie wie<strong>der</strong>. Sie begriff, dass einer, <strong>der</strong> sowas von ihr<br />

wollte, nicht v. Hoffmannsthal war, son<strong>der</strong>n ein nie<strong>der</strong>trächtiger Schurke,<br />

<strong>der</strong> sich ins Schloß geschlichen hatte. Von einem Tag auf den an<strong>der</strong>en<br />

33


sprach sie kein Wort mehr mit mir, ohne sich zu erklären. Das war am 21.<br />

Juni des Jahres 2002, einem Freitag. Ich war schon wie<strong>der</strong> allein. Die<br />

Vali<strong>um</strong> gingen mir aus, das Nervenkostüm war nach sieben Wochen<br />

Konversation über Mozart, Bach und Brahms bis auf den St<strong>um</strong>pf<br />

nie<strong>der</strong>gebrannt. Ich konnte nicht mehr schreiben. <strong>Mein</strong>en Freunden<br />

begann ich wie<strong>der</strong> leid zu tun, und sie nahmen mich zu Partys mit, wo ich<br />

weiter abfackelte. Es war ja die Zeit <strong>der</strong> Fußball Weltmeisterschaft, und<br />

die Freunde "kümmerten sich rührend" <strong>um</strong> mich. In großer Runde wurden<br />

die Spiele geguckt, mit viel Bier und Gelächter, immer auf niedrigstem<br />

Niveau, immer krachend lustig und <strong>der</strong>b, bis mir schwindlig wurde und ich<br />

vom Stuhl sank ins bewußtose Nichts. Lange konnte es nicht mehr<br />

gutgehen mit mir. Denn ein weiteres Mal half mir die Ex-Frau nicht mehr.<br />

Ich schaffte mir zwei Haustiere an, wirklich intelligente Tiere, die mich gut<br />

verstanden, aber auch sie schliefen <strong>nachts</strong> lieber ohne mich. Es war<br />

zudem ein Paar, das sich sehr mochte. Bald würden sie Kin<strong>der</strong> haben.<br />

Als nächstes kam eine Frau, über die ich nicht schreiben darf. Dieses<br />

Versprechen hatte ich ihr ziemlich am Anfang gegeben. Sie hatte nämlich<br />

vermutet, die Violinistin habe sich zurückgezogen, damit ich nicht über<br />

sie schreiben könne (ohne sie vorher gefragt zu haben!). Daraufhin wollte<br />

ich von <strong>der</strong> neuen Frau wissen, ob sie denn Angst vor so etwas habe. Als<br />

sie lachend bejahte, gab ich ihr das Versprechen. Ich kann daher über<br />

diesen Teil des Sommers nichts sagen und muß direkt z<strong>um</strong> Ariane-Teil<br />

übergehen, <strong>der</strong> damit begann, daß ich in einem alten Männermagazin<br />

Nacktfotos von ihr entdeckte, zufällig, beim Zahnarzt. Ich hatte noch<br />

niemals vorher eine solch geile Frau gesehen, nicht in Wirklichkeit, nicht<br />

im Film, nicht auf Fotos. Ich wußte: Diese geniale Schlampe mußte ich<br />

treffen!<br />

Es war natürlich sehr einfach, sie zu treffen. Ich rief bei n-tv an, wo sie<br />

einmal beschäftigt gewesen war, wie mir ein Freund für solche Fälle,<br />

Christian Y Schmidt, gesteckt hatte. Ich ließ mir ein Video schicken,<br />

"Lebens Art" hieß die Sendung, die Ariane mo<strong>der</strong>iert hatte. Das war z<strong>um</strong><br />

Lachen schlecht. Ariane konnte überhaupt nicht mo<strong>der</strong>ieren. Es war, als<br />

würde <strong>der</strong> Fußballspieler Ballack versuchen, die Thomas Gottschalk Show<br />

zu machen. Im Abspann erfuhr ich den Namen ihres Managements, rief<br />

dort an. Der Manager nahm meine N<strong>um</strong>mer auf, und Ariane rief mich an.<br />

Ihre Stimme war viel netter, authentischer und somit erotischer als auf<br />

dem Video. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Ich fand, daß sie<br />

nicht hübsch lief, als sie mir im Literaturhaus entgegentrippelte, und daß<br />

sie überschminkt war, als sie vor mir stand. Ich bat sie, die fetten Crèmes<br />

auf <strong>der</strong> Toilette abzuwaschen, und danach gefiel sie mir besser.<br />

Sozusagen noch besser. Ich mußte ihr vorspielen, ein Interview mit ihr zu<br />

machen, und damit es mir leichter fiel, machte ich das dann wirklich. In<br />

<strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung erschien tags darauf - es war zufällig die<br />

allerletzte Ausgabe <strong>der</strong> Berliner Seite, für die ich regelmäßig schrieb -<br />

folgendes kleine und gewöhnliche Feuilleton:<br />

"<strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>s Tagebuch. Über Ariane Sommer.<br />

Man sagt, sie habe eine Männerstimme, die das <strong>Auf</strong>reizende ihres Körpers<br />

konterkariere. Man sagt, die Mädels aus 'baise-moi' seien harmlose<br />

34


Kaug<strong>um</strong>mi-Kids, verglichen mit ihr. Und es heißt z<strong>um</strong> Beispiel über ihre<br />

morbiden Halbweltfotos in <strong>der</strong> 'GQ' (brutales junges Weib wartet schlecht<br />

gelaunt und ziemlich nackt und breitbeinig/langbeinig im Fond eines<br />

Maybach auf die nächste Line), sie wirke wie Zuhälter und Hure in einem.<br />

Falsch! Richtig dagegen: Ariane Sommer ist im Moment die erotischte<br />

Frau in Deutschland. Und: Z<strong>um</strong>indest ihr Lachen ist das eines Mannes.<br />

Deswegen versucht sie, es möglichst selten zu tun. Aber es gelingt ihr<br />

nicht. Es überkommt sie immer wie<strong>der</strong>, von tief unten her rollt es heran,<br />

ist nicht mehr zu unterdrücken, donnert los, und es wackeln die Wände<br />

im ganzen Lokal. Leute drehen sich <strong>um</strong>, Kellner kommen aus dem Tritt,<br />

Media-Agenten werden aufmerksam. Ganz klar: diese Frau will je<strong>der</strong><br />

kennenlernen. Und, nota bene: diese Frau ist <strong>der</strong> Magnet, <strong>um</strong> den weite<br />

Teile des Berliner Nachtlebens sich formieren. Sie hat als PR-Chefin den<br />

Club '90 Grad' zur skandal<strong>um</strong>witterten Muß-Disco gemacht, an die selbst<br />

Edmund Stoiber nicht vorbei kommt, wenn er auf Jungwähler magnetisch<br />

wirken will wie ein charismatisch-jugendlicher Führer. O<strong>der</strong> die Sache mit<br />

<strong>der</strong> Schießerei. Berliner Zeitungsleser rieben sich monatelang die Augen:<br />

waren Puff Daddy und Jennifer Lopez in <strong>der</strong> Stadt, mit Colt und Ballerei?<br />

Ging es so heiß her inzwischen, war man so sehr Metropole geworden?<br />

Im '90 Grad' wohl schon. Und plötzlich wollten alle dieses blonde Model<br />

haben: Harald Schmidt, die Bunte, ntv, die ZEIT, <strong>der</strong> Playboy. Und überall<br />

machte sie mit. Sie schreibt, dreht, mo<strong>der</strong>iert, modelt und so weiter, hat<br />

ihre Kol<strong>um</strong>ne, irgendwo immer ihren Sendeplatz (egal ob bei n-tv o<strong>der</strong><br />

ONYX), bringt jetzt ihr Buch heraus und so weiter. Das wäre alles noch<br />

nichts Beson<strong>der</strong>es. Nein, sie bleibt weiter <strong>der</strong> Star im Nachtleben. Sie<br />

tanzt auf den Tischen, lacht dieses herausplatzende Männerlachen, bringt<br />

in Kuhfell-Hotpants und Over-knee-Stiefeln die Media-Manager <strong>um</strong> den<br />

kleinen Verstand. Keiner kennt so viele Partys, kennt so viele Hip People<br />

wie Ariane. Mit ihrem Adressbuch allein könnte Schrö<strong>der</strong> die nächste Wahl<br />

doch noch gewinnen. Wer ist dieses Mädchen, das alle so mögen? Diese<br />

Kreuzung aus Sharon Stone, Brigitte Nielson und Charlize Theron? Sie ist,<br />

natürlich, eine Verbündete <strong>der</strong> Männer ("Den Barbiepuppen rasierte ich<br />

die Haare ab, spielte lieber mit Autos"), mit dem Körper einer<br />

Männerphantasie, nicht von dieser Welt, zu schön <strong>um</strong> wahr zu sein: groß,<br />

blond, schlank, gut gebaut. Ihr Blick sagt: Laß uns Pferde stehlen gehen,<br />

o<strong>der</strong> noch was Heißeres machen! Die Frauen verharren in ohnmächtiger<br />

Wut. Den Menschenkenner wird nicht verwun<strong>der</strong>n, daß dieses enfant<br />

terrible, das vor Friede Springers Augen Matthias Döpfner den Kopf<br />

verdrehte, vor allem eines ist, of course: intelligent. Mit sechs Jahren<br />

lebte die Tochter eines deutschen Generalkonsuls in Indien, später in<br />

Sierra Leone / Afrika, dann auf Madagaskar. Onkel Theo, damals <strong>der</strong><br />

große ZEIT-mastermind, hielt Verbindung zu ihr. Mit 15 kam sie ins<br />

Internat in den USA und erlebte, wie alle männlichen Mitschüler sie<br />

triezen, pieksen und ärgern wollten. Das Prinzip "Was sich liebt, das neckt<br />

sich" kannte sie nicht aus Afrika. Prompt schlug sie immer zurück, mit<br />

aller Kraft. "Ich habe immer alle Jungen verdroschen. Und ich hatte einen<br />

sehr festen Schlag", lacht sie. Seltsam: die Geschlagenen trugen ihre<br />

blauen Flecken wie Trophäen her<strong>um</strong>, machten weiter. Mit 16 <strong>der</strong> erste<br />

35


Apfelkorn. Als Model entdeckt wurde sie schon vorher. Die ersten<br />

<strong>Auf</strong>träge hatte sie mit 13. Sie wußte somit immer, was sie wert war,<br />

hatte es nie nötig, sich Cliquen anzuschließen. Selbst als 'Neue' im<br />

Internat blieb sie so lange <strong>um</strong> sich schlagen<strong>der</strong> Außenseiter, bis die<br />

tonangebenden Cliquen ("die Coolness-Clique und die Computer-Clique")<br />

Arianes dress code übernahmen... Dann übersprang sie eine Klasse ("weil<br />

ich einfach in allen Belangen überlegen war"), machte bald Abitur und<br />

studierte Politologie. Nur noch ab und zu ein Modeljob, <strong>um</strong> die nächsten<br />

zehn Riesen fürs geliebte Studi<strong>um</strong> abzugreifen. Klar hätte sie Supermodel<br />

werden können, doch bevorzugte sie es bei weitem, über Montesquieu<br />

und Proudhon zu debattieren ("Wozu die Fleischbeschau?"). Ihr neues<br />

Buch handelt denn auch von <strong>der</strong> 'Tugend'. All die vielen Ideen, die jetzt in<br />

"Mitte" geboren und <strong>um</strong>gesetzt werden, sind ja nichts wert, meint Ariane<br />

Sommer, wenn sie nicht Neben- o<strong>der</strong> Folgeprodukte <strong>der</strong> Tugend sind. Sie<br />

hält Berlin immer noch für the place to be, gleichwohl: Herzensbildung ist<br />

<strong>der</strong> Schlüssel z<strong>um</strong> Glück. Und Zivilcourage. Man mag das nicht glauben,<br />

wenn man in den Gazetten liest, was sie wie<strong>der</strong> angestellt hat (wie<strong>der</strong><br />

mal bei Minus drei Grad nackt in eine Badewanne voller Mousse au<br />

chocolate gestiegen etc.), aber es macht Sinn: Solange du keinen<br />

Mitmenschen in seinen Gefühlen o<strong>der</strong> seiner Würde verletzt, darfst du<br />

alles. Jedenfalls wenn du es dir selbst ausgedacht hast und es wirklich<br />

willst. Deswegen kommt ihr bei Reality TV das Kotzen, und deswegen ist<br />

es o.k., wenn sie Brücken baut im Nachtleben, wenn sie Politik und Show<br />

Biz, Medien und Literatur, Cem Özdemir und Mister Hunziger zusammen<br />

führt. Zuletzt stürmte ein Lyriker mit Gedichten (Thema: "Schöne<br />

Ariane") auf sie zu, auf <strong>der</strong> Käfer-Terrasse im Reichstag. Sie hat ihn<br />

prompt z<strong>um</strong> Lady's Lunch mitgenommen und später ins rive gauche.<br />

"Berlin ist kreativ und boomt, egal zu welcher Weltwirtschaftskrise. Der<br />

Tanz auf dem Vulkan, darin haben wir Übung. Hier haben alle H<strong>um</strong>meln<br />

im Hintern. Sehr viele Ideen wurden <strong>um</strong>gesetzt, weil es keine<br />

geschlossenen Kreise à la Hamburg o<strong>der</strong> München gab."<br />

Ja, die Newcomer hatten es hier leicht, im Schrö<strong>der</strong>staat. Es war ihr<br />

Staat, ihre Stadt, ihre Dekade. Es war die Zeit <strong>der</strong> Ariane Sommer. Und<br />

wir alle können <strong>der</strong><strong>eins</strong>t sagen: Kin<strong>der</strong>, wir sind dabei gewesen!"<br />

Soweit mein kleiner <strong>Auf</strong>satz, den ich natürlich nur für sie und ihre<br />

Handyn<strong>um</strong>mer geschrieben hatte, die sie mir nun endlich gab. Wir sahen<br />

uns nun häufiger. Eines Tages, als ich mit meiner Nichte Hase vor einem<br />

Premierenkino auf Ariane wartete, die uns auf die VIP-Liste wuchten<br />

wollte, dachte ich, es wäre allmählich Zeit, sich das nervenaufreibende<br />

Eventgetue zu ersparen und lieber gleich den epileptischen Anfall<br />

hinzulegen. Ich sagte zu Hase, es gehe mir schlecht, ich müsse nach<br />

Hause.<br />

"Zuviel Trubel hier, was?" sagte Hase mitfühlend. Da stand plötzlich<br />

Ariane hinter ihr. Hase jaulte:<br />

"Jolo will schon wie<strong>der</strong> los, dem isses hier zu voll!"<br />

Ariane fragte, was ich denn lieber wolle. Ich sagte, ich wolle nach Hause<br />

gehen und dort auf sie warten.<br />

36


"Okay" sagte sie und drückte, nein schlug mir ihren Schlüssel in die Hand.<br />

Sie sagte dieses berlinerische Jugendlichen-Okay, bei dem das y so<br />

dämlich überdehnt und irgendwie fragend stehengelassen wird, also<br />

okäiiii... und ich stand verblüfft da, in <strong>der</strong> Hand den Wohnungsschlüssel<br />

von Ariane Sommer, <strong>der</strong> geilsten Frau <strong>der</strong> Welt! Wie gesagt, sie war ein<br />

K<strong>um</strong>peltyp, eine Verbündete <strong>der</strong> Männer, sie zickte nicht lange r<strong>um</strong>.<br />

Sie kam, glaube ich, <strong>um</strong> zwei Uhr <strong>nachts</strong>. Am nächsten Tag wurde es<br />

drei, am dritten vier Uhr. Danach und seitdem pendelte es sich auf <strong>halb</strong><br />

zwei Uhr ein. Sie legt sich neben mich, und da sie eine Frau ist, die<br />

schnarcht, merke ich meistens sehr schnell, daß sie schläft. Frauen, die<br />

schnarchen, sind nicht so fürchterlich und ekelerregend wie schnarchende<br />

Männer. Im Falle von Ariane kann ich sogar sagen: ich höre es gern.<br />

Fußnote<br />

Ariane Sommer:<br />

Spätestens hier wird deutlich, dass ich nicht über mein journalistisches Thema, also<br />

Ariane Sommer, schreiben wollte, son<strong>der</strong>n über mich. Das allein wäre nichts Neues.<br />

Nichts an<strong>der</strong>es erwartete man inzwischen von einem <strong>Lottmann</strong>text. Das Beson<strong>der</strong>e hier<br />

liegt in <strong>der</strong> geradezu gnadenlosen Übertreibung des eigenen Prinzips. Erstmals hatte ich<br />

ein Medi<strong>um</strong>, das keine Längenvorgabe mehr kannte, nämlich das Internet, und das<br />

nutzte ich sofort aus. Der Artikel erschien in dem Blog "Wir höflichen Paparazzi" (und in<br />

e i n e r stark abgespeckten Form i n <strong>der</strong> SZ).<br />

7. Mit Sophie Dannenberg im Tiergarten<br />

Tiere sind blöde. Es gibt nichts Langweiligeres als Tierparks.<br />

Langweiliger sind nur Wäl<strong>der</strong> (weil sogar ohne Tiere). Noch<br />

langweiliger als Wäl<strong>der</strong> sind nur Steppen, Tundren, Wiesen, Seen,<br />

weil sogar ohne Bä<strong>um</strong>e. Langweiliger als das ist nur <strong>der</strong> Mond. Da<br />

war ich noch nie. Sophie Dannenberg hat mich in den Berliner<br />

Tierpark geschleppt.<br />

Das war ihr Wunsch. Dort wollte sie mir dieses seltsame Buch mit<br />

dem Schauerromantitel "Das bleiche Herz <strong>der</strong> Revolution" erklären,<br />

bei einem gepfegten Spaziergang zwischen Riesenreihern und<br />

"katzenähnlichen Kleinbären mit auffälliger Gesichtszeichnung",<br />

vulgo Pandas. Nun sieht die Frau, die behauptet, Sophie<br />

Dannenberg zu heißen, phantastisch aus, Mitte 20, sehr blond, aber<br />

Fakt ist: sie heißt ganz an<strong>der</strong>s. Nämlich Charlize Theron. Da wette<br />

ich. Jedenfalls eher als Dannenberg. Sie gibt zu, sich den Namen<br />

nur ausgedacht zu haben. Um ihre Familie zu schützen. Seitdem<br />

rätselt die 68er Fachpresse, welche Familie das denn sei. Die <strong>der</strong><br />

Dutschkes? Manche behaupten, K.D. Wolff sei ihr Vater. Ich bringe<br />

Bernd Rabehl ins Spiel. Sie braucht ein paar schwer geseufzte<br />

Sekunden, <strong>um</strong> das mit letzter Kraft zu dementieren. Vielleicht war<br />

ich nahe dran.<br />

Ich will mich berichtigen: Es gibt noch etwas Langweiligeres als<br />

Tiere, Steppen o<strong>der</strong> Mond, nämlich das Thema "68", o<strong>der</strong> "68 und<br />

die Folgen", o<strong>der</strong> all die Synonyme wie "Der heiße Sommer <strong>der</strong><br />

37


Liebe", o<strong>der</strong> "Die verdammt geilen Monate <strong>der</strong> Anarchie" und so<br />

weiter, o<strong>der</strong> eben jetzt "Das fahle Gesicht <strong>der</strong> Revolte". Es gibt<br />

absolut keine Möglichkeit, sich auf diesem Terrain zu bewegen ohne<br />

alle zu langweilen. Bei Adolf Hitler und seine wilden Jahre ist das<br />

son<strong>der</strong>bar an<strong>der</strong>s. Obwohl auch hier alles gesagt ist, interessiert es<br />

jeden. Ich merkte es bei meiner Recherche. Freunde, die ich anrief,<br />

<strong>um</strong> ein bißchen übers Thema zu reden, <strong>um</strong> irgend eine Anregung<br />

zu erzwingen, legten auf, manche Entschuldigungen gähnend,<br />

an<strong>der</strong>e selbst ohne dem. <strong>Mein</strong>e Frau, die nie lügt, stammelte<br />

plötzlich etwas von <strong>der</strong> Verbindung, die so schlecht sei, <strong>der</strong><br />

Funkkontakt reiße ab. Dabei war es Festnetz. Der arme taz-<br />

Redakteur, <strong>der</strong> das Buch <strong>der</strong> schönen Oskar-Gewinnerin schon<br />

letzte Woche rezensieren mußte (s. taz v. 8.8.2004: "Fahl bleibt<br />

unser Herz zurück"), reichte danach Urlaub ein.<br />

Ich hatte es besser. Der Berliner Zoo ist wie eine Farm in Afrika.<br />

Gleich bricht Meryl Streep aus dem Gehölz bzw. Gebüsch, gefolgt<br />

von Klaus Maria Brandauer. Die Sehnsucht aller Spießer nach<br />

Tieren (weil die nicht denken und Denken was Schlechtes ist)... <strong>der</strong><br />

Deutsche fühlt. "Letztendlich sind alle Gefühle faschistisch", zitierte<br />

<strong>der</strong> junge Die<strong>der</strong>ichsen einmal Gottfried Benn. Ein kleines Pillhuhn<br />

schwimmt in dem mächtigen Wassergraben, <strong>der</strong> die Löwen daran<br />

hin<strong>der</strong>t, die zuguckenden Menschenkin<strong>der</strong> bestialisch zu<br />

zerfleischen. Verglichen damit, wären die Geiselnehmen von Beslan<br />

sogar noch H<strong>um</strong>anisten. Oben dreht schon <strong>der</strong> Riesengeier seine<br />

Runden. Die puppenhafte Autorin spricht über Nashörner, die<br />

Säugetiere seien o<strong>der</strong> so, wie die Schweine. Es gebe aber auch<br />

menschliche Schweine, die säßen in den Zeitungen. Vielen Dank.<br />

Da reden wir dann doch lieber über die Alt-68er:<br />

"Gnädiges Fräulein, was halten Sie von Adorno?"<br />

"Er war radikal, depressiv, brilliant. Es hätte mich interessiert, was<br />

er geschrieben hätte, wenn er noch zehn Jahre länger gelebt<br />

hätte."<br />

"Depressiv und radikal, sagen Sie..."<br />

"Nein, ich sagte radikal, depressiv und brilliant."<br />

"Ach gewiß. Also wenn es so ist, dann hat ihn wohl die<br />

Studentenbewegung auf dem Gewissen?"<br />

"Das hat ihn alles sehr mitgenommen. Die Institutsbesetzung, das<br />

Busenattentat und so weiter. Kennen Sie das Busenattentat?"<br />

"Nein. Klingt interessant."<br />

Sie erzählt, daß drei blutjunge Kommilitoninnen mit ziemlich festem<br />

Bindegewebe nackt vor Adorno am Kathe<strong>der</strong> getanzt hätten, <strong>um</strong> zu<br />

zeigen, wie verklemmt er war. Kurze Zeit später kriegte er einen<br />

Herzinfarkt.<br />

"Beweis gelungen, sozusagen. Haben sich die jungen Dinger denn<br />

je entschuldigt?"<br />

Natürlich nicht. Die ganze Bewegung sei autoritär und faschistoid<br />

gewesen, lautet Sophie Dannenbergs These. Ihr Roman ist eine<br />

zutiefst haßerfüllte Abrechnung mit den Sauereien und Ferkeleien<br />

38


<strong>der</strong> Alt-68er, die zudem heute an <strong>der</strong> Macht seien. Und da sie das<br />

seien, sei eine <strong>Auf</strong>arbeitung dieser Zeit so schwer. Adolf Hitler<br />

konnte man irgendwann aufarbeiten, aber <strong>der</strong> war ja auch nicht<br />

mehr an <strong>der</strong> Macht, seit dem 30. April 1945.<br />

Die Affen sind wirklich niedlich, auch weil sie sich manchmal in den<br />

Arm nehmen und liebhaben. Das tut kein an<strong>der</strong>es Tier. Die Jungen<br />

jagen sich die hohen künstlichen Felsen rauf und runter; das sind<br />

Verfolgungsjagden wie im Actionfilm, halsbrecherisch. Aber keiner<br />

zerschmettert dabei, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ich sehe auf<br />

die vielen, vielen Affen, höre aber natürlich weiter konzentriert zu,<br />

das gebietet die Berufsehre des guten Journalisten. Vom<br />

handkleinen Baby bis z<strong>um</strong> lebensgroßen Langhanspavian ist alles<br />

vertreten, die vermehren sich wohl viel und haben Spaß in <strong>der</strong><br />

Gefangenschaft. Ein bißchen irre ist diese Sophie Dannenberg<br />

natürlich schon, das muß man einfach sagen dürfen, also so<br />

starrblickig und ausgestopft, mit Dauerwelle und zugeknöpftem<br />

50er-Jahre-Damenmantel, aber ich höre ihr tatsächlich gern zu:<br />

"<strong>Mein</strong> Vorwurf an Adorno ist, daß er das Konzept Familie zerstört<br />

hat und als Brutstätte des Autoritären verunglimpft hat..."<br />

Wir gehen weiter. Sie erzählt von den Millionen Heranwachsenden<br />

seitdem, die in ihren Eltern keine Autorität mehr finden, keinen<br />

Halt. Kin<strong>der</strong>, die in Erfurter Gymnasien Lehrer exekutieren, <strong>um</strong> sich<br />

dafür zu rächen. Schon die ganze antiautoritäre Bewegung damals<br />

erzählte in einer Art Wie<strong>der</strong>holungstra<strong>um</strong>a den Schmerz über den<br />

Verlust elterlicher Autorität. Denn die Kriegsgeneration <strong>der</strong> Väter<br />

hatte jede echte Autorität verloren o<strong>der</strong> abgelegt. Wo es noch<br />

Autorität gab, war es eine angemaßte und behauptete.<br />

Schöne These. 1945 keine Autoriät mehr, 1968 nicht mehr, heute<br />

auch nicht mehr. Deswegen sehen wir den Oliver-Hirschbiegel-Film<br />

so gern. Adolf Hitler und die letzten zwölf Tage unserer finalen<br />

Autorität. Und danach mit <strong>der</strong> Kalashnikov ins Gymnasi<strong>um</strong>! Ein<br />

Gorillaweibchen steht jetzt da, nur einen Meter vor mir, nett, groß,<br />

freundlich, direkt. Ich lese: "Weibliche Gorillas (100 bis 300<br />

Kilogramm) verlassen mit <strong>der</strong> Pubertät ihre Geburtsgruppe. So sind<br />

die sozialen Bindungen zwischen Weibchen einer Gruppe mangels<br />

Verwandtschaft nur schwach." Mutiges Weibchen! Mir gefällt sie,<br />

wenn auch nicht so gut wie das alarmblonde Menschenweibchen,<br />

das sich bei mir untergehakt hat und weiter ihr Lied singt:<br />

"Adorno war natürlich auch ein Frauenheld. Aber er hatte etwas<br />

enorm Unschuldiges, ja Teddyhaftes. Bis fast zuletzt blieb er<br />

unschuldig. Als er dann am Ende merkte, daß er sich schuldig<br />

gemacht hatte, war es zu spät..."<br />

"Armer Adorno. Aber in Ihrem Roman lebt er doch weiter?"<br />

"<strong>Mein</strong>e Romanfigur hat noch an<strong>der</strong>e Züge, trägt bessere Anzüge<br />

und so weiter. Adorno wurde indirekt <strong>um</strong>gebracht, bei meiner Figur<br />

läuft das Leben noch etwas an<strong>der</strong>s."<br />

"Waren seine Gegner wirklich so scheußlich?"<br />

39


"Ja. Ausgerechnet bei einem Vortrag über Iphigenie, eine <strong>der</strong><br />

schönsten Figuren <strong>der</strong> Literatur, wurde er auf so <strong>der</strong>be Weise<br />

lächerlich gemacht. Die 68er waren völlig unfähig, so etwas wie<br />

Unschuld und Reinheit wahrzunehmen. Sie hatten nur primitive<br />

Arroganz. Sie haben die <strong>Auf</strong>klärung verraten!"<br />

"Aber geschadet hat es doch nicht wirklich, o<strong>der</strong>? Laufen hier<br />

irgendwo Leute r<strong>um</strong>, die in Lagern gesessen haben, wie in China?<br />

Es war doch alles nur Spaß! Bonnie and Clyde, Spaßguerilla,<br />

Haschrebellen, Sommer <strong>der</strong> Liebe! Kin<strong>der</strong>, was ham wa jelacht!"<br />

Sie sieht mich so gnadenlos wütend an, daß mir das Blut gefriert.<br />

Kein Zweifel, sie hat in so einem Lager ihre Kindheit verloren, in so<br />

einem antiautoritären Kin<strong>der</strong>laden, <strong>der</strong> autoritärer war als jede<br />

Mao-Kin<strong>der</strong>miliz:<br />

"All die sexuellen Schweinereien in den Kin<strong>der</strong>läden..." Sie bringt<br />

den Satz nicht zuende, weicht aus auf Wilhelm Reich. Der habe die<br />

forcierte Pädophilie z<strong>um</strong> unbedingten Muß einer jeden<br />

emanzipierten Erziehung gemacht. Die nie angezweifelte These sei<br />

gewesen, daß Kin<strong>der</strong> eine genauso starke Sexualität hätten wie<br />

Erwachsene und daß diese nur unterdrückt sei und befreit werden<br />

müsse. Mit aller Gewalt wurden die Kleinen sexualisiert. Sie<br />

schüttelt sich.<br />

"Aber es war doch nur, wie das Wort schon sagt, ein einziger<br />

Sommer! Vielleicht auch drei, aber keine Zeitspanne, <strong>um</strong> Menschen<br />

zu zerstören."<br />

"Das ging rein bis in die späten Siebziger, und danach kamen die<br />

Leute selbst an die Macht, rein in die Institutionen, und blieben da<br />

bis heute."<br />

Horror! Schrecklich! Der Pädophilenstaat hatte uns seit 36 Jahren<br />

fest im Griff. Aber Moment mal: die Kleine konnte doch unmöglich<br />

noch einen Kin<strong>der</strong>laden selbst erlebt haben?! Das waren doch alles<br />

Phantasien! Mußte man auch haben als gute Schriftstellerin.<br />

"Wie alt bist Du?"<br />

"Alt genug!"<br />

"Welches Geburtsjahr?"<br />

"1971."<br />

"Gut gehalten... hätte Sie deutlich jünger geschätzt... da haben Sie<br />

natürlich einiges durchgemacht!"<br />

"Diese Flugblätter müssen Sie sich durchlesen von damals. Alle<br />

trieften vor Haß, wirklich alle! Die Brutalität war riesengroß, gerade<br />

in <strong>der</strong> Erziehung. Das ist ja alles dok<strong>um</strong>entiert. Kin<strong>der</strong> sollten<br />

möglichst früh politisiert werden. Sie sollten möglichst früh das<br />

Elend <strong>der</strong> Welt kennenlernen. Sie sollten keinen Schutzra<strong>um</strong> haben<br />

und so weiter."<br />

Löwen brauchen endskrass lange Gehegeflächen und sind trotzdem<br />

immer schlecht drauf. Ich kann diese müden Viecher nicht leiden.<br />

Sie erinnern mich an unsere bayerischen Mitbürger, vielleicht<br />

wegen <strong>der</strong> Löwenbräu-Werbung früher. War<strong>um</strong> wollte Sophie bloß<br />

40


hierher? Sie redete rhythmisch weiter, nicht unähnlich den<br />

verhaßten früheren Intellektuellen.<br />

"Alles was sie taten, war auf Zerstörung ausgerichtet. Auch auf die<br />

Zerstörung persönlicher Bindungen. Idealbild war die Gruppe. Alle<br />

persönlichen Differenzierungen wurden unterdrückt. Identität aber<br />

ist nichts an<strong>der</strong>es als Differenzierung. So waren die Alt-68er gegen<br />

jegliche Identität an sich! Das Ideal war <strong>der</strong> egalisierte,<br />

gleichgeschaltete Mensch, <strong>der</strong> nicht mehr denkt! Pflichtlektüre<br />

damals war Horst Eberhasrd Richters Buch DIE GRUPPE. Bis heute<br />

ist dieser Mensch dafür nicht zur Rechenschaft gezogen worden! Er<br />

läuft noch immer frei her<strong>um</strong>, mitten unter uns, wie ein ganz<br />

normaler ehrenwerter Mitbürger!"<br />

Ihr Zeigefinger war bei je<strong>der</strong> Silbe in die Luft gezuckt, wo er nun<br />

zitternd ein paar Sekunden verweilte und nachbebte.<br />

"Würde es etwas nützen, wenn ich dem Mann einmal auflauerte<br />

und ihm eine Watschn verpaßte?" wollte ich wissen, ganz devot und<br />

hilfsbereit. Man tut ja gern mal was Gutes, wenns denn hilft. Man<br />

war bei den Elefanten angekommen, Sophie lief immer schneller,<br />

hatte auch gar kein Auge für die Tiere. Ein Leierkasten verdarb ein<br />

bißchen die temperamentvolle Stimmung. Ich hätte die nervöse<br />

Frau jetzt beruhigend in den Arm nehmen können, aber dazu war<br />

ich zu sehr Profi. Mir ging es nur <strong>um</strong> die Quotes, <strong>um</strong> den Artikel.<br />

Danach würden wir uns nie wie<strong>der</strong>sehen, und ihren pädophilen Alt-<br />

68er-Verführer konnte sie selbst kaltmachen. Ich mischte mich nie<br />

in an<strong>der</strong>er Leute Angelegenheiten. Ich räusperte mich und sagte<br />

förmlich:<br />

"Letzte Frage: Ist <strong>der</strong> Marxismus als Methode des Denkens und<br />

Analysierens für Sie gleich mitgestorben?"<br />

"Ja."<br />

"Und wie sollen sich die neuen EU-Mitgliedslän<strong>der</strong> dann ihr<br />

kommendes Elend erklären? Sie werden Wan<strong>der</strong>arbeiter und<br />

müssen ihr im Westen verdientes Geld in neuen polnischen Lidl-,<br />

Aldi- und Pennymärkten abliefern."<br />

"Ich verstehe die Frage nicht."<br />

Egal. Ich schaltete das Tonband aus und blickte auf die Elefanten.<br />

Eine Horde Grundschulzwerge stand quietschend und piepsend <strong>um</strong><br />

sie her<strong>um</strong>, vor allem Mädchen, ganz zutraulich. Die Jungen legten<br />

Brotreste in die Rüsselöffnungen, das sah wirklich nett aus. Ich<br />

glaubte schon, daß die Elefanten uns Menschen freundlich<br />

gesonnen waren. Und im Tierreich waren das echte Autoritäten!<br />

Fußnote<br />

Sophie Dannenberg:<br />

Wie fast alle Reportagen machte auch diese einen mächtigen Wirbel, <strong>der</strong> über das<br />

Journalistische weit hinausging. Es kam zu juristischen Scharmützeln zwischen Sophie<br />

Dannenberg und <strong>der</strong> Zeitung, das war die linke "taz", aber z<strong>um</strong> Glück wurde ich nicht<br />

involviert, was ich einzig dem äusserst <strong>um</strong>sichtigen und verantwortungsbewußten Vize-<br />

Chef Peter Unfried zu verdanken hatte. Ich verstand auch den Konflikt nicht. Die an<strong>der</strong>e<br />

Seite fühlte sich wohl falsch dargestellt, hatte aber schlechte Karten, da es die Person<br />

41


Sophie Dannenberg gar nicht gab; es war ein Pseudonym. Ich und die taz wurden also<br />

von einem Pseudonym verklagt. Während ich dies hier nachträglich schreibe, spüre ich,<br />

wie irgendwelche Anwälte schon wie<strong>der</strong> prüfen, ob man nicht auch diese kleine<br />

Fußnote z<strong>um</strong> Anlaß für großangelegte Prozesse und Schadensersatzklagen machen<br />

kann. Auch die an<strong>der</strong>en Zeitungen berichteten über den Streit zwischen "taz" und<br />

Dannenberg, was mir schon unheimlich war. Noch ein <strong>halb</strong>es Jahr danach<br />

berichtete Hubert Spiegel in <strong>der</strong> FAZ, das Geheimnis <strong>um</strong> Sophie Dannenberg sei nun<br />

gelüftet, es handele sich <strong>um</strong> meine Nichte Hase, und <strong>der</strong> Roman sei von ihr, Nichte<br />

Hase, geschrieben worden. Er belegte diese These mit zahllosen Stellen aus<br />

meinem Buch "Die Jugend von heute". ER wurde nicht mit einer Klage konfrontiert,<br />

soweit ich weiß. Vielleicht hatte die eigene Prozeßwut die Dame inzwischen<br />

zermürbt. Noch heute werde ich manchmal gefragt, ob es Sophie Dannenberg wirklich<br />

gegeben habe. Das Thema macht mich immer etwas unsicher. Denn das Buch, das sie<br />

geschrieben hat, ist wirklich einzigartig und wertvoll.<br />

8. Mit Sarah Wagenknecht im Wahlkampf<br />

Sie ist die einzige namhafte Marxistin Deutschlands und trotzdem noch ein<br />

Twenty-Something. Sie ist die mit weitem Abstand schönste Frau <strong>der</strong><br />

Politik, betören<strong>der</strong> als Benazir Bhutto je war o<strong>der</strong> diese arretierte<br />

Oppositionsführerin in Burma. Andauernd wird sie mit Rosa Luxemburg<br />

verglichen; dabei ist sie viel attraktiver als diese, und mutiger: Rosa<br />

befand sich mit Millionen im gleichen Trend, Sahra steht allein. Wer sonst<br />

möchte heute noch als kompromißloser Stalinist gelten? Selbst Gregor<br />

Gysi drohte, die PDS zu verlassen, sollte <strong>der</strong> eiskalte Engel <strong>der</strong><br />

"Kommunistischen Plattform" weiter im Politbüro <strong>der</strong> Partei sitzen. Das<br />

war vor drei Jahren, und seitdem ist sie bundesweit bekannt. Damals,<br />

1995, wirkte sie noch härter und gnadenloser als heute. Eine<br />

Masochismusphantasie, die man nicht ernstnehmen konnte: in den<br />

Illustrierten das frontale Schwarzweiß-Foto von <strong>der</strong> jungen, viel zu<br />

schönen Frau mit dem streng zurückgekämmten Haar, ein Fahndungsfoto,<br />

dazu immer das Wort: Stalin. Man stellte sich einen Gulag vor,<br />

eingesperrte Skinheads zu Hun<strong>der</strong>ten in Sträflingsanzügen, gefolterte<br />

Deutsche von <strong>der</strong> DVU und den Republikanern, und die<br />

Lagerkommandantin Wagenknecht mit <strong>der</strong> großen Peitsche dazwischen.<br />

Und abends immer Schauprozesse.<br />

Heute sieht sie etwas mil<strong>der</strong> aus. Sie hat sogar geheiratet. Nicht einen<br />

CDU-Banker aus Hollywood, wie zu lesen war, son<strong>der</strong>n einen rheinischen<br />

Luftikus, <strong>der</strong> schon einen Teil seines Lebens in U-Haft verbrachte, aber<br />

immer wie<strong>der</strong> auf die Beine fällt. Zu seiner Jung-Baron Münchhausen Vita<br />

zählt z<strong>um</strong> Beispiel, daß er mit 13 Jahren Altkanzler Helmut Schmidt<br />

interviewte, o<strong>der</strong> daß <strong>der</strong> Verfasungsschutz ihn schon mal für einen RAF-<br />

Terroristen hielt, ihn mitsamt Sahra observierte und heimlich<br />

anschwärzte. Eine ekelhafte Geschichte.<br />

Die schöne Querulantin kandidiert in Dortmund für den Bundestag. Könnte<br />

sie jedem Wähler einen flüchtigen Kuß auf die Lippen setzen, wäre ihr <strong>der</strong><br />

Sieg sicher, z<strong>um</strong>al gegen einen mediokren SPD-Hinterbänkler, <strong>der</strong> den<br />

Wahlkreis seit 28 Jahren hält, ohne daß ihn jemand kennt. Der Mann heißt<br />

"Urbaniak" o<strong>der</strong> so, klingt wie ein sowjetisches Ulkwort, und weil Sahra<br />

42


nie von ihm gehört hatte, besuchte sie eine SPD- Versammlung. "13<br />

Hanseln saßen da r<strong>um</strong>, alle ober<strong>halb</strong> des Rentenalters. Entsetzlich."<br />

Zu Sahra Wagenknecht kommen jeden Abend hun<strong>der</strong>te, vor allem aber<br />

junge Leute.<br />

"Wenn ich mit denen die <strong>halb</strong>e Nacht diskutiere und dann merke, wie eine<br />

Mauer fällt, ist das für mich <strong>der</strong> glücklichste Moment politischer Arbeit."<br />

Nicht nur für sie. Mit <strong>der</strong> Rosa-Luxemburg-Wie<strong>der</strong>gängerin, mit <strong>der</strong>en<br />

frappierend erotischer Ausstrahlung ja keiner rechnet, diskutiert je<strong>der</strong><br />

gern, <strong>der</strong> sich einen Rest Geschichtsbewußtsein bewahrt hat. Was aber die<br />

fallende Mauer anbetrifft:<br />

als in Berlin die Mauer fiel, blieb Sahra zu Hause und las Kant. Solange,<br />

bis sie die Buchstaben nicht mehr erkennen konnte, vor Tränen.<br />

Sie liebt die DDR bis heute. In ihrem Zimmer hängt angeblich ein Ulbricht-<br />

Poster, wie sie kürzlich in einem Interview bestätigte, und es hing da<br />

schon, als bei an<strong>der</strong>en ihres Jahrgangs noch Michael Jackson über dem<br />

Mädchenbett prangte. Als damals die Nachbarn mit schweren Tüten voller<br />

Apfelsinen und Bananen aus dem Westen die Treppen hochkamen und<br />

sich abschleppten bis z<strong>um</strong> Herzinfarkt, blieb sie konsequent im Ostteil <strong>der</strong><br />

Stadt. Wozu den siegreichen Klassenfeind auch noch besuchen? Erst in<br />

den 90er Jahren schaute sie mal rein, bereits als politische Aktivistin.<br />

<strong>Auf</strong>gewachsen war sie übrigens bei den Großeltern in Jena:<br />

"Eine mehr dörfliche Atmosphäre, wo man als Kind besser allein sein<br />

konnte als in <strong>der</strong> Stadt." Zwei Jahre vor <strong>der</strong> Einschulung lernt sie Lesen<br />

und Schreiben.<br />

Seitdem liest sie und ist noch lieber allein. Mit 15 lernt sie Goethes Faust I<br />

und II auswendig. Geht man mit ihr heute durch die Straßen, merkt man,<br />

daß sie nichts <strong>um</strong> sich her<strong>um</strong> wahrnimmt: nicht die Menschen, nicht die<br />

Häuser, nicht die Landschaft. In Gedanken ist sie eben bei Goethe. Und<br />

natürlich bei allem, was ihm folgte, Marx, Engels, Lenin und Stalin. Sie<br />

lebt seit ihrem dritten Lebensjahr in den Büchern. Von <strong>der</strong> Welt sieht sie<br />

die Idee, die sie verkörpert, nicht die Welt selbst. Das ist faszinierend.<br />

Woran man es merkt? An ihrer vollkommen unnatürlichen<br />

Unbeweglichkeit. Sie gleitet durch die Massen wie eine hölzerne<br />

Madonnenfigur. Sie reagiert auf kein Lachen, wie Kin<strong>der</strong>, die die Witze <strong>der</strong><br />

Erwachsenen nicht verstehen. Man fährt im Aussichtswaggon durch die<br />

nun wortwörtlich blühenden Landschaften Oberbayerns - sie spricht in<br />

München und Ingolstadt - und sie redet von Armut, Zinsknechtschaft und<br />

<strong>der</strong> Kluft zwischen den Klassen. Stundenlang herrliche Wäl<strong>der</strong>, frisch<br />

verputzte Häuser, saftig-satte Almhütten, kristallklare Seen, azurblauer<br />

Himmel, fröhliche Menschen, gesundes Vieh. "Wir fahren durch wahrhaft<br />

blühende Landschaften, Frau Wagenknecht.<br />

Sehen Sie das nicht?" Nein, sie schaut nicht aus dem Fenster, reagiert<br />

nicht darauf, spricht weiter vom Arbeitsamt, von Lohnd<strong>um</strong>ping, von <strong>der</strong><br />

Profitrate. "Die Menschen werden entlassen und zu schlechteren<br />

Bedingungen wie<strong>der</strong>eingestellt."<br />

Das Vieh auch? "Da ist die sozial Schwächere, die putzen geht und glaubt,<br />

<strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong> verdirbt ihr den Preis." Was, hier im Wald?<br />

43


Nein, in Dortmund natürlich. Das ist ihr Wahlkreis. Länger als drei Wochen<br />

hat sie da aber noch nicht gewohnt. Das Nachtleben dort kennt sie nicht<br />

und die Bürger auch nicht. In Lokale geht sie nur, <strong>um</strong> dort Termine<br />

wahrzunehmen. Der ganze Freizeitbereich ist ihr unbekannt. Tanzen,<br />

Spaß, Drogen, Sex? Schon die Frage läßt mann lieber. Eigentlich ist das<br />

doch recht sympathisch: auch Rosa Luxemburg hätte die Disco gemieden.<br />

Marx hätte den Joint dankend abgelehnt.<br />

Goethe hatte bekanntlich seinen ersten One-Night-Stand erst im 40.<br />

Lebensjahre, sicher wußte er, war<strong>um</strong> erst so spät. Wozu doof<br />

her<strong>um</strong>ficken, wo er doch so hübsch dichten konnte? Dennoch: Daß Sahra<br />

nicht wenigstens zu ihren neuen Nachbarn gute Beziehungen aufbaut,<br />

erklärt nur eine ungeotheanische West-Phobie.<br />

"Deutschland war für mich die DDR. Was sollte ich mit dem Westen... ich<br />

hatte ja auch nichts in Frankreich o<strong>der</strong> so zu suchen... Z<strong>um</strong> Glück war<br />

Goethe ja in Weimar und so." Sie lacht. Geboren war er in Frankfurt am<br />

Main. Scheiße. Na, egal.<br />

Mit <strong>der</strong> Ingolstädter PDS-Bundestagsabgeordneten Eva Bulling-Schroeter<br />

wird an diesem Tag des Endwahlkampfs "über Straßen und Plätze<br />

gezogen" (so das Kohl-Wort). Aber während die MdB Hände schüttelt und<br />

flapsige Bemerkungen in die Menge wirft wie Kußhände, gleitet die<br />

kommunistische Ikone wie auf Schienen an den diversen Schauplätzen<br />

und Wessi-Wählern vorbei. "Die Bullinger" ist Profi-Politiker und<br />

Bürgerschreck zugleich: vom Outfit her könnte sie beim Revival-Konzert<br />

<strong>der</strong> Ramones mitspielen, als späte Suzi Quatro und Punk-Oma, aber<br />

leutselig und "spontan" ist sie wie Gerhard Schrö<strong>der</strong>. Die unnahbar schöne<br />

Wagenknecht dagegen trägt ein perfektes, akkurates, steingraustählernes<br />

Kostüm mit mattsilbernen Knöpfen, als wäre sie die Alibifrau im<br />

Vorstand <strong>der</strong> Deutschen Bank.<br />

Passend dazu die ebenfalls steingrauen Nylons, von denen <strong>der</strong> linke eine<br />

verräterisch wirkende Laufmasche aufweist, die man einfach verfolgen<br />

muß bis in den hochsitzenden Rock hinein: was für herrlich schlanke Beine<br />

sie doch hat und wie knapp <strong>der</strong> Rock sitzt - ohne Laufmasche wäre einem<br />

das gar nicht aufgefallen.<br />

Und die makellosen Knie. Aber das Inhaltliche ist wichtiger, vor allem ihr.<br />

Wie wird sich die Welt ohne ein sozialistisches Gegengewicht entwickeln?<br />

Wie kann <strong>der</strong> Planet überleben, ohne Ulbricht? Doch Spaß beiseite, denn<br />

ist es spaßig, wenn das SPD-geführte Arbeitsamt die Bezüge kürzt? Dar<strong>um</strong><br />

geht es ihr und darüber spricht sie auch mit den Menschen. Sagt sie. Wen<br />

interssiert schon, daß sie besser aussieht als Cathérine Deneuve in ihren<br />

coolsten Filmen? Daß ihre Haut bronzefarbener, reiner und samtiger ist als<br />

die von Verona Feldbusch? Daß ihre Augen größer, dunkler und<br />

grasgrüner sind und weiter auseinan<strong>der</strong>stehen als die von... lassen wir<br />

das! Schnell eine Frage: welchen lebenden Politiker mag sie am meisten?<br />

"Fidel Castro!"<br />

Über ihren Vater spricht sie nicht. Der kommt in ihrer Biographie nicht<br />

vor. Der Großvater war Proletarier bei Zeiss. Lothar Späth hat dann 90<br />

Prozent <strong>der</strong> Leute entlassen und wird dröhnend auf CDU-Jubelfeiern<br />

beklatscht, wenn er sagt: "Bey unsch kennma sähn, was sharehol<strong>der</strong><br />

44


value bedeutet, weil unsere Arbeiter se meistensch scho han!" Da<br />

schüttelt es die Kommunistin. Ihr Blick wird finster, als sähe sie den Späth<br />

im verdienten KGB-Folterkeller, Elektroden an den Händen, Berija mit<br />

schneiden<strong>der</strong> Stimme vor sich. Aber, ach!, ist´s doch nur Phantasie... Als<br />

Kind lebt sie nicht immer dort, son<strong>der</strong>n wird zurück zur Mutter gegeben,<br />

Prenzlauer Berg, Altbauwohnung mit Außentoilette. Sie geht in die zweite<br />

Grundschulklasse, als man eine nagelneue Wohnung im sozialistischen<br />

Utopia erhält: Mahrzahn, Plattenbau! Eine Großsiedlung vom F<strong>eins</strong>ten.<br />

Sahra empfindet es nicht als Ghetto, liebt die Grünflächen, hält sich aber<br />

weiter abseits, meidet alles Gesellige. Kerzengerade und unbeweglich<br />

steht sie inmitten <strong>der</strong> Grünfläche und liest `Lohn, Preis und Profit´, ließe<br />

sich z<strong>um</strong>indest mutmaßen.<br />

Eigentlich ist so ein Mensch wie Sahra Wagenknecht sehr gefährdet. Ihre<br />

Schultern sind stolz - zu stolz. Gegen den Angriff eines noch nicht einmal<br />

ausgewachsenen Schäferhundes könnte sie sich in ihrer Steifheit und<br />

Körperlosigkeit keine fünf Sekunden lang verteidigen. Ein Vergewaltiger<br />

und brauner Schläger hätte leichtes Spiel. Umgekehrt kann man sich alte<br />

Kintopp-Filme vorstellen, in <strong>der</strong> Sarah die Rolle des Diktators übernimmt,<br />

<strong>der</strong> mit tiefgefrorenem Lächeln den Einsatz <strong>der</strong> Atombombe befiehlt und<br />

mit Glacéhandschuhen den roten Knopf dazu bedient: absolut beherrscht,<br />

minimalistisch und unspontan. Aber konsequent.<br />

Nun gut, das sind Tagträ<strong>um</strong>e. Die reale PDS-Führerin hält abends eine<br />

insgesamt doch flammende Rede. Erst sitzt sie wie<strong>der</strong> autistisch wie ein<br />

Marsmännchen am Vortsandstisch, aber als sie dran ist, merkt man doch,<br />

daß sie schon drei Bücher über Wirtschaftstheorien geschrieben hat und<br />

täglich die F.A.Z. akribisch von vorn bis hinten durchliest. Und sie hat<br />

Faust I/II ja WIRKLICH ganz und gar auswendig gelernt, alle<br />

zwanzigtausend Verse, das ist ja kein PR-Gag, läßt also zwingend auf<br />

"Genie" schließen. Da bekreuzigt sich selbst Gysi, und Kohl guckt<br />

beson<strong>der</strong>s doof. Sie spricht davon, daß die Wirtschaft soviel Geld macht<br />

wie noch nie und die Leute trotzdem immer ärmer werden. Daß die<br />

Volksökonomie so gut in Schuß ist wie nie zuvor, blendend dasteht, seit<br />

Jahren schon, immer mehr verdient, unverschämt viel und schnell und<br />

immer mehr und immer schneller, und trotzdem die Einkommen<br />

pausenlos gekürzt werden. Daß 0,8 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung die Mehrheit<br />

<strong>der</strong> 5400 Milliarden Mark Vermögen besitzen und inzwischen alles steuern,<br />

weil es keine sozialistische Gegenmacht mehr gibt. Und daß Schrö<strong>der</strong><br />

diesen Mächten längst verpflichtet ist, weil er sonst gar nicht soweit nach<br />

oben gelassen worden wäre.<br />

Stille im Saal. Die Autonomen, die Halstuchträger, Schmuddelkin<strong>der</strong>,<br />

grauen Panther, Spastiker, Kiffer, Salonbolschewiken, Arbeitslose,<br />

Journalisten, Neo-Punks, Altstudenten, Neugierige, Nachbarn und Bürger<br />

und Penner: sie reiben sich die Augen. Der Geist eines Verstorbenen steht<br />

da vor ihnen. Der Sozialismus in Engelsgestalt. Als Wahrheit sozusagen.<br />

9. Mit KATHRIN PASSIG in <strong>der</strong> ZIA<br />

45


Kathrin Passig hat ein Buch über Sadismus geschrieben. Deswegen wird<br />

sie hier portraitiert. Die attraktive 28-jährige ist, obschon lange ein<br />

Paparazzi, nun selbst berühmt geworden o<strong>der</strong> dabei, es zu werden. Man<br />

darf sie beobachten.<br />

Wer sich für Kathrin Passig mehr interessiert als für <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>,<br />

also alle, überspringe die Passagen, in denen das Wort "Ich" auftaucht und<br />

klicke direkt auf das nächste Wort "Kathrin Passig": Hausmeister Anko<br />

Ankowitsch hat sich bereit erklärt, dieses Wort immer fett zu drucken. Das<br />

macht es uns allen leicht und <strong>der</strong> Autor fühlt sich wohl.<br />

Der Leser, <strong>der</strong> sich trotzdem durch die nun folgenden endlosen Episteln<br />

quält, wird wissen wollen, was all das persönliche Gedröhn mit <strong>der</strong><br />

bekennenden Sadistin hier zu tun haben soll. Aber es ist ja nicht für den<br />

SPIEGEL. Wir werden sehen. Die Freiheit nehm' ich mir.<br />

Angefangen hat alles mit dem berühmten Max-Goldt-Abend, beschrieben<br />

bereits in den 'Hoeflichen Paparazzi' (bisher 188 Zuschriften). Es war <strong>der</strong><br />

Abend, an dem Goldt ein erstes- und letztesmal mit seinem alten Lektor<br />

vom Haffmans Verlag und seinem neuen Lektor von seinem neuen Verlag<br />

zusammensaß und trank. Ich kann mir vorstellen, daß ihm das<br />

unbehaglich war - vielleicht. Da spekuliere ich nur. An seiner Stelle wäre<br />

mir es mir gewesen. Dazu saß ihm gegenüber dieser ungewöhnliche<br />

Mensch, ich also, und das komplizierte die Sache sicher noch.<br />

Goldt ist ein wun<strong>der</strong>voller Mann, und hätten wir mehr davon, wäre<br />

Deutschland zivilisiert. Aber ungewöhnlich ist er nicht. Ich merkte es<br />

daran, daß er mit mir nichts anfangen konnte. Ich kenne nämlich<br />

durchaus das Erlebnis, auf einen gleichgesinnten Fremden zu treffen und<br />

sich von <strong>der</strong> ersten Sekunde an innig zu lieben und zu erkennen. Ich war<br />

nur mitgegangen, weil mein eigener Lektor, in Personalunion halt Max'<br />

alter Haffmanslektor, mich dazu gezwungen hatte. Heiko Arntz. Ich würde<br />

für den alles tun, denn ein Autor ist ja immer ganz verschossen in seinen<br />

Lektor, sonst könnte er gar nicht schreiben. Ich ging also mit und<br />

unterstützte Herrn Arntz bei seinem schweren Gang. Tatsächlich stellte<br />

sich heraus, daß Goldts neuer Lektor (das Wort nun z<strong>um</strong> letztenmal) nicht<br />

ohne war.<br />

Ich konnte Goldt verstehen, daß er rübergemacht hatte auf die an<strong>der</strong>e<br />

Seite.<br />

Bei dem, Alexan<strong>der</strong> Fest hieß <strong>der</strong>, hatte ich nämlich das eben genannte<br />

Gefühl, auf einen gleichgesinnten Fremden zu treffen. Die gesamte<br />

Debatte zwischen Goldt und mir wurde nur von einem verstandem,<br />

diesem Fest nämlich. Jedenfalls politisch. Nun kommen wir auch aus<br />

vergleichbaren Familien. Unsere Ahnen hatten sich schon in Rahels Salon<br />

getroffen. Trotzdem - man verriet Gerd Haffmans nicht, diesen besten<br />

Menschen <strong>der</strong> Zunft. Ich hatte mehr als einmal in tiefster finanzieller Not<br />

seinen Beistand gefunden,. einmal hatte er mir einen hohen vierstelligen<br />

Betrag einfach GESCHENKT, weil er eben an<strong>der</strong>s tickt als ein Buchhalter<br />

von Gruner + Jahr...<br />

Doch zurück z<strong>um</strong> Thema. Das Leben ist vielschichtig. Nicht alle<br />

gleichgesinnten Fremden mögen mich. Viele, die mich gar nicht verstehen,<br />

mögen mich trotzdem. Tragisch aber wird es, wenn Leute, die ich<br />

46


WIRKLICH bewun<strong>der</strong>e, mich verachten. Diese Erfahrung habe ich in<br />

meiner zweiten Lebensphase auf das schmerzlichste fast durchgehend<br />

machen müssen. Als ich jung war und mit dem Schreiben begann, hatte<br />

ich drei Vorbil<strong>der</strong>: Maxim Biller, Rainald Goetz und Matthias Matussek. Die<br />

ersten beiden haben mich gehaßt. Und zwar nur aus dem einen Grund,<br />

daß ich sie so bewun<strong>der</strong>te. Nun wäre das ja nicht schlimm. Nur: ich<br />

konnte nicht aufhören, sie zu bewun<strong>der</strong>n. Und ich wußte: solange sie nicht<br />

schlecht wurden (im Schreiben) konnte ich nichts gegen meine Zuneigung<br />

tun. Ich kaufte an jedem Monatsende das neue TEMPO-Heft, hoffend,<br />

Biller hätte endlich eine schlechte Kol<strong>um</strong>ne geschrieben. Umsonst. Ich<br />

konnte nur "richtig!" brüllen bei jedem Satz.<br />

Später in Talkshows dasselbe Bild: immer sagte Biller genau das, was<br />

gesagt werden mußte. Als einziger. Das Fernsehen war arm ohne ihn. Nun<br />

sind Biller, Goetz und ich (und Matussek) ja eine Generation, und wir<br />

begegneten uns unfreiwillig immer wie<strong>der</strong>. Rainald übernachtete bei mir,<br />

wenn er in Hamburg war, manchmal gingen wir in München spazieren. Wir<br />

trafen uns auf Buchmessen, Partys, im Sch<strong>um</strong>ann's, gefielen uns als<br />

un<strong>der</strong>-cover-Agenten bei Burda. Wir hatten, auch mit Biller, so viele<br />

gem<strong>eins</strong>ame Freunde, daß wir uns vertragen mußten. Aber meine<br />

Zuneigung war immer schwerer zu verbergen und die Verachtung, die sie<br />

hervorrief, ebenso. Das alles hat natürlich viel mit dem neuen Buch von<br />

Kathrin Passig zu tun. Mit Sadismus also. Ich will nicht sagen "auch mit<br />

Masochismus, denn dazu gehören immer zwei", denn meine<br />

Hochschätzung hing nachweisbar mit dem zusammen, was sie schrieben<br />

und nicht mit ihrer Behandlung meiner Person. Als dann - zehn Jahre<br />

hatte ich auf diesen Tag warten müssen - Biller endlich literarisch<br />

komplett versagte, war <strong>der</strong> Spuk vorbei. Ich spreche von seinem<br />

unsäglichen Roman von vor einem Jahr. Als ich ihn kürzlich auf <strong>der</strong> Straße<br />

traf, bin ich durch ihn hindurch gegangen als wäre er nicht da. Als wäre er<br />

Luft. Ich habe es selbst nicht bemerkt. Vielleicht hat er es bemerkt.<br />

Vielleicht läßt sein Haß nach. Ein Haß, <strong>der</strong> irrational und gefährlich war,<br />

nebenbei bemerkt. Für Maxim stand fest, daß ich ein "Antisemit" sei. Das<br />

war exakt so absurd, als würde man ihn selbst so nennen. Mir brachte das<br />

furchtbare Nachteile ein. Und was Rainald alles über mich in Umlauf<br />

bringt, wissen ja die meisten von Euch, wie ich gehört habe. Da mir aber<br />

das letzte Buch "Rave" von ihm besser gefallen hat als all seine<br />

vorangegangenen, kann ich nicht <strong>um</strong>hin, ihn zu mögen. Wenn ich Pech<br />

habe, wird er NIE schlecht! Und er wird mich auch in zwanzig Jahren noch<br />

als Raspe beschreiben, jenes Alter Ego (o<strong>der</strong> auch nur Ego) aus seinem<br />

Erstling "Irre". Er muß auch keine Rücksicht mehr auf gem<strong>eins</strong>ame<br />

Freunde nehmen. Die sind uns ausgegangen. Zuletzt hat Joseph von<br />

Westphalen nochmal für mich Partei ergriffen ("Jetzt laß doch endlich den<br />

Scheiß mit dem lottman-bashing"). Bei Biller war es seine Freundin. Ich<br />

hatte sie doch tatsächlich - soweit kann man als Fan sinken - <strong>um</strong> eine<br />

"Zweite Chance" angefleht. Ist aber schon länger her. Und war natürlich<br />

kontraproduktiv: die Leute können ja nicht raus aus ihrer Veranlagung.<br />

Aber bevor ich jetzt als hardcore-Masochist verdächtigt werde, noch kurz<br />

<strong>der</strong> Gegenbeweis: Der Dritte im Bunde meiner Vorbil<strong>der</strong>, Matthias<br />

47


Matussek, hat auf meine hemmungslose und objektiv unverschämte<br />

Verehrung mit einer gleichstarken Gegenverehrung reagiert. Ich war<br />

gerade sechs Wochen sein Gast (er leitet das SPIEGEL Büro in Rio de<br />

Janeiro) und nach wie vor besorgt er sich jede Zeile, die ich schreibe. In<br />

<strong>der</strong> mail box fast täglich irgendein heißes Lob von ihm. Was ich mal<br />

mache, wenn ER nicht mehr gut schreibt, weiß ich noch nicht. Aber ich<br />

weiß, was er mit einer Frau wie Kathrin Passig machen würde.<br />

Die schreibt nun allerdings auch hervorragend. Ich könnte glatt ihr Fan<br />

werden. Ich tippe mal, sie würde nicht wie Matussek darauf reagieren.<br />

Aber an<strong>der</strong>s als Goetz und Biller hätte sie die Peitsche schon im Schrank -<br />

sie würde nicht blind und irrational handeln. Das war <strong>der</strong> interessante<br />

Punkt daran. Kathrin Passig und <strong>der</strong> etwas an<strong>der</strong>e Sadismus. Ich will nun,<br />

da ich hier als Paparazzi schreibe und nicht als Autor, nichts über eigene<br />

sexuelle Dinge sagen. Dafür sind Worte nun wirklich nicht da. Das wird<br />

je<strong>der</strong> verstehen, <strong>der</strong> schon einmal glücklich war und nicht allein. Ich will<br />

auch nicht auf die sexuellen "Praktiken" eingehen, die in Kathrins Buch<br />

beschrieben werden. Ich bin Paparazzi und sage Euch, wie Kathrin ist, wie<br />

sie aussieht, wie sie guckt, was sie sagt und was sie anhat! Ob sie ein<br />

burner ist, ob sie sozusagen cool ist, o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> nur so ein Produkt wie<br />

wir selbst, eine schlotternde Maulheldin.<br />

Um an sie heranzukommen, mußte ich mich mit ihrer Busenfreundin<br />

Lacoste befreunden. Die rief mich sowieso andauernd an. Ich mag es,<br />

wenn jemand sich so <strong>um</strong> mich bemüht. Ihre mannigfachen<br />

Kontaktaufnahmeversuche mit mir waren ja im For<strong>um</strong> nachzulesen. Der<br />

Anrufbeantworter quoll über, die Stimme klang nett, und als ich hörte, sie<br />

sei <strong>der</strong> Schlüssel zu Kathrins Herz, griff ich männlich entschlossen wie<br />

selten z<strong>um</strong> Hörer. Minuten später war sie schon in meiner Wohnung.<br />

Das war erstaunlich und in meinen Augen anerkennenswert. Ich weihte sie<br />

sogleich ein. Lacoste nahm mich mit zu einem romantischen Lampion-<br />

Abend am Ufer eines Flusses, <strong>der</strong> seit Jahrhun<strong>der</strong>ten durch die Stadt<br />

Berlin fließt - dort sollte ich Kathrin Passig treffen, an den Auen des<br />

Landwehrkanals. Gesagt, getan. Es saßen dort in stockdunkler Nacht:<br />

Kathrin (direkt neben mir, unsere Knie berührten sich fast) sowie die<br />

beliebten Paparazzi Holm Friebe, Christian Y. Schmidt und Benjamin<br />

Schiffner. Und noch zehn an<strong>der</strong>e, vor allem Herrndörfer, <strong>der</strong> mir gut<br />

gefiel, da er so gebildet war. Herrndörfer, Kathrin, Lacoste und ich<br />

bildeten eine Vierergruppe. Kathrin machte diese spezifischen<br />

semantischen Verrenkungen (sollte man netter ausdrücken, ich zitiere<br />

nur), für die sie im Netz bekannt ist. Man muß wissen: die Netz-User<br />

kennen Kathrin nur durch ihre Mails.<br />

Sie schreibt jedoch auch in den Printmedien, vor allem in <strong>der</strong><br />

"tageszeitung" (taz), wo sie natürlich viel besser ist. Ich möchte sagen:<br />

sie schreibt absolut sauber, die Rhythmen stimmen, es ist perfekt, also<br />

sensationell gut für eine Frau. Thematisch wird es bei ihr eng, also sie<br />

entblödet sich, ausschließlich "Frauenthemen" zu behandeln, wofür sie<br />

sicher nichts kann. Das ist die wahre, die harte, die einzige<br />

Frauendiskriminierung, daß junge Frauen geschlechtsspezifische Inhalte<br />

aufgebr<strong>um</strong>mt bekommen. Das ist, als müßte ein junger Mann, nur <strong>um</strong><br />

48


ÜBERHAUPT reinzukommen in den Betrieb, pausenlos über Beschneidung,<br />

Fußball, Wettpinkeln und Ralf Sch<strong>um</strong>acher schreiben. Anstatt über Mode,<br />

Politik, Leni Riefenstahl, Drogen, whatever. Aber gut, wenn jemand so gut<br />

ist wie Kathrin, löst sich das Genre auf. All die Frauenthemen sind,<br />

nachdem Kathrin sich ihrer angenommen hat, erledigt. So muß es sein.<br />

Das ist <strong>der</strong> Sinn des Schreibens.<br />

Zwischen den Zeilen findet "<strong>Auf</strong>klärung" statt, unser aller großes altes<br />

europäisches Projekt, weswegen wir uns hier versammelt haben.<br />

<strong>Auf</strong>klärung an sich ist schon gut, wenn sie heimlich funktioniert wie bei<br />

Kathrin, noch besser. Ich war also dann doch überrascht, in ihr eine<br />

erstaunlich gutaussehende Frau zu entdecken, die schon rein äußerlich<br />

dem Schönheitsideal <strong>der</strong> Antike entsprach: Sie hatte eine perfekte Nase,<br />

mit dem Lineal gezogen, ebenmäßige Gesichtszüge, große, ruhende,<br />

ernste blaue Augen, denen man den Wunsch und wohlüberlegten<br />

Entschluß zur grundlegenden Bestrafung des an<strong>der</strong>en Geschlechts wohl<br />

ansah. Freilich trug sie kein Kleid, keinen Rock, keine langen Haare, keine<br />

roten Lippen, kein Parf<strong>um</strong>, kein Lachen. Nachlässig sah sie aus, wie ein<br />

verb<strong>um</strong>melter Student aus Münster / Westf., und sie sah einem auch<br />

niemals, außer beim Abschied (daher habe ich den eben beschriebenen<br />

Eindruck) in die Augen; mir nicht, allen an<strong>der</strong>en nicht, nicht einmal ihrer<br />

Busenfreundin. Sie sah immer leicht lächelnd ins Leere; kein gutes Omen,<br />

lieber Leser! Vor Leuten, die einem nicht gerade ins Gesicht sehen, soll<br />

man sich als wackerer deutscher Mann hüten. Ihre Busenfreundin war<br />

übrigens genauso. Immer dieser feige wegrutschende Blick, dieses<br />

schlechte Gewissen die ganze Zeit. Was mochte es schon sein, was die<br />

Schwestern da im Schilde führten, was war denn nun so furchtbar schlecht<br />

und böse, das sie planten? Sicher hatten sie einan<strong>der</strong> versprochen,<br />

irgendwas Lächerliches über mich dann später mal ins Netz zu stellen. Sie<br />

wußten ja nicht, für wieviele an<strong>der</strong>e ich in meinem Leben schon als<br />

Feindbild Modell gestanden hatte. Alle drei Jahre eine neue Empörung, ich<br />

war immer dabei. Das verlange ich auch von je<strong>der</strong>mann, <strong>der</strong> etwas auf<br />

sich hält: dem jeweils herrschenden Bewußtsein darf man nicht<br />

entsprechen. Also gut - wir saßen da in <strong>der</strong> Wiese, und Kathrin gefiel mir<br />

natürlich bestens. Wer hätte das gedacht! So eine hübsche Frau. Ein<br />

ungeschliffener Diamant. Eine antike Figur, die man in den eigenen Garten<br />

stellen konnte.<br />

Sie war etwa 1.80 Meter groß, gut gebaut, schlank und doch kräftig,<br />

vielleicht ein wenig maskulin, aber nicht schlecht. Sehr anziehend. Ich<br />

hätte ihr Großvater sein können und habe sie daher nicht betatscht.<br />

Außerdem bin ich körperlich ungefähr so anziehend wie Rudolf Augstein.<br />

Wenn ICH Frauen dennoch anfasse, dann nur als politische Geste, als<br />

verzweifelte, existentialistische "Dennoch!"-Handlung, als Akt gegen<br />

Altersdiskriminierung, Äußerlichkeitswahn und natürliche Ungerechtigkeit.<br />

Ich kann nichts dafür, daß ich häßlich auf die Welt gekommen bin, und es<br />

ist nicht Kathrins Verdienst, die perfekte Nase zu besitzen.<br />

Trotzdem faßte ich Kathrin nicht an! Ja, ich kann auch richtig feinfühlig<br />

sein.<br />

49


Sogar Männer können sich also manchmal wie vernünftige Wesen<br />

benehmen! Naja, ich wollte ja auch etwas von ihr. Ich wollte nicht, daß sie<br />

SOFORT loslegt mit <strong>der</strong> Bestrafung (sie hatte ihr Equipment auch gar nicht<br />

mit). Erst wollte ich ein bißchen reden.<br />

Das aber ging nicht. Welches Thema ich auch anschlug - sie reagierte<br />

schwach o<strong>der</strong> gar nicht. Ein Kompliment - sie starrte nur auf die Wiese.<br />

Eine Bosheit - sie sagte nichts dazu (stattdessen antwortete Herrndörfer<br />

sehr kundig). Ein Vorschlag - keine Antwort. Eine These zu einem Film -<br />

keine Antwort. Eine Einladung zu einem Event - Schweigen. Eine<br />

Erlebnisschil<strong>der</strong>ung aus dem eigenen Leben - keine Reaktion, später eine<br />

kleine, bemühte, semantisch verrenkte Gegenrede, die mitten im Satz<br />

abbricht. Wie<strong>der</strong> ein Kompliment, diesmal maßlos übertrieben - unsicheres<br />

Abwarten. Ein Kuß - sie erstarrt nur. Ein Vorwurf - sie versteht nur<br />

Bahnhof. Ein Gesprächsversuch über Religion - sie sagt ein paar Sätze,<br />

äußert mattes Verständnis. Ein Gesprächsversuch über Else Buschheuer -<br />

kennt sie gar nicht (dafür aber Herrndörfer, <strong>der</strong> begeistert zu diskutieren<br />

beginnt).<br />

Ein Gesprächsversuch über den Film 'Almost Famous' - kennt sie nicht<br />

(wohl aber Herrndörfer, <strong>der</strong> begeistert gegenhält). Und so weiter. Immer<br />

Herrndörfer.<br />

Nie Passig. Die schien so sehr vieles gar nicht zu KENNEN, was mich<br />

nachdenklich machte. War es wirklich so? O<strong>der</strong> waren es nur verschiedene<br />

Welten? Hätte ich ebenso nichts von dem gewußt, was sie vielleicht<br />

gefragt hätte? Aber wieso wußte <strong>der</strong> junge Herrndörfer dann alles? Der<br />

kam doch aus IHRER Welt. Und wieso schrieb sie dann so gut, wenn sie<br />

doch nichts wußte? Konnte man ungebildet UND ein Schreibgenie sein?<br />

Das hatte ich ja noch nie gehört. Sicher irrte ich mich. Mit äußerster Kraft<br />

wi<strong>der</strong>stand ich dem Wunsch, immer weiter mit Herrndörfer zu disputieren,<br />

zuletzt über Karen Duve, einer alten Freundin, <strong>der</strong>en Partei gleichwohl er<br />

leidenschaftlich und nicht ich ergriff, sodaß wir aufsprangen und die Arme<br />

in die Luft warfen wie Franzosen. Mit zusammengepreßten Lippen setzte<br />

ich mich wie<strong>der</strong> und stellte Kathrin die nächste Frage. Nun muß man<br />

wissen, daß die Stimmung dort eigentlich sehr locker war. Es wurde viel<br />

gelacht, alle fühlten sich wohl, keiner merkte, daß vielleicht irgendwas<br />

nicht so lief, wie es sollte. Und auch ich ließ mich nun gehen und trank ein<br />

Clausthaler. Die Leute mochten und kannten sich. Lacoste und Kathrin<br />

waren halt (und wenn ich das sage, meine ichs nett!) typisch deutsche<br />

Frauen, in dem Sinne: nirgends auf <strong>der</strong> Welt außer in deutschen<br />

Großstädten gab es diesen bestimmten Typ maskuliner und zugleich<br />

männerhassenden Frau, die zu Männern ungefähr das Gefühlsverhältnis<br />

hat wie homophobe heterosexuelle Männer zu Schwulen. Nun können<br />

homophobe heterosexuelle Männer die besten K<strong>um</strong>pels, zuverlässigsten<br />

Kameraden, treuesten Charaktere sein, echte, authentische Helden, Stolz<br />

einer Gemeinde, Vorbild für die Jugend. Und das gilt natürlich auch für<br />

Kathrin und Lacoste. Ich bin mir sicher, daß man sich auf <strong>der</strong>en Wort<br />

verlassen kann, daß sie gerecht, demokratisch und in je<strong>der</strong> Hinsicht<br />

anständig sind. Und selbstverständlich achte und verehre ich das. So wie<br />

ich früher John Wayne verehrt habe und Gary Cooper. Solche Charaktere<br />

50


auchen wir, und ich bin traurig, daß ich selbst nicht solch ein Charakter<br />

bin. Ich bin nicht cool. Ich bin neugierig. Aber muß man, als Paparazzi,<br />

nicht auch sagen dürfen, daß Haß und Sadismus auch im Kleid <strong>der</strong><br />

Wortgewandtheit keine gute Sache werden? Nicht bei Goetz und nicht bei<br />

Passig? Und daß ein großes Talent, das keine an<strong>der</strong>e Orientierung besitzt<br />

als eine sexistische, in die Irre geht? Schließlich ist ein sexuelles<br />

Ressentiment kein Deut besser als ein religiöses o<strong>der</strong> rassistisches, nicht<br />

wahr? Wir streben doch, wie Faust, nach Erkenntnis des Ganzen und nicht<br />

nach Feindschaft. Aber ich will mich nicht dicke tun. Son<strong>der</strong>n getreulich<br />

erzählen, wie es zuende ging:<br />

Die beiden Leichtgewichte verschwanden dann doch allmählich aus<br />

meinem Blickfeld. Das Clausthaler fing mit ungeheurer Wucht zu wirken<br />

an, ich ging mit Benjamin Schiffner spazieren, <strong>der</strong> mindestens so gebildet<br />

und noch netter als Herrndörfer war. Kin<strong>der</strong>, DAS war ein Vergnügen! Ich<br />

wußte endlich wie<strong>der</strong>, wo ich hingehörte. Am nächsten Tag traf ich mich<br />

erneut mit Lacoste, die ich fortan als solidarische Mitbürgerin zu schätzen<br />

lernte. Man sollte eigentlich niemals etwas über o<strong>der</strong> gegen solche netten<br />

HauptstädterInnen sagen, nicht wahr?<br />

Freilich wären wir dann irgendwie in <strong>der</strong> Zwickmühle. Entwe<strong>der</strong> man hält<br />

als Paparazzi beide Richtungen aus, o<strong>der</strong> man muß im Dunkeln bleiben.<br />

Doch die im Dunkeln sieht man nicht!<br />

Fußnote<br />

Kathrin Passig:<br />

Kathrin Passig kannte damals kein Mensch, jedenfalls nicht<br />

außer<strong>halb</strong> <strong>der</strong> linken Szene. Ihr Sadismusbuch war nichts an<strong>der</strong>es als ein<br />

Service-Heft für eine kleine Zielgruppe, vergleichbar dem Michelin-Führer für Gourmets<br />

und Hotelfreunde. Frauen, die unbedingt ihren Mann verprügeln wollten,<br />

kauften das Ding, und fuhren dann z<strong>um</strong> Ba<strong>um</strong>arkt, <strong>um</strong> die angegebenen Instr<strong>um</strong>ente zu<br />

holen. Das alles hatte keinen intellektuellen Hintergrund. Der Blog, <strong>der</strong> damals<br />

schon einer <strong>der</strong> erfolgreichsten mit vielen Hun<strong>der</strong>ttausend Einträgen war,<br />

machte sie ein bißchen bekannter, jedenfalls mein Text, <strong>der</strong> monatelang an <strong>der</strong><br />

Spitze stand und sogar heute noch von irgendwelchen Leuten heruntergeladen wird.<br />

Trotzdem hätte damals keiner gedacht, dass Kathrin Passig den Bachmann Preis<br />

gewinnen würde. Heute gehört sie unangefochten zu den Top Ten <strong>der</strong> schreibenden<br />

Frauen in Deutschland.<br />

10. Anke Engelke o<strong>der</strong> DIE DEUTSCHE FRAU ALS EWIGER<br />

LAUSBUB<br />

An <strong>der</strong> Zeitschrift DER SPIEGEL war doch immer so schön, daß man<br />

sich auf sie verlassen konnte. So wie auf Harald Schmidt. Diese<br />

beiden, SPIEGEL und Schmidt, machten den Unterschied. Durch sie<br />

lebten wir nicht in Österreich. Wir waren nicht Belgien o<strong>der</strong> die<br />

USA, son<strong>der</strong>n Deutschland. Wir waren nicht fremd im eigenen<br />

Land, wir Intellektuellen. Wir, die wir nicht Focus lasen und die von<br />

Kai Pfla<strong>um</strong>e mo<strong>der</strong>ierte Wok-Weltmeisterschaft gnädig ertrugen<br />

und "Star Search II" ebenso. Der Medienfaschismus hatte zwei<br />

Burgen nicht schleifen können, Schmidt und Spiegel, und das<br />

51


eichte uns. Leute mit Geld konnten zudem noch die taz kaufen<br />

o<strong>der</strong> jungle world.<br />

Bis Harald Schmidt schlappmachte. Ersetzt wurde er durch Anke<br />

Engelke. Seitdem fragen wir uns: was mochten wir an Harald<br />

Schmidt, was machte ihn so großartig? Und war<strong>um</strong> ist seine<br />

Nachfolgerin so scheußlich? War<strong>um</strong> können wir über Ankes<br />

männerfeindlichen Sexismus nicht lachen? Weil alle ihre Witze aus<br />

demselben Frau-Mann-Ding schöpfen? Weil ihr Menschenbild das<br />

einer achtjährigen Göre ist? O<strong>der</strong> doch, ganz inhaltlich begründbar,<br />

weil ihre Witze ausnahmslos <strong>um</strong>gedrehter männerverachten<strong>der</strong><br />

Latrinenh<strong>um</strong>or sind? Die Antwort erhält, wer probeweise in den<br />

Witzen die Geschlechter tauscht. Dann sind die saufenden,<br />

gem<strong>eins</strong>am in Bordellen fremdfickenden Väter am Vatertag also<br />

Frauen. Ganz bestimmte Frauen: Schlampen. Saufende, manisch<br />

fremdfickende kollektive Schlampen, die alles bohnern, was nicht<br />

bis vier auf dem Autodach ist. Lustig, nicht? Aber nur ab und zu,<br />

nicht eine ganze Sendung lang und die jeden Abend und jedes Jahr.<br />

Trotzdem mögen viele Frauen Anke, gerade die, die so alt sind wie<br />

sie, also 38. War<strong>um</strong>? Weil man kleine infantile Mädchen mag, die<br />

"frech" sind? Weil Anke so eine schnuckelige Teeniefigur hat und<br />

viele 38jährige sich wünschen, ebenfalls wie 18 auszusehen und<br />

niemals zu altern? Weil es immer schön ist, gerade über das zu<br />

lachen, auf dem seit zehn Jahren "Hier darf gelacht werden"<br />

draufsteht? So sind langatmige Witze über den Papst schon seit 30<br />

Jahren erlaubt und absolut risikofrei. Da nur noch einer von 100<br />

Leuten an die Jungfrauengeburt glaubt, dürfen die an<strong>der</strong>en 99<br />

immer schön auf diesen einen <strong>eins</strong>chlagen. Jungfrauengeburt, ha<br />

ha ha! Der Papst, <strong>der</strong> olle Klemmi, hö hö hö! Möcht´s am liebsten<br />

selbst mal machen, hi hi hi, aber er hat halt nur ´n ganz Kleinen,<br />

kreisch, lach, polter! Wer Witze über "den alten Macho im<br />

Petersdom" macht, gilt journalistisch als mutig. War<strong>um</strong>, weiß ich<br />

nicht. Ich weiß auch nicht, war<strong>um</strong> diese "Wir Mädels"-Soße nun<br />

schon seit Jahren quer durch alle Schichten so schmunzelnd<br />

wohlwollend aufgenommen wird, von Sex abd the City bis Elke<br />

Heidenreich. O<strong>der</strong> darfs ein bißchen Soziologie sein? Voilà: Keine<br />

Gesellschaft ist so vaterlos wie unsere. Die meisten kleinen Jungen<br />

- die deutschen - wachsen bei alleinerziehenden Müttern auf.<br />

Entsprechend krank und doof werden und bleiben sie. Mangels<br />

Vatervorbild können sie nie erwachsen werden. Umgekehrt werden<br />

ihre Schwestern natürlich "starke Frauen". Sie werden kleine Anke<br />

Engelkes und bleiben es bis ins hohe Alter, weil da nie etwas ist,<br />

das ihr Paroli bietet. Seltsamerweise finden nun die doofen<br />

knochenlosen Männer genauso wie die wi<strong>der</strong>wärtig "starken"<br />

Frauen eine Figur wie Anke Engelke toll. Eigentlich müßten sie sich<br />

selbst erkennen und laut zu schluchzen beginnen.<br />

Nun sagen meine besten Freunde: Anke ist gut, nur die blöden<br />

Gagschreiber sind schlecht. Stimmt nicht, sage ich: Harald Schmidt<br />

hatte auch schlechte Autoren, konnte aber jeden Satz durch einen<br />

52


Brecht`schen Entfremdungseffekt in sein Gegenteil drehen, konnte<br />

eine distanzierende Schwebe herstellen, ein zeit- und ra<strong>um</strong>loses<br />

Zwischenreich, in dem Bewußtsein entstand. Harald Schmidt<br />

konnte dekonstruieren, Anke Engelke bloß Kalauer ablesen. Anke<br />

ist deutsche Comedy von 1995, Harald ist Beckett von 1948. Anke<br />

ist das Wirtshaus für Frauen, Harald das Theater am<br />

Schiffbauerdamm. Anke verhält sich zu Harald wie Juhnke zu<br />

Brecht. Und eben wie Focus z<strong>um</strong> Spiegel, <strong>um</strong> es nochmal<br />

abzurunden. So macht sie am Tag, als die Amis im Irak eine<br />

Hochzeitsgesellschaft mit Granaten beschießen - 41 Tote, die<br />

meisten Frauen und Kin<strong>der</strong> - und die Israelis einen<br />

Demonstrationszug - 21 Tote, dito - ihre Sendung über das<br />

Schuheputzen von Kai Pfla<strong>um</strong>e. Klar, daß <strong>der</strong> Spiegel die Story auf<br />

den Titel bringt, während Focus ungerührt aufmacht mit<br />

"Faszination Radfahren - ein Trend, <strong>der</strong> immer mehr Freunde<br />

findet". Harald Schmidt wie<strong>der</strong><strong>um</strong>, das Genie, hätte wie immer<br />

beides miteinan<strong>der</strong> verbunden. Er hätte Kai Pfla<strong>um</strong>e den Stiefel<br />

eines GI aus dem Foltergefängnis putzen lassen.<br />

Anke Engelke findet es wahrscheinlich wirklich lustig, wenn sie den<br />

"sympathischen" Pfla<strong>um</strong>e - wahrlich eine Pfla<strong>um</strong>e, dieser<br />

Obersympath - die <strong>halb</strong>e Sendezeit <strong>der</strong>gestalt putzen läßt. Sie hält<br />

es für H<strong>um</strong>or. Für Harald-Schmidt-H<strong>um</strong>or. Sie denkt, das sei so<br />

schön schräg. Wie damals, als Harald die gesamte Französische<br />

Revolution mit Playmobilfiguren nachstellte. Sie ahnt nicht, daß es<br />

Harald damals ernst war. Dem war es wichtig, was er da<br />

vermittelte: Danton, Robespierre, Wohlfahrtsausschuß, Freiheit,<br />

Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit. Sie kennt den Unterschied nicht zwischen<br />

<strong>Auf</strong>klärung und Schuheputzen. Sie kann sich gar nicht vorstellen,<br />

daß jemandem etwas wichtig ist. Das klänge für sie wie "sich<br />

wichtig nehmen". Und da muß man gegen angehen, als Mädel!<br />

Immer vor´s Schienbein treten, wenn die Jungs angeben wollen,<br />

was? Allez, Achtjährige voran!<br />

Aber ist sie wenigstens anarchisch? So zeitlos komisch wie die Marx<br />

Brothers? Sie muß ja nicht gleich Charlie Chaplin sein, Dick & Doof<br />

täten es ja auch schon. Doch weit gefehlt. Beispiel: Das<br />

ausgelaugte Autorenteam von Brainpool hat in <strong>der</strong><br />

Redaktionssitzung herausgekriegt, daß am Tag <strong>der</strong> Sendung vor<br />

209 Jahren das Metermaß eingeführt wurde. "Super", ruft einer,<br />

"da machen wir was draus." Die <strong>Auf</strong>gabenstellung versteht sich von<br />

selbst: irgend einen witzigen Zusammenhang von dem genormten<br />

Meter und <strong>der</strong> Schwanzlänge eines Typen zu finden. Nach<br />

wochenlangem Brüten kommt folgendes heraus: "Also Mädels,<br />

wenn DAS ein Meter sein soll, dann muß mein Freund aber sooo<br />

klein sein!" Eingeblendetes Lachen, Klatschen, Johlen. Auch das<br />

Publik<strong>um</strong> ist zu seinem Gegenteil mutiert: War es unter Schmidt<br />

<strong>der</strong> menschliche Querschnitt unseres zutiefst demokratischen und<br />

demokratisch gewachsenen rotgrünen Deutschlands, ist es unter<br />

Anke die vertierte, rohe, gesichtslose Klatschmaschine des<br />

53


Medienzeitalters. Ebenso die Band: Aus den verunglückten Zerlett-<br />

Heinis, diesen ängstlichen, deplatzierten armen Schweinen, denen<br />

man jeden Schweißausbruch ansah, ist eine im dunklen Violett<br />

verschwindendende Computerband geworden, ins Bild geholt wie<br />

per Trickanimation, gesichtslos auch sie. Einer <strong>der</strong> Musiker soll<br />

Ankes <strong>der</strong>zeitiger Lebensgefährte sein. Das paßt ja. Für eine Frau,<br />

die vier Jahre lang Benjamin von Stuckrad-Barre geliebt hat, ist das<br />

dieselbe Fallhöhe wie von Schmidt herunter zur jetzigen Sendung.<br />

Natürlich wird in <strong>der</strong> Sendung auch pausenlos Reklame für all die<br />

an<strong>der</strong>en SAT1 Shows gemacht. Das war auch früher schon so. Aber<br />

während Harald diese Star-Search- und family-date- und nur-die-<br />

Liebe-zählt-Tips wie mit <strong>der</strong> Pinzette weitergereicht wurden,<br />

spürbar angeekelt, merkt man nun: da ist kein Unterschied zu<br />

Ankes Late Night. Das sind flaue Witze gegen Männer und sonst gar<br />

nichts. Da wird ein Politiker wie Klaus Wowereit eingeladen, <strong>der</strong> mit<br />

süßlichem Lächeln den Dauerton <strong>der</strong> Anzüglichkeiten mitanhört und<br />

dann über Männerstrip reden bzw. lachen soll. Zwischendurch gibt<br />

es Straßenbefragungen, wo durch gezielt irreführende Fragen<br />

harmlose Bürger als Vollidioten denunziert werden. Ha ha.<br />

Wowereit ist immer noch da. "Sind Sie Schuhfetischist?" Was für<br />

eine freche, freche Frage wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> frechen kleinen Maus.<br />

Ach, alle sind noch da, auch das Brechmittel mit dem<br />

"sympathischen" Golden-Retriever-Face, Kai Pfla<strong>um</strong>e. Der erzählt,<br />

unser Bundespräsident habe in seiner Wohnung zu Anke gesagt, er<br />

fände sie "geil". Und in <strong>der</strong> Tat, geil sieht sie schon aus. In <strong>der</strong><br />

Sendung wird <strong>der</strong> Ausrutscher dann auch als Indiz für Raus<br />

"Lockerheit" genommen. Denn dar<strong>um</strong> - nur dar<strong>um</strong> - geht es im<br />

verbindlichen Weltbild des Privatfernsehens. Locker sollst du sein,<br />

und niemals darf es dir <strong>um</strong> etwas gehen. Sei locker, sei das Nichts!<br />

Gehe ins Nirwana ein als entmenschte Klatschmaschine - und alles<br />

wird gut. Wenn du ein Mädel bist.<br />

Fußnote<br />

Anke Engelke:<br />

Dieser Text greift frühzeitig ein Thema auf, dass mich danach<br />

immer intensiver beschäftigen sollte, nämlich die Benachteiligung von Jungen<br />

gegenüber Mädchen. Am 18. März 2007 schrieb ich in <strong>der</strong> Welt am Sonntag, die<br />

Schüler würden in ihren Leistungen <strong>um</strong> fast ein Drittel gegenüber den Schülerinnen<br />

zurückbleiben. Und zwar keineswegs, weil sie kleinere Gehirne hätten.<br />

Vergleiche auch Ariadne von Schirachs Buch darüber, "Der Tanz <strong>um</strong> die Lust".<br />

Schirach zeigt darin, wie Frauen den männlichen Chauvinismus adaptiert hätten,<br />

und zwar <strong>eins</strong> zu <strong>eins</strong>. Frauen redeten über an<strong>der</strong>e Frauen inzwischen so<br />

unmenschlich, wie bestimmte Männer - die Proleten - es immer getan hätten (und nicht<br />

mehr tun). Und auch über Männer redeten sie so. Das klingt anfangs lustig,<br />

eben wie Anke Engelke. Später nicht mehr.<br />

54


11 24 Stunden mit Alexa Hennig von Lange<br />

Kastanienallee, Kastanien, Herbst, Blätter, ein schöner, funkeln<strong>der</strong><br />

Abend, ein goldener Oktober in Berlin – einer von diesen Tagen, an<br />

denen man gerne lebt. Ich warte vor <strong>der</strong> Wohnung von Alexa<br />

Hennig von Lange, <strong>der</strong> grossen deutschen Schriftstellerin, die<br />

gerade auf <strong>der</strong> Frankfurter Buchmesse ihren neuen Roman ´Risiko´<br />

vorgestellt hat. Ein gutes Buch. Holm Friebe und ich haben es uns<br />

gegenseitig vorgelesen auf <strong>der</strong> langen Fahrt nach Kassel zur<br />

Doc<strong>um</strong>enta. Und kontrovers diskutiert natürlich.<br />

Alexa kommt herunter, und wir begrüssen uns herzlich. Eine<br />

schöne Frau.<br />

„Du siehst phantastisch aus“, sagt sie.<br />

„Dir muß ich es ja nicht sagen, es sagen ja schon alle an<strong>der</strong>en“,<br />

sage ich.<br />

Ein geungener Beginn. Doch dann taucht eine bekannte Malerin<br />

von schräg hinten auf, <strong>um</strong>armt mich, stellt sich als meine Freundin<br />

vor. Und es stimmt: ich kenne sie seit über 20 Jahren, wir gingen<br />

zusammen zur Schule, sie erst zwei Klassen über mir, später meine<br />

Banknachbarin.<br />

„Potzblitz, die olle Bartel!“ entfährt es mir im alten<br />

Feuerzangenbowle-Jargon. Zweiein<strong>halb</strong> Jahre Altersunterschied<br />

können sehr viel sein für einen Teenager. Aber wir kommen gleich<br />

wie<strong>der</strong> relativ nett ins Gespräch.<br />

Schließlich steigen wir zu dritt in den Wartburg. Ich erkläre die<br />

Situation:<br />

„Ich mache gerade eine Geschichte für eine renommierte deutsche<br />

Sonntagszeitung mit dem Titel ´24 Stunden mit Alexa Hennig von<br />

Lange´.“<br />

Die Bartel – Vorname Bettina, damals ´Betzi´ gerufen - lacht<br />

häßlich, wie früher, und meint, das klänge wie ´twenty-four hours<br />

in bed with my favourite star´. Ich nicke. Ja, so fühle es sich auch<br />

an. Subjektiv gefühlte Intimität sozusagen.<br />

Judith ist krank, und ich will noch kurz nach ihr sehen. Sie wohnt<br />

nicht weit entfernt. Vor zehn Minuten habe ich erst erfahren, dass<br />

sie krank ist. Sie klang schrecklich am Telefon, als würde sie gleich<br />

sterben. Ich parke den großen Wagen neben dem Haus in <strong>der</strong><br />

55


Wolliner Straße. Die Schriftstellerin und ´Betzi´ bleiben im Auto.<br />

Und das ist gut so. Sie können sich auf diese Weise über Eva<br />

Herrmann unterhalten.<br />

In Judiths Krankenzimmer sieht es entsetzlich aus. Überall<br />

Taschentücher, Kissen, verwirrte kastrierte Katzen, zerlesene<br />

Bücher, Bonbons, Stofftiere, dreckiges Geschirr. Judith hat hohes<br />

Fieber, eigentlich müßte man einen Arzt rufen. Ich bringe einen<br />

Korb mit Äpfeln, Donald Duck Heften, Keksen und Tabletten.<br />

Judith sieht süß und hilflos aus. Aus <strong>der</strong> germanischen Domina ist<br />

ein kleines, ängstliches Kind geworden. Ich gebe gute Ratschläge<br />

und muß wie<strong>der</strong> los. Sie streckt mir ihre Ärmchen entgegen:<br />

„Geh nicht!“<br />

„Tut mir leid, Kleines. Aber ich muß 24 Stunden mit Alexa Hennig<br />

von Lange verbringen.“<br />

„Henning von wer? Von was?“<br />

„Das verstehst du nicht. Das ist mein Beruf.“<br />

Ich gehe z<strong>um</strong> Auto. Betzi und Alexa sehen mich fragend an.<br />

„Tja, so schlimm ist es wohl nicht. O<strong>der</strong> soll ich doch lieber einen<br />

Arzt anrufen? Was m<strong>eins</strong>t du, Betzi?“<br />

„Nenn mich nicht BETZI! Ich heiße jetzt Bettina Silvana. Es wird<br />

sicher nur die übliche Bronchitis sein.“<br />

„Nicht mehr Betzi? Betzi Bartel?“<br />

„Bettina Silvana Smirnow-Bartel.“<br />

„Smirnow? Du hast geheiratet?“<br />

„Ich WAR verheiratet. Mit einem Russen.“<br />

„Also... dann heißt du Smirnow-Bartelova?“<br />

„Wie gesagt, Bettina Silvana Smirnow-Bartel.“<br />

„Nein: Bettina Silvana Smirnow-Bartelova!“<br />

„Endlich hast du´s.“<br />

„Quatsch, Betzi!“<br />

„Sag das NIE wie<strong>der</strong>.“<br />

Wir fahren z<strong>um</strong> Atelier des romantischen Malers Armin Boehm. Das<br />

ist <strong>der</strong> neue hot shot <strong>der</strong> deutschen zeitgenössischen Kunstszene,<br />

also, wenn man ihn zusammendenkt mit seinem Kollegen und<br />

Konkurrenten Dennis Rudolph, <strong>der</strong> ebenfalls romantisch malt,<br />

freilich ohne den spektakulären Erfolg seines Freundes. Das ist<br />

bitter, und deswegen darf er heute auch nicht mit dabei sein. Für<br />

56


Alexa Henning von und zu Lange darf es nur das F<strong>eins</strong>te und<br />

Anerkannteste geben.<br />

Im Atelier finde ich neben Armin noch den Galeristen Oliver von M.-<br />

K., einen älteren Herrn von über 40, <strong>der</strong> einen sympathischen<br />

Eindruck macht. Ich stütze ihn ein wenig, als wir die beschwerliche<br />

Treppe hinabsteigen. Insgeheim mache ich mir Sorgen, er könne<br />

die laute Berlin Mitte Nacht nicht ganz durchstehen. Er hat schon<br />

überall graue Haare und stöhnt ein wenig beim Gehen. Sicher ist er<br />

schon fast Mitte 40. Später raunt mir Armin zu, <strong>der</strong> bessere Herr<br />

werde nächsten Donnerstag 46, ich solle es aber für mich<br />

behalten.<br />

„Aber er ist nicht dein Vater o<strong>der</strong> sowas?“<br />

„Nein, nein... das nicht.“<br />

„Werden ihn die an<strong>der</strong>en nicht auslachen, im Bonfini?“<br />

„Wer soll das denn sein..?“<br />

„Na, die Gäste da, die übrigen Gäste.“<br />

„Nee, ich kenne doch die meisten im Bonfini. Kürzlich hat sich mal<br />

einer so´n bisschen aufgeregt, dabei war <strong>der</strong> selber schon 38.“<br />

„Echt?“<br />

„Ja, <strong>der</strong> hatte selbst ein Problem mit dem Alter.“<br />

„Wieso hat Bruno den überhaupt reingelassen?“<br />

„Tja... shit happens.“<br />

Alexa und Betzi Bartel sind im Auto geblieben und haben<br />

angefangen, sich zu streiten. Aber in dem Moment kommt Gesine<br />

Borchardt, die attraktive blonde ´Monopol´-Chefressortleiterin und<br />

Freundin des Erfolgsmalers. Da auch sie Betzi kennt, kommt es zu<br />

einem euphorischen Empfang seitens <strong>der</strong> Malerin. Eine Doppelseite<br />

mit Umbruch und Bild in ´Monopol´ - und die Karriere bekommt<br />

Flügel! Ich gebe Gas.<br />

Wir sind nun sechs Leute im Wartburg. Die Nacht hat gerade erst<br />

begonnen, und die Stimmung ist <strong>der</strong>maßen erwartungsvoll, dass<br />

alle anfangen würden zu singen, wenn das nicht so peinlich wäre.<br />

Die wirklich mehr als blonde Gesine sitzt auf dem Schoß von<br />

Arnim, und da <strong>der</strong> Wartburg praktisch über keine Stoßdämpfer<br />

verfügt, kommt es zu immer härteren Stössen, je schneller ich<br />

fahre. Arnim gerät in immer schlimmere Zustände, und auch die<br />

junge Frau weiß nicht mehr ein noch aus. Ob das wirklich<br />

romantisch ist? Ich finde schon. Romantisch, aber auf eine heutige<br />

57


Art, wenn man so will: contemporary romantic, und genau so hat<br />

es ja auch Matthias Matussek gesehen, vom Ansatz her, bei seiner<br />

Arbeit über Romantik. Letzterer tritt zur selben Stunde im ´Pathos<br />

Kongress´ in <strong>der</strong> Deutschen Oper auf, mit Peter Sloeterdejk. Man<br />

überlegt, dort noch vorbeizuschauen, später. Aber das Programm<br />

ist reichhaltig, mit mehreren Optionen für jede Stunde <strong>der</strong> Nacht.<br />

Es ist gewissermaßen ´Die lange Nacht <strong>der</strong> Alexa Hennig von<br />

Lange´, wie man heute sagen würde. Z<strong>um</strong> Beispiel ruft Thomas<br />

Lindemann an, <strong>der</strong> gerade im ´Fuchsbau´ in Kreuzberg <strong>der</strong>Lesung<br />

einer norwegischen Schriftstellerin beiwohnt und dringend z<strong>um</strong><br />

Kommen rät. Diese Frau namens Ragnhild Moe wurde von ihrem<br />

deutschen Verlag aufs Kreuz gelegt, also vom Goldmann Verlag,<br />

<strong>der</strong> ihren international erfolgreichen Roman ´Anatomie.<br />

Monotonie´ als Erotic thriller verkauft, mit nackten Titten auf dem<br />

Cover und dem anzüglichen Titel ´Die lüsternen Hände des<br />

Cellisten´. Wahrscheinlich ist den Goldmann-Lektoren <strong>der</strong> Tri<strong>um</strong>ph<br />

des Ariadne-von-Schirach-Klassikers ´Tanz <strong>um</strong> den Sex´ zu Kopf<br />

gestiegen (auch bei Goldmann erschienen). Aber dann haben sie<br />

schon das nicht richtig verstanden, denn Ari hat nicht über Sex<br />

geschrieben, son<strong>der</strong>n über das Übel <strong>der</strong> Pornographisierung auf<br />

allen Ebenen unserer Gesellschaft. Vielleicht arbeitet ja Herrndorf<br />

heimlich bei Goldmann, in Marketing und Vertrieb. Es gibt viele<br />

Schriftsteller, die so etwas tun. Nicht alle arbeiten anständig bei<br />

Lidl an <strong>der</strong> Kasse. Ich kenne sogar einen Schriftsteller, <strong>der</strong> stand<br />

ein ganzes Jahr beim SPIEGEL auf <strong>der</strong> pay list, und hat sich damit<br />

bis an sein Lebensende saniert. Aber das steht ja alles in dem<br />

Buch, das so heißt wie dieser Blog.<br />

Wir fahren nun erstmal z<strong>um</strong> neuen Bonfini. Ich will noch Philipp<br />

Albers abholen, aber <strong>der</strong> winkt ab: er ist beim neuen Baby <strong>der</strong><br />

Friebes, das während <strong>der</strong> Rowohltparty am Mittwoch geboren<br />

wurde und Luke Volten Friebe heißt. Der Name ist den Eltern erst<br />

im Laufe des Freitag eingefallen, was erklären mag, dass es nun<br />

doch nicht Hans-Herrmann heißt, wie ich vorgeschlagen hatte,<br />

o<strong>der</strong> wenigstens Herbert. Die Friebes hatten mit ´Hans-Herrmann´<br />

aus unerfindlichen Gründen nicht wirklich warm werden können,<br />

glaube ich, und hatten immer wie<strong>der</strong> den Namen ´Park´ (?) ins<br />

Spiel gebracht, den wie<strong>der</strong><strong>um</strong> ICH nicht mochte. War<strong>um</strong> Park,<br />

verdammt nochmal? Angeblich, so log sich Holm das zurecht, weil<br />

58


die Koreaner und Asiaten sowieso bald vor <strong>der</strong> Tür stünden, und<br />

dann sei es günstig, wenn ein ´Park´ öffnete. Cornelius Reiber<br />

nannte mir unter dem Siegel <strong>der</strong> Verschwiegenheit den wahren<br />

Grund: Die Friebes wohnen ja im Bötzowviertel, mit Sicht z<strong>um</strong> Park<br />

Am Friedrichshain. Unter den zahlreichen Freaks <strong>der</strong> digitalen<br />

Bohème heißt <strong>der</strong> seit Jahren schon ´Park am Friebe-Heim´. Nach<br />

seinem Tod, ist Holm überzeugt, wird <strong>der</strong> Park auch offiziell nach<br />

ihm benannt werden. Da er es bis dahin nicht mehr aushalten und<br />

abwarten könne, habe er seinen Sohn schon mal vorausgreifend<br />

´Park´ nennen wollen. Das war mir zu kompliziert. Hans-Herrmann<br />

fand ich einfach lautlich schöner. Aber nun: Luke Volten. War<strong>um</strong>?<br />

Nicht einmal Cornelius wußte es.<br />

Wir rattern über Pflastersteine und offene Straßenbahnschienen.<br />

Alexa und Betzi reden über Künstlerbiographien und Künstlerehen.<br />

Ich höre tatsächlich Worte wie ´hedonistischer Lebensentwurf´,<br />

männliche und weibliche Rolle, Haltung des Asketen und so weiter,<br />

dazwischen das virile Stöhnen des romantischen Malers Arnim<br />

Boehm unter seiner bezaubernden Frau. Oliver von M—K. brüllt in<br />

irgendein Handy, wohl nicht s<strong>eins</strong>, nimmt die<br />

Wasserstandsmeldungen <strong>der</strong> Event-Schauplätze entgegen. Wir<br />

sind in einer Arme-Leute-Gegend, überholen liegengebliebene<br />

Dreier-BMW von 1984, ich höre das Wort ´Andreas Hofer´, und<br />

Alexas Stimme, die zu Betzi sagt:<br />

„Ich habe in meinem Leben von Anfang an viele Künstler-<br />

Biographien gelesen, und das hat mich geprägt, sodaß ich...“<br />

Dann übertönt wie<strong>der</strong> das verzweifelte Dröhnen des aufheulenden<br />

Zweitaktmotors jedes menschliche Geräusch. Schließlich parken wir<br />

in <strong>der</strong> Münzstraße, direkt vor Michael Krome´s Münzclub, und<br />

gehen zu Fuß weiter, gehen zu sechst und in Zweiergruppen<br />

spazieren, durch die herrliche Nacht, bis z<strong>um</strong> neuen Bonfini. Neben<br />

mir läuft Alexa. Auch im Lokal sitzt sie neben mir. Sie ist 1,73<br />

Meter groß, wirkt aber grösser, da sie recht dünn ist.<br />

Im Lokal sieht sie noch besser aus, weil dort bis auf die Kerzen auf<br />

den Tischen alles rötlich dunkel bleibt. Eigentlich ist sie sowieso<br />

eine echte Schönheit. Aber die Haare versteckt sie äusserst<br />

ungeschickt in einem häßlichen Knäuel direkt über dem Nacken,<br />

wie ein Fahrradhippie, <strong>der</strong> seinen Grass-Vorrat im Haar aufbewahrt<br />

und ansonsten den Frauenversteher gibt, ohne den Pferdeschwanz<br />

59


zu lockern. Eigentlich sind ihre Gesichtszüge makellos und wie mit<br />

dem Bleistift gezeichnet, auch ihr Mund, doch ihre nordisch<br />

schmalen Lippen zieht sie noch weiter in den Mund hinein, o<strong>der</strong><br />

preßt sie streng aufeinan<strong>der</strong>, sodaß sie ganz zu verschwinden<br />

scheinen in diesem freudlosen, ungeschminkten, blassen<br />

Schnappverschluß, in den das Bonfini-Essen wan<strong>der</strong>t. Es ist<br />

trotzdem ein manchmal eindrucksvolles Gesicht, und zwar immer<br />

dann, wenn Alexa programmatisch über die Familie spricht. Die<br />

Familie als Lebensentwurf und Weltanschauung. Dann kommt Stahl<br />

in ihre Stimme, und die Sätze werden präzise, elegant,<br />

durchdringend, bekommen die Kraft des Manischen. Es sind diese<br />

Momente, an denen <strong>der</strong> Abend über sich hinauswächst, nicht nur<br />

schön ist, son<strong>der</strong>n historisch schön. Denn es ist ja keineswegs nur<br />

manisch, wenn Alexa z<strong>um</strong> Höhenflug ansetzt, son<strong>der</strong>n zugleich<br />

gelebte Realität, auf allen Ebenen, zu hun<strong>der</strong>t Prozent. Mit einer<br />

beispiellosen Konsequenz zieht sie ihr Leben durch, eine geglückt<br />

amalgierte Doppelexistenz aus Künstlerbiographie und perfekter<br />

Kleinfamilie. Darin ist sie ihrer Zeit voraus, das macht sie mo<strong>der</strong>n.<br />

Soviel Familie war seit den Manns nicht mehr, aber genau soviel<br />

Familie werden wir bald überall bekommen.<br />

Auch ihr neuer Roman ´Risiko´ drückt diese Familienbesessenheit<br />

kongenial aus. Man wird dort auf hun<strong>der</strong>ten und aber hun<strong>der</strong>ten<br />

von Seiten keinen Satz finden, keinen Gedanken, <strong>der</strong> nicht<br />

durchdrungen ist davon. In gewisser Weise ist es eine<br />

Kampfansage an jede Art von Intellektualismus, was aber nicht zu<br />

verwechseln ist mit <strong>der</strong> Haltung <strong>der</strong> Autorin. Die handelnden<br />

Personen sind von einer intellektuellen Armut, dass man als Leser<br />

schreien möchte. Und doch spürt man: so ist es eben. Jetzt haben<br />

wir es, was wir immer gewollt haben. Unsere Schuld, dass wir von<br />

<strong>der</strong> Leyen so zugejubelt haben. Und es ist spannend, dieses Buch.<br />

´Spannend´ nicht im neudeutschen Sinne, son<strong>der</strong>n im guten alten:<br />

es hält einen in Atem. Man will es zuende lesen. Man glaubt ihm<br />

jedes d<strong>um</strong>me Wort.<br />

Alexa, die schon von Anfang an, von ihrem Erstling ´Relax´ an,<br />

bewiesen hat, dass sie schreiben kann, sogar packend schreiben<br />

kann, wird nicht in den Verdacht geraten, sie sei so d<strong>um</strong>m wie ihre<br />

Romanfiguren. Der Zusammenhang von echter Literatur und<br />

echtem Leben ist ja viel verwirren<strong>der</strong>. Erklären kann man das<br />

60


letztlich nicht. Denn auf <strong>der</strong> platt ideologischen Schiene besteht<br />

gar keine Differenz zwischen ihr und dem Personal ihrer Bücher. So<br />

wie Ernst Jünger scheinbar dieselben Ideen vertrat wie sein<br />

Frontsoldat aus ´Stahlgewittern´. Und doch konnte es keinen<br />

grösseren Unterschied geben: hier <strong>der</strong> verheizte kleine Mann,<br />

bewußtloses Frontschwein, dort <strong>der</strong> Dégeneré und Freigeist Ernst<br />

Jünger, <strong>um</strong>jubelter Autor. Ähnlich groß ist die Fallhöhe zwischen<br />

<strong>der</strong> beschriebenen Kleinfamilie in einer Vorstadt von Hannover,<br />

dessen Kin<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Ex-Frau des Mannes (ein Art eifersüchtiger<br />

Schatten aus libertären Szene-Tagen) entführt werden, und Alexas<br />

Existenz in Berlin Mitte.<br />

Die Geschichte, das Buch, ist vollkommen rund, rund wie ein<br />

Kieselstein. Fehlerlos. Unangestrengt. Fast möchte man sich auf<br />

die Seite <strong>der</strong> mutigen Entführerin schlagen, die immerhin versucht,<br />

ihren geliebten Ex aus <strong>der</strong> faschistoiden neuen Kleinfamilien-Hölle<br />

herauszubrechen. Aber man erliegt natürlich den großen Gefühlen,<br />

die die wahre Familie zu erzeugen vermag. Schirrmacher @ work,<br />

hat Holm Friebe dazu gesagt, bei <strong>der</strong> Fahrt nach Kassel. Doch<br />

zurück zu Alexas eigener Realität. Ein besseres, hipperes Leben<br />

kann man im Jahre 2007 nirgendwo haben. Heute schwärmen ja<br />

selbst die New Yorker Autoren von Berlin und ziehen nach Mitte,<br />

die Norweger und Franzosen und Schotten erst recht. Thomas<br />

Lindemann berichtet später, als er von <strong>der</strong> Lesung von Ragnhild<br />

Moe zurückkommt, die hübsche Autorin, Model in Oslo, wohne<br />

längst in Friedrichshain. Obwohl ihr Roman überall besser läuft als<br />

in Deutschland, ist sie verknallt in Berlin. Kein Vergleich zu irgend<br />

einem an<strong>der</strong>en Ort <strong>der</strong> Welt, sagt sie. Wer Paris kennt und Los<br />

Angeles, o<strong>der</strong> das heruntergekommene London, o<strong>der</strong> die<br />

geistlosen Metropolen Asiens, o<strong>der</strong> HANNOVER, wird ihr sofort<br />

recht geben.<br />

Alexa wohnt nicht nur in Mitte, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Kastanienallee, was<br />

die Mitte von Mitte ist, und dort wie<strong>der</strong><strong>um</strong> in <strong>der</strong> N<strong>um</strong>mer 24, was<br />

das schönste und zentralste Gebäude <strong>der</strong> Kastanienallee ist. Sie<br />

wohnt mit Mann und Kin<strong>der</strong>n unter dem Dach, was wie<strong>der</strong><strong>um</strong> die<br />

schönste Wohnung des Hauses ist, und in dieser im schönsten<br />

Zimmer. Und sie sitzt dort am liebsten am Schreibtisch, <strong>der</strong> genau<br />

in <strong>der</strong> Mitte des Zimmers angebracht ist. Alexa ist <strong>der</strong> Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> Welt, und macht aber keinen Hehl daraus. Sie versteckt das.<br />

61


Sie will nicht hip sein. Es ist ihr Nährboden, aber niemals ihr Thema.<br />

Sie lebt in <strong>der</strong> Hipness, interessiert sich aber nicht dafür. Und als<br />

wir weiterziehen, z<strong>um</strong> nächsten Lokal, zur nächsten Party, merkt<br />

sie es nicht einmal.<br />

Sie ist freundlich und aufmerksam zu den Leuten <strong>um</strong> uns, wobei<br />

sie keine Hierarchien kennt. Der komplett unangesagte Galerist<br />

interessiert sie am meisten, während ein hoher Funktionär <strong>der</strong><br />

Z.I.A., normalerweise <strong>der</strong> Platzhirsch an jedem Szene-Tisch, von ihr<br />

eher zurückgestellt wird. Sie weiß gar nicht, was Z.I.A. bedeutet.<br />

Sie hat das White Trash noch nie von innen gesehen, ja, sie hat<br />

auch das Wort noch nie gehört. Ebenso ist es mit allen an<strong>der</strong>en<br />

Kürzeln <strong>der</strong> Un<strong>der</strong>ground-Bohème-Kultur. Ich stelle mir vor, sie<br />

hätte im Paris Jean-Paul Sartres und Albert Camus gelebt und<br />

geschrieben. Sie hätte wahrscheinlich jeden Nachmittag im Café<br />

des Flores gesessen und sich für die Passanten interessiert.<br />

Simone de Beauvoir wäre ihr niemals aufgefallen. Zu recht, sage<br />

ich mal.<br />

Wir fahren zur Bar 103 und sollen da Maxim Biller treffen. Sein<br />

Buch ´Esra´ ist gerade vom Bundesverfassungsgericht endgültig<br />

verboten worden. Was für ein Schlag! Nur <strong>der</strong> Tod eines eigenen<br />

Kindes kann schlimmer sein. Jedenfalls, wenn das Kind so<br />

wohlgeraten ist wie dieser Roman. In meinen Augen das beste<br />

Buch <strong>der</strong> letzten zehn Jahre. Gerade die ungeheure Nähe des<br />

Autors zu seiner inbrünstig gehaßten Hauptfigur - eben Esra –<br />

macht es so glaubwürdig und intensiv. Doch Biller ist zu fertig, <strong>um</strong><br />

zu kommen. Er sagt, in einer <strong>halb</strong>en Stunde, vielleicht. Aber er<br />

kommt nicht. Lindemann und ich gehen zu seinem Haus rüber,<br />

gleich neben <strong>der</strong> Bar. Es brennt helles Licht, heller als in den<br />

an<strong>der</strong>en Wohnungen, hell und panisch in dieser sternenklaren<br />

Nacht, wie das Zimmerfenster des sterbenden Papstes <strong>eins</strong>t im<br />

April 2006. Man sieht niemanden, nur dieses nicht gelöschte Licht<br />

des verzweifelt nach Schlaf dürstenden Autors.<br />

„Armer Maxim“, sagt Lindemann, „eine Party würde ihm jetzt<br />

sicher guttun.“<br />

Er schreibt noch eine SMS. Als keine Antwort kommt, fahren wir<br />

weiter zur Eberswal<strong>der</strong> Straße 26, wo eine Party im Gange ist, die<br />

bemerkenswert sein muß, wie alle eingehenden SMS zuverlässig<br />

und über<strong>eins</strong>timmend berichten. Betzi Bartel, die lieber ein Event-<br />

62


Dinner <strong>der</strong> In-Galerie ´Nagel´ aufsuchen möchte – man raunt, auch<br />

Caroline von Nathusius sei da – ist zu betrunken, <strong>um</strong> sich allein auf<br />

den Weg zu machen. Sie bleibt im Wagen, zusammengerollt auf<br />

<strong>der</strong> Ladefläche hinter <strong>der</strong> Rückbank, wodurch ihr schickes<br />

Chefetagen-Kostümchen verrutscht. Durch weitere Fahrgäste aus<br />

<strong>der</strong> Bar 103 fährt <strong>der</strong> Wartburg Tourist nun schon mit sieben<br />

Personen. Der Star ist inzwischen Ragnhild Moe, die <strong>der</strong> Jugend<br />

natürlich näher steht als die vielfache Mutter Alexa. Die Leute<br />

erzählen, wie Moe auf ihrer Lesung in einer ersten Happening-<br />

Aktion alle Besucher zwang, ihr Buch mit dem pornographischen<br />

Umschlag in braunes Packpapier einzuwickeln. Wer das getan<br />

hatte, bekam eine Widmung und einen Kuß. Manche haben gleich<br />

mehrere Bücher eingewickelt. Ich hätte bestimmt die ganze<br />

Lesung über die Dinger in Packpapier gewickelt und meterhoch<br />

aufgeschichtet, aber ich war ja nicht da. Küsse von Alexa kann<br />

man sich dagegen nicht vorstellen, we<strong>der</strong> seelisch noch<br />

anatomisch. Und das ist ja auch in ihrem Interesse. Sie will niemals<br />

Sexualobjekt sein. Leicht war es nicht, aber es ist ihr gelungen. Als<br />

sie ´Relax´ rausbrachte, mit 20, und aussah wie ein<br />

Rauschgoldengel, brachte sie Fotos in Umlauf, die so häßlich<br />

waren, dass man von medialer Selbstverstümmelung hätte<br />

sprechen können, ja müssen.<br />

<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Party ist nun wirklich was los. Sie findet in einer normalen<br />

Wohnung statt, wie alle guten Partys, und die Wohnung ist für<br />

diesen Anlaß kein bißchen verän<strong>der</strong>t worden. Man sitzt auf dem<br />

Boden neben Krimskrams, alten Platten, Büchern, komischen<br />

Sperrmüll-Gegenständen, kr<strong>um</strong>men Lampen, leeren Flaschen. Ein<br />

Gast ist gefürchtet, weil er immer aus Versehen Flaschen <strong>um</strong>stößt<br />

o<strong>der</strong> volle Gläser fallenläßt. Man kennt das von ihm schon, die<br />

ganze Stadt weiß das, und dass er es wirklich nicht absichtlich tut.<br />

Es ist <strong>halb</strong> zwei Uhr <strong>nachts</strong>, und er hat schon zahlreiche Bier-,<br />

Gintonic- und Martiniflaschen und –Gläser zu Fall gebracht. Überall<br />

ist <strong>der</strong> Boden naß deswegen, aber man hat sich damit abgefunden<br />

und es passiert immer wie<strong>der</strong>. Gleichmütig wird es von Gästen und<br />

Gastgeber registriert. Die Musik ist mal <strong>halb</strong>laut, mal leise,<br />

meistens eher leise, immer sporadisch, weil je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> will, selber<br />

was auflegt. Die Musikanlage ist wirklich charmant, stammt aus<br />

den Tagen, als Grundig noch <strong>der</strong> letzte Schrei war. So sporadisch<br />

63


wie die Musik ist auch das Tanzverhalten. Immer wie<strong>der</strong> tanzen<br />

Leute, können gar nicht an<strong>der</strong>s, aber aus Übermut und gänzlich<br />

unpornographisch. Sieht man diese Party, würde man nicht<br />

glauben, was Ariadne von Schirach über die unaufhaltsame<br />

Pornographisierung von Staat & Gesellschaft zusammengetragen<br />

hat. Und Alexa sagt dann auch, dass Porno total ´over´ sei. Sie<br />

drückt das ungewöhnlich aus:<br />

„Das macht doch kein Mensch mehr. Wie soll das noch gehen, im<br />

Bett? So komische Bewegungen, an den Haaren ziehen, Brust nach<br />

vorn werfen, künstlich stöhnen? Baby, ja Baby, du machst es mir<br />

Baby, uh, uh?“<br />

Alle lachen, und Ragnhild ergänzt:<br />

„Sex wird total überschätzt, meiner <strong>Mein</strong>ung nach.“<br />

Kann schon sein, dass ganz China auf dem Weg zur Wichs-<br />

Gesellschaft ist, und das komplette Internet-Gedaddel darauf<br />

hinausläuft, aber ist das relevant? Relevant ist diese Party in <strong>der</strong><br />

Eberswal<strong>der</strong> Straße! Alle reden, alle diskutieren, alle haben<br />

studiert, alle haben Festanstellungen. Nicole schreibt ihre<br />

Doktorarbeit über ´Initiationserlebnisse in <strong>der</strong> Popliteratur 2.0´,<br />

und legt gleich los, als sie mir vorgestellt wird. Viktoria hat<br />

Volkswirtschaft studiert, ist Redakteurin in einem als rechtslastig<br />

verschrieenem deutschen Großverlag und leitet eine private<br />

Marxismusgruppe, in <strong>der</strong> ´Das Kapital´ gelesen wird. Im Laufe des<br />

weiteren Abends stellt sich heraus, dass fast alle Partygäste dieser<br />

Marxismus-Lesegruppe angehören, dass aber kein einziger links ist.<br />

Was für eine Revolution! Wacher kann man wohl ka<strong>um</strong> r<strong>um</strong>laufen<br />

heutzutage. Endlich ein Bewußtsein jenseits von Bsirske und...<br />

sagen wir FOCUS. O<strong>der</strong> gleich Gala.<br />

Irgendwann muß ich Alexa nach Hause fahren, lei<strong>der</strong>. Gerade hat<br />

die Eva-Herrmann-Stunde angefangen, das heißt, alle reden<br />

plötzlich über den Kerner-<strong>Auf</strong>tritt. Aber Alexa sehnt sich nach<br />

Mann und Kin<strong>der</strong>n. Sie fragt vorsichtig:<br />

„Tja, Eva Herrmann. MÜSSEN wir darüber reden?“<br />

„Nein. Wirklich nicht!“<br />

Das wird mir plötzlich klar. Ich kann es gar nicht erklären. Aber wer<br />

Alexa Hennig von Lange gelesen hat, muß über Eva Herrmann nicht<br />

mehr reden.<br />

64


REISE ANS ENDE DES KULTURBETRIEBS<br />

11. Berlin - CINEMA FOR PEACE AWARD: Bob Geldorf und <strong>der</strong><br />

Charity-Schwindel<br />

Als ich zurückfuhr, spät <strong>um</strong> <strong>halb</strong> zwei, hatte ich zwei Galgenvögel im<br />

Wartburg, die Crack geraucht hatten. Erst überredeten sie mich, noch ins<br />

'Kitkat' zu fahren, einem Sado-Maso-Club am Ende <strong>der</strong> Stadt. Das wirre,<br />

aggressive Geschnatter des einen, und vor allem sein häßliches,<br />

stoßweises Lachen setzte mir so zu, daß ich anhielt und die beiden<br />

Verbrecher aus dem Auto zerrte. Sie ließen es geschehen, waren<br />

überrascht. Die Ampel schlug <strong>um</strong> auf Rot, ich trat das Gas durch, <strong>der</strong><br />

Blechhaufen schoß nach vorn. Hinter mir war ein Polizeiauto, das mich<br />

sofort an den Rand drängte und mir den Führerschein abnahm.<br />

So endete <strong>der</strong> Abend. Er begann mit dem Brüllen <strong>der</strong> Fotografen beim<br />

Eintreffen <strong>der</strong> 'Prominenten'. Für mich war das alles neu, denn eine<br />

Charity Gala zu besuchen paßte zu meiner linken Sozialisation so wenig<br />

wie Swinger Fuck und Houellebecq-Lesen z<strong>um</strong> bayerischen<br />

Ministerpräsidenten. Dachte ich. Aber längst haben sich alle Fronten<br />

verdreht. Das Klischee sei trotzdem nochmal skizziert: <strong>der</strong> Feind, das war<br />

für mich, als ich 17 war, Ute Ohoven, die 'Queen of Charity'. Das war für<br />

mich Amerika, dieses Land, das den Planeten ruinierte und von einer<br />

Schicht skrupelloser Fettsäcke regiert wurde, die sich auf Wohltätigkeits-<br />

Galas selbst feierten, mitsamt ihren alten, faltigen, schrecklichen<br />

Ehefrauen in Abendklei<strong>der</strong>n. Ich war definitiv Europäer und setzte auf das<br />

Potential des Geistes, <strong>der</strong> z<strong>um</strong> Wi<strong>der</strong>stand, zur Tat drängte. Nicht die<br />

Almosen <strong>der</strong> Reichen, die sich als Gutmenschen inszenierten, könne die<br />

Welt retten. Dachte ich.<br />

Der Cinema for Peace Award versammelte nun nicht nur Reiche und Alte<br />

samt Gattinnen. Alt waren sie zwar, und reich auch, und ohne Gattin kam<br />

niemand. Aber das alles sagte nichts. Wie werden solche Worte dürr,<br />

wenn Bob Geldorf vor einem steht und sagt:<br />

"Where is Stefan?"<br />

Seine Haare sind silbern und fein geschnitten, die Haut wirkt gesund und<br />

von südafrikanischer Sonne gebräunt, und <strong>der</strong> teure dunkle Abendanzug<br />

glitzert geheimnisvoll.<br />

"Stefan who?"<br />

65


Er fixiert mich. Bin ich blöd? Stefan Aust natürlich. Bevor ich antworten<br />

kann, kommt dieser Mensch von den 'Skorpions' dazwischen und textet<br />

ihn zu. Dann geht Geldorf weg, und ich stehe mit dem Geschmacks-Satan<br />

alleine da. Ich kenne Leute, die hätten sich vor zehn, zwanzig Jahren eher<br />

die Hand abgehackt, als ein Skorpions-Konzert zu besuchen. Und ich häte<br />

sie verstanden und im Krankenhaus besucht. Nun erzählt mir <strong>der</strong> Mann<br />

(Krokole<strong>der</strong>-Jackett, gelbe Haare, Snoopy-Rennfahrerbrille) über ihr<br />

Konzert bei Gorbatschow im Kreml.<br />

"Gorbatschow sagte uns damals, <strong>der</strong> Rock hat den Kommunismus<br />

aufgeweicht und so weiter, und so ist das auch heute, also wenn steter<br />

Tropfen den Stein höhlt..."<br />

Er meint wohl, wenn je<strong>der</strong> jeden Tag ein kleines bißchen mehr Gutes tut,<br />

indem er spendet, ließe sich die Zerstörung und Ausbeutung <strong>der</strong> Erde<br />

rückgängig machen. Z<strong>um</strong> Glück kommt Helmuth Karasek vorbei, einer <strong>der</strong><br />

zehn Gerechten in dieser Ansammlung. Ich mache einen Satz auf ihn zu.<br />

"Herr Karasek, wie kommen denn SIE hierher?"<br />

"Wieso, ist doch eine gute Sache?"<br />

"Letzte Woche noch diese schöne Sendung mit Reich-Ranicki im<br />

Literarischen Quartett über Heinrich Heine, und jetzt erwische ich Sie hier<br />

neben <strong>der</strong> Busenwitwe Tatjana Gsell und BILD-Lu<strong>der</strong> Jenny Elvers, und<br />

auf <strong>der</strong> Bühne singt Berufs-Pornograph Rolf Eden 'Imagine' von John<br />

Lennon!"<br />

"Na, wenn's für einen guten Zweck ist?"<br />

"Sie halten 'Charity' also für eine sinnvolle Idee..."<br />

Ich erzählte von dem Spekulanten George Soros, <strong>der</strong> ganze<br />

Volkswirtschaften ruinierte, und dennoch als Gutmensch und Wohltäter<br />

durch die Medien spazierte, da er ab und zu ein Waisenhaus finanzierte.<br />

Karasek wurde verlegen:<br />

"Jetzt haben Sie mich doch in eine ziemliche Zwickmühle gebracht."<br />

"Sehen Sie! Und die 200 Milliarden Dollar für zusätzliche Kampfjets, die<br />

niemand braucht im Zeitalter von Al Kaida, die sind - "<br />

"Moment! Das ist ein gutes Beispiel. Kein einziger Kampfjet weniger würde<br />

gebaut, wenn die Rüstungsindustrie KEINE Dollar auf<br />

Wohltätigkeitsveranstaltungen spendete."<br />

Ich sagte, da gebe es sehr wohl einen Zusammenhang. Seit<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ten sei <strong>der</strong> kritische Geist die einzige Waffe gegen<br />

Machtmißbrauch und Kriegstreiberei. Spätestens seit dem Tsunami-<br />

Spendenwahnsinn sei das kritische und kreative Potential <strong>der</strong> Menschheit<br />

aber in <strong>der</strong> trüben Suppe des Gutmenschent<strong>um</strong>s versunken. Die Folgen<br />

seien verheerend, vor allem für Künstler, die diese Bezeichnung noch<br />

verdienten...<br />

Wir diskutierten lebhaft. Schließlich sah Karasek sich <strong>um</strong>, nickte mir<br />

beschämt zu. Minuten später war er gegangen.<br />

Die Tafel war vom F<strong>eins</strong>ten. Soviel Prunk und fünf-Sterne-Küche war<br />

selbst für eine europäische Hauptstadt außergewöhnlich. Unter 14<br />

haushohen Kronleuchtern mit je 100 Kerzen verspeisten die Parvenues<br />

und 'Neuen Bürgerlichen' des Landes einen Großteil <strong>der</strong> Spendengel<strong>der</strong>,<br />

die doch angeblich Millionen Kin<strong>der</strong> vor dem Hungertod retten sollten. Es<br />

66


waren gar nicht einmal alte Leute, die hier den feinen Herr mit Begleitung<br />

gaben, gar nicht diese Grosz-Karikaturen und Klischee-Bonzen alter Elite-<br />

Herrlichkeit, son<strong>der</strong>n eine Art Pop-sozialisierter Mittelbau. Leute, die 'Rock'<br />

o<strong>der</strong> auch 'Rock-Kultur' im Kopf hatten und sich für jung hielten, für<br />

unspießig, für 'locker'. Und natürlich für revolutionär, weil sie das Gutsein<br />

zur "größten Bürgerrechtsbewegung aller Zeiten" gemacht hatten, wie ein<br />

Filmchen zwischen den Performances behauptete. Sie glaubten allen<br />

Ernstes, Bob Geldorf sei ein Popstar.<br />

Ich vertrieb mir die Zeit, indem ich spaßes<strong>halb</strong>er die zur Zeit besten 20<br />

Popgruppen auflistete und mir überlegte, ob auch nur ein einziger Musiker<br />

davon hier auftauchen könne. Pete Doherty und Baby Shambles? Maximo<br />

Park? Kaiser Thief? The Strokes? Arctic Monkees? Block Party, Razorlight,<br />

Al Green? Niemand! Selbst von den deutschen Stars mied je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> noch<br />

nicht völlig out war, den Benefiz-Schwindel. Tokio Hotel neben Marie Luise<br />

Marjahn beim candle light dinner - niemals! Auch nicht Harald Schmidt im<br />

intimen Plausch mit Bärbel Schäfer. DIE mo<strong>der</strong>ierte nämlich den Abend.<br />

Und die angekündigten Superstars, die all die betuchten Spießer anlocken<br />

mußten - kamen natürlich nicht. Wie immer. Richard Gere - kam nicht.<br />

George Clooney - kam nicht. Das alte Spiel. Wer fiel darauf nur noch rein?<br />

Und dann die immer und ewig gleiche peinliche Oscar-Verleihung-<br />

Imitation, mit George-Lucas-Fanfaren und Star-Wars-Gedröhn. Mit<br />

englischen Ansagen vom Tonband. Mit zu Tränen gerührten Preisträgern,<br />

die ihren Managern, Produzenten, dem Team, den Eltern und so weiter<br />

danken. Und <strong>der</strong>en Stimme dann plötzlich fest und männlich wird, wenn<br />

es <strong>um</strong>s Thema 'Gutes tun' geht: mit Tremolo-Stimme und von sich selbst<br />

überwältigt, dabei dunkel ahnungsvoll wie Joacqin Phoenix in 'Walk the<br />

Line' spricht Preisträger Richard Curtis Worte wie crying children... social<br />

responsibility... deeply thankful... great honour... do something for<br />

others... et cetera. Wer ist dieser Mann? Ein Verwandter von Tony Curtis?<br />

Wofür wird er geehrt? Egal.<br />

Eine Tibeterin im Himalaya-Trachtenkleid singt Folklore, wahrscheinlich<br />

irgend ein Friedenslied aus dem alten Tibet. Dagegen wäre nichts zu<br />

sagen, wenn auch mal Hansi Hinterseer im Gegenzug auf <strong>der</strong><br />

Veranstaltung in Los Angeles deutsches Liedgut für den Frieden<br />

schmachten dürfte, in Sepplhosen wie alle Deutschen. Da wäre das<br />

Ausland doch sicher auch gerührt.<br />

Ich renne wie<strong>der</strong> in den <strong>um</strong>triebigen Bob Geldorf hinein, <strong>der</strong> mich sogar<br />

wie<strong>der</strong>erkennt und wenig freundlich ansieht, fragend. Was soll ich sagen?<br />

"Don't know where 'Stefan' is tonight!" sage ich schließlich.<br />

"Tell him: Cinema for Peace is 'Oscar with brain'."<br />

"Oh! How nice, I'll do so. Something else... for him?"<br />

Er guckt eine Sekunde sehr nachdrücklich und geht dann an mir vorbei,<br />

einfach weg. Ein wichtiger Popstar, <strong>der</strong> macht das so. Ich verstehe das.<br />

Würde ich auch so machen, wenn ich einen Hit in 20 Jahren geschafft<br />

hätte.<br />

Und das alles im schönsten Gebäude Berlins, dem prachtvoll weil römisch<br />

anmutenden Konzerthaus am Gendarmenmarkt, klassizistisch, gigantisch,<br />

schön, zeitlos alt. Furtwängler und Toscanini haben hier gespielt, und alle<br />

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an<strong>der</strong>en Genies erst recht. Alles ist hell, quadratisch, im Ebenmaß, von<br />

einer Schönheit, die auf Vernunft fußt, rational, anständig, im Preußen <strong>der</strong><br />

<strong>Auf</strong>klärung errichtet. Nun sitzen hier laut offizieller Gäseliste Dr. Regina<br />

Burda, <strong>der</strong> Frisör Udo Walz, <strong>der</strong> unvermeidliche Moritz Bleibtreu, Wim<br />

Wen<strong>der</strong>s, Prinzessin Maria Theresia von Thurn und Taxis und <strong>der</strong><br />

Regierende Partymeister von Berlin Klaus Wowereit. DER ist nun als<br />

einziger wirklich locker. Wowi ist Pop. Er wirft sich weg vor Lachen,<br />

beson<strong>der</strong>s bei Frauen, und wenn er geht, schäkert und schlenkert er wie<br />

Harald Juhnke selig, nach beiden Seiten grüßend, oft eingerahmt von<br />

Männern, die seine Nähe suchen. Er trägt auch keinen Smoking und keine<br />

Fliege (wie vorgeschrieben), son<strong>der</strong>n den bekannten Politiker-Anzug aus<br />

dem Rathaus. Wenn die 'Stars' ihr Bühnenprogramm machen, mit Rühr-<br />

Ansagen, Gutmensch-Reden, Filmchen, Pianogeklimper und einer<br />

Versteigerung, liest er völlig ungerührt in mitgebrachten Akten, wie im<br />

Plen<strong>um</strong> während einer Rede <strong>der</strong> gegnerischen Partei. Am schlimmsten ist<br />

<strong>der</strong> Pianist, ein Chinese, <strong>der</strong> in die Tasten schlägt wie ein R<strong>um</strong>melplatz-<br />

Animateur. Zwischendurch soll es sogar Sch<strong>um</strong>ann gewesen sein, zarte<br />

deutsche Töne, die vom Geklirr des Bestecks <strong>der</strong> hemmunglos Hungrigen<br />

verschluckt wurden. Anschließend klatschen und johlen sie wie Berserker,<br />

werfen Messer und Gabel weg und schlagen die groben breiten Hände<br />

aufeinan<strong>der</strong>, daß <strong>der</strong> Lärm wehtut.<br />

Es ist noch immer nicht vorbei, <strong>um</strong> 23 Uhr. Im Gegenteil. Die After-Show-<br />

Party beginnt. Je<strong>der</strong> Zweite juckt sich nun an <strong>der</strong> Nase, die Toiletten sind<br />

überfüllt, die Augen sind starr, aufgerissen, euphorisch, und doch<br />

abgeschnitten von jedem echten Gefühl. Gruselig, mit einem Wort. Die<br />

Leute fühlen sich großartig. Jede Art von schlechtem Gewissen hat<br />

aufgehört zu existieren. Auch jedes Schamgefühl. Alles, was immer<br />

peinlich an ihnen war, was sie zu kleinen Menschen gemacht hatte. All<br />

ihre Laster und schlechten Gefühle, alles wird zu einem durchgehenden<br />

weißen Streifen, den sie sich durch die Nase ziehen. Lambada-<br />

Stimmungsmusik schallt durch die Säle. Frauen tanzen 'sexy' zu<br />

Schmierenhits wie 'It's raining men' o<strong>der</strong> Michael Jacksons 'Thriller', es<br />

sieht aus wie verunglückter Bauchtanz, und die Männer, wie alle Männer<br />

in Anzügen, gefallen sich in Abarten von Sirtaki-Bewegungen. Die<br />

Gesichter sind aufgerissen und häßlich, die Zunge oft rausgestreckt, und<br />

ab und zu erkennt man einen ECHTEN Menschen, und das ist immer eine<br />

Angestellte. Man denkt: Richtig, so sehen Menschen aus, die NICHT böse<br />

sind. Anti-Gutmenschen im Grunde.<br />

Wie <strong>der</strong> Abend ausging, erzähte ich ja schon.<br />

Fußnote<br />

Bob Geldorf / Der Charity Schwindel:<br />

Diesen Bericht schrieb ich für den SPIEGEL, von dem Idee und <strong>Auf</strong>trag kamen. Auch ein<br />

SPIEGEL-Fotograf war zur Stelle. Mir war gleich klar, dass ich das neue Spendenunwesen<br />

in die Pfanne hauen wollte, das, aus Amerika kommend, politisches Engagement<br />

verdrängte. Vor Ort wurde es dann schwierig. Die Journalisten wurden von den<br />

Teilnehmern getrennt. Ich brauchte vier Anläufe, <strong>um</strong> doch noch in den Festsaal zu<br />

schlüpfen. Der Fotograf schaffte es nicht. Als ich dann mit Bob Geldorf redete, knipste<br />

uns ein Kellner, dem ich meine kleine Digitalkamera in die Hand gedrückt hatte. Ich war<br />

insgesamt stolz auf meine Leistung, und das konnte ich auch. Der Bericht war<br />

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perfekt. Ich schrieb ihn am nächsten Tag und mailte ihn an die Redaktion. Doch nun<br />

kam, was immer kam beim SPIEGEL: man verlangte Än<strong>der</strong>ungen. In diesem Fall<br />

fiel mir das beson<strong>der</strong>s schwer, weil <strong>der</strong> Artikel perfekt war. Auch die kl<strong>eins</strong>te<br />

Verän<strong>der</strong>ung wäre eine Verschlechterung gewesen. Und selbst, wenn es nicht so<br />

gewesen wäre: ich konnte grundsätzlich meine eigenen Texte nicht bearbeiten, ja<br />

nicht einmal lesen. Das war so eine Art Geburtsfehler, eine Deformation, eine<br />

bestimmte Art, für die ich nichts konnte, die ich aber auch nicht schlimm fand.<br />

War<strong>um</strong> etwas verän<strong>der</strong>n, was gut war? Sollten an<strong>der</strong>e es <strong>um</strong>schreiben, für ihre<br />

Zwecke, wenn es ihnen so besser gefiel. Das hatte ich meinen Vorgesetzten bei<br />

<strong>der</strong> Einstellung eindringlich gesagt - aber sie hatten es ganz offensichtlich<br />

nicht geglaubt. Nun verlangten sie, aus Prinzip, regelmäßig ein komplettes<br />

mehrmaliges Umschreiben. Das war da so üblich, alle Redakteure und Autoren taten<br />

das, morgens, mittags und abends. Es war irgendwie das Prinzip des SPIEGEL.<br />

Alles grundsätzlich 37 mal <strong>um</strong>schreiben, damit es rund und sauber wird. Ich konnte<br />

damit nicht dienen. Bei jedem Umschreiben wurde es unrun<strong>der</strong> und unsauberer.<br />

Das konnte nicht verwun<strong>der</strong>n, wurden die neuen Fassungen ja auch nicht vom<br />

Meister selbst vorgenommen. Anfangs versuchte ich, an<strong>der</strong>e SPIEGEL Kollegen für diese<br />

Arbeit zu gewinnen, und tatsächlich halfen sie mir. Die Sache war mir<br />

natürlich peinlich. Ich mußte <strong>nachts</strong> so bewun<strong>der</strong>te Leute wie Wolfgang Höbel o<strong>der</strong><br />

Verana Araghi aus dem Bett klingeln und sie anbetteln, meine Arbeit zu tun. Und es<br />

war <strong>um</strong>sonst. Auch <strong>der</strong>en Fassungen wan<strong>der</strong>ten <strong>um</strong>gehend z<strong>um</strong> Umschreiben wie<strong>der</strong><br />

auf meinem Schreibtisch, eben aus Prinzip. Ich beschwor meine Vorgesetzten, es<br />

nun gut sein zu lassen; ich könne doch gar nicht <strong>um</strong>schreiben, wie gesagt. Sie<br />

hörten das gar nicht, noch weniger glaubten sie es. Die nächsten Fassungen<br />

schrieben Kollegen von <strong>der</strong> "taz" für mich, und wie<strong>der</strong> kamen sie zurück. Dann<br />

stellte ich meine Frau ein, dann meinen Neffen und Ziehsohn Elias, schließlich<br />

Nichte Hase. Der Originaltext war natürlich inzwischen vollkommen verhunzt und<br />

unbrauchbar geworden. In dieser Form wurde er vom Ressortleiter <strong>der</strong><br />

Chefredaktion vorgelegt, die ihn natürlich ablehnte. So war das nun bereits mehrmals<br />

gegangen, als ich DIESEN Text vorlegte, über den großen Charity Schwindel. Diesmal<br />

wollte ich, dass die Chefredaktion wenigstens im Nachhinein erfuhr, was ihr<br />

entgangen war. Die ganze Woche verging mit immer neuen Fassungen und<br />

Verschlechterungen, und am Freitagvormittag <strong>um</strong> elf Uhr kam das Aus. Ich rief<br />

<strong>um</strong>gehend die "taz" an und bat sie, "Charity Schwindel" in <strong>der</strong> Originalversion<br />

abzudrucken, was sie auch taten. Sechs Stunden später hielt ich die ersten Exemplare in<br />

<strong>der</strong> Hand. Die Redakteure hatten somit offenbar nur 90 Minuten gebraucht, von<br />

dem Thema zu hören, den Text zu lesen, eine ganze Seite freizurä<strong>um</strong>en, sie<br />

aufregend zu gestalten und sogar noch das Knipsfoto von dem Kellner optimal<br />

einzubauen. Und das war noch nicht einmal eine beson<strong>der</strong>e Leistung. Es war das, was<br />

ordentliche Redakteure zu tun hatten. Es war ihr Beruf. Nur beim SPIEGEL wußte<br />

man das nicht.<br />

12. Internationales Filmfestival Hannover<br />

Die meisten Menschen sind in ihrem ganzen Leben nie in einer Jury, wie<br />

ich. Doch dann kommt plötzlich <strong>der</strong> Anruf eines Fremden, man wird<br />

bedrängt, beschenkt, gelockt, und alle Symbole <strong>der</strong> Medien-Importance<br />

blinken im Dauertakt. Limousine, Fahrer, Hotel, Hubschrauber, TV-<br />

Kameras, Blitzlicht-'Gewitter', Schauspielerinnen, Boxenlu<strong>der</strong>, sogar die<br />

obligatorische VIVA-Mo<strong>der</strong>atorin fehlt nicht. Wow! Ist man jetzt wirklich in<br />

Cannes? Nein, es ist nur irgendein Filmfestival, von denen es sicher viele<br />

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gibt, so wie es ja auch über tausend deutschsprachige Literaturpreise pro<br />

Jahr gibt, von denen je<strong>der</strong> einzelne eine Jury hat mit Prominenten. In<br />

meinem Fall war es das Internationale Filmfestival Hannover UP AND<br />

COMING, das den deutschen Nachwuchsfilmpreis verlieh. Und ich erlebte<br />

endlich die wirkliche Kultur unseres Landes, die Kultur <strong>der</strong> Kulturminister,<br />

<strong>der</strong> Steuergel<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Sponsoren, <strong>der</strong> Fonds, <strong>der</strong> Kreissparkassen und<br />

Reiffeisenbanken, <strong>der</strong> kleinen Michael Na<strong>um</strong>anns überall im Lande, <strong>der</strong><br />

ZEIT-Redakteure und <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen Sen<strong>der</strong>. Viele Milliarden<br />

Euro aus tausenden von institutionellen Töpfen kommen da zusammen<br />

und verteilen sich giesskannenmäßig auf die Kommunen, Tag für Tag und<br />

Jahr für Jahr. Die Bürger merken es nur nicht. Für sie ist Kultur immer<br />

noch <strong>der</strong> neue Amerika-Roman von Philip Roth, den sie unter dem<br />

Weih<strong>nachts</strong>ba<strong>um</strong> verschlingen, <strong>der</strong> letzte Lars van Trier Film im Kino, <strong>der</strong><br />

sie nicht losläßt, die gut gemachte Dok<strong>um</strong>entation über John Lennons Tod<br />

im Fernsehen vor kurzem. Sie ahnen nicht, daß in ihrer toten Stadt gerade<br />

'Cannes' o<strong>der</strong> 'Oslo' gespielt wird. Wobei gar nicht sicher ist, dass 'Cannes'<br />

besser läuft als 'Hannover'. Zur Berlinale etwa mit ihren hun<strong>der</strong>ten von<br />

Filmen kommen trotz Super-Glamourfaktor und 'Regierendem<br />

Partymeister' Wowereit weniger Zuschauer als zu einem einzigen Harry-<br />

Potter-Film. Festivals und kulturelle Wettbewerbe werden nicht für die<br />

Bürger, son<strong>der</strong>n die Macher gemacht. Und ich war jetzt dabei. Teil <strong>der</strong><br />

Internationalen Jury. Mit einem bekennenden Schwulen aus England, <strong>der</strong><br />

in New York lebte, einem politisch correcten Hollän<strong>der</strong>, einem in<br />

Deutschland lebenden Iraner, und natürlich einer VIVA-Mo<strong>der</strong>atorin, die<br />

aus Indien kam. Ich war <strong>der</strong> Deutsche unter ihnen. Und als solcher auch<br />

eingeordnet und angefeindet, in den Pausen zwischen den 102 Filmen aus<br />

51 Län<strong>der</strong>n.<br />

Vier Tage und Nächte also Kino und Diskussion. Was für ein Rave! Noch<br />

etwas Extasy, und man wäre voll draufgekommen. Natürlich wurde die<br />

Jury schnell eine verschworene Gem<strong>eins</strong>chaft, wie bei je<strong>der</strong><br />

Gruppentherapie. Man lachte, kicherte, konnte sich nur schwer auf die<br />

Filme konzentrieren. Ich freundete mich als erstes mit dem Iraner an,<br />

den ich auf Anhieb sympathisch fand. Am nächsten Tag verliebte ich mich<br />

in die In<strong>der</strong>in. Am dritten Tag verliebten sich auch alle an<strong>der</strong>en in die<br />

In<strong>der</strong>in, nur <strong>der</strong> bekennende Schwule nicht. Der warf mir die Zerstörung<br />

<strong>der</strong> Twin Towers vor - die Täter kamen aus einer Gegend nahe Hannover -<br />

und ich ihm die Bombardierung <strong>der</strong> Stadt durch seine Royal Air Force. 80<br />

Prozent <strong>der</strong> Gebäude und 25 Prozent <strong>der</strong> Menschen waren damals<br />

vernichtet worden. Man sah es, wenn man aus dem Hotelfenster sah:<br />

Hannover heute ist die häßlichste Stadt <strong>der</strong> Welt.<br />

Wirklich? Schon nach dem ersten Film-Block dachte ich an<strong>der</strong>s. Draußen<br />

in den an<strong>der</strong>en Kontinenten schien es nur Schrott, brennende Autoreifen,<br />

Breakdancer, Rapper und Hooligans zu geben. Lag es an <strong>der</strong> Auswahl<br />

durch die Festival-Leitung? 2.452 Filme waren eingereicht, weit über 90<br />

Prozent somit abgewiesen worden. Vielleicht gab es unter denen noch<br />

Filme mit Städten, in denen die Müllabfuhr noch funktionierte? Es war<br />

jedenfalls seltsam, daß auch die Filme aus Großbritannien, Europa, dem<br />

Westen so aussahen, als würden jede Nacht die Autos angezündet.<br />

70


Rutschte doch mal ein Beitrag mit bürgerlichen Lebensformen, gut<br />

erzogenen Kin<strong>der</strong>n, Fenstern mit sauberen Gardinen in den Wettbewerb,<br />

konnte man sicher sein, daß es <strong>um</strong> Gewalt in <strong>der</strong> Ehe o<strong>der</strong> noch<br />

Schlimmeres ging. Das nahm ich gern in Kauf. Lieber eine penetrant<br />

männerfeindliche Darstellung, als immer nur Ghetto, Ghetto, Ghetto. Doch<br />

dann fauchten die an<strong>der</strong>en sofort: "Du mit deinem Scheiß-Hollywood-<br />

Geschmack! Geh doch rüber in die Daily Soap, wenns dir hier nicht<br />

gefällt!" Und das von Leuten, die mir vorwarfen, den Krieg im Irak nur<br />

des<strong>halb</strong> nicht gewonnen zu haben, weil "ihr Nazis nicht mitgemacht habt".<br />

Paradox!<br />

Aber ging es in <strong>der</strong> WG vor vielen Jahrzehnten nicht genauso hitzig zu?<br />

Berufskulturelle bleiben eben jung. Die Filme selbst führten immer direkt<br />

in die Plattenbau-Steinzeit-Probleme Essen, Ficken, und Arbeitslosigkeit.<br />

Das Leben war schon ein Elend. Wirklich finster ging es in den vielen<br />

Beiträgen aus den GUS-Staaten zu. Die wurden immer gern genommen.<br />

Da lachte nie jemand, und nie schien die Sonne. In dem Film aus Rio de<br />

Janeiro auch nicht, was mich stutzig machte. Ich kannte die Stadt, und die<br />

Sonne hatte DOCH geschienen. Ein beliebtes Thema waren kranke Tiere<br />

und traurige alte Leute. Die Filmemacher - es war ein Nachwuchsfestival -<br />

durften nicht älter als 27 sein. Aber dieser Nachwuchs zeigte sich nie<br />

selbst. Keine Filme über reale junge westlich zivilisierte Leute. Stattdessen<br />

Monsterkin<strong>der</strong>, Min<strong>der</strong>heiten, mißhandelte Frauen, verfolgte Graffitti-<br />

Sprayer. Am schlimmsten die Kin<strong>der</strong>: entwe<strong>der</strong> waren es brüllende<br />

Rabauken-Ungeheuer (im Westen), o<strong>der</strong> aus Not geborene Kriminelle (im<br />

Osten), o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>soldaten (im Süden). Und die netten bergmanesken<br />

Kin<strong>der</strong> in Skandinavien mußten immer zusehen, wie <strong>der</strong> Papi die Mami<br />

penetrierte und grün und blau schlug. <strong>Mein</strong> Einwand "Da leben doch nur<br />

Weicheier, dort oben, keine Zuhälter" wurde allseits mit einem fanatischen<br />

"Gerade die Weicheier kompensieren das mit Gewalt!" gekontert.<br />

Weicheier waren die Filmemacher meist selbst. Ungezählt die Filme, in<br />

denen so ein häßlicher Hippie-Loser aus Holland o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schweiz seinen<br />

Film nur macht, <strong>um</strong> einem angebeteten und abgefilmten Mädchen auf den<br />

Pelz zu rücken, das er sich sonst nie trauen würde anzufassen. <strong>Mein</strong> lieber<br />

Gott!<br />

Dämlich auch dieser Religionskonflikt in Nordirland, dieses mitgeschleppte<br />

Mittelalter. Das war so ermüdend. Und sie reden natürlich alle Gälisch<br />

o<strong>der</strong> solche Dialekte, und sind glühend vor Ernst, heiliger Tristesse und<br />

H<strong>um</strong>orlosigkeit. Große Kunst! Erster Preis! Da brennt <strong>der</strong> Autoreifen,<br />

Bru<strong>der</strong>! Da ringt <strong>der</strong> Direktor <strong>der</strong> Stadtsparkasse <strong>um</strong> Fassung!<br />

Aber natürlich gibt es auch Anregendes. <strong>Auf</strong>fällig viele türkische Filme<br />

geben unfreiwillig ein bißchen Enblick in die Mentalität <strong>der</strong> Familien dort.<br />

Asien rückt einem näher mit dieser faszinierenden Art, absolut nichts zu<br />

sagen zu haben. Araber, die in <strong>eins</strong>türzenden Hütten leben und sich<br />

stundenlang über die UN beschweren, dass die die Hütten nicht repariere<br />

(anstatt mal selbst Hand anzulegen) zeigen einem die Differenz z<strong>um</strong><br />

Mitteleuropäer. Und dass es überall im Mittleren Osten so aussieht wie in<br />

Berlin am Herrmannsplatz, mit dieser scheulichen Männergesellschaft,<br />

diesen freudlosen, selbstgerechten Paschagesichtern, wird für<br />

71


Feministinnen interessant sein. Schön und lehrreich auch die Filme aus<br />

Israel. Es waren die einzigen, in denen liebende und werktätige<br />

Erwachsene vorkamen. Keine siebenjährigen Kin<strong>der</strong>, die als<br />

Grabst<strong>eins</strong>chleifer in armenischen Bürgerkriegs-Friedhöfen mißbraucht<br />

werden.<br />

Hannover wurde jeden Tag schöner. Als ich am Montag in <strong>der</strong> aller Frühe<br />

das Hotel verließ, leerten gerade Männer <strong>der</strong> Stadtreinigung ruhig und<br />

professionell die Mülltonnen. Sie natten neue, orangefarbene Kittel an. Ich<br />

hätte sie <strong>um</strong>armen können.<br />

13. Standort-Kino: Wim Wen<strong>der</strong>s<br />

Wim Wen<strong>der</strong>s ist ein Darling. Wer ein Herz hat, muß ihn mögen. Nun wird<br />

er 60, sieht aber aus wie ewige 43. Glückwunsch!<br />

Soweit die guten Nachrichten. Von den Jungen kennt ihn niemand, aber<br />

das macht nichts, die Alten <strong>der</strong> staatstragenden Generation Sechzig Plus<br />

kennen ihn alle. Sie lieben seine Filme. Sie för<strong>der</strong>n ihn. Allein die Gremien<br />

aufzuzählen, die seinen neuen Film 'Don't stop knocking' geför<strong>der</strong>t haben,<br />

würde den Text dieses Artikels ausfüllen. Sie för<strong>der</strong>n ihn seit 30 Jahren.<br />

Alle Mittel akk<strong>um</strong>uliert könnten 'Live Aid' ersetzen und <strong>halb</strong> Afrika wie<strong>der</strong><br />

aufbauen. Kein an<strong>der</strong>er verkörpert wie er dieses semi-korrupte System<br />

staatlicher Gel<strong>der</strong>, die unansehnliche Filme schmieren; seine Leute, seine<br />

Generation, sein schlechter Geschmack bestimmen seit Ewigkeiten, wer<br />

drehen kann und wer nicht. Junge Realisten werden gedeckelt, die<br />

Zombies drehen weiter deutsche 'Poesie'. Aber was sind das eigentlich für<br />

Filme?<br />

Wir wissen, Wen<strong>der</strong>s hat ein seltsames Faible für knorrige, knarzige<br />

amerikanische Männer. Auch seine Frauen erkennen wir sofort: unendlich<br />

ernste, h<strong>um</strong>orlose, ungeschminkte Schönheiten, die aus allen<br />

gesellschaftlichen Bezügen herausfallen. Sie schweben über <strong>der</strong> Erde, sind<br />

Heilige. Das kann man mögen, man kann es Edelkitsch nennen und<br />

trotzdem mögen, o<strong>der</strong> gerade deswegen mögen; ich mag diese Figuren<br />

nicht. Sie sind mir unsympathisch, ich erkenne die Vorlagen. Mißgünstige<br />

deutsche Single-Frauen, antriebslos, frustriert. Die Vorlage <strong>der</strong> Männer<br />

sind verbitterte Kriegsheimkehrer. Ein Autorenfilmer darf das. Also seine<br />

Tra<strong>um</strong>ata plün<strong>der</strong>n, bzw. ausstellen.<br />

Scheußlich, weil so krank, wird es, wenn er seine Kindheit immer wie<strong>der</strong> -<br />

ausgerechnet - auf die heutige USA projiziert. Auch im neuen, am<br />

kommenden Donnerstag anlaufenden, Film hat man nach zehn Sekunden<br />

schon alles beisammen, was ödet: alte Männer, Wüste, Amerika, blöde<br />

Klampf-Musik. Und natürlich Film im Film. Das soll wohl ein Hauch<br />

Avantgarde werden, ist aber eben die von 1959, somit Après-Garde. Wen<br />

interessiert sowas noch? Dann brechen die 50er Jahre auch auf Schil<strong>der</strong>n,<br />

Schriftzügen, schrillen locations in den Film ein, <strong>der</strong> doch heute spielen<br />

soll. Wen<strong>der</strong>s ist wie<strong>der</strong> in seiner Puppenstube, er kann's nicht lassen.<br />

Eine engelhafte Blonde (Sarah Polley) tritt auf, die mit <strong>der</strong> Urne ihrer<br />

72


toten Mutter spricht. Botschaft: alle Menschen sind allein. Nächste<br />

Einstellung: Friedhof, mitten in <strong>der</strong> Wüste. Unklar, was das soll. Dann <strong>der</strong><br />

Filmset, es wird ja im Film ein Film gedreht. Alle Leute dort sind viel zu<br />

alt. Irgendein alter Darsteller aus <strong>der</strong> Ur-Soap 'Dallas' mimt den Regisseur<br />

und befehligt 70jährige Scriptgirls. Auch <strong>der</strong> Hauptdarsteller Sam<br />

Shephard spielt einen über 60jährigen, <strong>der</strong> bei seiner über 80jährigen<br />

Mutter wohnt (Eve Marie Saint, zuletzt 1957 in 'Der Fremde im Zug'<br />

aufgefallen). Ja, das liebt Wim: Schauspielerinnen, die er mit zehn<br />

bewun<strong>der</strong>te, in seine Filme zu holen. Und in Autos zu setzen, die er als<br />

Wiking Modelle damals sammelte. Und es gibt befreundete Journalisten,<br />

die diese ausgrabenen Frauen dann auf vier Heftseiten interviewen, mit<br />

nachrichtlich so wertvollen Informationen wie "früher war alles an<strong>der</strong>s".<br />

Journalisten, die mit Wen<strong>der</strong>s nicht befreundet sind, gibt es nicht.<br />

Diese Filme haben immer Überlänge. Das soll beweisen, daß sie sich nicht<br />

<strong>der</strong> Norm beugen. 'Im Laufe <strong>der</strong> Zeit' brachte es auf 187 Minuten,<br />

subjektiv gefühlte Überstunden sind es auch diesmal. Ray Coo<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

wer das ist zupft weiter seine Schnarchmusik wie anno daz<strong>um</strong>al. Der Held<br />

kehrt in sein Kin<strong>der</strong>zimmer zurück, das seine Mutter 40 Jahre lang nicht<br />

<strong>um</strong> einen Millimeter verrückt hat. Und wo das alles ist? Natürlich in Las<br />

Vegas!<br />

Nun geht's los. Glückspiel, Saufen, Cowboyhut - er läßt den Proleten raus.<br />

Aber immer noch absolut wortkarg, verbittert, eben <strong>der</strong> GuLag-<br />

Heimkehrer im hessischen Dorf. Er spielt mit den Automaten wie ein<br />

vernachlässigtes Schlüsselkind, und genau dieses Niveau hat er auch.<br />

Schon nach dem ersten Bier wird er voll doof, randaliert, krakeelt, wird<br />

von <strong>der</strong> Polizei festgenommen. Die hun<strong>der</strong>tjährige Mama holt ihn raus.<br />

Zeigt uns Wen<strong>der</strong>s ungewollt aber verdienstvoll die kommende 'zombie<br />

nation'? Wo Leute im Rentenalter sich wie Kin<strong>der</strong> gebärden? Und Eltern<br />

haben, die einfach nicht mehr sterben, son<strong>der</strong>n ihre Rolle weiter<br />

durchziehen wie resolute Mittdreißiger?<br />

Als nächstes und unvermeidlich zur Zeit: das Rührstück vom<br />

wie<strong>der</strong>gefundenen Kind. Sam Shepards Mom erzählt ihm, daß er einen<br />

erwachsenen Sohn hat. Den sucht er nun, den findet er nun. Produkt<br />

eines Boris-Becker-Quickies in <strong>der</strong> Wäschekammer. Der Sohn dreht durch,<br />

war<strong>um</strong>, wird nicht begreiflich. Vor allem: war<strong>um</strong> er SO LANGE durchdreht.<br />

Gute 60 Filmminuten lang. Und seine Wäschekammer-Mutti gleich mit. Als<br />

Shepard ihr einen nachträglichen Heiratsantrag macht, legt sie eine<br />

viertelstündige Schrei-Arie hin, die z<strong>um</strong> Wi<strong>der</strong>lichsten und Unsinnigsten<br />

<strong>der</strong> Filmgeschichte gehört, und für den sie sicher eine Oskar-Nominierung<br />

erhalten wird. Journalisten mögen Wim Wen<strong>der</strong>s.<br />

Doch <strong>der</strong> Gerontokratenfilm ist immer noch nicht zuende. Shepard tuckert<br />

mit einem 1951er Chevrolet ohne alle Gebrauchsspuren durch ein<br />

Amerika, das nichts weiß von <strong>der</strong> enormen Dynamik, in <strong>der</strong> es steckt.<br />

Nicht Angelina Jolie becirct den Helden, son<strong>der</strong>n ein verspäteter<br />

Seventies-Punk-Klon aus Herne in Westfalen. Nicht Jonathan Franzen<br />

inspiriert ihn, eher Wolfgang Borchert. Und natürlich ist <strong>der</strong><br />

wie<strong>der</strong>gefundene Sohn Rock-Sänger und spielt die Musik von Bill Haley.<br />

Zwischendurch schläft Shepard - richtig, <strong>der</strong> Alte - mit drei Teenage Girls<br />

73


gleichzeitig. Wohl fürs Protokoll, Sex macht nicht glücklich. Auch sein<br />

Sohn zitiert ein paar Nebenszenen lang das Elend von 'Sex, drugs and<br />

rock'n'roll'. Das för<strong>der</strong>t dann immer dieses Kifferbewußtsein zutage. Die<br />

Wortkargen lachen dann so schräge, und die 60jährigen Zuschauer sollen<br />

schmunzeln. Die Hintergrundgeräusche werden hochgedreht. Wie<strong>der</strong><br />

gelingen dem Kameramann (Franz Lustig) 'schöne' <strong>Auf</strong>nahmen.<br />

Bäh! Was für ein Dreck. Wer stellt das endlich ab? Wenn es keiner tut,<br />

geht das auch die nächsten 30 Jahre so weiter. Denn Wim Wen<strong>der</strong>s ist<br />

smart. Der wird über 100. In seiner Weise ist er mo<strong>der</strong>ner als wir alle.<br />

Fußnote<br />

Wim Wen<strong>der</strong>s:<br />

Je<strong>der</strong> Schriftsteller schreibt auch ab und zu für die Presse, und die Erfahrungen, die ICH<br />

in meinem langen Leben mit diesem Bereich gemacht hatte, waren eigentlich immer<br />

positiv gewesen. Die Leute bekamen meinen Text, riefen auf <strong>der</strong> Stelle zurück, freuten<br />

sich wie Kin<strong>der</strong>. Noch mehr aber freute ich mich, wenn ich ihn wenig später in <strong>der</strong><br />

Zeitung las. Er war noch besser geworden. Sie hatten ihn fein gekürzt, prägnanter<br />

gemacht, schön bebil<strong>der</strong>t, aufreizend präsentiert, dazu ein Foto von mir, ein Kasten mit<br />

Lebenslauf, Hinweis auf das neue Buch, prima. Was für tolle Kerle, diese Zeitungsleute!<br />

Die verstanden ihren Job. Auch die Themenvorschläge kamen von ihnen. Man mußte<br />

wirklich nichts tun, außer einmal schreiben. Und <strong>der</strong> Herr Redaktör rief immer an und<br />

entschuldigte sich, dass er habe kürzen müssen. "Aber mein Lieber, das ist doch Ihr<br />

Beruf!" antwortete ich dann immer. Niemand gab mir soviel Selbstwertgefühl wie<br />

diese Redakteure, denn sie liebten meine Texte. Der Beweis dafür schien mir<br />

dieses schnelle Antworten zu sein, und dabei diese Euphorie in <strong>der</strong> Stimme. Aus<br />

eigener Erfahrung wußte ich, dass man Texte, die einen nicht begeistern, lange<br />

auf dem Schreibtisch liegen läßt. Ich war nämlich einmal als junger Student<br />

Volontär bei einer Zeitung gewesen, <strong>der</strong> damals noch liberalen DIE WELT.<br />

Irgendeiner <strong>der</strong> älteren Granden des Großverlages, dem die Zeitung gehörte, ich<br />

glaube, es war <strong>der</strong> damals schon legendäre Hans-Herrmann Tiedje, hatte mich z<strong>um</strong><br />

Edelstein erklärt, <strong>der</strong> geschliffen werden sollte. Ich bekam einen Vorgesetzten, <strong>der</strong><br />

das Schleifen übernahm, ein sogenannter CvD, also Chef vom Dienst. Dieser<br />

Mann war bis zu meinem Antritt beim SPIEGEL <strong>der</strong> einzige Mensch, <strong>der</strong> mich dazu<br />

bringen wollte, meine eigenen Texte <strong>um</strong>zuschreiben. Für mich war das ein perverser<br />

Vorgang, schwer zu beschreiben, so als sollte ich Eigenurin trinken und dabei<br />

gesund werden, obwohl mir nichts fehlte. Damals bekam ich jeden Mittag ein<br />

Thema und die Zeilenzahl, lieferte ein paar Stunden später ab, und es wurde zur<br />

großen Freude aller Vorgesetzten gedruckt. Man munkelte Gutes über mich. Axel<br />

Springer fuhr mit mir einmal Paternoster - ich hatte ihn abgepaßt - und sagte<br />

zu mir, nachdem ich schnell und überdeutlich meinen Namen gesagt hatte: "Es<br />

klingt für Sie wahrscheinlich nur so dahingesagt, aber bitte glauben Sie mir,<br />

dasss es mich sehr bewegt, wenn ich junge Leute wie Sie sehe... ich freue mich<br />

so... machen Sie so weiter!" Das war 1983 gewesen, und lei<strong>der</strong> war es <strong>der</strong> Anfang<br />

vom Ende meines <strong>Auf</strong>stiegs da gewesen. Denn dieser "Schleifer", den ich jetzt<br />

bekam, gab mir jeden Artikel wie<strong>der</strong> zurück. Aus Prinzip. Ich konnte nichts<br />

an<strong>der</strong>es tun, als z<strong>um</strong> selben Thema einen ZWEITEN Artikel zu schreiben. Ich achtete<br />

darauf, dass <strong>der</strong> zweite Artikel nichts mit dem ersten zu tun hatte. Während<br />

mir <strong>der</strong> erste noch Spaß gemacht hatte - ich schreibe für mein Leben gern, es<br />

ist für mich die Belohnung fürs Ertragen des schrecklichen Lebens - war <strong>der</strong><br />

zweite fast schon Arbeit. Der Schleifer liess auch den zweiten zurückgehen. Auch<br />

den dritten. Ein Krieg entbrannte. Natürlich dachte <strong>der</strong> Schleifer, ich hätte<br />

psychologische Motive. Wolle ihn ärgern. Wolle irgendeinen absurden Machtkampf<br />

führen. Sei in <strong>der</strong> Pubertät. Sei größenwahnsinnig. Wolle seinen Posten haben.<br />

Wie dämlich. Selten war mir ein Mensch so gleichgültig wie dieser gesichtsund<br />

geschichtslose CvD. Ich konnte mir noch nicht einmal seinen Namen merken.<br />

74


Ich wollte lediglich nicht rausfliegen, da mir das Leben in DER WELT ungemein<br />

gefiel. All die netten, verzweifelten Trinker in den Holzverschlägen, die seit<br />

Kriegsende ihre Stellung verteidigten und die Märchen ihres Verlegers in Reime<br />

faßten. Draußen kämpften <strong>Mein</strong>esgleichen gegen Castortransporte, aber hier<br />

drinnen wurde die O<strong>der</strong>-Neiße-Linie verteidigt o<strong>der</strong> wie die hieß. Viel besser. Wo<br />

war eigentlich die Neiße? Egal. Jedenfalls schrieb ich nicht 37, aber bestimmt<br />

20 völlig verschiedene Artikel z<strong>um</strong> selben Thema für diesen Chef vom Dienst,<br />

<strong>der</strong> mir jeden neuen mit einem "Dich kriege ich schon noch<br />

klein"-Gesichtsausdruck z<strong>um</strong> "Verbessern" zurückgab. Natürlich gab er mir auch<br />

Anleitungen z<strong>um</strong> Umschreiben. "Setzen Sie den Schluß nach vorn, gehen Sie weg von<br />

<strong>der</strong> dreistufigen Struktur, nennen Sie nicht den Namen <strong>der</strong> Konkurrenzzeitung..." und so<br />

weiter. Ich versuchte, nicht hinzuhören. Dieser nobody durfte mir nicht meinen Stil<br />

verhunzen.<br />

Durch Zufall lernte ich seine min<strong>der</strong>jährige Tochter kennen. Die verkehrte in<br />

<strong>der</strong> damaligen Neue Deutsche Welle Szene, zu <strong>der</strong> ich auch gehörte, auch wenn<br />

ich mich nicht dafür interessierte. Musik hatte mich noch nie interessiert. Doch<br />

nun hatte ich ein Anliegen. Ich liess mich also mit <strong>der</strong> Tochter ein und<br />

sorgte dafür, dass <strong>der</strong> Schleifer es erfuhr. Der erschien dann ein <strong>halb</strong>es Jahr nicht<br />

mehr im Dienst. Das wun<strong>der</strong>te niemanden, denn er war auch vor meiner Zeit<br />

schon <strong>der</strong> typische freudlose Bluthochdruck-Choleriker gewesen, aschgrau <strong>der</strong> Kopf,<br />

die blutleeren Lippen zusammengepreßt, stechend <strong>der</strong> Blick, Schnauzbart,<br />

Glatze, Gauloises: so ein Arschgesicht konnte nur bei <strong>der</strong> Army glücklich werden.<br />

Alles an<strong>der</strong>e war nicht von Dauer. So war er dann weg, und ich konnte wie<strong>der</strong><br />

normal schreiben. Ich hatte keinerlei Ärger mehr, niemals mehr, bis, ich sagte es<br />

schon, <strong>der</strong> SPIEGEL kam. Nehmen wir das gerade vorliegende Beispiel, Wim<br />

Wen<strong>der</strong>s. Ich schrieb meinen Text, schickte ihn ab, und hörte nichts mehr. Kein<br />

euphorischer Anruf. Ein deutliches Schweigen, immer deutlicher, fast schon dröhnend.<br />

Wochenlang nur dieses mißmutige, beleidigte, verachtende Schweigen. So geht<br />

es allen Mitarbeitern, mit allen Texten, guten wie schlechten. Schließlich ruft<br />

einen irgendeine Subordonnanz an, ein Chef vom Dienst, ein Praktikant aus <strong>der</strong><br />

Dok<strong>um</strong>entation, <strong>der</strong> dann eine Kunstpause macht und endlich unwirsch mitteilt:<br />

"Na, das wissen Sie selbst, dass das nicht so geht, das muß ich Ihnen ja nicht<br />

sagen, mit diesem Text da, diesem, äh, über..." - "Wim Wen<strong>der</strong>s!" - "ja,<br />

richtig. Also da nehmen Se mal den Schluß nach vorn, verzichten auf die dreistufige<br />

Struktur, die Sätze viel kürzer und einheitlicher, <strong>der</strong> Name des<br />

Chefredakteurs darf nicht fallen, das Wörtchen ´ich´ hat in einem SPIEGEL Text nichts zu<br />

suchen..." und so weiter. Diese Leute hat man dann 45 Minuten an <strong>der</strong> Backe, o<strong>der</strong><br />

90. Und die 37 neuen Fassungen beginnen. Habe ich ja alles schon erzählt. In<br />

diesem Fall kam noch hinzu, dass man mir sagte, <strong>der</strong> Text sei noch nicht rund,<br />

ich solle noch etwas über den Papst schreiben, am Schluß. Über den Papst, in<br />

einem Wim Wen<strong>der</strong>s Artikel? Mir standen die Haare zu Berge. Ich machte es. <strong>Mein</strong><br />

Artikel lag nun schon eine Ewigkeit her<strong>um</strong>, und zwischen <strong>der</strong> Originalfassung<br />

und dem Papstbesuch in Deutschland bestand ein beträchtlicher zeitlicher<br />

Abstand. Nun gut, das war für einen guten Journalisten machbar. Aber inhaltlich war<br />

<strong>der</strong> Abgrund zwischen Wen<strong>der</strong>s und Benedikt XVI wirklich nicht zu schliessen. Ich<br />

stand, völlig ironiefrei, wie ein Verrückter da, <strong>der</strong> SPIEGEL Leser z<strong>um</strong><br />

Katholizismus überreden will. Um mein Image zu retten, schrieb ich noch in <strong>der</strong><br />

Nacht, bevor <strong>der</strong> SPIEGEL andruckte, eine Papstgeschichte für "taz", und die war<br />

dann <strong>um</strong>so frecher und ironischer. Damit man beim SPIEGEL auch erfuhr, wie ich<br />

wirklich z<strong>um</strong> Papst stand, verwendete ich einen Satz wortgleich in beiden<br />

Artikeln. Prompt kam es zu einem Protest in <strong>der</strong> Großen Redaktionskonferenz, und<br />

daraufhin liefen alle Kollegen zu ihrem Computer und klickten die "taz" an. Sie<br />

hielten mich nun für einen, <strong>der</strong> auch für die Konkurrenz arbeitet, also für keinen<br />

reinrassigen SPIEGEL Mann, und wenn ich in die 70er Jahre Caféteria ging,<br />

hörten sie zu reden auf. Die Gesichter, in die ich dann sah, waren so steinern und<br />

herzlos und... ja, es fallen mir wirklich keine passenden Adjektiva ein.<br />

"Traurig" trifft es nicht, "tot" schon eher, ist aber so nichtssagend, aber gerade<br />

nichtssagend waren diese typischen altgedienten SPIEGEL Gesichter eben NICHT.<br />

75


Sie schienen so viel zu sagen, nein sagen zu WOLLEN, aber ein ganzes Leben<br />

lang war ihnen <strong>der</strong> Mund zugehalten worden. Also nicht wirklich. Ich meine nur,<br />

so sahen sie aus. Und sie mochten mich nicht. Das stand fest. An<strong>der</strong>erseits wäre<br />

es völlig d<strong>um</strong>m, so etwas zu sagen, ungefähr so d<strong>um</strong>m wie <strong>der</strong> Satz: "Amerika<br />

mag mich nicht". Amerika ist so riesig, so riesig an Proletent<strong>um</strong>, Idiotie,<br />

schlechter Rockmusik und blö<strong>der</strong> Wüste, aber von allem hat es auch sein Gegenteil.<br />

Auch <strong>der</strong> SPIEGEL hat in je<strong>der</strong> Hinsicht MEHR als alle an<strong>der</strong>en Zeitungen, im<br />

Guten wie im Schlechten. Also auch mehr Hilfsbereitschaft, Freundschaft unter<br />

Kollegen, vor allem hohes Verständnis durch hohe Intelligenz. Da sitzen einfach<br />

die klügsten Leute <strong>der</strong> Welt. Und mit Verena Araghi die klügste UND erotischte<br />

Frau <strong>der</strong> Welt. Und mit Rebecca Casati die klügste UND erotischte UND<br />

hilfsbereiteste... nein, man kann es nicht auflisten, es würde ein Buch füllen. Das alles<br />

gibt es AUCH. Es ist ja eine ganze Welt. Es ist Preußen vor den Weltkriegen.<br />

Dennoch ist es erlaubt, zu verallgemeinern. Grobschlächtig zu verallgemeinern.<br />

Denn wir sind ein freies Land. Man darf sagen, Italiener seien<br />

temperamentvoll. Man darf sagen, die Bayern wählen immer CSU. Und man darf sagen,<br />

die SPIEGEL Leute mochten mich nicht.<br />

Wim Wen<strong>der</strong>s schrieb dann einen geharnischten Brief an Stefan Aust und<br />

beschwerte sich über den Artikel. Es spricht für diesen Aust, dass er sich davon<br />

offenbar nicht beeindrucken liess, und auch nicht von den an<strong>der</strong>en Briefen, die er<br />

noch erhielt. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit merkte ich, dass die Leute, die ich im SPIEGEL<br />

portraitierte, anschliessend immer einen Brief an Stefan Aust schrieben. Bei<br />

Bazon Brock hatte ich noch nichts an<strong>der</strong>es erwartet. Ein Mann wie Professor<br />

Brock, <strong>der</strong> so brilliant war von Anfang an, schon vor 40 Jahren, so gut aussah, so<br />

bewun<strong>der</strong>t wurde, so sexy war und kult, und <strong>der</strong> trotzdem, am Ende seines<br />

Lebens, nur Feinde besaß, wie ich gesehen hatte, <strong>der</strong> schrieb natürlich<br />

Beschwerdebriefe. Selbst dann, wenn man liebevoll über ihn berichtet hatte. Das war<br />

sein Charakter. Er tat mir deswegen leid, es min<strong>der</strong>te aber nicht meine Bewun<strong>der</strong>ung.<br />

Da er es sich mit allen verdarb, würde er auch mich enttäuschen wollen, das<br />

wußte ich vorher. Aber mit Wim Wen<strong>der</strong>s war es genau <strong>um</strong>gekehrt. Er war <strong>der</strong><br />

beliebteste Kulturkopf des ganzen deutschen Sprachra<strong>um</strong>s. Je<strong>der</strong> Journalist mochte<br />

ihn, auch je<strong>der</strong> Kulturfunktionär, je<strong>der</strong> Politiker, <strong>der</strong> mit Kultur zu tun hatte,<br />

auch je<strong>der</strong> Kollege aus dem Filmfach. Tja. So etwas kommt nicht von selbst. Der<br />

Grund war natürlich, dass Wen<strong>der</strong>s TATSÄCHLICH nett war. Ich kannte sogar<br />

Leute, nicht wenige, denen er uneigennützig und unkompliziert geholfen hatte. Ich<br />

wußte von einem Jungen - mein Neffe Elias - <strong>der</strong> Wim am Flughafen als völlig<br />

Frem<strong>der</strong> angesprochen und <strong>um</strong> ein Flugticket gebeten hatte. Er bekam es und eine<br />

Einladung nach Cannes dazu. Elias erlebte dank Wim Wen<strong>der</strong>s die dortigen<br />

Filmfestspiele samt Parties und leuchtet noch heute, wenn er davon spricht. Und das<br />

ist nur EIN Beispiel. Ich wußte also, dass Wen<strong>der</strong>s mir wegen des Textes keine<br />

Schwierigkeiten machen würde. In <strong>der</strong> Originalfassung stand noch nicht das<br />

furchtbare Wort vom "alten Sack", für das ich mich unendlich schäme, und nichts vom<br />

Papst, aber sie war hart genug. Ich glaubte es den Lesern und <strong>der</strong> Sache<br />

schuldig zu sein. Wen<strong>der</strong>s war zwar extrem nett, aber seine Filme waren nun einmal<br />

die Pest und richteten großen Schaden an, dachte ich. Wen<strong>der</strong>s hat dann also<br />

doch, trotz seiner Nettigkeit, gegen mich gearbeitet. Sein Brief soll richtig übel<br />

gewesen sein. Aber schon wenige Wochen später sah ich ihn zufällig bei <strong>der</strong><br />

Verleihung des Cinema for Peace Awards im großen Konzerthaus am Gendarmenmarkt.<br />

Er saß unten an <strong>der</strong> gedeckten Tafel mit Wowereit und an<strong>der</strong>en Bonzen. Ich saß<br />

in <strong>der</strong> dritten Empore und hing gelangweilt über dem Gelän<strong>der</strong>. Alle plapperten,<br />

hun<strong>der</strong>te von Smokingträgern, alle essend, redend, beschäftigt - nur Wim<br />

Wen<strong>der</strong>s liess seinen Blick gedankenverloren, mit dem bekannten Wen<strong>der</strong>sphlegma, an<br />

den Emporen entlang gleiten. Als er mich sah, erhob er seine Hand und winkte<br />

nett.<br />

14. Fräulein Schwermut aus Bozen- Bettina Galvani<br />

76


15. Ferien in Klagenfurt - Bachmannwettbewerb<br />

16. Frankfurter Buchmesse - Marcel Reich-Ranicki<br />

Es geschah auf <strong>der</strong> Frankfurter Buchmesse. Es war das Krisenjahr 2002. Der<br />

ICE 3, wirklich ein schneller Zug, viel schneller als <strong>der</strong> normale ICE, dazu<br />

noch leiser, 'flog' mit 320 km/h auf Frankfurt zu. Die Melba und ich saßen<br />

angeschnallt in den 'Sprinter'-Fauteuils, vor uns die Computer und die<br />

Bordgetränke, links die nahenden Wolkenkratzer <strong>der</strong> Messegesellschaft.<br />

Wehe wenn dieser Zug jemals in die Hände fanatischer Islamisten geriet,<br />

dachte ich und lächelte <strong>der</strong> Stewardess zu. In Deutschland schlossen die<br />

Buchhandlungen. Die Branche lag in Agonie. Aber die junge Stewardess<br />

würde bald weggeheiratet sein, von einem reichen Fahrgast gehobenen<br />

Alters, die war krisensicher. Die Melba dagegen... ich sah sie an.<br />

Die Melba war eine Legende. Milliarden von Männern hatten mit ihr schlafen<br />

wollen. Dachte die Melba z<strong>um</strong>indest. Das war natürlich überhaupt nicht so.<br />

O<strong>der</strong> doch? Was wußte ich von den Männern? Ich war ein Literat. Ich<br />

beschäftigte mich mit Büchern und Kritikern.<br />

Da war z<strong>um</strong> einen <strong>der</strong> Mitarbeiter <strong>der</strong> Frankfurter Allgemeinen Zeitung Marcel<br />

Reich-Ranicki. Seit Urzeiten diente er mir schon als Vaterersatz, da ich<br />

meinen leiblichen Vater aus Kriegsgründen nicht kennengelernt hatte; schon<br />

kurz nach <strong>der</strong> Rückkehr aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern war er an<br />

den Folgen einer Kriegsverletzung gestorben. Die prunkvolle Beerdigung ist<br />

heute noch die erste Lebenserinnerung meines älteren Bru<strong>der</strong>s Ekkehart, <strong>der</strong><br />

am 12.Oktober 1954 zur Welt kam, auf den Tag genau vor 48 Jahren. Aber<br />

Reich lebte! Er hatte die Lager überstanden. Des<strong>halb</strong> wandte ich mich immer<br />

wie<strong>der</strong> an ihn. Schon mein erstes Schulgedicht (über Peter Handke) hatte ich<br />

ihm geschickt, in die Gustav-Freytag-Straße nach Frankfurt. In meiner<br />

Doktorarbeit Jahrzehnte später (wie<strong>der</strong> über Peter Handke) erwähnte ich ihn<br />

als großen Einfluß und gab ihm einen credit in meinen endlosen<br />

Danksagungs-Episteln, in <strong>der</strong> Hoffnung, er würde es erfahren. Das war<br />

natürlich <strong>der</strong> typisch weltfremde Unsinn des Studenten, <strong>der</strong> ich damals war,<br />

noch keine 32 Jahre alt. 15 Schuljahre und 19 Semester hatte ich bis zur<br />

Schlußsentenz meiner Handkeforschung verbraten - na, egal. Ich sah auf die<br />

Melba. Die hatte dafür vielleicht zu viele Marylin-Monroe-Filme gesehen? In<br />

Deutschland hatte eben je<strong>der</strong> seine Macke.<br />

Die Reich-Ranicki-Macke hatten viele, also viele Autoren. Jedenfalls die<br />

älteren. Die bedeutendsten Vertreter seiner eigenen Generation, Martin<br />

Walser, und <strong>der</strong> Söhne-Generation, Bodo Kirchhoff, hatten gerade große<br />

Romane darüber in den Markt geschoben. Reich-Ranicki wurde darin immer<br />

getötet, was aus psychologischer Sicht angeblich notwendig war, ich jedoch<br />

ablehnte. In meinem Reich-Ranicki-Roman dürfte er weiterleben, schriebe ich<br />

einen. Aus psychologischer Sicht war das notwendig, das Schreiben, wegen<br />

des Vaterkonflikts und so weiter.<br />

77


Vaterkonflikte hatten ja viele, auch die Melba. Sie sah von ihrem Buch auf,<br />

ein Buch über starke Männer, das sie selbst geschrieben hatte und das auf<br />

<strong>der</strong> Buchmesse vorgestellt werden sollte. Sie sah mich mit einem Ausdruck<br />

künstlicher Naivität an, <strong>der</strong> sagen sollte: Ich bin doch nur ein kleines,<br />

d<strong>um</strong>mes, d<strong>um</strong>mes, d<strong>um</strong>mes Mädchen, war<strong>um</strong> willst du mit mir schlafen? Die<br />

hellblonden Locken fielen ihr ins verwirrte Gesicht, ein Blusenknopf hatte sich<br />

gelöst. Ihr Vater heiratete an dem Tag, an dem mein älterer Bru<strong>der</strong> (er hieß<br />

übrigens Ekkehart, sagte ich es schon?) Geburtstag hatte, also heute, was<br />

bedeutete: die Melba war nicht zur Hochzeit ihres Vaters gegangen. Hatte<br />

also einen Vaterkonflikt. Der Vater heiratete eine 25jährige Chinesin. Geil,<br />

dachte ich, da wäre ich aber gern zugegen gewesen, als Sohn. Auch die<br />

Melba hatte nichts gegen die junge Frau, aber nur, weil die den 76jährigen<br />

offensichtlich binnen zwei Jahren unter die Erde vögelte. Morgens und abends<br />

mußte er ran, das waren schon 700 Orgasmen im ersten Jahr, und<br />

spätestens wenn die Zahl vierstellig wurde, machte das Herz nicht mehr mit.<br />

Das Testament wurde gerade erst geän<strong>der</strong>t...<br />

"Würdest du jemals so etwas machen, wenn du so alt wärest?" fragte mich<br />

die Melba und behielt den Mund danach offen, ganz wie Marylin. Ich lachte<br />

gequält auf.<br />

"Ich habe es schon gemacht!" Und dachte an die 19jährige Freundin, die ich<br />

als 38jähriger einmal gehabt hatte. Zehnmal am Tag... nach einem <strong>halb</strong>en<br />

Jahr war ich <strong>um</strong> zehn Jahre gealtert. Nein, ich mußte diese Erfahrung nicht<br />

nochmal machen, und ich war auch noch nicht 76, auch wenn ich vielleicht<br />

bald so aussah. Jedenfalls mochte die Melba ihren Vater nicht und<br />

boykottierte sein Leben samt Hochzeit. Sie nannte ihn Nazi. Im Krieg war er<br />

schnell aufgestiegen in <strong>der</strong> Wehrmacht, hatte in jungen Jahren schon<br />

Verantwortung übernommen. Schön für ihn, schlecht für Deutschland. Bei <strong>der</strong><br />

Bundestagswahl am 22. September kandidierte er für die Republikaner. Ich<br />

erzähle nicht was vom Pferd, Freunde, es war so.<br />

In meinem Roman 'Deutsche Einheit' ließ ich dann Reich-Ranicki DOCH schon<br />

mal ein bißchen auftauchen. Es war noch nicht <strong>der</strong> große Reich-Ranicki-<br />

Roman, aber wenigstens schon ein Anfang. Reich spielte da einen vom Ich-<br />

Erzähler bewun<strong>der</strong>ten Großkritiker, <strong>der</strong> in einer großen, lei<strong>der</strong> geistig<br />

verwahrlosten Universität einen Vortrag hält. Der Ich-Erzähler, mit einer<br />

jungen, gerade erblühten Frau im Schlepptau, rettet den Kritiker vor einer<br />

bornierten, aggressiven Studentenhorde. Bevor ich das Manuskript abgab,<br />

bekam ich Zweifel und schickte es Reich zu. Der schrieb nett zurück. Er habe<br />

nichts gegen die Geschichte, bis auf das Ende. Ihm gefiel nicht, daß er vor<br />

Dankbarkeit geweint haben soll. Das würde nicht zu ihm passen. Er habe<br />

noch nie in solchen Zusammenhängen geweint.<br />

Das Buch erschien und wurde für mich - gewiß wegen dieser Nebenthematik<br />

- <strong>der</strong> größte Verkaufserfolg seit zwölf Jahren. So wie 'Tod eines Kritikers' die<br />

erste Nr.-1-Platzierung Martin Walsers nach 50 Jahren des Schaffens wurde<br />

und 'Schundroman' mehr verkaufte als 'Intifada', pardon, 'Infanta' von Bodo<br />

Kirchhoff. Dankbar griff ich z<strong>um</strong> Telefonhörer und leistete mir von dem neuen<br />

Geld als erstes ein Ferngespräch nach Frankfurt. Seine N<strong>um</strong>mer hatte ich<br />

parat, die stand auf dem Brief, den er mir geschrieben hatte. Nur - er<br />

erinnerte sich an nichts mehr. Der Vorgang muß für ihn unvorstellbar klein<br />

78


und unbedeutend gewesen sein. O<strong>der</strong> seine Sekretärin hatte das gemacht. Er<br />

war jedenfalls ungehalten und sagte nur:<br />

"Was wollen Sie?!"<br />

Ich erklärte es und fragte:<br />

"Erinnern Sie sich denn gar nicht mehr an mich?"<br />

"Nein. Ich habe dazu auch keine ZEIT. Was wollen Sie?"<br />

"Ich habe Ihnen ein Buch zugeschickt, darauf haben Sie geantwortet, und<br />

jetzt ist es herausgekommen und ein Riesenerfolg. Und in großen Teilen<br />

handelt es ja von Ihnen, und da - "<br />

"Von MIR?!"<br />

"Ja..." Ich lachte unsicher.<br />

"Was ist das für 'n Buch?"<br />

"Ist ein Roman, deutsche Gegenwartsliteratur, heißt 'Deutsche Einheit', ist<br />

vor drei, vier Wochen herausgekommen bei Kiepenheuer & Witsch..."<br />

Er unterbrach mich schlechtgelaunt, offenbar davon ausgehend, einen<br />

Bittsteller vor sich zu haben, <strong>der</strong> ihm ein Buch schmackhaft machen will.<br />

"Was wollen Sie bitte von mir? Ich bin MITTEN in <strong>der</strong> Arbeit. Was ist DAS für<br />

eine Frage. Täglich bekomme ich dutzende von Büchern. Wenn mich je<strong>der</strong><br />

vorher auch noch FRAGEN würde..."<br />

"Ja, eben, weil es so viele sind, denke ich, daß es Sie es gar nicht angucken,<br />

gar nicht lesen..."<br />

"Werde es interessiert angucken, ABER BITTE: Ist das alles? Haben Sie noch<br />

etwas?"<br />

"Es sind immerhin 120 Seiten, die nur über Sie handeln; das ist doch eine<br />

ganze Menge Holz."<br />

"Ja. <strong>Mein</strong> Lieber, haben Sie noch was zu klären?"<br />

Er nannte mich 'mein Lieber', nicht ironisch, son<strong>der</strong>n durchaus zärtlich! <strong>Mein</strong><br />

Vaterersatz nannte mich so! Irre. Aber das Gespräch blieb restriktiv.<br />

"Ja, hm, äh, natürlich, von meiner Seite aus noch sehr viel!"<br />

"Ich habs eilig."<br />

"Sie haben es eilig."<br />

"Ich bin mitten in <strong>der</strong> Arbeit."<br />

"Ich wollte noch sagen, daß Sie viele Bewun<strong>der</strong>er haben. Vor allem von<br />

jüngeren Leuten."<br />

"Aha."<br />

Noch nie hatte ich so ein mißtrauisches, ja übellauniges 'Aha' gehört.<br />

Offenbar empfand er es als Beleidigung, daß ausgerechnet die jungen also<br />

ungebildeten Leute ihn bewun<strong>der</strong>n sollten.<br />

"Ja."<br />

Nach einem Augenblick des mißmutigen Schweigens sagte er endlich:<br />

"Das freut mich sehr. Ich danke Ihnen."<br />

"Es geht da <strong>um</strong> die STREITKULTUR."<br />

Dieses Wort sprach ich beson<strong>der</strong>s nachdrücklich aus. Ich wußte, daß es das<br />

letzte Substantiv war, das in diesem Gespräch noch Platz hatte. Es mußte<br />

wirken.<br />

"Ja. Ja, Lieber, ich muß weiterarbeiten. Ich KANN mich jetzt nicht<br />

unterhalten."<br />

79


"Nein, nein, ich hör jetzt auch auf. Ich habe Ihnen auch gar nichts weiter zu<br />

sagen im Moment."<br />

"Ja."<br />

"Tschüß!"<br />

"Tschüß!" Sein Abschiedstschüß war nett, also in einem erhöhten,<br />

verbindlichen Ton gesagt, sodaß ich davon ausgehen konnte, Reich-Ranicki<br />

stecke wirklich in Arbeit. Ich hatte ihn gestört, aber nicht belästigt. Bei einer<br />

nächsten Begegnung würde er mir nichts vorwerfen.<br />

Diese Begegnung erfolgte also am heutigen 12. Oktober 2002, mehr als volle<br />

drei Jahre nach diesem Gespräch. Vielleicht würde er sich ja sogar an das<br />

Wort STREITKULTUR erinnern und ich konnte daran anknüpfen. O<strong>der</strong> er<br />

würde an <strong>der</strong> Melba hängenbleiben, das käme auf dasselbe hinaus. Wenn die<br />

Melba doch bloß nicht so übertreiben würde mit ihrer Frau-Frau-Macke. Sie<br />

war fast 40 und wurde immer d<strong>um</strong>mchenhafter. Sie spielte die verwirrte<br />

Zwölfjährige und redete allmählich Tag und Nacht über 'Das Eine', also die<br />

Liebe. Doch in Wirklichkeit war sie die erfolgreichste Frau Deutschlands. Sie<br />

hatte eine Prominentenagentur gegründet, die inzwischen den Markt<br />

beherrschte wie die Bild Zeitung die Medienlandschaft. Und sie hatte das<br />

ohne Tricks und Aggressivität geschafft, allein durch ihre Intelligenz. Umso<br />

dämlicher, ja unerträglicher wirkte auf mich das D<strong>um</strong>mchengetue. Hoffentlich<br />

nicht auch auf Reich-Ranicki. Sie war in <strong>der</strong> Lage, auf <strong>der</strong> heutigen Party<br />

einen Schuh zu verlieren, tränenüberströmt das zu beklagen und alle Herren<br />

über 55 danach suchen zu lassen...<br />

Und das war nicht naiv, son<strong>der</strong>n krank. Um einmal eine Position zu beziehen.<br />

Und ich sage sogar: Bei Marylin war es NICHT krank, auch wenn sie daran<br />

starb. Aber je<strong>der</strong> Mensch in unseren Kreisen hat so einen Bereich, <strong>der</strong> krank<br />

und verrückt ist, weil wir halt im postfaschistischen Deutschland leben.<br />

Zudem ist es möglich, daß wenigstens die Generation <strong>der</strong> Urenkel wie<strong>der</strong><br />

ganz normal ist. Also die Leute unter 22. Das ist mein Befund bisher. Ich<br />

kenne viele Leute <strong>um</strong> die 20 und mag sie sehr.<br />

"J-Lo, war<strong>um</strong> sind die Männer so? Und war<strong>um</strong> sind Frauen so an<strong>der</strong>s?" fragte<br />

die Melba, besann sich aber wie<strong>der</strong> und organisierte unsere Fahrt z<strong>um</strong> Stand<br />

unseres Verlages auf <strong>der</strong> Buchmesse. In nur zehn Minuten waren wir da.<br />

Früher hatte ich dafür immer eine Stunde gebraucht. Eine Stunde extremer<br />

Stress. Aber früher war die Buchmesse auch eine an<strong>der</strong>e. Der Höhepunkt<br />

ihrer Bedeutung war Ende <strong>der</strong> 90er Jahre, ziemlich genau zur<br />

Jahrtausendwende, als Grass seinen Nobelpreis erhielt und die Popkultur<br />

zwar verrissen, aber gekauft wurde wie nie zuvor. Allein 'Crazy' verkaufte<br />

mehr als alle Titel <strong>der</strong> 80er Jahre zusammen. Christian Kracht wurde als<br />

neuer Messias gefeiert und Rainald Goetz als Gottvater. Elke Naters als<br />

Maria. Stuckrad-Barre als Paulus. Ich selbst als neuer Judas. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> unter<br />

<strong>der</strong> Hand dem bräsigen Poetismus früherer Generationen abschwor und<br />

stattdessen versprach über den Alltag zu schreiben, bekam einen Vertrag.<br />

Wun<strong>der</strong>bar! Das hatte ich immer gewollt. Das Buch war wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong><br />

Leitmedi<strong>um</strong> geworden, die Buchmesse platzte vor Menschen und<br />

Sensationen. Um ein Taxi zu kriegen, wartete man in Schlangen von hun<strong>der</strong>t<br />

Metern. Das war einmal.<br />

80


Die Stadt war leer. Die Messe ka<strong>um</strong> besucht. Die Taxis ohne Kundschaft. Die<br />

Verlage brachten Bücher heraus, die vom Ghetto in Amsterdam handelten<br />

und wo altgewordene Dauergermanistikstudenten aus Karlsruhe über Freud'<br />

und Leid verfolgter Juden während <strong>der</strong> deutschen Besatzung her<strong>um</strong>puzzelten.<br />

Alles handwerklich sehr anerkennenswert und Satz für Satz staatlich geprüft<br />

'literarisch'. Alle Fernsehsen<strong>der</strong> berichteten in ihren Kulturson<strong>der</strong>sendungen<br />

pflichtschuldigst darüber. Der Absatz brach ein, die Geschäfte gingen<br />

reihenweise pleite. Fünfzehn Jahre lang hatte man den 'Tod <strong>der</strong> Popliteratur'<br />

gefeiert, jedes Jahr aufs Neue, nun nicht mehr. Nun war sie nämlich wirklich<br />

tot. Der einzige Titel dieses Jahr: Zoe Jennys 'Ein schnelles Leben'. Nur sie<br />

konnte man noch nach Herzenslust verreißen. Nur sie war sicher, keinen<br />

Preis mehr zu bekommen und die bisherigen sogar zurückgeben zu müssen.<br />

Ansonsten waren alle Popliteraten aus dem Programm geflogen, Stichtag 11.<br />

September 2001. Seitdem wurde wie<strong>der</strong> "ernsthaft erzählt", also über Väter<br />

in Albanien mit elf Söhnen, die die Schafe hüten in zeitloser literarischer<br />

Pracht. Über Mütter in irischen Dörfern, die klaglos die Jahrzehnte<br />

überdauern und über ihre pittoresk saufenden Männer. Gähn.<br />

Die Melba und ich erreichten den Stand unseres Verlages, wo <strong>der</strong> Verleger<br />

schon wartete. Er stand mit Wolf Biermann zusammen, einem ehemaligen<br />

DDR-Schriftsteller, <strong>der</strong> später auch im Westen durch ein legendäres<br />

Rockkonzert (o<strong>der</strong> war es eine Lesung?) in Köln bekannt wurde. Das war<br />

aber lange her, ich glaube sogar noch vor dem Fall <strong>der</strong> berüchtigten 'Mauer'.<br />

Wolf Biermann war später persönlich eng befreundet mit Rudolf Augstein, das<br />

wußte ich noch. Mehr aber nicht. Nun stand er da. Mit dem Verleger Seite an<br />

Seite! Ein Come-back bahnte sich an. Denn wer neben dem Verleger stand,<br />

hatte es gut. "Wenn die Sonne des Verlegers auf dich fällt, frohlocke"<br />

dichtete schon Wolfram von Eschenbach.<br />

Ich wartete, damit die Melba den Verleger begrüßte. Tat sie aber nicht.<br />

Vollkommen verwirrt stand sie vor ihm, unfähig einen Ton zu sagen. Ihre<br />

Augen irrten durch die Gegend, schienen ausdrücken zu wollen: "Ich bin ja so<br />

durcheinan<strong>der</strong>, aber letztenendes bin ich auch EINE FRAU und nichts als<br />

das!", was lei<strong>der</strong> nicht die Wahrheit war. Die Melba war die Chefin einer<br />

überaus wichtigen Medieninstitution, und so gab <strong>der</strong> Verleger ihr förmlich die<br />

Hand. Mich dagegen <strong>um</strong>armte er herzlich.<br />

Wir verabredeten uns für die Rowohltparty. Dann entdeckte ich den Mann,<br />

<strong>der</strong> mir seinen Computer geschenkt hatte, einen Schriftsteller. Wir sprachen<br />

lange. Natürlich nur über den Computer. Der Mann war nämlich selbst<br />

Schriftsteller. Er hieß Müller o<strong>der</strong> so ähnlich. Nein... Wagner? Thorsten<br />

Becker? Nee... ich muß nachsehen. Für wichtige Computerfragen habe ich<br />

immer seine N<strong>um</strong>mer bei mir. Er heißt... und einen guten Frauengeschmack<br />

hat er... Thomas Palzer! Ja, ein guter Typ. Und da stand schon wie<strong>der</strong> so ein<br />

unverbrauchtes Stück Frau neben ihm, wie frisch aus dem Ofen, guten<br />

Appetit! Noch duftend und dampfend... <strong>der</strong> Mann wußte zu leben. Er hatte<br />

graue Haare, aber die Kraft <strong>der</strong> zwei Herzen - ich verehrte ihn wirklich. Der<br />

punktete und punktete, wann immer ich ihn traf, später erzählten mir die<br />

Verlagssekretärinnen, wie gut er war. Ich dagegen verlor meistens. Sogar<br />

und gerade auf <strong>der</strong> Frankfurter Buchmesse. Wie blöde!<br />

81


Ich konnte also freenet einfach installieren, indem ich es auf AOL eingab und<br />

danach bei AOL kündigte. Logisch! Ich drückte ihm warm die Hand und<br />

wünschte ihm vielsagend "viel Glück". Er grinste voller Vorfreude. Dann<br />

sprach ich mit diversen LektorInnen meines Verlages. Die Melba war wie<strong>der</strong><br />

ganz Frau und ta<strong>um</strong>elte wie ein steuerloser Schmetterling durch die<br />

Messehalle. Die Knöpfe ihrer Bluse hatten sich geöffnet, dafür konnte sie<br />

nichts, sie war schließlich auch eine Frau. Sie konnte lieben nur und soonst<br />

gaar nichts... Ich wandte mich ab mit Grausen. Ich mochte sie sehr, aber<br />

nicht wegen dieser Show, son<strong>der</strong>n TROTZ dieser Show. Und weil mich dieses<br />

partielle Irresein an mich selbst erinnerte.<br />

Sie fand ihr (eigenes) Buch und begann (sich selbst) zu lesen. Alle an<strong>der</strong>en<br />

Bücher interessierten sie nicht. Als ich wenigstens die Neuerscheinungen<br />

meines Verlages durchsehen wollte, wurde sie ganz unruhig. Sie zwang mich,<br />

z<strong>um</strong> Hotel zu fahren und dort die Zeit bis zu den Parties zu verbringen. Das<br />

taten wir. Ich las Sven Lagers 'Im Gras', das äußerst gut war und eben DOCH<br />

echter Pop, sozusagen <strong>der</strong> zweite Titel neben Zoe Jenny, und die Melba las<br />

konzentriert ihr eigenes Buch, schon z<strong>um</strong> wie<strong>der</strong>holten Mal heute, sie hatte<br />

es im Zug schon zuende gelesen. Auch Melbas Buch war übrigens nicht<br />

schlecht. Sie schrieb, daß sie Männer mit Waschbrettbauch verachte und nur<br />

solche begehre, die alt und verzweifelt seien. Da konnte ich nur rufen<br />

'respect!', so eine Position mußte man erstmal einnehmen! Das war mutiger<br />

als das Unterhosengestrampel von (<strong>der</strong> etwa gleichaltrigen) Madonna.<br />

Zwischen dem öden Kons<strong>um</strong>ismus von Madonna und <strong>der</strong> Kaputtheit Melbas<br />

lag <strong>der</strong> Kulturgraben, <strong>der</strong> die USA und Deutschland trennte. Ich war natürlich<br />

für uns. Ich war ja auch Wahlhelfer bei Schrö<strong>der</strong>.<br />

Kurz vor acht fuhren wir zu Bernd Lunkewitzens <strong>Auf</strong>bau-Verlags-Party. Dort<br />

trafen sich die Spitzen aus Politik und Wirtschaft, <strong>der</strong> Kanzler wurde<br />

z<strong>um</strong>indest 'erwartet'. Er kam nicht, aber beinahe doch. Der <strong>Auf</strong>bau Verlag<br />

hatte einen einzigen Star, nämlich besagte Joe Jenny; deswegen ging ich hin.<br />

Ansonsten sah ich nur Männer über 50 in diesen schrecklichen<br />

Politikeranzügen. Alle sahen gleich aus, also gleich uninteressant. Und das,<br />

obwohl man jede zweite Nase wie<strong>der</strong>erkannte. Typen aus dem Fernsehen, die<br />

man hun<strong>der</strong>tmal gesehen aber niemals identifiziert hatte: Intendanten,<br />

Wirtschaftsführer, pensionierte Chefkommentatoren <strong>der</strong> öffentlich-rechtlichen<br />

Sen<strong>der</strong>, ehrwürdige Altautoren ohne jede Bedeutung, Hofschranzen des<br />

Systems, Geldsäcke und sonstige Bänker: furchterregend. Ein Totentanz <strong>der</strong><br />

Geistlosigkeit. Hatte von denen einer überhaupt gelesen? Mal eine Idee<br />

vertreten, eine eigene? Mal diskutiert? Abitur gemacht? Und, wie gesagt,<br />

alles auf den schmalen Schultern einer einzigen echten Autorin, <strong>der</strong> kleinen<br />

19-jährigen Zoe Jenny. Die arme Maus mußte 300 fette Bänker und Politiker<br />

durch den langweiligen Abend tragen. Ich dachte natürlich, es würden<br />

irgendwann spontan noch an<strong>der</strong>e Autoren dazustoßen, aber das ging nicht,<br />

da nur diejenigen eingelassen wurden, die eine offizielle Einladungsoption<br />

handschriftlich zurückgeschickt und gegen eine offizielle zweite Einladung<br />

getauscht hatten, die wie<strong>der</strong><strong>um</strong> nur für eine Person gelten durfte und zwar<br />

streng.<br />

Nach einer Stunde wurde mir übel. Die Spitzen aus Politik und Wirtschaft<br />

nahmen mir allmählich die Luft z<strong>um</strong> Atmen. Seltsamerweise gelang es mir<br />

82


auch nicht, mit Zoe zu sprechen. Und das, obwohl sie völlig hilfsbedürftig und<br />

alleingelassen aussah. Irgendein fetter Bänker mit Glatze stand neben ihr,<br />

und sie wirkte wie die junge Ingrid Bergmann, die weiß, daß ihr Mann gerade<br />

von <strong>der</strong> Gestapo hingerichtet wird und sie sich nichts anmerken lassen darf,<br />

weil sie sonst auch sofort verhaftet wird. In ihren Augen war nichts als<br />

namenlose, maßlose Angst, und deswegen war auch ich paralysiert. Die<br />

Melba war mir auch keine Hilfe. Anstatt zu mir zu stehen, verleugnete sie<br />

mich und flatterte im Ra<strong>um</strong> her<strong>um</strong> wie eh und je. Sie war eine Frau und<br />

verwirrt und verlor immer irgendwas und sprach alte Männer mit den Worten<br />

an:<br />

"Ich kenne hier absolut NIEMANDEN, bin vollkommen hilflos! Sie müssen mir<br />

jetzt alles zeigen und jeden einzelnen erklären!"<br />

Das klappte offenbar nicht, und so setzte sie sich ans Feuer des großen<br />

Kamins und legte den Rücken vollkommen frei. Wenn ich sie ansah, sah sie<br />

schnell und ziemlich genervt weg. So wan<strong>der</strong>te mein Blick immer zwischen<br />

<strong>der</strong> Angstmaus Zoe und <strong>der</strong> genervten femme fatale hin und her. Bis ein<br />

neuer Gast kam: Marcel Reich-Ranicki!<br />

Natürlich wurde er schnell von an<strong>der</strong>en <strong>um</strong>ringt, und das waren Leute, die<br />

auch so aussahen wie er. Also alt waren und weiße Haare hatten. Da wollte<br />

ich nicht dazutreten. Ich traute mich gerade noch, ihm kurz die Hand zu<br />

geben und ihn so anzugucken, als kennten wir uns noch aus dem Ghetto. So<br />

etwas funktioniert eigentlich immer. Kein Mensch kann so schnell sein<br />

gesamtes Personengedächtnis durchchecken. Er sieht das unbekannte<br />

Gesicht und erwi<strong>der</strong>t das deutlich hervorgebrachte Vertrautheitszeichen.<br />

Sogar Reich-Ranicki tat das. Und <strong>der</strong> kann bestimmt SEHR schnell denken.<br />

Danach zog er sich mit seiner Gang in dicke Sessel zurück.<br />

Ich durchstreifte die Lunkewitz'sche Villa, einen Neubau im römischen Stil.<br />

Der römische Stil war keineswegs nur angedeutet, son<strong>der</strong>n bis ins kl<strong>eins</strong>te<br />

und letzte Détail durchgehalten. Es handelte sich <strong>um</strong> nichts weniger als die<br />

vollständige Rekonstruktion eines Denkmals <strong>der</strong> Antike, und das Haus mußte<br />

zwanzigmal so viel gekostet haben wie ein normaler Villenneubau. So etwas<br />

konnte sich nur <strong>der</strong> Staat leisten - und Bernd Lunkewitz, <strong>der</strong> Milliardär. Es<br />

war bekannt, daß er den Kauf des <strong>Auf</strong>bau Verlags vor einigen Jahren aus <strong>der</strong><br />

Portokasse bezahlt hatte, als süßes kleines Hobby.<br />

Nun hielt Lunkewitz eine Rede - auf Englisch! Das war mutig, denn er sprach<br />

einen extrem deutschen Akzent. Dennoch gefiel mir die Rede, da sie klug war<br />

und mich anregte. Er sprach über die Literatur, die Wirtschaftslage, den<br />

kommenden Krieg im Nahen Osten, auf den Verkaufserfolg des neuen Roman<br />

von Zoe Jenny 'Ein schnelles Leben', <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die eine bahnbrechende<br />

'Outperformance' geliefert habe, und alles verband er auf so vernünftige und<br />

aufrichtige Weise, daß ich darüber sofort mit jemandem streiten wollte. Mit<br />

<strong>der</strong> Melba würde das nicht gehen, denn die wollte nur, mit Schlafzimmerblick<br />

und brechen<strong>der</strong> Stimme, über die fatale Verstrickung von Mann und Fraufrau<br />

sprechen. Nach einigen Jahren nervte das. Die Verstrickung hing mir z<strong>um</strong><br />

Hals raus. Lieber wollte ich schwul werden o<strong>der</strong> ins Kloster gehen, als diesen<br />

Schmarrn noch länger mitz<strong>um</strong>achen. Aber wozu war <strong>der</strong> große För<strong>der</strong>er <strong>der</strong><br />

Streitkultur im Haus, Marcel Reich-Ranicki? Ich pirschte mich wie<strong>der</strong> an ihn<br />

ran.<br />

83


Ich wartete, bis er aufstand und ins Kaminzimmer ging, <strong>um</strong> Melbas nackten<br />

Oberkörper aus <strong>der</strong> Nähe zu betrachten. Alle Männer taten das irgendwann.<br />

Sie waren schließlich AUCH Männer, und die Melba war nichts an<strong>der</strong>es als<br />

eine Frau, nicht war, schließlich und endlich. Machen wir uns doch nichts vor.<br />

Seien wir für einen Moment mal ehrlich, Himmelherrgott. Sie hatte eine gute<br />

Haut, die Melba, und einen verdammt guten Oberkörper, hehe... ja, und so<br />

kam dann auch <strong>der</strong> Literaturpapst näher. Aber nicht weit kam er. Ich paßte<br />

ihn ab, als er gerade durch die offene Tür gekommen und die leerstehende<br />

Mitte des Ra<strong>um</strong>es erreicht hatte. Im Radius von gut drei Metern war, in<br />

dieser einen Sekunde, niemand sonst als er. Und ich, <strong>der</strong> ich ihm freundlich<br />

und arglos die Hand schüttelte, ein zweitesmal an diesem Abend. In dieser<br />

kurzen, aufblitzenden Begegnung, als er erneut nicht wußte, ob er mich nicht<br />

doch gut kannte und das Beste von mir zu halten hatte, sah er gut aus: jung,<br />

nett, naiv, freundlich. Zeitlos. Er hätte auch 56 o<strong>der</strong> 16 sein können. Der<br />

große Augenabstand gefiel mir, die nicht h<strong>um</strong>orlosen Gesichtszüge, die<br />

frische Gesichtsfarbe. Der Mensch hatte gute Laune, und bescheiden und<br />

höflich war er auch. Fast devot sah er zu Boden, da es ihm peinlich war, sich<br />

nicht an meinen Namen zu erinnern. Womöglich gehörte ich ja auch zu den<br />

'Spitzen aus Politik und Wirtschaft'. Ich fragte dann, ob er sich noch an mich<br />

erinnere, an <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>. Ich sprach meinen Namen ganz<br />

selbstverständlich und doch deutlich aus. Er schüttelte den Kopf. Ich wußte,<br />

er würde gleich unfreundlich werden und rasselnd "was wollen Sie?!" fragen.<br />

Ich erklärte schnell:<br />

"Ich habe mich so sehr über Ihre liebe... Dankesschrift... an mich gefreut,<br />

Herr Professor!"<br />

Er sah zu Boden, schüttelte den Kopf, sagte:<br />

"Was wollen Sie von mir?!"<br />

"Ich bin, äh, dieser Autor, <strong>der</strong> Ihnen immer geschrieben hat... daß er nur<br />

Ihretwegen noch schreiben kann in diesem Land!"<br />

Er sah nicht mehr zu Boden, son<strong>der</strong>n ging blitzschnell weiter, wirklich<br />

erstaunlich schnell für einen 82jährigen, und machte dabei in<br />

unnachahmlicher Weise eine wegwerfende Handbewegung. Das war schon<br />

klasse, und ich mußte anerkennend schmunzeln, fast lachen. Wie konnte<br />

man so sehr über den Dingen stehen? Das ging nur, wenn man eine echte<br />

Vaterfigur war. John Wayne schickte mit solch einer Handbewegung kleine<br />

Schurken weg. Und die Brü<strong>der</strong> von Oasis,Väter des Britpop, zeigten<br />

irgendwelchen min<strong>der</strong>jährigen Fans mit dieser Geste den Ausgang. Ich pfiff<br />

leise durch die Zähne und wollte es gut sein lassen. Mehr Reich-Ranicki war<br />

gar nicht nötig.<br />

Zoe Jenny war gegangen. Ja, sie hatte es keine Sekunde länger ausgehalten.<br />

Das war schade, denn sie war die einzige, an die ich mich wenigstens<br />

theoretisch noch hätte wenden können. Die Melba saß am Feuer. Ohne Zoe<br />

fühlte ich mich völlig verlassen in <strong>der</strong> Altherrenrunde.<br />

Noch einmal durchstreifte ich die Villa. Am Büffett nahm ich nochmal Speisen<br />

auf einen Teller, aß sie aber nicht mehr. Die Bücher an den Wänden, sicher<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende und alles Werkausgaben, waren echt. Von Maupassant<br />

fehlten die Romane. Ich redete nochmal mit <strong>der</strong> Melba, aber die hatte nur<br />

noch die fremden Männer im Kopf, <strong>der</strong>en armes Opfer sie noch in dieser<br />

84


furchtbaren Nacht werden würde. Weil sie sehr vieles war, ja die ganze WELT<br />

war, aber eben auch, nicht wahr, ganz ganz am Ende, auch eine Frau... Ich<br />

ließ mir von <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe meinen Mantel geben.<br />

In dem steckte das neue Buch, das von mir im Januar herauskam, also <strong>der</strong><br />

neue Schutz<strong>um</strong>schlag, den Ulrike Henneke von KiWi mir vorhin zugesteckt<br />

hatte. Ich hatte nun so eine vage Idee. Es war klar, daß <strong>der</strong> große Kritiker<br />

meinen Namen SCHON WIEDER vergessen hatte. Ich hätte noch achtmal im<br />

Laufe des Abends zu ihm treten und meinen Namen schmettern können - er<br />

hätte ihn dennoch gleich wie<strong>der</strong> vergessen. Mit dem neuen Schutz<strong>um</strong>schlag<br />

war das schwieriger. Ich schrieb seinen Namen darauf und versuchte dabei,<br />

seine Schrift, die ich kannte, nachz<strong>um</strong>achen. Dann ging ich wie<strong>der</strong> ins<br />

Innere. <strong>Auf</strong> seinen Platz direkt neben seiner Frau traute sich natürlich<br />

niemand hinzusetzen. Der war als einziger auf <strong>der</strong> ganzen Party frei. Ich<br />

schlen<strong>der</strong>te hin und legte den Schutz<strong>um</strong>schlag darauf. Seine Frau und auch<br />

sonst niemand achtete darauf. Dann begann ich seelenruhig mit dem Handy<br />

zu telefonieren. Nach einigen Minuten entfernte ich mich, behielt aber den<br />

Platz im Auge. Ich blätterte in den Novellen Guy de Maupassants. Ein Herr<br />

sprach mich an, ein Mann unter 40, <strong>der</strong> sich deswegen fremd fühlte und<br />

Anschluß suchte. Während ich mit ihm über die Villa und die Bücher<br />

plau<strong>der</strong>te, sah ich, wie zwanzig Meter weiter <strong>der</strong> Literaturpapst zurückkam,<br />

meinen neuen Roman fand und sich kopfschüttelnd darüberbeugte. Er starrte<br />

minutenlang auf den Schutz<strong>um</strong>schlag, auf seine eigene Schrift darauf, und<br />

sicher immer wie<strong>der</strong> auf die völlig unbekannten Worte JOACHIM LOTTMANN.<br />

Nun konnte ich beruhigt gehen und tat es auch. Ich trat in den Vorra<strong>um</strong>.<br />

Diener sprangen auf mich zu. Ich gab zu Protokoll, ein Taxi zu benötigen.<br />

Sicherheitsbeamte und Bundesgrenzschützer sprachen gepreßt leise Befehle<br />

in ihre ans Kinn gebundenen Mikrophone. Der Kanzler war nicht gekommen.<br />

Der vergnügte sich bei Rowohlt, wo es sogar Autoren gab. Und da fuhr ich<br />

jetzt auch hin.<br />

Ich stellte mir vor, wie nun die Spitzen aus Politik und Wirtschaft über die<br />

arme, unschuldige Melba, im Geiste immer noch 14, herfielen. Diese<br />

Schweine. Sahen die denn nicht, daß sie noch Jungfrau war, in gewisser<br />

Weise? Hatten die denn nichts gelernt seit Stalingrad? Plötzlich lief eine Frau<br />

vors Auto, die wollte auch zu Rowohlt wollte. Verena Kosglut o<strong>der</strong> so, ich<br />

versuchte mir sofort den Namen zu merken, weil sie so gut aussah und einen<br />

WEISSEN Cordanzug trug. Sie sagte, sie übersetze große deutsche<br />

Gegenwartsromane ins Italienische.<br />

Vor dem Rowohltpartygebäude spielten sich schreckliche Szenen ab, wie vor<br />

<strong>der</strong> deutschen Botschaft in Peking, wo immer Nordkoreaner reinwollen. Es<br />

gab eine Liste, und ich stand zwar drauf, nicht aber Verena Kosgluth. Wir<br />

verhandelten zäh bis in die Nacht hinein, wie <strong>eins</strong>t Genscher vor <strong>der</strong><br />

deutschen Botschaft (Prag war das in dem Fall). Später kam eine Gruppe<br />

Fans dazu, die ich selbst eingeladen hatte. Junge Leute, knapp über 30,<br />

denen ich gesagt hatte: 'hey, ich bring euch da rein'. Nun standen sie da und<br />

guckten fast so verwirrt wie die Melba.<br />

Nein, nicht so wie die Melba. Niemand konnte so heillos verwirrt gucken wie<br />

sie ("<strong>Mein</strong> Herr, ich verstehe nicht... Ihnen etwas blasen... ich kann doch gar<br />

keine Noten lesen?"). Die jungen Fans sahen ganz normal aus. Nur ihre<br />

85


Kleidung war etwas unpassend. Sie sahen aus wie Bundeswehrsoldaten.<br />

Hiphop kannte man aber bei Rowohlt noch nicht o<strong>der</strong> nicht mehr. Und so liess<br />

man sie nicht hinein. Feridun Zaimoglu kam, und ich bat ihn, sich für meine<br />

jungen Fans zu verwenden. Er tat's, es nützte nichts. Rowohlt hatte als<br />

Türsteher radebrechende Turkos angestellt, die noch nicht mal die Situation<br />

rafften, als Feridun sie ihnen in Kanak Sprak erklärte. Karin Graf, die danach<br />

kam, schaffte es erst recht nicht, und selbst Springer-Obergangster Matthias<br />

Döpfner verstand nur Bahnhof. Nun entdeckte mich Birgit Schmitz von K & W<br />

und winkte uns alle rein. Vor allem Döpfner, <strong>der</strong> bereits einen Kopf kleiner<br />

geworden war, atmete auf. Er war ohne Frau gekommen und ohne Friede;<br />

ein Fehler, wie er insgeheim feststellte.<br />

Ich dachte wirklich, als ich nun in <strong>der</strong> Halle stand, mit all den echten Autoren<br />

und Lektoren, Stadtluft mache frei, o<strong>der</strong> sowas. Also 'Nie<strong>der</strong> mit den<br />

Ständen! Den Pfaffen und den Fürsten! Den Spitzen aus Politik und<br />

Wirtschaft!'. O<strong>der</strong> einfach nur "Stürmt die Bastille, Kin<strong>der</strong> des Vaterlandes!"<br />

Es war so scheußlich gewesen bei dem milliardenschweren Spekulanten, <strong>der</strong><br />

wahrscheinlich gerade den Real und die brasilianische Volkswirtschaft zu Fall<br />

brachte, SO BÖSE, und es war so frei und voller menschlicher Möglichkeiten<br />

bei den Künstlern, jungen Frauen und leidenschaftlichen Lesern hier. Gewiß<br />

tat mir die arme Melba leid; aber hatte sie nicht auch einen kleinen Anteil an<br />

ihrem Verhängnis <strong>der</strong> heutigen Nacht? Ich weiß, diese Ansicht ist politisch<br />

nicht ganz korrekt, aber trotzdem. Ich weiß auch, daß die Lunkewitz-Rede<br />

hochinteressant und richtig war. Selten hatte mir jemand den Nahostkonflikt<br />

so gut erklärt. Und immerhin brachte <strong>der</strong> Verlag mit Zoe Jenny das einzig<br />

interessante Buch (neben Sven Lagers 'Im Gras') heraus. Auch wollte ich<br />

keine Party verurteilen, die von meinem Vorbild Reich-Ranicki besucht wurde.<br />

So blieben die Dinge, wie alles im Leben, zwiespältig. Ich sah es schon wenig<br />

später. <strong>Mein</strong>e Fans entpuppten sich, als sie erst getrunken hatten, als wenig<br />

fahnentreu. Hätten nicht auch sie die arme Melba geschwägert, wenn sie nur<br />

hier gewesen wäre? Die pl<strong>um</strong>pen Bundeswehrklamotten ka<strong>um</strong> abgestreift<br />

dabei? Ich wußte es plötzlich nicht mehr. Die gute Melba war doch nur eine<br />

hilflose Frau, man mußte sie doch beschützen! Ich bekam es mit <strong>der</strong> Angst zu<br />

tun und rief sie an. Aber das Handy antwortete nicht. Es war wohl schon zu<br />

spät.<br />

Nun begann ich selbst zu trinken. Die Stunden vergingen jetzt recht schnell.<br />

Ich geriet in eine seltsame Schieflage. Irgendetwas hin<strong>der</strong>te mich daran,<br />

nochmal bei <strong>der</strong> Melba anzurufen; es wäre wohl auch vergeblich gewesen.<br />

Aber ohne sie traute ich mich nicht mehr ins Hotel. Es war ihr Zimmer und<br />

ich wollte da nicht rein. Womöglich machte mir irgend so ein Spitzentyp aus<br />

Politik und Wirtschaft auf. Ich bat meine Fans, mich bei sich unterzubringen,<br />

aber die dachten gar nicht daran. Schließlich traf ich <strong>um</strong> vier Uhr morgens<br />

meinen alten Haffmans-Lektor Heiko Arntz, <strong>der</strong> ebenfalls kein Zimmer<br />

gefunden hatte. Genau gesagt: Man hatte ihm <strong>um</strong> <strong>halb</strong> drei Uhr nicht mehr<br />

geöffnet, in <strong>der</strong> kleinen Pension.<br />

Ich rief bei Christian Y Schmidt an und schil<strong>der</strong>te ihm die Lage. Er war mein<br />

ältester Freund, und er wohnte in Frankfurt. Ich nannte ihn manchmal, in fast<br />

zärtlichen Anwandlungen, Ypsilon. Das tat ich auch jetzt.<br />

86


"Ypsilon, du darfst mich nicht hängen lassen. Wir haben Minusgrade, es<br />

herrscht ein scharfer Wind, ich habe nicht mal Winterkleidung an. Ebenso<br />

ergeht es Heiko Arntz, den Du nicht kennst, <strong>der</strong> aber ein guter Lektor ist. Du<br />

MUSST mir einfach helfen."<br />

Er wollte, aber er durfte nicht wollen. Er hatte seit wenigen Wochen eine<br />

Freundin. Eine junge Chinesin. Er weinte fast.<br />

"Es ist... nicht meine... Wohnung... Es ist auch IHRE... "<br />

"Ja, Ypsilon, aber es geht nicht an<strong>der</strong>s. Das wäre auch keine Beziehung mit<br />

Zukunft, wenn Deine Freundin es an<strong>der</strong>s sähe."<br />

Seine Stimme begann zu zittern. Er sagte keine ganzen Sätze mehr, son<strong>der</strong>n<br />

immer nur ein Wort, als müsse er vor jedem Wort Anlauf nehmen.<br />

"Wir... sind... erst... kurz... zusammen..."<br />

Er tat mir furchtbar leid, ich erschrak richtig. Der arme Ypsilon. Es war nicht<br />

mehr seine eigene Wohnung, er hatte sie schon überschreiben lassen. Bald<br />

würde er auch sein Testament än<strong>der</strong>n lassen. Ich dagegen hatte nur eine<br />

l<strong>um</strong>pige Nacht zu überstehen. Und das würde ich schaffen, ganz egal was<br />

passierte.<br />

Und danach stand mir das ganze Leben offen.<br />

17. Kölner Kin<strong>der</strong>oper - Elke Heidenreich<br />

Ihre Ahnen müssen Missionare in Afrika gewesen sein, die den Kin<strong>der</strong>n im<br />

Busch Lesen und Schreiben beibrachten. Damit sie die Bibel lesen<br />

konnten. Elke Heidenreich missioniert die Deutschen seit 19 Folgen z<strong>um</strong><br />

'Lesen!', und aus den Büchern strömt das Heil. Sie ist vielleicht (nach<br />

Ratzinger) die letzte Deutsche, die noch etwas WILL. Die Merkel wollte nur<br />

dienen, doch Elke will die Revolution: Bücher an die Macht!<br />

Sie sitzt in <strong>der</strong> Maske und wird für den <strong>Auf</strong>tritt geschminkt. Die schöne<br />

brokatgoldene Kostümjacke tauscht sie gegen ein sehr einfaches T-Shirt,<br />

die vollen Haare werden verwüstet und ausgedünnt. Am Ende sieht sie<br />

wie<strong>der</strong> aus wie die Hausfrau aus Wanne-Eickel. Die Menschen mögen sie<br />

so. Die desperate Housewife von nebenan, die kein Fremdwort benutzt<br />

und trotzdem Robert Musil erklären kann.<br />

In dieser Sendung erklärt sie ein Meisterwerk von Lampedusa, 'Il<br />

Gattopardo', prächtiger und überwältigen<strong>der</strong> als je<strong>der</strong> Thomas Mann, und<br />

wenn es stimmt, daß Millionen Frauen Elkes Sendung z<strong>um</strong> sofortigen Kauf<br />

und Kons<strong>um</strong> ihrer Empfehlungen nutzen, müßte das Land schlagartig <strong>um</strong><br />

zehn Prozent klüger werden, jedesmal.<br />

Ein alter Zausel, Typ Colonel Kuster kurz nach Little big horn, steckt<br />

seinen Kopf in die Kabine, ruft mit ersticken<strong>der</strong> Stimme: "Erzähl dem nix!"<br />

"War<strong>um</strong> denn nicht?" fragt die Heidenreich und winkt ihn weg. Seine<br />

Augen flackern vor Angst. Dann schließt er die Tür.<br />

"Das war mein Ex-Mann", sagt sie stolz.<br />

Ein bißchen ALT ist die Sendung vielleicht. Legionen von graubärtigen,<br />

schwarze ausgeleierte Cordhosen tragenden Kabel-, Skript- und<br />

Tonträgern schleichen auf leisen Sohlen <strong>um</strong>her. Nie sieht man auch nur<br />

87


ein Fitzelchen von Jugend, und wenn doch, dann haben die 'Kids'<br />

überlange base caps auf und tragen diesen ängstlich-pflichtschuldigen<br />

"Wir machen Euch die Jugend, wir tun alles für Euch, genau wie Ihr es<br />

wollt"-Gesichtsausdruck. Da tut es gut, als plötzlich ein ECHTER junger<br />

Mann backstage auftaucht: Giovanni di Lorenzo.<br />

"Danke, Don Giovanni!" sagt die Mo<strong>der</strong>atorin beglückt. Es ist ein<br />

lupenreiner Freud'scher Versprecher. Sie wollte sagen: "Hi, Giovanni di<br />

Lorenzo." Und sie gesteht: Er sei ein so wun<strong>der</strong>schöner, so kluger, so<br />

gebildeter Mann! Der sieht den Reporter, gibt ihm freudig die Hand, glaubt<br />

ihn zu erkennen:<br />

"Ah, Wim Wen<strong>der</strong>s!"<br />

Auch das nicht ganz richtig. Lorenzo ist Ehrengast <strong>der</strong> Sendung und<br />

wirklich so wahnsinnig nett und wun<strong>der</strong>bar glatt wie im Fernsehen. Elkes<br />

Komplimente erträgt er mit engelhaftem Lächeln, bis alle in ihn verliebt<br />

sind. Leise sagt er, es sei schwer für ihn gewesen zu kommen, da gerade<br />

Produktionstag sei. Er ist 'Alleiniger Chefredakteur' <strong>der</strong> ZEIT. Viele Jahre<br />

wurde ihm dieser Posten angeboten, meldet <strong>der</strong> Munziger Report. Man<br />

ahnt, wie glücklich alle waren, als er dem jahrelangen Drängen endlich<br />

seufzend nachgab. Die Visagistin versucht gar nicht erst, ihn zu<br />

schminken - man kann ihn nicht verschönern. Die tolle Figur, <strong>der</strong> perfekt<br />

sitzende teure Anzug, das volle, gekonnt geölte Lockenhaar: er kann<br />

direkt vor die Kamera. Und da, im gleißenden Licht, vor <strong>der</strong><br />

Märchendekoration <strong>der</strong> Kölner Kin<strong>der</strong>oper, unter goldenen Sternen auf<br />

nachtblauem Stoff, sagt er auf Anhieb und ohne ein einziges "äh" sofort so<br />

erstaunlich kluge Sachen auf so feine, anstrengungslose Weise, so soft, so<br />

hingestreut, daß einem heiß und kalt wird. Es sind keine wirklich neuen<br />

Gedanken, es sind nicht seine eigenen, aber wie gebildet muß dieser<br />

wun<strong>der</strong>bare Mann sein! Die Zuschauer, alle hübsch im Rentenalter, unter<br />

größten Schmerzen auf den Kin<strong>der</strong>bänken sitzend, danken es ihm später<br />

mit ehrlichem Geklatsche.<br />

Die Stoppuhr läuft. Nur 30 Minuten gibt das ZDF <strong>der</strong> Sendung, und die zu<br />

<strong>nachts</strong>chlafen<strong>der</strong> Zeit, <strong>der</strong> Mitternacht entgegen hetzend und hechelnd,<br />

und das nur alle zehn Wochen. Für neue Tele Novelas werden Millionen<br />

lockergemacht und täglich zig neue Sendeplätze. 'Lesen!' ist die einzige,<br />

die letzte Sendung für Bücher. Außer ihr treibt nur noch ein Guerillero<br />

namens Dennis Scheck irgendwo in noch tieferer Nacht sein Unwesen.<br />

Seine Quote soll aber so niedrig sein, daß sie selbst mit allerneuesten<br />

Geräten nicht mehr meßbar ist. Bleibt also nur die Heidenreich. Prompt<br />

muß sie mit dem Vorwurf leben, ein Monopol in Sachen<br />

Literaturvermarktung zu besitzen. Also Macht. Viel zuviel Macht. Fast<br />

jedes Buch, das sie empfiehlt, wird ein Bestseller. Ein langweiliger,<br />

nerviger Vorwurf, mit dem schon die Vorgängersendung 'Das literarische<br />

Quartett' leben mußte.<br />

Tatsächlich haben aber we<strong>der</strong> Elke Heidenreich noch Reich-Ranicki viel<br />

Medienmacht. Beides sind Einzelkämpfer, die sich nirgendwo angedockt<br />

haben, die immer schlecht waren im Kungeln, im 'miteinan<strong>der</strong> Können', im<br />

Weißw<strong>eins</strong>aufen mit Kollegen und Trägern <strong>der</strong> Macht. Reich schreibt es<br />

selbst in seiner Biographie, und es ist nur zu wahr: Er ist ein Außenseiter.<br />

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<strong>Auf</strong> Elke Heidenreich trifft es strukturell noch mehr zu. Und so ist auch <strong>der</strong><br />

häufigste Vorwurf, den man ihr macht, das ausschließliche Beharren auf<br />

den eigenen Geschmack. Kein Einflüsterer hätte bei ihr eine Chance, sein<br />

Buch gewürdigt zu kriegen. Außer di Lorenzo vie lleicht, was aber je<strong>der</strong><br />

verstehen würde.<br />

Als letzte bekennende 68er-Frau weiß sie, daß es 'Macht an sich' nicht<br />

gibt, nur "Macht für o<strong>der</strong> gegen die Arbeiterklasse". Für wen also hat sie<br />

ihre Macht?<br />

"Für die Bücher!" ruft sie to<strong>der</strong>nst. Man muß sie lieben.<br />

Auch weil sie etwas Zartes und Mädchenhaftes hat in ihrer antiautoritären<br />

Haltung. Die Leute denken, da sitzt Else Stratmann, und auf den ersten<br />

Blick stimmt das womöglich. Die rabulistische, rotzfreche Nachbarin aus<br />

<strong>der</strong> Vorstadt.<br />

Ihre innere Wahrheit vermittelt sich aber viel deutlicher. Da sitzt ein<br />

zartes, verletzliches, unendlich auf die Erwachsenen neugieriges Kind, das<br />

über den Umweg 'Bücher' alle noch viel besser kennenlernen möchte. Ein<br />

P<strong>um</strong>uckl mit lustiger Lesebrille. Was das für eine ist, die Elke Heidenreich,<br />

beweist sich in den langen Pausen, als sie das völlig 'unbedeutende'<br />

Publik<strong>um</strong> mit aktuellen Anekdoten aus ihrem Alltag unterhält. Sie ist da<br />

(noch) besser, verbindlicher und geduldiger als in <strong>der</strong> Sendung.<br />

O<strong>der</strong> wenn es ihr auf die Frage, war<strong>um</strong> sie jedes Fremdwort auf <strong>der</strong> Stelle<br />

erkärt, rausrutscht:<br />

"Alles an<strong>der</strong>e wäre Hochmut!"<br />

Elkes Antwort auf den ewigen Machtmißbrauchsvorwurf ist die<br />

Verbreiterung des Angebots. Sie empfiehlt nicht vier Bücher, son<strong>der</strong>n<br />

acht, manchmal sogar bis zu zwölf. Diesmal vor allem den neuen Uwe<br />

Timm 'Der Freund und <strong>der</strong> Fremde', über die Freundschaft Uwe Timms mit<br />

Benno Ohnesorg, sowie Daniel Kehlmann, Cees Nooteboom, Ulrich Greiner<br />

und noch zig an<strong>der</strong>e. Sie schafft das, indem sie die Sendung so schnell<br />

macht wie <strong>eins</strong>t Hänschen Rosenthal sein 'Dalli-dalli'-Ratespiel. Schnell,<br />

aber nie hektisch. Sie schafft das, indem sie sehr persönlich spricht. Es<br />

geht <strong>um</strong> Weltliteratur, aber man hört eine intime Freundin sprechen.<br />

Jedes Buch, und sei es noch so abgehoben, bezieht sie auf sich und ihr<br />

Leben, und auf seltsame Weise spricht sie dadurch vom Zuschauer selbst.<br />

Wenn es ihr gefällt, wird es auch ihm gefallen.<br />

Die Sendung ist ganz gut für Leute, die arbeiten und keine Zeit haben,<br />

stundenlang im Buchgeschäft zu stehen. Ihre Empfehlungen sind<br />

subjektiv, aber nicht verschroben. So ziemlich alle großen, wichtigen<br />

Neuheiten werden ihr nicht entgehen, darauf kann man sich verlassen.<br />

Nach 19 Sendungen ist sie selbstverständlich etwas mainstreamig<br />

geworden. Das 'hallo Mädels, das ist was für Euch!'<br />

kommt ihr nicht mehr über die Lippen. Ka<strong>um</strong> noch Umarmungen vor<br />

laufen<strong>der</strong> Kamera mit Gesinnungsschwestern, überhaupt: <strong>der</strong> ganze<br />

ausgestellte Feminismus steht heute da wie ein Mißverständnis. Zur<br />

Merkel-Kanzlerschaft nur ein Zornausbruch: "Lieber weiter noch 100 Jahre<br />

Männer als DIE DA." Nein, es ging ihr einzig <strong>um</strong> Bücher, <strong>um</strong> das<br />

massenweise Lesen <strong>der</strong>selben. Aber das herzliche "Ihr Lieben!"<br />

89


sagt sie weiterhin. Und fürs Verschrobene gibt es auch immer noch diesen<br />

an<strong>der</strong>en, den man immer verpaßt, Dennis Scheck.<br />

Der ist natürlich nicht dabei, als nach <strong>der</strong> Sendung für den engeren Kreis<br />

Sekt gereicht wird. Die beiden sind verkracht, lei<strong>der</strong>. Eigentlich mögen sie<br />

sich, und sie lieben den guten Streit unter Freunden. Einmal stritten sie<br />

sich eine <strong>halb</strong>e Nacht lang über ein Buch und wurden sich nicht einig.<br />

Daraufhin hypte es Elke in 'Lesen!', und Scheck warf es in seiner eigenen<br />

Sendung demonstrativ in eine vor die Kamera gestellte Mülltonne. Ob sie<br />

ihm vergäbe, wenn er sich entschuldigte?<br />

"Vergeben, das?! Ein Buch in die Mülltonne zu werfen ist unverzeihlich."<br />

Fußnote<br />

Elke Heidenreich<br />

Es war schwierig, über exakt die eine und einzige Person zu schreiben, die es in <strong>der</strong> Hand<br />

hatte, mein aktuelles Buch ´Zombie Nation´ z<strong>um</strong> Bestseller o<strong>der</strong> z<strong>um</strong> Flop zu machen.<br />

<strong>Mein</strong> Buch lag ihr vor, es hieß, sie wolle es wohlwollend lesen. Schrieb ich kritisch über<br />

sie o<strong>der</strong> SPIEGEL-typisch, würde ich mir eine lebenslange Feindschaft zuziehen.<br />

Nicht nur dieses, auch jedes weitere Buch würde sie ignorieren. Da ich beim SPIEGEL<br />

unter Vertrag stand, konnte auch diese an<strong>der</strong>e große Instanz nichts mehr für mich tun.<br />

Der SPIEGEL und die Heidenreich Sendung "Lesen!" waren die einzigen Faktoren, die das<br />

Kaufverhalten <strong>der</strong> Deutschen bestimmten. Wenn ich nun aber sehr gut über Elke<br />

Heidenreich schrieb, konnte sie mein Buch ebenfalls nicht loben, weil sonst alle dachten,<br />

sie sei durch Lob korr<strong>um</strong>pierbar. Ich entschied mich dennoch fürs Loben, weil dort die<br />

Gefahren kleiner waren. Bei einem Verriß hätte das ganze Verhältnis z<strong>um</strong> Verlag leiden<br />

können, und dann hätte mein Verleger mich mit <strong>der</strong> alten Schrotflinte seines Großvaters<br />

eigenhändig erschossen, und zwar zu recht.<br />

Ich besuchte also diese Sendung, und zwar an dem Tag, an dem sie produziert wurde.<br />

Ich beobachte die Mo<strong>der</strong>atorin erst ein paar Stunden vom Zuschauerra<strong>um</strong> aus, anonym,<br />

weil ich dabei unbefangen war. Dann erst wurde ich ihr vorgestellt. Ich war tatsächlich<br />

überrascht, wie jugendlich, ja kindlich sie wirkte, und sagte ihr das auch gleich.<br />

Komplimente muß man immer in dem Moment machen, wo sie einem in den Sinn<br />

kommen, sonst sind sie nicht echt. Frau Heidenreich war sofort gerührt.<br />

Ich schrieb dann am nächsten Tag meinen Bericht und mailte ihn an die Redaktion.<br />

Gewissensbisse quälten mich. Hatte ich wirklich positiv geschrieben? Hatten sich nicht<br />

doch wie<strong>der</strong>, wie so oft bei mir, unbewußt hämische Spitzen eingeschlichen? Würden die<br />

Kollegen womöglich DOCH einmal redigieren, z<strong>um</strong> erstenmal, und zwar spiegelmäßig<br />

spöttisch?<br />

Und würde ich deswegen gleichzeitig meine journalistische UND meine literarische<br />

Existenz verlieren, nachdem bei Stefan Aust <strong>der</strong> übliche Brief eingegangen war? Stefan<br />

Aust war ein Alt-68er, genau wie Elke Heidenreich!<br />

Um das alles ein bißchen unter Kontrolle zu behalten, blieb ich mit ihr in Kontakt. Ich<br />

schrieb ihr sehr persönlich, und sie schrieb sehr persönlich zurück. Ich merkte, dass sie<br />

tatsächlich so nett war, wie ich sie geschil<strong>der</strong>t hatte. Wir schrieben uns bald lang und<br />

regelmäßig.<br />

Als <strong>der</strong> SPIEGEL Artikel immer wie<strong>der</strong> zurück, und ich hatte die Gelegenheit, ihn von<br />

Fassung zu Fassung positiver zu machen. In Fassung<br />

37 war Elke Heidenreich zu einer Mischung aus Evita Péron, Rosa Luxemburg und <strong>der</strong><br />

Jungfrau Maria verkommen. Trotzdem, o<strong>der</strong> gerade deswegen, rief mich <strong>der</strong> Fahrdienst<br />

auf dem Handy an, ein junger Kosovo Albaner, und for<strong>der</strong>te Nachbesserungen: "Du<br />

Artikel nix gut, Du neu macken, Arschloch!" Ich sagte, eine weitere Fassung würde nicht<br />

mehr schaffen. Er machte mich fertig: "Bist Du schwul o<strong>der</strong> was! Der SPIEGELis nix<br />

Hamburger Abendblatt, Mann! Du besser werden, okeee?" Ich machte weiter. Und eines<br />

Tages war das Thema im Blatt.<br />

90


Wie<strong>der</strong> hatte die unbekannte Geisterhand in letzter Minute alles <strong>um</strong>geschrieben. Und ich<br />

hatte wahnsinniges Glück: <strong>der</strong> Text war nun besser, positiver, länger und zugleich klüger<br />

als mein Originaltext.<br />

Elke Heidenreich mußte er gefallen haben.<br />

Doch nun trat die Befürchtung Nr. 2 ein: Das Lob war so deutlich, dass mein Buch nicht<br />

mehr in die Sendung konnte. Alle hätten ein Pingpong-Spiel vermutet. ´Zombie Nation´<br />

erschien, verkaufte sich in <strong>der</strong> ersten Woche besser als ´Die Jugend von heute´, und<br />

blieb dann auf <strong>der</strong> Strecke. Der fette SPIEGEL Artikel, <strong>der</strong> das Vorgängerbuch fast im<br />

Alleingang z<strong>um</strong> Bestseller gemacht hatte, blieb aus. Das Fernsehen brachte auch nichts.<br />

Das Buch blieb wie Blei in den Regalen.<br />

Nun war ich aber weiter im persönlichen Kontakt mit Elke Heidenreich.<br />

Wir schrieben uns ja ständig. Aber ich traute mich nicht, ihr dieses Problem aufrichtig zu<br />

schil<strong>der</strong>n. Das war mein großer Fehler.<br />

Stattdessen schickte ich ihr das neue Buch persönlich zu, also ein zweites Exemplar.<br />

Dann ein drittes an ihre Redaktion. Dann eines in ihre Privatwohnung in Marienburg.<br />

Dann legte ich ihr eines direkt vor die Haustür. Dann eines auf ihr Auto. Inzwischen war<br />

ich längst desillusioniert und wollte nur noch zynisch sein. Sie ließ mich hängen, nur weil<br />

ich nett über sie geschrieben hatte! So verständlich, ja selbstverständlich ihre Haltung<br />

war, so fand ich sie dennoch gemein und schrecklich ungerecht. <strong>Mein</strong> Leben hing<br />

sozusagen von ihr ab, und das interessierte die Frau überhaupt nicht! Dabei schrieb sie<br />

weiter diese sehr persönlichen Briefe. Ich hörte dann auf, ihr zu schreiben, und war z<strong>um</strong><br />

erstenmal in meinem Leben vollkommen ratlos. Mehr als sonst schon machte ich diese<br />

typischte aller SPIEGEL Erfahrungen: Durch einen Artikel in dieser Zeitschrift erfahren die<br />

Beschriebenen einen ungeheuren <strong>Auf</strong>wind, sie bekommen ein neues Leben, während <strong>der</strong><br />

Autor im Dunkel bleibt und überhaupt nichts davon hat. Ich sah noch, wie Elke<br />

Heidenreich ein paar Monate lang wie ein funkeln<strong>der</strong> Komet durch die Medien zischte, als<br />

hätte sie nun die zweite Luft gekriegt, und sie sah plötzlich zehn Jahre jünger aus.<br />

Dann verlor ich das Interesse.<br />

18. Ovid in Kreuzberg – Thomas Kapielski<br />

19. <strong>der</strong> Professor aus Wuppertal – Bazon Brock<br />

War Goethe <strong>der</strong> erste GENERALIST <strong>der</strong> Deutschen - und Helmut Kohl in<br />

seinen guten Jahren <strong>der</strong> bekannteste - so ist <strong>der</strong> Wuppertaler Professor<br />

Bazon Brock <strong>der</strong> letzte. In einem Atemzug switcht Brock von <strong>der</strong><br />

Molekularbiologie zur Kunstgeschichte, zu Poptheorien, zu Mode und<br />

Eßkultur und wie<strong>der</strong> zurück. Echte Popstarqualität braucht zwingend auch<br />

eine Phase des Out-S<strong>eins</strong>: <strong>der</strong> politisch unkorrekte Bazon Brock hat sie<br />

nach mehreren Mobbing-Jahrzehnten hinter sich, sein Stern in <strong>der</strong><br />

akademischen Welt strahlt nun nachhaltig.<br />

Der Professor sieht vital aus, wirkt lebendig, gesund. Er trägt einen<br />

rustikalen Janker-Anzug aus Loden, mit Enzian und Edelweiß-Emblemen<br />

am Revers. Die Haare sind dicht und lang, ka<strong>um</strong> zu bändigen. Am 2. Juni<br />

wird er 70 Jahre alt. Wir stehen in <strong>der</strong> Frankfurter Schirn, und darin stellt<br />

Bazon Brock eigene und fremde Kunstwerke aus. Die sind völlig unwichtig.<br />

ER ist das Kunstwerk.<br />

91


Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, was er sagt. Er spricht zu<br />

schnell und immer abstrakt. Seltsam, denn früher hatte ich ihn<br />

verstanden. Er war <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> so schön vermitteln konnte, zwischen<br />

Publik<strong>um</strong> und Kunst, z<strong>um</strong> Beispiel 1982, in <strong>der</strong> 'Besucherschule' <strong>der</strong><br />

doc<strong>um</strong>enta. Nun rauscht es nur noch. Kluge Sätze branden an mein Ohr,<br />

schon nach wenigen Minuten kann ich nicht mehr zuhören. Zuviel, zu<br />

schnell, zu monoton. Er will mir diese Kunstwerke erklären, aber ich<br />

verstehe nur Bahnhof. Ich bin blöd.<br />

Zwischendurch scheint er selbst von seiner Vortragsweise gelangweilt zu<br />

sein. Er beginnt seine Sätze zu modulieren, zu plärren, zu flüstern. Es sind<br />

Sätze aus über vier Jahrzehnten Lehrtätigkeit. Fragen sind nicht<br />

zugelassen. Ich habe mir 53 aufgeschrieben, bin aber zu erschlagen, <strong>um</strong><br />

sie stellen. Der Mann ist einfach zu vital für mich.<br />

Er ist auch zu angeberisch. Wahrscheinlich denkt er, wenn er es so direkt<br />

anspricht, hätte es Charme. Alles habe er schon vor zehn, 20, 30 o<strong>der</strong> 40<br />

Jahren vorgeführt, was heute erst in Mode komme. So habe er Frank<br />

Schirrmachers Methusalem-Komplott schon vor 15 Jahren aufgetan und<br />

dem damals blutjungen FAZ-Herausgeber in den Block diktiert. Der aber<br />

habe sich niemals bedankt.<br />

Das ist erstaunlich. Dank kam eigentlich selten auf bei jenen Brock-<br />

Schülern, die durch ihn Trendsetter, Heroen des Kunst- und des<br />

Theoriebetriebs wurden, etwa Kippenberger und die Neuen Wilden <strong>der</strong><br />

Malerei, Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen, Gerhard Merz, Neo Rauch, Christian Boros<br />

– die Liste ist endlos, denn B.B. lehrt ja immer noch. Seine Wirkung auf<br />

die heutigen Entschei<strong>der</strong> <strong>der</strong> Medienwelt ist beispiellos. Trotzdem war <strong>der</strong><br />

Superstar <strong>der</strong> 60er und 70er Jahre vom öffentlichen Radar verschwunden.<br />

War<strong>um</strong>? Irgendwann, wenn er einmal Atem holt, werde ich ihn fragen!<br />

Brock redet und redet und langweilt sich dabei. Über Navigatoren,<br />

Radikatoren, Mo<strong>der</strong>atoren, die Installation eines Theoriegeländes, die<br />

Geschichte von Steuerungstechniken, die Ästhetik des Unterlassens, die<br />

Kritik <strong>der</strong> Wahrheit, den Ausblick des Läuterungsbergs, die Anmerkungen<br />

eines Unpolitischen, also über Thomas Mann und Sloterdjik und Berlusconi<br />

und Sophokles und die Mainzelmännchen und so weiter. Mal spricht er<br />

griechisch, mal Latein, mal aramäisch, meistens aber kommt er aufs<br />

Deutsche zurück.<br />

Mir klingeln die Ohren. Er spricht in Wortschöpfungs-Ketten. Fällt es schon<br />

schwer, Reihen von Abstrakta blitzschnell aufzunehmen, wird es zur<br />

Tortur, wenn es sich dabei <strong>um</strong> NEUSCHÖPFUNGEN handelt. Es wird zu<br />

einer Fremdsprache, die man nur als Brock-Schüler in acht harten<br />

Semestern lernt. Aber ich bin kunstresistent, immer schon. Und ich hatte<br />

Brock gemocht, gerade deswegen. Doch nun steht er da und ist für mich<br />

nicht mehr Bazon Brock, das lebende Kunstwerk, <strong>der</strong> geniale Schwätzer,<br />

<strong>der</strong> Mittler zwischen den Welten, son<strong>der</strong>n Minher Peeperkorn aus dem<br />

'Zauberberg'. Also einer, <strong>der</strong> neben einem Wasserfall steht und dessen<br />

Worte vom Rauschen verschluckt werden. Es rauscht und rauscht, mir<br />

92


werden die Füße bleiern schwer. Egal, ob er ein Bild erklärt, den<br />

Wasserhahn neben Löschwasser<strong>eins</strong>peisung, das Universitätsunwesen<br />

o<strong>der</strong> die Große Koalition in Bonn, pardon, in Berlin, wir sind ja nicht mehr<br />

in den 60ern, o<strong>der</strong> doch? Wo sind wir? Im Nirgendwo. Im<br />

selbstreferentiellen Reich des Bazon Brock. Hier braucht's keine Frage,<br />

nicht einmal ein Stichwort, es sprudelt immer aus sich selbst heraus. Es<br />

lappt hinüber in ein <strong>um</strong>gekehrtes Schwarzes Loch, aus dem heraus es<br />

unentwegt unerklärliche Energie bezieht.<br />

Nach Stunden wechseln wir über in ein Café. Ist es das Muse<strong>um</strong>scafé <strong>der</strong><br />

Schirn? O<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>es, Straßenzüge weiter? Ich weiß es nicht, meine<br />

Birne ist dicht. Nichts nehme ich mehr auf. Aber <strong>der</strong> Professor kommt nun,<br />

da <strong>der</strong> private und somit gemütliche Teil des Tages beginnt, so richtig in<br />

Fahrt. Genau wie vorher. Sein Tempo läßt nicht nach. Die Sprache bleibt<br />

dieselbe, hochgestochen, brillant-witzig, mitreißend, absolut<br />

unverständlich und gaga. Zitternd rühre ich in meinem Kaffee. Der Barbar<br />

sei ein Kulturheld, die Heiligung <strong>der</strong> Filzpantoffel sei kein Nichtstun,<br />

son<strong>der</strong>n ein Nicht-Tun, wes Brot ich eß', dem versprech ich, daß ich ihn<br />

vergesse, Tourismus und Geschichte, <strong>der</strong> Malkasten wird extemporale<br />

Zone, die Selbstergänzung des Regenwurms, <strong>der</strong> Hase im Staatswappen,<br />

Kultur und Strategie, die Spiritualität <strong>der</strong> Kelten im Kampf mit <strong>der</strong><br />

zivilisatorischen Intelligenz <strong>der</strong> Römer und <strong>der</strong>... ich kann es mir nicht<br />

merken. Es ist schon alles sehr klug, und je<strong>der</strong> einzelne Sachverhalt für<br />

sich durchaus erhellend, wenn man sich darauf konzentrierte. Wenn man<br />

nur hinhörte. Ja, wenn!<br />

Aber so - Abschied gegen Mitternacht. Das Lokal schließt. Ich habe seit<br />

Stunden nichts mehr gesagt. Die Bedienung blinzelt ihn frivol an beim<br />

Gehen. Brock sagt den unfaßbaren Satz: "Sie hat mir schon alle ihre<br />

Tattoos gezeigt, bis auf eines. Aber das zeigt sie mir auch noch."<br />

Bestimmt trä<strong>um</strong>e ich das nur. Ich bin einfach mit den Nerven am Ende.<br />

Aber Brock hält mich für einen eloquenten Gesprächspartner und lädt<br />

mich zu ihm nach Hause ein. Jetzt, wo wir uns so gut verstehen, wollen<br />

wir diese wun<strong>der</strong>bare Freundschaft nicht mehr abreißen lassen.<br />

Wuppertal, das Taxi steht vor seiner Tür. Der Taxifahrer sagt: "Hier<br />

wohnet di reiche Leit, hi hi!" Und macht eine Bewegung mit den Fingern,<br />

die Geld bedeuten soll. Ich gebe kein Trinkgeld. Brock kommt mir auf <strong>der</strong><br />

Freitreppe entgegen, schreitet den Kiesweg ab, breitet die Arme aus.<br />

"Willkommen!" Diesmal habe ich bessere Laune mitgebracht. Und eine<br />

<strong>halb</strong>e Schachtel Johanniskraut-Tabletten, einen kleinen Obstler und vier<br />

Ibuprofen 400, die mich gegen den Wörtersturm immun machen sollen.<br />

Ich sage mit ungekünsteltem Pathos, man sehe sich immer zweimal im<br />

Leben, und hier, voilà, sei ich nun! Wir <strong>um</strong>armen uns. Er bittet mich<br />

sofort, Platz zu nehmen. "Danke, ich stehe lieber." Ich habe mir fest<br />

vorgenommen, mich nicht mehr einkesseln zu lassen. Brock denkt, ich<br />

wolle wohl erstmal das Haus sehen, und gibt mir eine Führung. In den<br />

Katakomben des Kellergeschosses lagern Millionen von Schriften, mal<br />

93


geordnet, oft ungeordnet, und ich sehe plötzlich Dr. Mabuse vor mir, nach<br />

seiner Verhaftung, im Irrenhaus, wie er in diesen Bergen von Papier sitzt<br />

und unentzifferbare Rätselschriften verfaßt... Aber Brock taugt nicht für<br />

den St<strong>um</strong>mfilm. Ihn kann man sich nur mit dem Megaphon in <strong>der</strong> Hand<br />

vorstellen, laut, unbeirrbar und nicht von dieser Welt:<br />

"Fishing for complications - <strong>der</strong> Kampf <strong>um</strong> CD-Rom!"<br />

So heißt, glaube ich, eines seiner ungefähr 122 Bücher.<br />

"Na, nun setzen Sie sich. Der Kaffee kommt bereits."<br />

"Nein, ich setze mich nicht. Ich bestehe auf einen Spaziergang!"<br />

"Nein, trinken Sie erst den Kaffee."<br />

Es geht wie<strong>der</strong> los. Nach wenigen Minuten reißt bei mir <strong>der</strong> Film.<br />

Z<strong>um</strong>indest die Tonspur. Ich bin Platzeck und habe den Hörsturz. Ich sehe,<br />

wie Brocks Mund auf und zugeht, höre die Worte aber nicht mehr.<br />

Irgendwann merkt er es, wohl, weil ich das Köpfchen sinken lasse und<br />

apathisch auf meine Hände und die Mokkatasse blicke. Wir gehen nach<br />

draußen. Herrliches Wetter. Einen Stock habe ich auch dabei, und<br />

besagten Flachmann. Man befindet sich im 'Bergischen Land' nahe<br />

Wuppertal.<br />

Überall geht's rauf und runter, man glaubt sich in den Alpen, mindestens<br />

Norditalien, alles sehr dreidimensional und schön. Wuppertal hat mir<br />

immer schon sehr gefallen. Die Stadt Gustav Heinemanns. Die Stadt<br />

Johannes Raus. Und die Stadt Bazon Brocks. Nun laufen wir einen<br />

unspektakulären Feldweg entlang, schwach asphaltiert, eine schmale<br />

Straße ohne Autos. Alles dampft und suppt so urig vor sich hin.<br />

Der Professor behauptet, genau diesen Feldweg seien die Nibelungen<br />

entlang gegangen, 18 Leute mitsamt Schatz, Hagen, Treue, Ehre, Verrat,<br />

genau hier, Schritt für Schritt, bis nach Soest hinein, zu dem Grundstück,<br />

auf dem heute die Sparkasse stünde. Dort hätten sie innegehalten, hätten<br />

den Schatz kurz abgesetzt und seien nie<strong>der</strong>gemetzelt worden. Es sei alles<br />

bewiesen. Er, Brock, habe die Dok<strong>um</strong>ente gefunden, und die Wissenschaft<br />

habe erst jetzt, nach Jahrzehnten des Kampfes, endlich erklärt, daß sie<br />

stimmen, jetzt, 2006.<br />

Das Beson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Geschichte: sie ist so unwahrscheinlich wie wahr.<br />

Bazon Brock hat recht. Es ist genauso, wie er es sagt. Aber es ist zu<br />

ungeheuerlich, als daß man länger als ein paar Sekunden darüber<br />

nachdenken möchte. Die Nibelungen, vor Bazons Buntglastür... Er merkt,<br />

wie beeindruckt ich bin, und nutzt das zu einem kleinen Vorstoß in eigener<br />

Sache:<br />

"Wissen Sie, junger Mann, das einzige, was ich mir in meinem ganzen<br />

Leben immer gewünscht habe, ist EINMAL eine Darstellung meiner<br />

Persönlichkeit zu erleben, wie sie wirklich ist.“ Er möchte also endlich so<br />

gesehen werden, wie er sich selbst sieht. Ich antworte, daß nicht einmal<br />

Gott so gesehen werde, wie dieser sich selbst sehe; es sei a priori nicht<br />

möglich. Aber <strong>der</strong> Professor besteht darauf. Er verlange nicht viel, er<br />

mache alles mit, er vertrage jeden Tadel, aber DIESEN Gefallen möge<br />

man ihm bitteschön tun. Ich sage es ihm zu. Soviel Höflichkeit muß sein.<br />

94


Er redet über die Spätantike, über die Zeit <strong>um</strong> 650. Alles Wichtige habe<br />

sich hier in dieser Gegend zwischen Wuppertal und dem heutigen<br />

Leverkusen abgespielt. Ich kann nun besser zuhören. Alle zwei Schritte<br />

bleibt er stehen, weil es so steil bergauf geht, und redet im Stehen weiter.<br />

<strong>Mein</strong> Blick geht über das weite Land, die Berge, Täler, ferne Kirchtürme,<br />

Schafe, Kühe, Bäche. "Schön haben Sie's hier, Herr Professor."<br />

Doch er wirkt bezugslos zur Welt. Ob jetzt dieses märchenhafte, zeitlose<br />

Panorama vor ihm ist o<strong>der</strong> die leere Muse<strong>um</strong>swand <strong>der</strong> Schirn nach<br />

Abhängen <strong>der</strong> letzten Bil<strong>der</strong> - es ist ihm dasselbe. Ob ihm die attraktive<br />

Lieblingsstudentin einen frechen Blick zuwirft o<strong>der</strong> ein toter leerer<br />

Bl<strong>um</strong>entopf nur d<strong>um</strong>m r<strong>um</strong>steht und schweigt - Brock sieht beides nicht.<br />

Er könnte auch als Stevie Won<strong>der</strong> <strong>der</strong> Pop-Philosophie auftreten, o<strong>der</strong>, in<br />

den ernsteren Auseinan<strong>der</strong>setzungen von heute, als westlicher Gegenpol<br />

z<strong>um</strong> blinden Hamas-Haßprediger von Gaza-Stadt.<br />

Wir erreichen die Sparkasse von Soest. Brock macht mit meinem Stock<br />

ein Kreuz in den Boden: "Hier genau hat man dem ersten von den 18 den<br />

Kopf abgeschlagen." Das ist traurig. Wir teilen uns den Flachmann.<br />

Dann machen wir kehrt. Die Geschichte <strong>der</strong> Spätantike ist wirklich<br />

spannend, ich vergesse die Zeit. Bazon redet wie im Rausch. Langsam<br />

verstehe ich den Wortbombast. Und komme sogar zu einer Frage:<br />

„Dr. Brock, viele Ihrer Schüler nutzten und nutzen Ihre ungeheure<br />

theoretische Potenz und missionarische Kraft, die ständig neue<br />

Gedankenverbindungen ausstößt, und viele sind erst durch Ihre Fähigkeit<br />

zur historischen Kontextualisierung in den Olymp <strong>der</strong> Künste gelangt, von<br />

Albert Oehlen bis Christian Boros. War<strong>um</strong> dankt man Ihnen das nicht?“<br />

„Oh, Boros tut es!“<br />

Er sieht mich z<strong>um</strong> erstenmal direkt an, wirkt glücklich. Und redet weiter!<br />

Er habe immer alles schon vorher gewußt, sei seiner Zeit immer voraus<br />

gewesen und so weiter, das könne niemand ertragen, kein Politiker und<br />

auch sonst niemand. Er referiert über Augstein, Burda, Handke...<br />

Wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Villa, müssen wir uns beeilen. Wir müssen zu Brocks<br />

Geburtstagsparty, die in Köln stattfindet. Er wird zwar erst am 2. Juni 70,<br />

aber er feiert schon jetzt solche Partys. Ich bin gerührt. Es erinnert mich<br />

an diese sympathischen jungen Frauen auf <strong>der</strong> Reeperbahn, die mehrmals<br />

im Monat Geburtstag haben. Man darf das alles nicht so ernst nehmen.<br />

Bazon setzt seine Frau und mich in einen nagelneuen 50.000 Euro BMW<br />

Jeep und fährt los, immer schön über alle Berge. Es ist wirklich ein Spaß.<br />

"Interessieren Sie sich für Autos?" frage ich, plötzlich in <strong>der</strong> irrwitzigen<br />

Hoffnung, ihn zu einer banalen Aussage bewegen zu können. Aber er<br />

schüttelt nur den Kopf. Der fette BMW macht echt was her. In Köln<br />

gucken die Bräute ganz schön, als wir den Ring entlang cruisen. Ich<br />

erzähle, was mir ein junger Mann über die 'Ringe' gesagt hat: Angeblich<br />

würden diese zu bestimmten Tagesstunden zu 85 Prozent von 'Pimps'<br />

beherrscht werden, also sogenannten Armani-Türken.<br />

95


"Aber das habe ich doch schon vor 20 Jahren behauptet."<br />

Es störte ihn offenbar nicht son<strong>der</strong>lich. Ich setzte nach:<br />

„Wer noch als deutscher Jugendlicher dort auftaucht, hab‘ ich gehört, muß<br />

definitiv mit 'Stress' rechnen, also mit Schlägen!“<br />

Den Professor schockte das nicht. Er sah auf die lächelnden, in weißen<br />

Jeans und weißen T-Shirts stolzierenden, schwarzhaarigen<br />

Türkenmädchen. Ich geiferte aber weiter. Deutsche Jungs hätten keine<br />

Chance, da sie nicht mehr im Patriarchat lebten. In <strong>der</strong> Zeitung stand<br />

gerade ein Fall, da hatten vier sogenannte deutsch-Türken im Alter von 13<br />

bis 15 Jahren eine 16jährige Deutsche vergewaltigt. Brock sagte tonlos:<br />

„Blöde gibt es viele, am Rhein wie auch am Nile.“<br />

Das war <strong>der</strong> Satz, <strong>der</strong> alles än<strong>der</strong>te. Plötzlich verstand ich den Professor.<br />

Er stand über den Dingen. Er hatte 4000 Jahre Geschichte im Kopf, ja im<br />

Blut. Er war wirklich cool. Ihm machte keiner Angst, schon gar nicht die<br />

Bild Zeitung. So einen Mann brauchen wir. Heute.<br />

Bazon Brock, alles Gute z<strong>um</strong> Geburtstag!<br />

Fußnote<br />

Bazon Brock:<br />

Brock lag mir etwas am Herzen, da ich ihn als junger Student gemocht hatte. Ich riß<br />

mich daher <strong>um</strong> den <strong>Auf</strong>trag, <strong>der</strong> eigentlich schon an einen Kollegen vergeben war. Die<br />

Begegnung war dann sachlich enttäuschend, persönlich aber das Gegenteil. Die<br />

Selbstpräsentation des Professors war nie<strong>der</strong>schmetternd, fast schon traurig. Wie<br />

beschrieben redete er soviel, dass beim Zuhörer nur weißes Rauschen entstand. Das war<br />

insofern traurig, als er wahrscheinlich unendlich viel Interessantes zu sagen hatte, das<br />

nur alles in dem Niagarafall seiner Worte ersoff. Ich versuchte nun genau das z<strong>um</strong><br />

Thema zu machen, was sonst: Bazon Brock als Minher Peeperkorn. Es war natürlich ein<br />

bißchen wenig. Nach dem ersten Treffen hatte ich achtein<strong>halb</strong> Stunden Monolog auf<br />

Band, aber keine Erlebnisse. Und den schlimmsten Br<strong>um</strong>mschädel meines Lebens. <strong>Mein</strong>e<br />

Kopfschmerzen waren in <strong>der</strong> folgenden Nacht so stark, dass ich dagegen Extacy nahm -<br />

eine Droge, mit <strong>der</strong> ich im Grunde keine Erfahrungen habe, es war nur nichts an<strong>der</strong>es<br />

da. Ich hatte wirklich das Gefühl, <strong>der</strong> Mann habe mich nicht nur <strong>um</strong> meinen<br />

Verstand geredet, son<strong>der</strong>n <strong>um</strong> mein ganzes Gehirn. Jedenfalls ersuchte ich <strong>um</strong> eine<br />

zweite, diesmal persönliche Begegnung, in seinem Privathaus. Es folgten dann<br />

alle möglichen privaten Treffen, das steht ja in dem Artikel drin, und noch heute<br />

sehen wir uns manchmal. Brock war unfaßbar nett, wurde mein Hausarzt,<br />

überhäufte mich und meine Frau Barbi mit Geschenken, und wir schenkten zurück, was<br />

das Zeug hielt. Der Artikel mußte natürlich wie<strong>der</strong> 37 Mal <strong>um</strong>geschrieben werden,<br />

aber diesmal sah ich jede weitere Verzögerung gern, denn ich hatte Angst vor<br />

<strong>der</strong> Veröffentlichung, also davor, dass <strong>der</strong> Professor verletzt sein könne. Denn<br />

einer, <strong>der</strong> sich so monomanisch darstellt, kann keinen Text über sich<br />

akzeptieren, an dem ein an<strong>der</strong>er mitgewirkt hat. Lei<strong>der</strong> fehlte noch immer <strong>der</strong> Kick für<br />

die Geschichte. Ein Mann, <strong>der</strong> viel redet - das reichte nicht für eine große<br />

SPIEGEL Story. Ich bat daher Bazon, mit mir noch einen tollen Schluß zu<br />

verfassen. Etwas Überraschendes, nämlich Zeitgemäßes. Bisher hatte er mehr o<strong>der</strong><br />

weniger über Dinge theoretisiert, die in den 70er Jahren passiert waren, allenfalls<br />

noch 80ern. Er wußte offenbar nicht, was ich meinte. So legte ich ihm 30 Fragen<br />

z<strong>um</strong> Hier und Heute vor. Diesmal schriftlich, denn er ließ mich ja nie zu Wort<br />

kommen. Er antwortete nicht. Wir telefonierten. Wir kamen nicht recht vom<br />

Fleck. Sein Assistent wurde eingeschaltet. Ich bot an, die Fragen selbst zu<br />

beantworten, und Brock sollte sich die ihm liebste Antwort aussuchen, die ich dann<br />

für den geplanten Schluß verwenden würde. So machten wir es schliesslich.<br />

Brock wurde allmählich unsichtbar, die ganze Entwicklung gefiel ihm natürlich<br />

nicht. Der Assistent erklärte schließlich, Brock würde <strong>der</strong> neue Schluß nicht<br />

96


gefallen, aber er würde damit leben. Der Artikel erschien. Es war ganz<br />

offensichtlich eine Liebeserklärung. Je<strong>der</strong> sah das so. Nur Brock selbst nicht, <strong>der</strong> Stefan<br />

Aust anrief und Dinge über den Text und mich sagte, die normalerweise zu<br />

meiner Entlassung geführt hätten. Nur hatte Aust den Text ja auch gelesen. So<br />

euphorisch war noch nie über Brock berichtet worden. Sich trotzdem darüber zu<br />

beschweren, sprach gegen den, <strong>der</strong> das tat. Ich durfte also bleiben.<br />

20. Odyssee durch das mo<strong>der</strong>ne Regietheater<br />

Draußen lungern diese seltsamen jungen Schüler her<strong>um</strong>, diese Art<br />

mit <strong>der</strong> Leseschwäche, aus <strong>der</strong> "die Milch macht's"-Werbung. Sie<br />

kicken mit Bierdosen, spielen sich Handytöne vor, gucken unsicher<br />

und kalbsköpfig. Innen dann aber wie<strong>der</strong> zu hun<strong>der</strong>ten jene Frauen,<br />

die ich zuletzt vor 20 Jahren in Hamburg als Helga Schuchardt<br />

identifizierte. Bloß gut, daß ich zwei Sitze habe. Zwei erstaunlich<br />

unbequeme Holzsitze, dünn überspannt mit Samt. Jemand von<br />

links liest alles mit, was ich in meinen gefährlichen Stadelmaier-<br />

Spiralblock schreibe. Genau so einen hat er gehabt, von <strong>der</strong><br />

hochpreisigen Markenfirma 'Comfort', ich habe ihn mir zeigen<br />

lassen. Lappig, biegsam, trotzdem unhandlich, und an <strong>der</strong> Seite die<br />

berüchtigte geringelte Stahlfe<strong>der</strong>, mit <strong>der</strong> man sich so leicht<br />

verletzen kann (wenn man <strong>um</strong> das Blöckchen kämpft). Eine gute<br />

Woche schon ist <strong>der</strong> Zwischenfall her, und noch immer bebt die<br />

Theaterwelt, ja das Beben nimmt noch zu. Wie bei den<br />

Mohammed-Karikaturen braucht die Empörung ihre Zeit, bis sie<br />

z<strong>um</strong> vernichtenden Sturm wird.<br />

Was ist das für ein Theater, das unseren letzten lebenden<br />

Großkritiker Dr. Gerhard Stadelmaier körperlich angegriffen hat und<br />

das von <strong>der</strong> Bild Zeitung als versaut bezeichnet wird? Da das Wort<br />

'Schmuddeltheater' von <strong>der</strong>selben Zeitung schon vor zehn, 20, 30<br />

Jahren verwendet wurde und somit nicht mehr trennscharf ist,<br />

mußte ich mir selbst ein Bild vor Ort machen. Als erstes<br />

97


Shakespeares 'McBeth' in Düsseldorf, von Gosch.<br />

Es ist Ekeltheater von Anfang an. Die min<strong>der</strong>jährigen Kalbsköpfe<br />

haben sich noch nicht richtig hingesetzt, als ihnen schon<br />

meterhoch die Scheiße entgegenspritzt. Was mag in ihnen nun<br />

vorgehen? Der Lehrer hat ihnen etwas an<strong>der</strong>es versprochen. Auch<br />

die Mädchen hatten eigentlich Shakespeare erwartet. Nun sehen<br />

sie Blut und Sperma. Aber sie kotzen nicht, das tun ja schon die<br />

Schauspieler.<br />

Von <strong>der</strong> ersten Sekunde an stehen alle Schauspieler nackt auf <strong>der</strong><br />

Bühne. Nur <strong>der</strong> König trägt etwas, nämlich eine verrutschte<br />

Papierkrone auf dem Kopf, damit man ihn erkennen kann. Der<br />

Zuschauerra<strong>um</strong> ist hell ausgeleuchtet, damit niemand unbemerkt<br />

fliehen kann. Die Pause fällt aus, aus demselben Grund. Gäbe es<br />

eine, wäre anschließend das Haus leer - bestimmt hat man das<br />

schon oft ausprobiert. Bei einem Stück von über drei Stunden<br />

Länge ist das mehr als nur eine Frechheit. Um das dem<br />

mehrheitlich uralten und blasenschwachen Publik<strong>um</strong> aufzuzwingen,<br />

braucht man kriminelle Energie. Von da aus ist es nicht mehr weit,<br />

dem letzten namhaften Kritiker mitten in <strong>der</strong> Vorstellung das<br />

Blöckchen zu entreißen und mit <strong>der</strong>ben Worten wie "Verpiß dich,<br />

du Arsch!" einzuschüchtern.<br />

Aber <strong>der</strong> westliche Mensch ist liberal. Gott sei Dank. Er relativiert<br />

gern. Könnte nicht auch die an<strong>der</strong>e Seite recht haben? Mußte<br />

Stadelmaier unbedingt ein Blöckchen mitbringen? Hätte er seine<br />

Eindrücke nicht auch nach <strong>der</strong> Vorstellung aufschreiben können?<br />

Hätte er nicht weiter hinten und unbemerkt sitzen können? Und<br />

überhaupt: War<strong>um</strong> kritisierte er soviel? Und tat er es zu recht?<br />

Während ich darüber meditiere, wird minutenlang auf <strong>der</strong> Bühne<br />

gepinkelt. Erst <strong>der</strong> eine, dann <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, dann noch einer, dann<br />

furzen sie (Tonband aus dem Off), dann scheißen sie einen <strong>halb</strong>en<br />

Akt lang, und so weiter. Im Publik<strong>um</strong> ist nun echtes Unbehagen.<br />

Kopfschütteln, Frauen verziehen das Gesicht. Einer Schülerin ist<br />

schlecht, sie will raus. Auch an<strong>der</strong>e wollen raus, trotz <strong>der</strong><br />

gnadenlosen Scheinwerfer. Ein Rinnsal von Flüchtenden bildet sich,<br />

Vertriebene aus dem Theaterland, Alte, Gebrechliche, Enttäuschte,<br />

manche weinen. Etwa ein Drittel des zahlenden Publik<strong>um</strong>s verläßt<br />

das Haus in den ersten zwei Stunden, trotz <strong>der</strong> Schikane. Der<br />

Regisseur sieht es mit sardonischem Lächeln. Für ihn ist das<br />

98


Publik<strong>um</strong> Verfügungsmasse,Teil seiner Inszenierung, Teil seiner<br />

Pläne. Das Publik<strong>um</strong> hat zu parieren, hat entsetzt zu sein, hat den<br />

Schock zu dok<strong>um</strong>entieren. Und den letzten Kritiker beißen die<br />

Hunde, so soll es sein.<br />

Der heutige Theaterregisseur verachtet zudem den Text, ja sogar<br />

seine Schauspieler. Sie sollen nichts mehr 'können', son<strong>der</strong>n<br />

biegsam sein. Das sagt jedenfalls Gerhard Stadelmaier, als ich ihn<br />

in seinem Büro bei <strong>der</strong> F.A.Z. in Frankfurt treffe.<br />

"Herr Stadelmaier, ich will mir nun selbst ein Bild über das mo<strong>der</strong>ne<br />

Regietheater machen. Wie konnte dieser lächerliche Happening-Stil<br />

aus den 70ern so lange überleben?"<br />

"Dieses Phänomen gibt es nur in Deutschland, wegen <strong>der</strong><br />

Subventionen, und es wird auch verschwinden. Das Publik<strong>um</strong> wird<br />

wegbleiben."<br />

Wird? Es ist längst weg. Wer geht heute noch ins Theater? Ich<br />

nicht. Es gibt kein Theater mehr. Stadelmaier spricht vom<br />

'Rübenrauschtheater: Alles, was dem Regisseur während <strong>der</strong><br />

Proben durch die Rübe rauscht, wird <strong>um</strong>gesetzt. Ohne daß es<br />

durch den Text überprüft werden könnte. Es handelt sich folglich<br />

<strong>um</strong> völlige Beliebigkeit. So beliebig wie das Zeug, daß Menschen<br />

normalerweise <strong>nachts</strong> trä<strong>um</strong>en.<br />

"Genau, deswegen langweilt es immer so, wenn einem die Freundin<br />

ihre Trä<strong>um</strong>e erzählt beim Frühstück!"<br />

Nächster Versuch: Goethes 'Egmont' in <strong>der</strong> Goethestadt Frankfurt.<br />

Das dortige Theater hat die Sprachverhunzung schon im Namen,<br />

wie ein Programm: 'schauspielfrankfurt', kleingeschrieben und<br />

zusammen. Da ahnt man die offene Bühne, das Weglassen <strong>der</strong><br />

Pause, den Verzicht auf Kostüme und Bühnenbild schon beim Kauf<br />

<strong>der</strong> Karte. Tradition? Bäh! Vergangenheit? Niemals! Historisches<br />

Bewußtsein? Verpiß dich, du Arsch!<br />

Und wie<strong>der</strong> sehe ich diese ganz und gar selbstgeschnitzten<br />

Blödmannszenen, dieses Punk- und Rock-Zeug, alles vom Regisseur<br />

geschrieben, von Goethe nur die Stichworte, das sogenannte<br />

'Material'. Je<strong>der</strong> blöde Regie- und Probeneinfall wird intuitiv und<br />

nicht überprüfbar <strong>um</strong>gesetzt, genau wie Stadelmaier es gesagt<br />

hatte. Männer- und Frauenrollen werden zusammengefaßt, o<strong>der</strong><br />

Männer von Frauen gespielt o<strong>der</strong> Frauen von Tunten, o<strong>der</strong> das<br />

Klärchen von von einer Hure in Sex-Pistols-Klamotten, o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

99


Egmont von einem, <strong>der</strong> wie Campino aussieht. IST es Campino? Er<br />

soll ja inzwischen Theater spielen. IST es Egmont, o<strong>der</strong> ist das <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e Schauspieler, <strong>der</strong> Penner mit den Plastiktüten, <strong>der</strong> Minuten<br />

später als spanischer Konquistador her<strong>eins</strong>telzt? Nein, nichts von<br />

alledem, denn <strong>der</strong> Regisseur hat das Wort 'Vaterland' im Goethe-<br />

Text entdeckt. Und das heißt natürlich: Pflichtprogramm. Nämlich<br />

35 Minuten lang 'patriotische' Stellen von allen deutschen<br />

Klassikern und Nichtklassikern ins Publik<strong>um</strong> schreien. Die circa 40<br />

Schauspieler bilden einen Chor und brüllen los. Am deutschen<br />

Wesen soll die Welt genesen! Deutsch sein heißt eine Sache <strong>um</strong><br />

ihrer selbst Willen zu tun! Dem Deutschen gehört <strong>der</strong> Endsieg!<br />

Deutschland, Deutschland über alles!! und so weiter. Brüll! Kreisch!<br />

Donner und Doria! Da hat <strong>der</strong> Regisseur den verlogenen Goethe<br />

mal wie<strong>der</strong> so richtig schön dekonstruiert...<br />

Daß auch wie<strong>der</strong> 'die Sau rausgelassen' wird, interessiert mich nun<br />

ka<strong>um</strong> noch. Ich nehme es, ehrlich gesagt, gar nicht mehr wahr. Der<br />

Schock hat sich durch den McBeth am Vorabend verbraucht.<br />

Nachdem ich sechs alten nackten Männern beim Kacken auf dem<br />

Donnerbalken zugeschaut habe, endlos lange und im Dienste<br />

Shakespeares, kann mich jetzt das wilde Ficken des Campino-<br />

Lookalikes mit dem Punk-Klärchen im nassen Schlamm nicht mehr<br />

erreichen. Ich langweile mich. Ich spüre meine Wirbelsäule, vor<br />

allem die mittleren Wirbel. Das Klärchen zieht sich aus, <strong>der</strong> Egmont<br />

zieht sich aus, aber Klärchen ist häßlich und Egmont ein Mann.<br />

Einmal las ich, daß sich im Theater immer die Falsche auszieht. Und<br />

tatsächlich: die wun<strong>der</strong>bare Georgia Stahl, phantastisch gebaut<br />

und einziger Lichtblick <strong>der</strong> <strong>Auf</strong>führung, zieht sich NICHT aus. Als<br />

wenn ich es nicht geahnt hätte! Maßlose Wut steigt in mir auf. Ich<br />

möchte lauthals "Schiebung!" rufen, wie beim nicht gegebenen<br />

Elfmeter im Fußballstadion. Aber würde die Masse mit<strong>eins</strong>timmen,<br />

diese armen Kreaturen hier, diese Marginalisierten, Entrechteten,<br />

Eingeschüchterten? So wenig wie die Sklaven in Onkel Toms Hütte.<br />

Mich wun<strong>der</strong>t, daß auch an<strong>der</strong>e Schauspieler angezogen bleiben.<br />

Und war<strong>um</strong> ißt Wilhelm von Oranien einen Yoghurt von Ehrmanns?<br />

Und wozu die ewigen laut-leise-Kontraste? Wieso wird immer nur<br />

geflüstert o<strong>der</strong> geschrien? War<strong>um</strong> stecken die Beine vom Prinz<br />

von Gaure in einem Teddysack? Er köpft ein Beck's Bier und liest<br />

die Produktangaben; gut, das verstehe ich noch, das hätte Goethe<br />

100


auch so gemacht, lebte er noch. Aber wozu muß er Philipp II mit<br />

einem Klebeband vom Ba<strong>um</strong>arkt zutapen, und die Kalashnikov fällt<br />

aus dem Koffer, und Pink Floyd spielt dazu, und die Mutter ist<br />

jünger als die Tochter, und ein Eimer fällt von <strong>der</strong> Bühne und ein<br />

gewaltiger Knallkörper explodiert dabei in seinem Innern, und einer<br />

brüllt "Halt doch endlich einmal dein Maul!" - o<strong>der</strong> war das schon in<br />

<strong>der</strong> nächsten <strong>Auf</strong>führung am Tag danach, in Hamburg? Sicher in<br />

beiden, denn <strong>der</strong> Satz "Halt doch endlich einmal dein Maul!" fällt<br />

heute in jedem Stück, wie das Amen in <strong>der</strong> Kirche. Was übrigens<br />

<strong>der</strong> Unterschied z<strong>um</strong> Schmuddeltheater früherer Jahrzehnte wäre:<br />

Damals wurde auf <strong>der</strong> Bühne gevögelt und so weiter, aber <strong>der</strong> Text<br />

war sakrosankt. Der wurde nicht verän<strong>der</strong>t.<br />

Ich schreibe diesen entscheidenden Gedanken gerade in mein<br />

Blöckchen, als eine Schauspielerin auf mich zutritt und mich ins<br />

Stück miteinbeziehen will. Natürlich, jetzt fällt es mir ein: ich sitze<br />

ja absichtlich genau auf dem Platz und in dem Haus, in dem<br />

Stadelmaier, <strong>der</strong> mit Abstand größte und letzte deutsche<br />

Theaterkritiker, körperlich angegriffen wurde, ich erzählte es<br />

schon. Was wird sie jetzt tun? Wie in einem Reflex halten meine<br />

beiden Hände mit größter möglicher Kraftentfaltung das geliebte<br />

Blöckchen fest. Wenn die Frau jetzt trotzdem STÄRKER ist, reißt<br />

sie mir die Innenhaut <strong>der</strong> Hand auf! Also, wenn sie zugreift. Aber<br />

sie tut es nicht, son<strong>der</strong>n hält mir einen Luftballon hin. Ich ergreife<br />

ihn. Dann for<strong>der</strong>t sie mich und die Zuschauer auf, in <strong>der</strong> Pause mit<br />

den Schauspielern zu diskutieren. Über Stadelmaier, denke ich<br />

sofort. Aber dann höre ich, es solle über das Stück gehen, über die<br />

Möglichkeit einer Revolution im heutigen Deutschland.<br />

Daraus wird dann nichts, denn die Zuschauer denken nicht daran.<br />

Ich halte mich aber strikt an meine Schauspielerin, wir lernen uns<br />

kennen und treffen uns nach dem Stück in <strong>der</strong> Theaterkantine.<br />

Hier geht es natürlich gemütlich zu, in so einer typischen Kantine<br />

eines deutschen Subventionstheaters. Hier sind die Theaterleute<br />

unter sich, und auch sonst sind sie ja immer unter sich. Sie haben<br />

den schönsten Beruf <strong>der</strong> Welt. Sie sind sich selbst eine große<br />

Familie. Sie agieren sich aus, bei den Proben, auf <strong>der</strong> Bühne, aber<br />

auch sonst, und paaren sich untereinan<strong>der</strong> und trennen sich<br />

untereinan<strong>der</strong> und haben ganz, ganz viele ganz, ganz liebe<br />

Freunde überall untereinan<strong>der</strong>, auch Seilschaften genannt.<br />

101


Außer<strong>halb</strong> des Theaters kennen sie niemanden, aber dafür geht ihr<br />

Guru und Regie-Star in den Privathäusern <strong>der</strong> zuständigen Politiker<br />

ein und aus.<br />

Eine Unterschriftenliste wird von Tisch zu Tisch gereicht. Genervt<br />

unterschreiben die Leute. Irgendeine Petition. Sicher wichtig,<br />

denke ich, und frage die Frau, die damit her<strong>um</strong>läuft. Sicher eine<br />

politische Resolution gegen Stadelmaier. Immerhin soll am<br />

nächsten Abend ein öffentliches Tribunal im Großen Haus gegen<br />

ihn stattfinden, direkt nach <strong>der</strong> Vorstellung jenes Stückes, in dem<br />

er angegriffen wurde. Er ist jetzt <strong>der</strong> große Feind. Er bedroht<br />

irgendwie durch seinen 'Fall' das ganze staatlich geschütztes<br />

Biotop, und das 'wehrt' sich jetzt bestimmt. Ich frage:<br />

"Politische Sache, wie?"<br />

"Ja, es geht <strong>um</strong> die neue Raucherordnung."<br />

Nichtraucher und Raucher sollen besser o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s voneinan<strong>der</strong><br />

getrennt werden. Die Intendantin, denn das ist die Frau, for<strong>der</strong>t<br />

irgend einen besseren Schutz vor Rauchern o<strong>der</strong> so, auch im<br />

Namen... ich lese den Zettel:<br />

"...seither in Gesprächen mit dem Betriebsrat, <strong>der</strong><br />

Frauenbeauftragten, <strong>der</strong> Schwerbehin<strong>der</strong>tenvertretung sowie auch<br />

im Arbeitskreis Betriebliche Gesundheitsför<strong>der</strong>ung immer wie<strong>der</strong><br />

nach Wegen gesucht wurde..."<br />

Gesundheitsför<strong>der</strong>ung? Die Leute werden doch alle über 100. Die<br />

tanzen, lachen, spielen, springen und singen doch jeden Tag, keine<br />

Sorge bleibt zurück! Dagegen war Bhagwans Poona ein<br />

Siechenhaus.<br />

So sieht Sektent<strong>um</strong> aus, wird mir klar.<br />

Später kommt sie wütend an meinen Tisch und fragt, was ich in<br />

<strong>der</strong> Kantine zu suchen hätte. Hier kämen grundsätzlich keine<br />

theaterfremden Leute rein!<br />

"Kann ich mir denken..." murmele ich. Z<strong>um</strong> Glück bin ich auf<br />

ausdrücklicher Einladung meiner kleinen Schauspielerin da. Die<br />

bekommt natürlich jetzt Angst und verzieht sich. Ich denke: wenn<br />

ich das später alles schreibe, hagelt es Gerichtstermine. Solche<br />

Leute schießen immer mit Kanonen auf jegliche Art von Spatzen.<br />

Im Namen <strong>der</strong> Raucherordnung.<br />

Bloß schnell weg. <strong>Auf</strong> nach Hamburg, z<strong>um</strong> nächsten Blut- und<br />

Hoden-Gig, dem Horvath-Klassiker "Zur schönen Aussicht".<br />

102


Horvath war ja nun wirklich ein ganz beson<strong>der</strong>s lieber, klarer,<br />

einfacher Mensch, ein kindliches Genie - dem wird man keine<br />

Ferkeleien andichten können!<br />

Man kann. Ein dicker Mann zieht sich aus, stellt sich nackt und<br />

breitbeinig mit gezogenem Glieg vor den Kopf einer liegenden<br />

jungen Frau, schreit sie an, sie solle seinen Pimmel in den Mund<br />

nehmen und so weiter, steigert sich dabei in einen Schreikrampf,<br />

das als 'verklemmt' bekannte Hamburger Publik<strong>um</strong> buht. Skandal,<br />

Skandal. Pfui, pfui. Gewagt, gewagt. Theater muß gewagt sein.<br />

Grenzen überschreiten, bla bla. Lei<strong>der</strong> ist dieses Stück noch viel<br />

schlechter als die an<strong>der</strong>en beiden. Die Schauspieler berserkern.<br />

Wie<strong>der</strong> stelle ich mir den letzten deutschen Kritiker von Rang vor,<br />

Stadelmaier, <strong>eins</strong>am gewordener Erbe von Hensel, Henrichs,<br />

Karasek, Lessing und Ihering, wie er in seinem unbequemen<br />

Stühlchen sitzt, und <strong>der</strong> Schauspieler ihn tri<strong>um</strong>phal gönnerhaft<br />

angeht: "Na, Sie sehen doch noch ganz intelligent aus!" Und <strong>der</strong><br />

Angesprochene leise, mit gesenktem Kopf, mehr für sich, wie ein<br />

Angeklagter Freislers, murmelt: "Sie lei<strong>der</strong> nicht." Woraufhin <strong>der</strong><br />

Mime ausrastete. Denn so war es gewesen. Die kleine<br />

Schauspielerin hat es mir in <strong>der</strong> Kantine erzählt. Sie war dabei<br />

gewesen.<br />

Manchmal denke ich, es müßte bestürzend, o<strong>der</strong> komisch sein,<br />

wenn man plötzlich keine Popmusik mehr hören könnte. Wenn sie<br />

einfach nie mehr gespielt würde. Und alle lebenden Berufsmusiker<br />

so täten, als habe sie es nie gegeben. Und als sei es peinlich, sie je<br />

wie<strong>der</strong> im Radio zu bringen. O<strong>der</strong> in einem Rockkonzert. Und<br />

stattdessen gäbe es nur noch falsch imitierte Zwölftonmusik. Nicht<br />

die echte von Hindemuth und so weiter, son<strong>der</strong>n beliebiges,<br />

selbstgebasteltes Dröhnen, Ächzen und Klingeln. Und man würde<br />

zehn, 20, 30 Jahre nur noch diesen kranken Lärm hören. Und wer<br />

sich noch an die Strokes, die Beatles o<strong>der</strong> Tokio Hotel erinnerte,<br />

wäre ein Spießer, ja <strong>der</strong> Feind! Und <strong>Joachim</strong> Kaiser würden sie das<br />

Blöckchen zerreißen...<br />

Ich wachte auf. Immer noch war ich in dem so häßlichen wie faden<br />

Stück. Wie schön es wäre, die von Horvath angelegten Konflikte<br />

nicht von völlig verrohten, entstellten, karikierten Menschen<br />

ausgetragen zu sehen, son<strong>der</strong>n von echten! Wenn nicht alle<br />

Männer Schweine und Proleten, nicht alle Frauen Schlampen wären.<br />

103


Überhaupt diese doppelte Lüge: mo<strong>der</strong>ne Regisseure 'arbeiten' aus<br />

den männlichen Rollenvorgaben immer das spezifisch deutsche und<br />

das spezifisch männlich-gewalttätige 'heraus' und gerieren sich<br />

dadurch als aktuell. In Wirklichkeit sind die aktuellen deutschen<br />

Männer so weich, weibisch und unbrutal wie nie zuvor und wie kein<br />

an<strong>der</strong>er Menschenschlag auf <strong>der</strong> Welt. Nazi-Landser mögen noch<br />

so gewesen sein - nicht mal das glaube ich - heutige<br />

alleinerzogene Weichei-Kids passen eher in ein Mädchenpensionat<br />

als in eine Vergewaltigungsorgie. Somit ist nichts so weit von <strong>der</strong><br />

Wahrheit und <strong>der</strong> Realität entfernt wie das aktuelle mo<strong>der</strong>ne<br />

Theater. Mit den letzten Weißhaar-M<strong>um</strong>ien, die das Publik<strong>um</strong> <strong>der</strong><br />

Häuser inzwischen bilden, kann man diesen Schindlu<strong>der</strong> treiben; sie<br />

wissen es halt nicht besser. Alle Jüngeren gehen da wie<br />

selbstverständlich nicht hin.<br />

Doch dann kam Armin Holz. Das Wun<strong>der</strong>kind. Er inszenierte 'Ein<br />

idealer Gatte' von Oscar Wilde im Boch<strong>um</strong>er Schauspielhaus. Er<br />

inszenierte es nicht als das Gleichheitszeichentheater wie alle<br />

an<strong>der</strong>en, also nicht als pl<strong>um</strong>pe Übertragung in die Gegenwart, nach<br />

dem Motto Faust = Gerd Schrö<strong>der</strong>, McBeth = Angela Merkel als<br />

Mann, Wallenstein = Boris Becker (gespielt von einem<br />

transsexuellen Zwillingspärchen). Son<strong>der</strong>n werktreu im Jahr 1895,<br />

mit entsprechenden Dandy-Kostümen. Er brachte das Haus dazu,<br />

einen VORHANG anzuschaffen und lernte sogar, wie man ihn aufund<br />

zuzieht. Es gibt bei ihm eine große Pause sowie vier Akte. Die<br />

Schauspieler sprechen den Text von Oskar Wilde, und zwar nicht in<br />

einer verballhornten Übersetzung Elfriede Jelineks, son<strong>der</strong>n einer<br />

echten. Die Paradoxa werden in ihrer ausdrucksstarken Schwebe<br />

gelassen und nicht in sexuelle Eindeutigkeiten überführt (was die<br />

Jelinek tut). Die Schauspieler können noch sprechen, und obwohl<br />

sie nicht nur Flüstern und Schreien, versteht man in <strong>der</strong> letzten<br />

Reihe jedes Wort. Die Zuschauer lachen oft und freundlich, nicht<br />

häßlich und selten wie bei den clownesken Bearbeitungen <strong>der</strong> auf<br />

Linie gebrachten Mode-Regisseure.<br />

Armin Holz! Er braucht keine Video-Einspielung und nicht einmal<br />

verschnarchte 'mo<strong>der</strong>ne' Pink Floyd Musik. Nicht einmal das Kino.<br />

Nicht einmal die Kunstkataloge <strong>der</strong> letzten Biennale. Ihm reicht <strong>der</strong><br />

Text, und er bewun<strong>der</strong>t seine Schauspieler. Und die spielen so<br />

glänzend, daß einem <strong>der</strong> Atem stockt. Sebastian Koch, bekannt<br />

104


aus 'Speer und Er', gibt einen wun<strong>der</strong>bar verkommenen,<br />

liebenswerten, aufregend präsenten und doch immer leisen Lord<br />

Goring - endlich einmal Zwischentöne! - und erzwingt gerade mit<br />

einer inneren Körperspannung (das eine Knie leicht eingezogen,<br />

<strong>der</strong> Kopf leicht geneigt, die Schultern fallend) höchste<br />

<strong>Auf</strong>merksamkeit. Er macht das blendend, unser schönster TV-<br />

Schauspieler, von den Frauen angeschmachtet, und wird doch von<br />

Markus Boysen noch weit übertroffen. Boysen ist viril, unfaßbar<br />

viril, und man hat schon ganz vergessen, dass Männlichkeit SO<br />

aussieht, etwa wie Marcello Mastroianni in seinen ersten Filmen.<br />

Margit Carstensen ist von einer Süßigkeit, die einen<br />

dahinschmelzen läßt, und präsenter als Marianne Hoppe es je<br />

werden wollte. Die größte Überraschung ist jedoch die 23jährige<br />

Lina de Demo, die es <strong>der</strong> Carstensen gleichtut, mit 70 Jahren<br />

weniger Bühnenerfahrung. Der Beifall brandet 13 Minuten gegen<br />

die Bühne. Viele Zuschauer klatschen und kämpfen dabei mit den<br />

Tränen. Wie an<strong>der</strong>s dagegen das sekundenkurze Tröpfeln nach<br />

dem Ende <strong>der</strong> Horvath-<strong>Auf</strong>führung, angezettelt von einem<br />

semiprofessionellen Anklatscher!<br />

Wer heute als Schauspieler noch eine Figur richtig SPIELEN will und<br />

nicht 'dekonstruieren', muß z<strong>um</strong> Film gehen, in <strong>der</strong> Regel.<br />

Ausnahmen wie Ostermeier und seine Berliner Schaubühne gibt es,<br />

sind aber rar. Und kommen auch nicht ohne Kompromisse aus.<br />

Armin Holz schon.<br />

Seine Welt verzichtet tatsächlich auf Schweinereien? Ja ist <strong>der</strong><br />

Mann denn ein Tor? Ein Kitsch-Brocken? Im Gegenteil. Bei ihm<br />

passieren die bösen Dinge da, wo sie hingehören und wo auch<br />

Oscar Wilde sie sah, in <strong>der</strong> Börse. Die Titelfigur hat sich sein<br />

Vermögen auf dieselbe Weise verschafft wie Esser, Zwickel und<br />

an<strong>der</strong>e Mannesmann-Vorstände, durch verbotene Insi<strong>der</strong>-<br />

Informationen, und wird nun erpreßt. So gesehen ist er ein<br />

Schwein. Aber bei Armin Holz bleiben die Figuren Menschen, und<br />

man kann nicht an<strong>der</strong>s als sie zu mögen. Und wen man mag, mit<br />

dem zittert man mit. Eine Wendung fällt mir dazu ein, die ich seit<br />

meiner Gymnasialzeit nicht mehr verwenden wollte o<strong>der</strong> konnte:<br />

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so gebannt folgten<br />

800 Menschen dem Bühnengeschehen.<br />

Ach, hätte Stadelmaier das noch miterleben können! Der 56jährige<br />

105


wäre zurückgeführt worden an seine Anfänge, als Theater noch<br />

Kortner bedeutete und Cornelia Froboess als Minna von Barnhelm<br />

in den Münchener Kammerspielen. Aber er verbarrikadiert sich<br />

wohl besser in seiner Frankfurter Redaktionsstube. Denn die<br />

bitterböse Raucherordnungs-Intendantin Elisabeth Schweeger hat<br />

nun zur großen Gegenattacke geblasen. Die Süddeutsche Zeitung<br />

schreibt unter <strong>der</strong> Überschrift 'schauspielfrankfurt wehrt sich':<br />

"Der Skandal... geht in eine neue Runde. Nun hat sich das Theater<br />

zur Wehr gesetzt. Man werde es 'nicht hinnehmen, dass ein<br />

solcher bedauerlicher Vorfall wie dieser dazu genutzt wird, den<br />

Kunstra<strong>um</strong> Theater und die künstlerische Freiheit <strong>der</strong> dort tätigen<br />

Künstler einzuschränken' heißt es in einer Erklärung." Nun wird es<br />

sicher noch zu vielen Solidaritätsaktionen kommen, zu<br />

Podi<strong>um</strong>sdiskussionen, Talkshows im Fernsehen, Lichterketten und<br />

<strong>um</strong>gedichteten Singspielen an <strong>der</strong> Berliner Volksbühne. Peymann<br />

ist schon als erster ins Boot gesprungen, die an<strong>der</strong>en üblichen<br />

Verdächtigen werden sich nicht l<strong>um</strong>pen lassen. Schlingensieff, so<br />

ein Gerücht rund <strong>um</strong> den Rosa-Luxemburg-Platz, plant schon ein<br />

cross over von Stadelmaier, Bayreuth und Vogelgrippe. Der letzte<br />

namhafte Theaterkritiker soll dabei z<strong>um</strong> Mitspielen animiert<br />

werden.<br />

Es wäre <strong>der</strong> letzte Tag von 250 Jahren deutscher<br />

Theatergeschichte.<br />

Fußnote<br />

Odyssee durchs Regietheater:<br />

Diese Geschichte über das deutsche Regietheater brachte mir einen neuen Beruf ein.<br />

Wenn ich wollte, könnte ich meinen Lebensunterhalt nun als Spezialist für Angriffe gegen<br />

das Regietheater in Talkshows verdienen, auf Jahrzehnte. Also so lange, wie es das<br />

Regietheater noch gibt. Sagen wir, bis z<strong>um</strong> Jahr 2030.<br />

Ständig flattern Einladungen ins Haus, ich solle an Diskussionen über das Regietheater<br />

teilnehmen. Denn es gibt Tausende von Vertretern des 'Betriebs', aber nur mich als<br />

Gegner desselben. Bis auf einmal habe ich mir das natürlich erspart. Sollen die doch<br />

weiter ihre Suppe kochen, ich habe nichts damit zu tun. Ich hatte lediglich den <strong>Auf</strong>trag,<br />

für den SPIEGEL eine Woche lang jeden Abend ein Theaterstück zu sehen und meine<br />

Eindrücke aufzuschreiben. Das habe ich getan, und es hat mächtig viel Spaß gemacht.<br />

Also das <strong>Auf</strong>schreiben. Ich schreibe ja ohnehin gern. Aber hier hatte ich beson<strong>der</strong>s viel<br />

loszuwerden. Die Texte schrieben sich von selbst, so scheußlich war das Gesehene. Je<strong>der</strong><br />

Satz eine Befreiung von diesem Scheiß, dieser Frechheit. Ich war einmal in <strong>der</strong> Lage,<br />

stärker als je zuvor, Anwalt von mißhandelten Menschen zu werden. Menschen, die<br />

einfach nur enttäuscht wurden. Nicht gefoltert, nicht vergewaltigt, nicht diskriminiert,<br />

nicht ausgebeutet, son<strong>der</strong>n: enttäuscht. Sie waren freudig ins Theater gegangen, wie<br />

Kin<strong>der</strong>, hatten auf den Weih<strong>nachts</strong>mann gewartet, und stattdessen kam dann <strong>der</strong><br />

perverse Spanner vom zweiten Stock o<strong>der</strong> so. Statt Stoffteddys und Eisenbahnwagen<br />

106


präsentierte er sein Glied und schrie: "Da lernt ihr mal was!". Derart belehrt und<br />

bedröppelt schlichen sie dann raus, die armen naiven Theaterbesucher. Ich habe es<br />

gesehen, ich war dabei. Und niemand sprach für sie. Sie waren peinlich, die Deppen,<br />

denen man das Geld aus <strong>der</strong> Tasche gezogen hatte, 68 Euro für zwei Karten. Na, das<br />

alles wissen wir nun, <strong>der</strong> Artikel hat ja seinen Weg gemacht. Für mich begannen die<br />

Schwierigkeiten ganz woan<strong>der</strong>s. Die Stücke auszuhalten, also als Zuschauer, hatte ja<br />

noch einen sportlichen Reiz für mich.<br />

Ich schaffte es tatsächlich dreimal hintereinan<strong>der</strong>, das Haus nicht während <strong>der</strong> großen<br />

Pause zu fliehen. Beim viertenmal nahm ich meinen Ressortleiter mit, <strong>um</strong> mich<br />

abzusichern. Der Mann, den ich persönlich und inhaltlich schätzte, sollte selbst sehen,<br />

was da passierte. Es war ein Horvath-Stück im Hamburger Deutschen Schauspielhaus,<br />

und die Zuschauer stürzten in <strong>der</strong> Pause geradezu panikartig aus dem Theater, <strong>um</strong> nie<br />

wie<strong>der</strong>zukommen. "Was, schon zuende?" fragte <strong>der</strong> Ressortleiter, und ich war zu kaputt,<br />

<strong>um</strong> die Chance nicht zu nutzen. "Ja, schon zuende." Wir nahmen unsere Mäntel und<br />

schlen<strong>der</strong>ten nach draußen, <strong>der</strong> Freiheit entgegen. Dann das Sammeln <strong>der</strong> vielen<br />

Eindrücke, es waren ja gleich mehrere Stücke in vier Städten, da durfte ich nicht<br />

durcheinan<strong>der</strong>kommen. Und dann das Schreiben, in maximaler Länge, 25.000 Zeichen -<br />

alles prima. Nicht das geringste Hin<strong>der</strong>nis. Nein, das Schlimme war diesmal, dass mein<br />

Text zu gut und zu wichtig war, <strong>um</strong> ihn wie<strong>der</strong> durch 37 neue Versionen zerstören zu<br />

lassen. Er kam natürlich postwendend zurück. <strong>Mein</strong>e Frau Barbi mußte mich trösten, was<br />

sie aufopfernd tat. Da ich meine eigenen Texte nicht bearbeiten konnte, wollte ich<br />

diesmal, dass wenigstens ein absoluter Top Journalist am Göttlichen kratzte. Ich rief<br />

Wolfgang Höbel an, ein phantastischer Stilist und wun<strong>der</strong>barer Mensch. Obwohl ich ihn<br />

gar nicht kannte und <strong>um</strong> 23 Uhr aus dem Bett klingelte, sagte er zu und verfertigte über<br />

Nacht die nächste Version. Morgens weckte mich irgendein Azubi aus <strong>der</strong><br />

Leserbriefredaktion, vielleicht war es auch meine eigene Redaktion, ich war noch zu<br />

müde, <strong>um</strong> es genau zu erfassen, vom Dialekt her könnte es auch <strong>der</strong> Pförtner gewesen<br />

sein: "Herräh, Herräh Lottmeier, ich hev hier dat Stück über... also die redigierte<br />

Fassung, von de, von de... Theaterstücke un so." Ich war erfreut. Höbel hatte es<br />

tatsächlich geschafft! Der Gute! Ein echter Star.<br />

25.000 fremde Zeichen, einfach mal so nebenbei satzfertig gemacht. Ich sagte mit tiefer<br />

Stimme: "Ja, es war mir ein Vergnügen. Kann ich jetzt die Fahne bekommen?" Der Typ<br />

am an<strong>der</strong>en Ende lachte krächzend, wahrscheinlich ein starker Raucher. "Nee, junger<br />

Mann, so geit dat nich, da müssense schon noch ma ran, nech! Da will ick ne neue<br />

Fassung sehen bis heut mittag!" Die Mühle ging von vorne los. Ich rief wie<strong>der</strong> reih<strong>um</strong> alle<br />

üblichen Helfen an, bis hin zu Nichte Hase. Je<strong>der</strong> wurde involviert. Aber diesmal achtete<br />

ich (noch) mehr als sonst auf Qualität. <strong>Mein</strong> Honorar ging vollständig dafür drauf, all die<br />

Helfer zu bezahlen. Damals war ich noch nicht auf die rettende Idee verfallen, meinen<br />

Verlag Kiepenheuer & Witsch mit seiner gesamten manpower für diese sinnlose Mühle<br />

einzuspannen. Nicht zwölf Beruflektoren, son<strong>der</strong>n Teile des linken Journalismus und<br />

fortschrittliche junge Deutsche wurden hier verheizt. Trotzdem war ich nicht verzweifelt.<br />

Dass ein so verehrungswürdiger Mann wie Dr. Wolfgang Höbel so dreist vom Tisch<br />

gewischt wurde, also seine Arbeit, liess in mir zwar eine Alarmglocke klingeln. Aber ich<br />

war, ich bitte mir das zu glauben, sehr vorbereitet auf die Lage beim SPIEGEL.<br />

Selbstverständlich kannte ich alle Vorurteile über das berühmte deutsche<br />

Nachrichtenmagazin. Ich kannte Frauen, die einem mit aufgerissenen Angstaugen<br />

erzählten, die 32-Stunden-Problemgeburt ihres Kindes mit Schieflage, würgen<strong>der</strong><br />

Nabelschnur, Herzstillstand und Not-Kaiserschnitt sei angenehmer gewesen als die<br />

Platzierung einer 20-Zeilen-Meldung in irgendeiner SPIEGEL-Rubrik. Schikane war hier<br />

Methode, und die Methode hatte immerhin das beste Magazin <strong>der</strong> Welt hervorgebracht.<br />

Ein paar hun<strong>der</strong>t Mitarbeiter mußten leiden, aber fünf Millionen Leser wurden klüger. Ich<br />

fand das gut, dieses Verhältnis.<br />

Ich selbst hatte davon profitiert, vielleicht mehr als je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e. <strong>Mein</strong>e Eltern hatten den<br />

SPIEGEL abonniert, damals in Belgisch-Kongo, es war die Verbindung zur Heimat. Als ich<br />

fünf Jahre alt war, betrachtete ich schon diese glänzenden Titel, ich erinnere mich genau!<br />

Im selben Jahr gründete ich eine Zeitung, die ich meinem Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> schon schreiben<br />

konnte, diktierte. Ich malte die P olitiker-Köpfe dazu. Mit sieben schrieb ich dann auch<br />

die Texte selbst. Bis ich zwölf wurde, kamen 275 Ausgaben zusammen. Ich wollte später<br />

107


nie Journalist werden, wobei mein Gedankengang so aussah: Ich gehe in den<br />

Journalismus, weil es die ökonomischte Weise ist, ins Leben vorzustoßen, aber nicht, <strong>um</strong><br />

Journalist zu werden - denn solange ich nicht z<strong>um</strong> SPIEGEL kann, ist Journalismus<br />

sinnlos. Nun also war ich angelangt am Ziel. Und war ich glücklich? Raten Sie einmal. Ja,<br />

natürlich war ich das! Ich wachte jeden Tag mit ungefähr folgendem Gedanken auf:<br />

"Zwei Dinge habe ich gewollt im Leben, meine Frau Barbi und z<strong>um</strong> SPIEGEL zu gehen;<br />

beides habe ich geschafft!" Dabei erfaßte mich ein kleiner Ta<strong>um</strong>el, so ungeheuerlich fand<br />

ich das, so unfaßbar kam mir dieses Glück vor. Die nun auftretenden Probleme waren<br />

eben genau jene großen <strong>Auf</strong>gaben, die mit einem so großen Ziel verbunden waren. Sonst<br />

könnte ja je<strong>der</strong> z<strong>um</strong> SPIEGEL gehen. Ich mußte mir einfach Lösungen ausdenken. Eine<br />

davon war, dass ich mich ganz offiziell mit dem Ressortleiter z<strong>um</strong> Essen traf, <strong>um</strong> ihm<br />

mitzuteilen, daß ich eigene Texte nicht <strong>um</strong>schreiben konnte. Ich hatte ihm das immer<br />

wie<strong>der</strong> gesagt, aber vielleicht hatte er es nie so ernst genommen, wie er es sollte.<br />

Gesagt, getan. Wir aßen in einem schönen Fischrestaurant direkt an <strong>der</strong> Binnenalster, im<br />

Freien.<br />

Es war herrliches Wetter, und ich brachte äußerst gewichtig und in künstlich langsamer<br />

Sprechweise mein Anliegen vor. Der Ressortleiter hörte es sich aufmerksam an und<br />

schwieg. Er aß nicht mehr weiter. Eine Pause entstand. Ich hütete mich,<br />

weiterzusprechen. Aber er sagte nichts. Er schien auch nichts Beson<strong>der</strong>es zu denken. Ich<br />

konnte keinerlei Reaktion entdecken, sodaß ich schließlich sagte, ein Redakteur müsse<br />

meine Texte redigieren, wie bei an<strong>der</strong>en Zeitungen. Der Ressortleiter sagte, alle seine<br />

Redakteure seien beschäftigt, und zwar mit ihren eigenen Texten. "Dann müssen wir<br />

sofort Peter Unfried <strong>eins</strong>tellen!" schoß es aus mir hervor. Der Ressortchef sagte genauso<br />

schnell, hocherfreut: "Schreibt <strong>der</strong> denn gut?" Ich sagte, nein, das heißt doch, aber<br />

dar<strong>um</strong> gehe es nicht, er sei eben ein REDAKTEUR, und zwar <strong>der</strong> beste, kein Autor. Der<br />

Ressortleiter fiel in seine alte Starre zurück. Das Essen schmeckte ihm nicht mehr. Die<br />

Tafel war aufgehoben. Wir gingen nach draußen, schnippten ein Taxi herbei und fuhren<br />

durch Hamburg. Im Taxi hatte <strong>der</strong> Ressortleiter noch zwei Ideen. Die eine war, dass ich<br />

doch einfach meine Texte SELBER <strong>um</strong>schreiben solle. Die zweite, ob ich nicht Lust hätte,<br />

noch ein Video mit ihm zu sehen, in seiner Wohnung in <strong>der</strong> Armgardtstraße, mit seiner<br />

bezaubernden Grace-Kelly-Frau. Ich glaube, er hatte bereits die Originalfassung von<br />

"300" o<strong>der</strong> sowas. Für mich bedeutete diese<br />

Doppelbotschaft: weiter machen, weiter leiden. Die guten und die schlechten Seiten des<br />

SPIEGEL weiter auskosten, die entwürdigende Selbstzerstörung einerseits, auf dem Sofa<br />

mit Grace Kelly an<strong>der</strong>erseits. Ich mußte nicht darüber nachdenken.<br />

Ich bereue nichts.<br />

Die nächste Fassung schrieb ein hoher Funktionär <strong>der</strong> Z.I.A., was dem Leser nichts sagen<br />

mag, sodaß ich es <strong>um</strong>ständlich erklären müßte, was ich nicht will.<br />

Die Z.I.A. (Zentrale Intelligenz Agentur) hat jedenfalls ganz hervorragende Leute, und es<br />

war nicht billig. Dann kam wie<strong>der</strong> einer von <strong>der</strong> "taz", nicht Gerrit Bartels, denn <strong>der</strong> hatte<br />

bereits einen an<strong>der</strong>en SPIEGEL Text <strong>um</strong>geschrieben, und mehr als einmal konnte ich<br />

selbst altgediente befreundete Kollegen nicht bitten, also ich weiß nicht mehr, wer. Und<br />

so weiter. Das Seltsamste bei diesem immer gleichen Spiel war stets das Ende: Wenn die<br />

letzte, die allerletzte Fahne, die definitiv aller-allerletzte Korrektur getan worden war,<br />

wenn die Seite feststand, die Fotos, die Graphik, die verschiebenen Über- und<br />

Unterschriften, wenn die Druckmaschinen bereits liefen und alle Kollegen ins<br />

wohlverdiente Wochenende gefahren waren; wenn ich also auf <strong>der</strong> Bettkante meines<br />

Bettes saß und still weinte über den vollständig zermatschten, totgeprügelten Text, unter<br />

dem mein Name stehen würde, DANN ereignete sich regelmäßig ein Wun<strong>der</strong>.<br />

Ausnahmslos jedesmal. Jemand griff ein. Es mußte einen heimlichen Redakteur beim<br />

SPIEGEL geben. Einen, den keiner kannte, <strong>der</strong> selbst nicht schrieb, <strong>der</strong> nur für die<br />

Autoren da war. Rudolf Augstein? War das SO unvorstellbar? Auch wenn man kein<br />

bißchen an Geister glaubte, so war es nicht völlig abwegig anzunehmen, dass ein<br />

kraftvoller intellektueller Geist wie <strong>der</strong> Rudolf Augst<strong>eins</strong> auch nach seinem Tod noch ein<br />

bißchen im Haus weiterwirkte. Solche Phänomene GAB ES. Die Wissenschaft hatte solche<br />

Fälle durchaus bestätigt. Außerdem lag <strong>der</strong> Tod noch nicht lange zurück, und ich selbst<br />

war bei <strong>der</strong> Beerdigung dabei gewesen. Ich stand wenige Meter neben dem Sarg, als<br />

Franziska ihre Rede über den Löwen hielt, und ich hatte geweint. Alles Dinge, die<br />

108


womöglich einen Einfluß hatten, später, also jetzt. Z<strong>um</strong> an<strong>der</strong>en wußte ich zu wenig über<br />

die Vorgänge in <strong>der</strong> Chefredaktion.<br />

Wahrscheinlich gab es noch eine weitere letzte Instanz, die zwischen Redaktionsspitze<br />

und Printbefehl lag, von <strong>der</strong> we<strong>der</strong> ich noch mein ganzes Ressort wußte.<br />

Irgendein letzter Über-Chef, <strong>der</strong> das fertige Heft in die Hand nahm, meinen verkorksten<br />

Artikel las, und blitzschnell korrigierte. Und zwar in allen Punkten. Kein Buchstabe blieb<br />

auf dem an<strong>der</strong>en. Es entstand ein Text, <strong>der</strong> mit meinem Schlußtext absolut gar nichts zu<br />

tun hatte, <strong>der</strong> aber ungefähr so gut war wie die Originalfassung. Sogar die Musikalität<br />

meiner Sprache war wie<strong>der</strong> ein bißchen da, so als hätte <strong>der</strong> große unbekannte Retter<br />

(Stefan Aust?) ein bißchen "Mai, Juni, Juli" gelesen, <strong>um</strong> sich zu inspirieren. Franz Kafka<br />

hätte, wäre er beim SPIEGEL gewesen, nicht mehr weitergeschrieben; alle seine<br />

Phantasien waren bereits verwirklicht.<br />

Der Artikel erschien und löste inner<strong>halb</strong> wie außer<strong>halb</strong> des SPIEGEL ein Beben aus. In <strong>der</strong><br />

Redaktionskonferenz erhoben sich nun endlich alle meine Gegner ganz offen. Lothar<br />

Gorris nannte mich vor versammelter Mannschaft und im Tonfall alter Schauprozesse<br />

einen "Reaktionär". Das war natürlich schön, dass ich nun im Haus so bekannt wurde.<br />

Offenbar hatte ich "in ein Wespennest gestochen"<br />

(Johannes Erasmus), als ich die Theaterszene als einen Staat im Staate beschrieb, ein<br />

von <strong>der</strong> Gesellschaft isoliertes Biotop. Natürlich dachte wie<strong>der</strong> alle Welt, ich sei ein<br />

Provokateur. Das Theaterpublik<strong>um</strong> dachte das nicht. Ich bekam tonnenweise Post von<br />

dankbaren ehemaligen Theaterfreunden, denen man ihr Liebstes genommen hatte. Und<br />

ich hatte auch wirklich ein eigenes Anliegen. Ich war nämlich selbst ein ehemaliger<br />

Theaterfreund. Als Student hatte ich keine Inszenierung versä<strong>um</strong>t, war süchtig gewesen<br />

nach Strindberg, Ibsen, Tschechov, Goethe, Lessing und so weiter. Minna von Barnhelm<br />

hatte ich im Laufe <strong>der</strong> Jahre in acht Inszenierungen gesehen, ich konnte die Dialoge<br />

mits<strong>um</strong>men wie die Fans von Tokio Hotel <strong>der</strong>en Refrains. Die Minna als Death Metal<br />

Schlampe, die auf <strong>der</strong> Bühne ihre Tage bekommt und von einer Jopi Heesters Puppe von<br />

hinten genommen wird, während Wagnermusik aus Stukas ertönt, hat mir übrigens<br />

AUCH gefallen. Ich geniesse Schlingensieff wie kein zweites Kulturprodukt. In <strong>der</strong><br />

Zerstörung liegt durchaus viel Schönes. Des<strong>halb</strong> kam es mir in meinem Artikel vor allem<br />

darauf an, den fehlenden Ausdruck des Regietheaters zu zeigen. Ausduck heißt, dass<br />

ETWAS ausgedrückt wird. Solange eine Inszenierung den Stoff des Autors ausdrückt, ist<br />

sie legitim. Und sogar, wenn sie, wie bei Schlingensieff, die Visionen des Regisseurs<br />

ausdrückt. Und jedes Mittel ist da recht. Nur tat das mo<strong>der</strong>ne Regietheater genau das<br />

nicht. Die Mittel hatten keinen Bezug, zu nichts und niemand. Die Mittel drückten sich<br />

selbst aus. Herabregnende Luftballons standen für herabregnende Luftballons. Die Stücke<br />

waren eine sinnlose N<strong>um</strong>mernrevue von 'originellen' Effekten. Als ich im Fernsehen<br />

gefragt wurde, was ich denn gegen das Theater hätte, sagte ich: "Das ist kein Theater."<br />

Im Artikel kam mein Anliegen nur begrenzt rüber. Man hatte mir die schöne Klarheit<br />

meiner Absicht natürlich weggestrichen. Dafür galt ich nun wie<strong>der</strong> als 'bad guy', <strong>der</strong> sich<br />

einen zynischen Spaß daraus macht, den ollen Ritter mit dem Pappschwert<br />

zurückzufor<strong>der</strong>n. Z<strong>um</strong>indest im SPIEGEL selbst schlug mir nun blanker Haß entgegen. In<br />

vielen Gesichtern stand <strong>der</strong> Gedanke geschrieben: "Du bist böse! Du stehst für das große<br />

roll back! Du willst uns in die 50er Jahre zurückschreiben, und zwar aus reiner,<br />

irrationaler Perfidie!" Es war daher nicht schlecht, dass <strong>der</strong> Ressortleiter mir jeden<br />

Morgen ungefragt mitteilte, <strong>der</strong> gesamten Chefredaktion habe mein Text sehr gefallen. Er<br />

wie<strong>der</strong>holte das wie ein Mantra. Er sagte manchmal auch noch, ich gehörte nun dazu. Es<br />

kam mir vor, als hätte ich eine Mutprobe bestanden. War es möglich, dass die<br />

Chefredaktion einen großen Teil ihrer Redakteure als Ideologen mit Brett vor dem Kopf<br />

erachtete?<br />

Dass ihr angst und bange war vor diesen Kultur-Mullahs, die sich von den Lesern und<br />

<strong>der</strong>en Leben entfernt hatten? O<strong>der</strong> wollte mich nur <strong>der</strong> Ressortleiter trösten?<br />

Zwei Wochen später stand ein weiterer Artikel über das mo<strong>der</strong>ne Regietheater im Blatt.<br />

Noch länger als meiner, und mit genau <strong>der</strong> gegenteiligen Tendenz.<br />

Dieser Schritt sollte demonstrieren, dass <strong>der</strong> SPIEGEL nicht 'reaktionär' geworden war.<br />

Die Idee fand ich gut, denn ich war immer für die Streitkultur. Es sollte viele, möglichst<br />

radikale <strong>Mein</strong>ungen in einer Zeitung geben, wie in den Zeitungen in Israel. Das säuselnde<br />

Konsensgelaber <strong>der</strong> ZEIT war mir schon als Gymnasiast auf die Nerven gegangen.<br />

109


Jedenfalls kochte daraufhin das Thema erneut hoch. Es kam wochenlang zu endlosen<br />

Leserbriefseiten im SPIEGEL. Das ZDF rief an, <strong>der</strong> WDR, an<strong>der</strong>e Zeitschriften zogen nach.<br />

Ich hätte, wie gesagt, jeden zweiten Abend für 500 Euro Tagesgabe in Veranstaltungen<br />

z<strong>um</strong> Thema auftreten können.<br />

Aber ich hatte an<strong>der</strong>es im Sinn; <strong>der</strong> nächste SPIEGEL Artikel mußte geschrieben werden.<br />

Denn plötzlich wollte die Chefredaktion - so sagte man mir - große<br />

<strong>Auf</strong>gaben an mich herantragen.<br />

21. Singlekultur Berlin-Mitte o<strong>der</strong> das Buch „Liebe heute“ von<br />

Maxim Biller<br />

Maxim Biller, den immer noch so viele mit seiner legendären Kol<strong>um</strong>ne<br />

“Hun<strong>der</strong>t Zeilen Hass” verbinden, also mit Hass, hat ein Buch über die<br />

Liebe geschrieben. Es macht ihm übrigens nichts aus, das alte, über 20<br />

Jahre alte Hass-Image: “Man kann von den Menschen nicht verlangen,<br />

sich von einem Autor mehr zu merken als ein einziges Buch. Das ist schon<br />

sehr viel. Bei mir ist es halt das Destruktive geworden. Nichts ist dümmer,<br />

als ein Schauspieler, <strong>der</strong> sagt ‘Ich will mein Image än<strong>der</strong>n’. Soll er doch<br />

froh sein, dass er <strong>eins</strong> hat!”<br />

Wir stehen unten vor seiner Tür in Berlin Mitte, ich, er, dazu ein Mädchen<br />

mit einem Kin<strong>der</strong>handy vorm Gesicht, mit dem sie uns filmt. Er bohrt mit<br />

dem nackten Zeigefinger in ihre Richtung:<br />

“Was soll das? Was macht die Frau da? Das ist gegen die Absprache!”<br />

“Ach, das ist nichts. Sie macht was für meinen Blog in <strong>der</strong> Netzeitung.”<br />

Er geht kurz in die Wohnung zurück, kommt gleich wie<strong>der</strong>, wütend:<br />

“Du hast keinen Blog in <strong>der</strong> Netzeitung!”<br />

Er muß blitzschnell beim Computer gewesen sein. Richtig, <strong>der</strong> Blog wird<br />

erst eingerichtet. Aber war<strong>um</strong> bringt er mich in Verlegenheit? Das<br />

Mädchen ist ein Tra<strong>um</strong>. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Frauen nicht gerade hasst, wäre froh,<br />

von ihr gefilmt zu werden. Ist er also doch <strong>der</strong> alte Hassbolzen geblieben?<br />

Was ist denn nun mit dem Buch über die Liebe? Schon wie<strong>der</strong> vergessen?<br />

Übrigens hatte ich sie spontan mitgenommen. Minuten vorher, in <strong>der</strong> Bar<br />

103, hatte sie mich angesprochen. Sie hatte mich interviewen wollen. Das<br />

Leben konnte ja so spontan sein. Ich sagte also:<br />

“Sei doch mal spontan, Maxim.”<br />

“Spontan?! Das geht nicht. Das muß genehmigt werden. Und zwar vorher.<br />

Schriftlich!”<br />

“Ganz professionell.”<br />

“Genau! Dafür gibt es zuständige Stellen.”<br />

“Lange im voraus. In dreifacher Ausfertigung.”<br />

“Was?”<br />

“Alles muß seine Ordnung haben!”<br />

“Ja, natürlich!”<br />

“<strong>Mein</strong> Gott, bist du deutsch, Maxim!”<br />

Er hielt kurz inne, besann sich, und liess sie weiterfilmen. Man konnte ihn<br />

zu ALLEM bringen, wenn man sagte, das Gegenteil sei deutsch. Wir<br />

stiegen in das Auto, ein wenig gefahrener Wartburg Tourist, praktisch<br />

110


neuwertig. Biller sah endlich die Frau an. Sein Gesicht riß auf. Die Sonne<br />

brach durch die Wolkendecke. Der Wagen schoß nach vorn, Richtung<br />

Westen. Wir wollten in einem alten jüdischen Spezialgeschäft in<br />

Charlottenburg Handschuhe für ihn kaufen. Der linke Handschuh wurde<br />

vom Ladenbesitzer, <strong>der</strong> rechte von seiner Frau genäht - so machten sie<br />

das seit 1927 und in <strong>der</strong> dritten Generation. Sie hatten nur sieben<br />

Kunden, aber aus fünf Kontinenten.<br />

Als typischer Mitte-Bewohner kam man praktisch nie ins alte, muffige<br />

Westberlin. Da gingen die Uhren an<strong>der</strong>s, die Leute hingen noch an<br />

Diepgen, trauerten dem Kalten Krieg nach, waren hoffnungslos veraltet -<br />

es war nicht schön. Biller war sicher froh, geschützt im schicken Ostauto<br />

durch dieses Elend schlüpfen zu dürfen, unbehelligt und geräuschlos. Am<br />

Savignyplatz entdeckte er die “Autorenbuchhandlung” und befahl zu<br />

halten:<br />

“Das ist die berühmteste Buchhandlung Deutschlands… das ist<br />

Shakespeare and Company in Berlin!”<br />

Zwei etwas ältere Mädchen öffneten uns und verstanden sich sofort ganz<br />

gut mit dem etwas jüngeren Mädchen aus unserer Mitte. Fräulein von<br />

Kieseritzky und ihre liebenswerte Nichte leiteten den Laden seit <strong>der</strong> ersten<br />

Ligislaturperiode Willy Brandts. Für sie war er immer noch Regieren<strong>der</strong><br />

Bürgermeister. Wir bekamen Tee und köstliche selbstgebackene Kekse,<br />

setzten uns und begannen zu diskutieren. Über diverse notwendige<br />

Umwege - Philipp Roth, Rainald Goetz, Henryk M. Bro<strong>der</strong> - kamen wir auf<br />

Maxims neues Buch.<br />

“Philipp Roth hat mich nie berührt. Rainald Goetz gilt ja als neuer Höl<strong>der</strong>lin<br />

und wird oft mit mir verglichen. Da sagen die Leute, wir schrieben beide<br />

so hart. Ich finde das gar nicht. Goetz schreibt, man solle <strong>der</strong><br />

Familienministerin ins Gesicht kotzen. So einen scheußlichen Satz würde<br />

ich nie schreiben. Er macht das seit Urzeiten so. Man solle Reagan ins<br />

Gesicht schießen…”<br />

“…man solle <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>s Schriften verbrennen…”<br />

“…ja, burn, Berlin, burn…”<br />

“Stimmt, er ist <strong>der</strong> deutscheste aller Schriftsteller, deutscher als Nietzsche<br />

und Höl<strong>der</strong>lin zusammen.”<br />

Sein neuer Blog in ‘Vanity Fair’ war tatsächlich nicht von Pappe. <strong>Auf</strong> jeden<br />

Fall völlig h<strong>um</strong>orfrei. Biller rollte die Augen:<br />

“Und immer mit dieser militärischen Sprache, mit Granaten, Offizieren und<br />

so weiter. Die Leute, die das nicht selbst trifft, finden das toll. Ich nenne<br />

das linksnational. Henryk M. Bro<strong>der</strong> dagegen, <strong>der</strong> Spaß versteht, <strong>der</strong> nie<br />

so gewalttriefend-d<strong>um</strong>pf und deutschromantisch daherkommt wie Goetz,<br />

gilt den Linksnationalen als ‘Reaktionär’…”<br />

“A propos, wir wollten doch über die Liebe sprechen!”<br />

Sein Blick huschte flackernd über die 22jährige Kamerafrau. Dann sah er<br />

mich an:<br />

“Ja?”<br />

“Ein kluger Kopf hat kürzlich geschrieben - ich glaube, es war in dem<br />

Roman ‘Zombie Nation’ - <strong>der</strong> Kampf zwischen Mann und Frau sei <strong>der</strong><br />

wahre Irakkrieg unserer Epoche. Siehst Du das auch so in ‘Liebe heute’?”<br />

111


“Das genaue Zitat mit dem Irakkrieg lautet übrigens an<strong>der</strong>s, nämlich ‘Was<br />

Frauen den Männern antun, ist <strong>der</strong> eigentliche Irakkrieg’ und so weiter.<br />

Und natürlich ist das so. 95 Prozent <strong>der</strong> Männer in meinem Freundeskreis<br />

sagen, dass sie von ihrer Frau kontrolliert werden.”<br />

“Furchtbar.”<br />

“Ich erlebe es doch selbst, dass ein Mann abends von seiner Frau fünfmal<br />

angerufen wird, wo er gerade sei und was er mache.”<br />

“Sowas kann ja auch liebevoll sein.”<br />

“Unsinn. Unterdrücken tun die Frauen sowieso. Das wäre aber nichts<br />

Neues. Schon das Patriarchat war doch nichts an<strong>der</strong>es als die permanente<br />

und aussichtslose Revolution gegen das Matriarchat, das immer schon da<br />

war und auch dann noch da sein wird, wenn <strong>der</strong> letzte Tag gekommen<br />

ist.”<br />

“Frauen sind omnipotent?”<br />

“Ich hasse das ganze Mann-Frau-Thema. Natürlich haben Frauen auch<br />

Angst, nämlich Verlustangst. Ihre Angst, den Partner zu verlieren, ist<br />

geradezu allesbestimmend.”<br />

“War<strong>um</strong> dann das promiske Verhalten, das…”<br />

“Bitte! Das Thema ist unter meinem Niveau.<br />

“Entschuldige. Das verstehe ich. Manchmal trä<strong>um</strong>e ich selbst davon, eines<br />

morgens aufzuwachen, und das leidige Mann-Frau-Thema sei nicht mehr<br />

da. Der Herrgott selbst hätte ein Einsehen gehabt und es aus <strong>der</strong> Welt<br />

genommen.”<br />

Biller atmete auf. Es sei viel besser, sich mit <strong>der</strong> Liebe zu beschäftigen.<br />

Über die könne man bekanntlich nicht reden. Aber man könne sie poetisch<br />

ausdrücken, in einem Buch wie ‘Liebe heute’.<br />

Wir liessen uns unsere eigenen Romane kommen und signierten sie. Von<br />

ihm gab es fünf, von mir einen. Die ältlichen Mädchen waren gerührt, das<br />

junge filmte und filmte, immer mit dem Kin<strong>der</strong>handy. Zwölf Millionen<br />

Pixel, das ergab später einen Film in Cinemascope und Superbreitwand.<br />

Wir schmökerten durch die Bücherwände.<br />

“Was ist Dein Lieblingsroman?”<br />

“‘<strong>Mein</strong> Leben als Sohn’ von Philipp Roth”, sagte Maxim Biller, <strong>der</strong> vorhin<br />

gesagt hatte, Philipp Roth berühre ihn nicht.<br />

Ich votierte für ‘Senilità’ von Italo Svevo. Das Mädchen kaufte ‘Die Gärten<br />

<strong>der</strong> Finzi-Contini’ von Giorgio Bassani, schrieb etwas hinein und schenkte<br />

es mir. Ihr Vater hatte das Buch ins Deutsche übersetzt. Sie war in<br />

Bergamo aufgewachsen. Das ist eine Stadt 50 Kilometer nordöstlich von<br />

Mailand, die früher sehr schön gewesen war, bis sie 452 von Attila<br />

eingenommen und geplün<strong>der</strong>t wurde. Ich sah nach dem Namen des<br />

Übersetzers. Diese junge Frau war also ein Vatertöchterchen, was eine<br />

Entsprechung für die Milliarden von Muttersöhnchen war, die die westliche<br />

Welt neuerdings überschwemmten. Überall wurde alleinerzogen, aber<br />

nicht alle Erzieher waren Frauen. Billers Buch reagierte auf diese neue<br />

Welt(un)ordnung, aber auf recht eigene Weise.<br />

Vielleicht kann man es so ausdrücken: Die quasifeministische Sicht <strong>der</strong><br />

Dinge war Gemeingut geworden, und zwar in einer natürlichen,<br />

authentischen, nicht mehr bewußten Weise. Männliche und weibliche<br />

112


Autoren schrieben feministisch, ohne zu ahnen, dass sie es taten. Für sie<br />

war das, was sie schrieben, ganz einfach Realismus. Frauen, die noch<br />

bewußt feministisch schrieben, und ebenso die paar Männer, die sich<br />

bewußt dagegen wehrten, waren verkrampft und somit unbeliebt. Ganz zu<br />

recht! Denn wahre Posie muß ganz und gar aus dem Unbewußten<br />

kommen. Doch nun zu Biller: Er ist <strong>der</strong> einzige Mann, <strong>der</strong> unbewußt<br />

antifeministisch schreibt. Also wun<strong>der</strong>schön.<br />

Bei ihm ist <strong>der</strong> Mann noch ganz selbstverständlich <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong><br />

Schöpfung. In epischer Ruhe liegt die Welt vor ihm, und die Frau dazu.<br />

Frauen sind Teil dieser Natur, die er sich Untertan zu machen hat, Gottes<br />

<strong>Auf</strong>trag gemäß. Elegische, fremde, schöne Dinge sind das, ein wenig<br />

versaut, aber so hat er es gern. Nichts verbindet ihn wirklich mit ihnen,<br />

nichts Persönliches jedenfalls. Undenkbar, dass ihm einmal ein nettes<br />

Wort entschlüpfte. Aber <strong>um</strong>gekehrt kommt ja auch keines. Der Sex ist<br />

immer st<strong>um</strong>m, wie <strong>der</strong> von an<strong>der</strong>en Säugetieren. Und zwischen den<br />

Orgasmen hat man sich auch bestenfalls Lakonisches zu sagen. So habe<br />

ich mir früher die Liebesspiele zwischen H<strong>um</strong>phrey Bogart und Lauren<br />

Bacall vorgestellt.<br />

Das soll bitte nicht ironisch klingen. Ich meine es ernst, wenn ich seine<br />

Prosa schön nenne. Es ist ein Wun<strong>der</strong>, dass heute jemand so schreiben<br />

kann. Billers Sprache ist eine Melodie, die einen anweht, als lebte Albert<br />

Camus noch, als schriebe Gottfried Benn plötzlich short stories, als klopfte<br />

<strong>der</strong> Existentialismus aus seinem Grab zu uns herüber. Ich sehe Marcello<br />

Mastroianni in Algerien, wie er sich bei Dreharbeiten zu ‘Der Fremde’ eine<br />

schwarze französische Zigarette anzündet. Zudem, das muß auch noch<br />

gesagt werden (soviel Germanistik muß sein): Biller ist ein großer<br />

Erzähler. In Sachen Erzähltechnik spielt er alle an die Wand. Oft beginnen<br />

seine Geschichten klein, bleiben klein, kommen nicht vom Fleck, ganze<br />

Jahre vergehen, <strong>halb</strong>e Leben, bis plötzlich etwas explodiert und die Story<br />

ausbricht wie ein Weltkrieg. Wie im wirklichen Leben. O<strong>der</strong> wie in einem<br />

Champions League Spiel des FC Bayern München. Deswegen kommen<br />

einem auch nie Zweifel an dem Autor. Seine Wirkung auf den Leser ist<br />

beträchtlich.<br />

Er denkt, er schriebe ganz simpel und realistisch von <strong>der</strong> Wahrheit. Er<br />

denkt, die Frauen seien eben so, wie er sie erlebt und beschreibt. Und sie<br />

seien immer schon so gewesen. Und das wisse ja auch je<strong>der</strong>, und dagegen<br />

habe doch niemand etwas. Eherne Gesetze! Der Apfel fällt von oben nach<br />

unten. Im Winter ist es draußen kälter als drinnen. Frauen sind<br />

durchtrieben und bösartig. Männer sind die besseren Menschen. Frauen<br />

sind mehr o<strong>der</strong> weniger triebgesteuerte Teufel. Pardon, das sagt <strong>der</strong> Autor<br />

natürlich nicht direkt, noch weniger DENKT er es. Er fühlt es nur. Genau<br />

so, wie das Heer unserer quasifeministischen Mainstream AutorInnen das<br />

Gegenteil fühlt. Man schlage auf, wo man wolle, von mir aus sogar bei den<br />

großen Meistern, bei Judith Hermann etwa: alle männlichen Figuren<br />

erscheinen (o<strong>der</strong> vers<strong>um</strong>pfen) im Kontext <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>tracht, des<br />

Negativen, des Charakterlosen, während alle Frauenspersonen bis hin zur<br />

letzten Nebenfigur eingesponnen sind in Adjektiva des Schönen,<br />

Geheimnisvollen, Lichthaften, Kernig-Solidarischen und H<strong>um</strong>anen. Die<br />

113


Frauen sind ganz Mensch, die Männer nur Ochsen. Bei Biller sind wir<br />

Männer von unfaßbarer H<strong>um</strong>anität und H<strong>um</strong>orkraft, die Frau ist DIE<br />

BITCH.<br />

Das könnte ich nun verurteilen, aber mir gefällt es, das nicht zu tun.<br />

Solange es die Monströsität des quasifeministischen Mainstreams gibt,<br />

finde ich es klasse, dass diese Schweinerei einmal von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

gespiegelt wird, und zwar genauso naiv und unschuldig. Ja, und ich denke<br />

dabei an unsere armen männlichen Mitbürger im Kindesalter, die bereits<br />

heute <strong>um</strong> ein Drittel schlechter in <strong>der</strong> Schule sind als ihre Mitschülerinnen.<br />

Die auf allen Fel<strong>der</strong>n hinterher hinken, selbst in Mathe und Physik, Sport<br />

und Lesen. Die sich schlechter konzentrieren können und öfter bettnässen.<br />

Die ausschliesslich in Frauenwelten und mit Frauenweltbil<strong>der</strong>n<br />

aufwachsen. Die, mit einem Wort, benachteiligt sind.<br />

Nicht für sie, aber für ihre ausgesperrten Väter, ist ‘Liebe heute’ ein gutes<br />

Buch. Wenn es nur leichter wäre, mit Maxim darüber zu sprechen! Wir<br />

verlassen die Buchhandlung und suchen das Auto. An <strong>der</strong><br />

Winschutzscheibe klebt ein Strafmandat. Aus Billers schönem Larry David<br />

Gesicht weicht jede Farbe. Ich spüre, wie er einige Sekunden bebt, ehe er<br />

Worte findet:<br />

“War<strong>um</strong> hast du nicht die ordnungsgemäße Parkgebühr entrichtet?! Nun<br />

sind wir straffällig geworden! Ich finde das unmöglich!”<br />

“Aber ich HABE doch ein Ticket gezogen, da beim Ticketautomaten.”<br />

“Aber Du hast die Zeit überschritten!”<br />

“Um ZWEI Minuten.”<br />

“Na und?! Da gehts <strong>um</strong>s Prinzip!”<br />

Er war außer sich. Der verdrängte Deutsche brach wie<strong>der</strong> durch. Ich hielt<br />

lieber den Mund und trat aufs Gaspedal. Ich überlegte. ‘Liebe heute’<br />

begann schon auf <strong>der</strong> ersten Seite, die ich aufschlug, praktisch mit dem<br />

ersten Satz, mit einer Fünfjährigen, die einen Vierjährigen bei <strong>der</strong> Lehrerin<br />

verpetzt und grausam bestrafen läßt. Für einen Marmeladenklau, den<br />

nicht er, son<strong>der</strong>n sie begangen hat. Einen Absatz später zwingt die<br />

inzwischen Neunjährige den Achtjährigen gewaltsam z<strong>um</strong> Voyeurismus in<br />

<strong>der</strong> Umkleidekabine <strong>der</strong> Badeanstalt. Mit zwölf und dreizehn kommt es<br />

dann knüppeldick… das Stichwort Pornogaphie fällt mir reflexhaft ein.<br />

“Maxim, wie steht Dein Buch eigentlich zur allgemeinen<br />

Pornographisierung aller Lebensbereiche, wie sie in Ariadne von Schirachs<br />

Schocker ‘Tanz <strong>um</strong> die Lust’ geschil<strong>der</strong>t wird?”<br />

“Mich interessiert das alles nicht.”<br />

Das alles. Nicht. Überhaupt nicht. Niemals. Maxims Frauenbild kommt aus<br />

einer an<strong>der</strong>en Welt. Wir fahren z<strong>um</strong> KaDeWe, und diesmal zwingt uns<br />

Maxim Biller mit harter Hand, ein offizielles öffentliches Parkhaus<br />

anzusteuern. Damit das Kraftfahrzeug ordnungsgerecht verbracht werden<br />

kann. Ich löse eine komplizierte Chipkarte, gebe ein Passwort ein und eine<br />

sechsstellige PIN-Zahl, lasse Kfz-Schein und Personalausweis scannen. Wir<br />

fahren in den siebenten Stock des KaDeWe und setzen uns ins gemütliche<br />

‘le buffet’ im Wintergarten. Nun reden wir über deutsch-jüdische Themen,<br />

also vor allem über seine Emigration nach Israel. In ‘Tempo’ hatte er diese<br />

bekannt gegeben und begründet. Er erträgt es nicht länger, dieses unser<br />

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Land, wo Grönemeyers ‘Zwölf’ aus alles Ritzen knödelt wie deutsche<br />

Gemüts-Ursuppe, und wo selbst <strong>der</strong> früher so talentierte Kracht sein<br />

neues Buch mit germanischen Runen bedrucken läßt. Und Götz eben. Wir<br />

nicken betroffen. Die Beispiele nehmen kein Ende. Wir sprechen über den<br />

neuen Blog von Matthias Matussek auf Spiegel Online, sogar positiv. Dabei<br />

kriegt er endlich die Kurve:<br />

“Trotz alledem, meine Freunde: Die Bil<strong>der</strong> sind das eine, die Welt das<br />

an<strong>der</strong>e. Das war immer so. In <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Menschen ist Israel ein<br />

Land, in dem man alle drei Stunden eine Bombenexplosion erlebt. Wenn<br />

man dann aber WIRKLICH da ist, ist es das schönste Urlaubsland <strong>der</strong><br />

Welt. O<strong>der</strong> damals die Sache im August 1914: Alle Menschen hatten<br />

großartige Kriegsbil<strong>der</strong> im Kopf und jubelten. Drei Monate später, im<br />

Schützengraben, war sie dann ganz an<strong>der</strong>s, die Wirklichkeit. Und so ist es<br />

auch mit <strong>der</strong> Pornographie und <strong>der</strong> Liebe. ALLE haben diese Sexbil<strong>der</strong> im<br />

Kopf und reden darüber, schreiben diese unsäglichen Bücher über<br />

Pornographie und so weiter. Wenn sie dann aber mit einer Frau im Bett<br />

liegen, ist es vollkommen an<strong>der</strong>s. Dann ist es plötzlich Liebe.”<br />

Liebe heute sozusagen.<br />

22 Christian Klar und ich: zweimal R.A.F.<br />

Henryk M. Bro<strong>der</strong> schrieb unlängst hier im SPIEGEL, den Deutschen<br />

sei Adolf Hitler inzwischen unsagbar peinlich. Deswegen reagierten<br />

sie auf den Hitler-Film mit Helge Schnei<strong>der</strong> verhalten bis gar nicht.<br />

Der Film floppte an <strong>der</strong> Kinokasse. Wie kann man über etwas<br />

lachen, das einfach nur daneben ist? Wie konnten unsere<br />

Vorfahren auf so einen lächerlichen Mann stehen? Und mit den<br />

an<strong>der</strong>en beiden deutschen Grusel-Evergreens, Stasi und RAF, ist es<br />

ähnlich. Dass die ganze DDR heute nur noch kopfschüttelnd als<br />

großes Absurdistan abgetan wird, versteht sich von selbst. Aber<br />

wie ist es mit <strong>der</strong> Baa<strong>der</strong>-<strong>Mein</strong>hof-Bande? In einer Zeit, in <strong>der</strong><br />

täglich tausende von Selbstmordattentätern, Schläfern, Heiligen<br />

Kriegern und so weiter für ihren kurzen öffentlichen <strong>Auf</strong>tritt<br />

trainieren, schr<strong>um</strong>pfen unsere paar Hanseln von <strong>der</strong> Roten Armee<br />

Fraktion zu einer nicht mehr kulttauglichen Mini-Gefahr.<br />

Natürlich haben das all die Filmproduzenten und Medienleute noch<br />

nicht begriffen. Sie glauben weiter an den Kultfaktor von Andreas<br />

Baa<strong>der</strong>, denken dabei an Che Guevara, machen Filme, drucken T-<br />

Shirts, das Fernsehen lässt Doku-Serien drehen, Guido Knopp hofft<br />

wahrscheinlich auf neuen Stoff nach dem Ende des Hitler-Themas:<br />

"Baa<strong>der</strong>s Frauen - deutsche Terroristinnen im Schatten des<br />

115


Bösen", o<strong>der</strong> "Helfer des Terrors - deutsche Männer im Banne<br />

Ulrike <strong>Mein</strong>hofs". Aber das wird nichts werden.<br />

Von den drei Terrorphänomenen ist <strong>der</strong> RAF-Spuk das einzige, das<br />

die meisten heute lebenden Westdeutschen selbst miterlebt - o<strong>der</strong><br />

irgendwie mitgekriegt - haben. Es gibt hierfür ein nicht nur<br />

kollektives, son<strong>der</strong>n auch eigenes Gedächtnis. Man kann einem das<br />

nicht andrehen wie die Kaiserkrönung Karls des Großen o<strong>der</strong> das<br />

Bauernlegen Stalins. Wir waren dabei. Ich z<strong>um</strong>indest. Und es ist mir<br />

peinlich. Es war mir IMMER peinlich. Räuber und Gendarm spielen im<br />

Erwachsenenalter!<br />

Auch die hirnverbranntesten Durchhalteparolen <strong>der</strong> Nazis kurz vor<br />

Kriegsende ("Die Wun<strong>der</strong>waffen bringen die Wende! Der Führer hat<br />

den Glauben noch immer nicht verloren!") hatten objektiv mehr<br />

Realitätsgehalt als <strong>der</strong> Kampf "<strong>der</strong> Sechs gegen die 60 Millionen".<br />

Wir hatten alle den Film "Bonnie and Clyde" gesehen und wußten,<br />

wie das endet. Ich mochte übrigens auch den Film schon nicht. So<br />

wenig wie all die Remakes, bis hin zur feministischen Variante mit<br />

Susan Sarandon und Gena Davies. Was soll immer dieser Irrsinn?<br />

Mit einer Handvoll Leute gegen Millionen von Staatsdienern<br />

anrennen - nein Danke. Außerdem mochte ich unseren Staat. Ich<br />

mochte Deutschland. Ich fand es toll, wie alles funktionierte. Und<br />

wie klug und gebildet alle waren. <strong>Auf</strong> meinen Tramp- und<br />

Interrailreisen durch die Welt hatte ich als Teenager auch an<strong>der</strong>es<br />

gesehen. Ich liebte Werner Höfers Frühschoppen und die<br />

Bundestagsübertragungen im Fernsehen. Natürlich war ich Linker,<br />

aber nur, weil <strong>der</strong> Geist nun einmal links stand. Bei den Rechten<br />

gab es keinen Geist. Das war so. Ich war in die CDU Hamburg<br />

eingetreten und noch während <strong>der</strong> ersten Versammlung<br />

luftschnappend wie<strong>der</strong> rausgelaufen. Was für ein Pack! Mit denen<br />

konnte man sich nicht an einen Tisch setzen, als edler Mensch. Die<br />

Genossen in <strong>der</strong> Basisgruppe waren da wahrlich feiner. Von <strong>der</strong><br />

Basisgruppe ging ich z<strong>um</strong> marxistischen Studentenbund und von<br />

da zu einer Jugendgruppe, die einer K-Gruppe angeschlossen war.<br />

Irgendwann war die Jugend zuende und ich trat in die SPD ein. Ich<br />

hatte aber, noch min<strong>der</strong>jährig, geheiratet. Und meine Frau, bei <strong>der</strong><br />

Hochzeit 16, nun 20 Jahre alt, war noch nicht soweit. Sie war<br />

noch nicht bei <strong>der</strong> SPD. Son<strong>der</strong>n gerade in <strong>der</strong> Anarcho-Phase, als<br />

<strong>der</strong> sogenannte Deutsche Herbst losbrach.<br />

116


Und, ich muß es gestehen, es gab Gleichaltrige, die immerhin<br />

fasziniert waren von dem Thema. Leute, die heutzutage bei<br />

ATTAC wären. Der Grund, war<strong>um</strong> junge Leute marxistischökonomisch<br />

und international denken, ist immer <strong>der</strong> gleiche: <strong>der</strong><br />

Marxismus erklärt, wie die Welt funktioniert. Das will man einfach<br />

wissen, wenn man ein Gehirn hat. Danach kann man Rechtsanwalt,<br />

Politiker, Zahnarzt werden, o<strong>der</strong> Autor. Man muß danach nicht<br />

Selbstmord machen, mit einer Bombe im Rucksack. Das hat Marx<br />

nicht gewollt.<br />

Doch z<strong>um</strong> Thema. Diese jungen Leute trafen sich immer im<br />

Hinterzimmer eines Lokals mit meiner Frau und steckten die Köpfe<br />

zusammen. Ganz erhitzt kam sie immer zurück. Ihr großes Wort<br />

war damals "Anarchismus". Wir lebten in einer zeittypischen<br />

Doppel-Wohngem<strong>eins</strong>chaft mit Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen und seiner<br />

Frau. Die aber, die stadtbekannt kluge Nicola ("Nici") Die<strong>der</strong>ichsen,<br />

war älter als er und stand bereits turmhoch über den R.A.F.-<br />

Kin<strong>der</strong>eien. Sie interessierte sich für Literatur und arbeitete für<br />

Uwe Nettelbecks Zeitung 'Die Republik'.<br />

Im Fernsehen verfolgten wir die Schleyer-Entführung. Wir sahen<br />

damals viel fern, waren ohnehin mediensüchtig, und besprachen<br />

immer alles. Da wir in zwei Wohnungen lebten, telefonierten wir<br />

auch viel. Das Ortsgespräch (*) war nach <strong>der</strong> ersten Einheit<br />

kostenlos. Die<strong>der</strong>ichsen und ich sprachen geschätzt vier Stunden<br />

pro Tag, die meisten davon am Telefon. Ich war dazu<br />

übergegangen, mir den Hörer mit einer speziellen Apparatur an<br />

den Kopf zu binden. Natürlich fanden wir den deutschen Herbst<br />

ganz beson<strong>der</strong>s aufregend. Dennoch interessierte uns schon<br />

damals Literatur mehr: Benn, Jünger, Hamsun, Céline, Pound waren<br />

unsere Helden, und Thomas Mann aus "Ansichten eines<br />

Unpolitischen". Wir erwogen, Reitunterricht zu nehmen und<br />

nachträglich <strong>der</strong> Bundeswehr beizutreten. Ich sprach mit meiner<br />

Frau nicht ein einzigesmal über ihren Anarchismus und hoffte<br />

inständig, diese pubertäre Phase möge sich bald in Nichts<br />

auflösen, so wie die blöden MAD- und Titanic-Hefte auf dem<br />

Gem<strong>eins</strong>chaftsklo.<br />

Doch - weit gefehlt. Eines Tages klingelte die Polizei und führte<br />

meine Frau ab. Sechs Beamte durchsuchten die Wohnung nach<br />

weiteren Frauen. Ich hatte aber nur die eine (damals). Dann wurde<br />

117


sie eingesperrt. Im Fernsehen fiel z<strong>um</strong> erstenmal mein Name. Die<br />

Kamera zoomte auf ein Klingelschild, und auf dem stand dieser<br />

mein guter Name! Es war das sogenannte Volksgefängnis, in dem<br />

Hanns-Martin Schleyer gefangen gehalten worden war. Ich war nur<br />

froh, dass sie ihn nicht auch mit meinem Volkswagen Käfer<br />

her<strong>um</strong>gefahren hatten. Seltsam, dass sie nicht mich, son<strong>der</strong>n<br />

meine Frau verhaftet hatten. Die Beamten kamen noch ein<br />

zweitesmal, und sie waren wie<strong>der</strong> sehr höflich, durchsuchten<br />

nochmal alles, aber immer mit "bitte" und "danke" und ganz<br />

unsicher. Ich hatte nicht eine Sekunde Angst, sie könnten<br />

naheliegen<strong>der</strong>weise MICH suchen. Nein, das war unser Staat. <strong>Mein</strong><br />

Staat. Dieselben Leute, die mir immer den Weg gezeigt hatten,<br />

wenn ich mich als Kind verlaufen hatte (ich habe eine<br />

Orientierungsstörung). <strong>Mein</strong>e Frau wurde bald wie<strong>der</strong> entlassen, ich<br />

glaube schon nach einer Nacht, und wirkte nicht wirklich<br />

tra<strong>um</strong>atisiert. Sie empörte sich abstrakt darüber, DASS sie<br />

verhaftet wurde, aber nicht über das Erlebte selbst. Das muß wohl<br />

<strong>halb</strong>wegs überlebbar, wenn nicht sogar mo<strong>der</strong>at gewesen sein.<br />

Wahrscheinlich wie<strong>der</strong> mit "Bitte" und "Danke" und Einzelkabine<br />

und Fernseher und "Es tut uns so leid, gnädige Frau". Ich wußte<br />

doch, wie sie einmal ausgetickt war, als wir in einer häßlichen<br />

Jugendherberge übernachten mußten.<br />

Wir lebten alle weiter wie zuvor. Immer häufiger wurde das<br />

Klingelschild mit meinem Namen gezeigt. So häufig wie <strong>der</strong> Audi<br />

mit dem offenen Kofferra<strong>um</strong>, <strong>der</strong> dicke Mann mit den Schmissen<br />

im Gesicht und dem R.A.F.-Pappschild hinter ihm, die<br />

Fahndungsfotos von Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Es<br />

fehlte bei keiner Berichterstattung über Terrorismus in<br />

Deutschland. Endlich kam die <strong>Auf</strong>klärung. Wie<strong>der</strong> kam die Polizei,<br />

zwei unsichere Endvierziger, Mütze in <strong>der</strong> Hand, die an<strong>der</strong>e an <strong>der</strong><br />

Hosennaht. Ja, pardon, räusper, also wir seien fünf Wochen lang<br />

abgehört worden. Das würde uns aber noch schriftlich mitgeteilt<br />

werden. Und natürlich stehe uns Schadensersatz zu.<br />

Schadensersatz?!<br />

Ja, natürlich, und das Formular hätten sie gleich mitgebracht. Für<br />

den Antrag dazu.<br />

Wir verzichteten dankend. Sie hatten also fünf Wochen lang<br />

täglich geschätzte vier Stunden die überkandidelten Gespräche<br />

118


zwischen Die<strong>der</strong>ichsen und dem jungen <strong>Lottmann</strong> mitgeschnitten,<br />

sauber abgetippt und analysiert. Deswegen wußten sie auch<br />

tausendprozentig, dass die ganze WG nichts mit dem Terrorismus<br />

zu tun hatte. Die RAF hatte diese 'Volksgefängnis' genannte<br />

Wohnung zwar auf den Namen meiner Frau angemeldet - daher<br />

das '<strong>Lottmann</strong>' - aber nur mit Hilfe ihres gestohlenen<br />

Personalausweises. Den hatten ihr brutalere Anhänger <strong>der</strong><br />

Bewegung bei einer <strong>der</strong> vielen bierseligen Anarcho-Féten wohl<br />

stiebitzt.<br />

Mir fuhr nicht einmal nachträglich <strong>der</strong> Schreck in die Glie<strong>der</strong>. Ein<br />

Staat ohne diese peniblen Geheimdienste hätte uns bis an unser<br />

Lebensende verdächtigt, sozusagen zu recht. Denn sprach nicht<br />

sehr viel gegen uns? Ein Staat wie die USA hätte uns jahrelang<br />

eingesperrt, wie Kurnaz, und ich könnte noch heute kein Flugzeug<br />

besteigen, nicht einmal nach Rimini o<strong>der</strong> zurück nach Hamburg.<br />

Aber so erfuhr ich im Wortsinne hautnah, dass <strong>der</strong> Rechtsstaat vor<br />

allem für die Unschuldigen da ist. Nur eine Nacht lag meine liebe<br />

Frau nicht neben mir, die, es soll nicht unerwähnt bleiben, nie in<br />

die SPD eintrat. Son<strong>der</strong>n in die CDU.<br />

Es kamen die 80er Jahre, dann die Wie<strong>der</strong>vereinigung, und das<br />

Thema Baa<strong>der</strong>-<strong>Mein</strong>hof verschwand aus dem Blickfeld wie jedes<br />

an<strong>der</strong>e 70er Jahre Thema, etwa <strong>der</strong> Neue-Heimat-Skandal. Es war<br />

tiefste, muffigste Vergangenheit. Rainald Goetz war <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong><br />

den Kult-Faktor ausgrub, o<strong>der</strong> es versuchte. Er schrieb den Roman<br />

'Kontrolliert'. Es wurde sein einziges schlechtes Buch. Im neuen<br />

Jahrtausend häuften sich dann die Filme, es wurde Mode. Die 'Lola<br />

rennt' Generation hatte da irgendwas mißverstanden. Diese<br />

harmlosen Filmchen (zuletzt Julia Jentsch in "Die fetten Jahre sind<br />

vorbei") zeigen junge Rebellen, die "sich alles nehmen und zwar<br />

sofort", geistige Brü<strong>der</strong> von Belmondo in 'Außer Atem'. Komplett<br />

dämlich. Peinlich eben, wie ich anfangs sagte.<br />

Die Mode hörte auf, als ECHTE Terroristen z<strong>um</strong> globalen<br />

Großangriff antraten. Und das Fanal dazu war entgegen <strong>der</strong><br />

landläufigen <strong>Mein</strong>ung nicht das Olympia-Attentat in München,<br />

historisch gesehen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Ausgang des zweiten Irak Krieges.<br />

Erst seitdem, also erst seit ein, zwei Jahren, sind Attentate keine<br />

Ereignisse mehr, son<strong>der</strong>n Alltag. Und Alltag kann niemals Kult sein.<br />

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Logisch also, dass jetzt, wo die RAF endlich semiotisch tot ist, <strong>der</strong><br />

Schlußstrich gezogen wird. Christian Klar ist kein böser Geist mehr.<br />

Er ist nicht einmal <strong>der</strong> späte Rudolf Heß in Spandau. Er ist ohne<br />

jede geistige o<strong>der</strong> spirituelle <strong>Auf</strong>ladung herabgesunken zu bloßer<br />

banaler Körperlichkeit. Ein armes Schwein sozusagen. Er weiß es<br />

noch nicht, wird es aber binnen Wochen merken, wenn Köhler ihn<br />

hat laufen lassen.<br />

Was er unbedingt tun muß. Gerade arme Schweine bedürfen<br />

<strong>der</strong> Gnade.<br />

22. Berlin, Augustrasse 2007<br />

Der deutsche Mensch hat sein letztes großes, alleiniges Thema gefunden:<br />

das Klima. Und <strong>der</strong> Schutz desselben. Es dröhnt einem <strong>um</strong> die Ohren, es<br />

hört nicht mehr auf, man kann ihm nie mehr entrinnen? Doch, im<br />

Parallelunivers<strong>um</strong> <strong>der</strong> Kunst wird noch mehr verhandelt als <strong>der</strong> Auspuff<br />

meines Autos. Es ist eine Welt, in die man flüchten könnte. Man müßte<br />

nur in die Auguststraße in Berlin Mitte ziehen. Und eine <strong>der</strong> dortigen<br />

63 Galerien übernehmen (Wohnra<strong>um</strong> dürfte ka<strong>um</strong> noch zu finden sein).<br />

"So sehen Künstler aus", denkt man kopfschüttelnd und zwängt sich an<br />

den Gartenstühlen vorbei, die auf dem schmalen Bürgersteig neben <strong>der</strong><br />

ebenso schmalen Fahrrinne mit dem Kopfsteinpflaster von 1820 stehen.<br />

Überall Galerien, überall Cafés, überall US-amerikanische Alltagssprache,<br />

überall Gartenstühle. Nur das Kopfsteinplaster hört nach <strong>der</strong><br />

<strong>Joachim</strong>straße auf und weicht einer frischen, fast noch dampfenden<br />

Asphaltdecke, wahrscheinlich auf Wunsch <strong>der</strong> Anwohner angelegt, die ihre<br />

Smarts, Auris und Jeeps nicht mehr achsbruchmäßig gefährden wollten.<br />

Im ersten Teil <strong>der</strong> Augustrastraße gibt es sogar noch Plattenbauten, in<br />

denen dann theoretisch sogar noch "Ossis" wohnen könnten, aber eine<br />

Kollegin vom Tagesspiegel, die das vor vier Jahren recherchiert hat, winkt<br />

ab: Schon damals hätte sie nur einen einzigen Vorzeige-Ossi gefunden,<br />

120


eine 90jährige Frau. Den Anteil <strong>der</strong> im Scheunenviertel verbliebenen<br />

Urbevölkerung taxiert sie auf ein Prozent.<br />

Ein Drittel des Völkchens im Galerienviertel bestehe aus den berühmten<br />

jungen Familien mit Kin<strong>der</strong>n, über die ja schon so viel berichtet wurde.<br />

"Kin<strong>der</strong> kriegen" war ja das Vorläufer-Mediending, bevor "Klima" kam.<br />

Zwei Drittel haben immer noch keine Kin<strong>der</strong>, aber dafür die Kunst.<br />

Ganz viel Kunst, ja am meisten davon, gibt es während <strong>der</strong> Galerientage,<br />

die gerade stattgefunden haben (27. bis 30. April). Unbemerkt von <strong>der</strong><br />

großen Öffentlichkeit hat sich hier eine Messe entwickelt, die längst<br />

bedeuten<strong>der</strong> ist als die Messen in Köln, Düsseldorf und Frankfurt.<br />

Dieses Jahr war es beson<strong>der</strong>s heftig, was an dem "Sahara-Sommer im<br />

April" (Bild Zeitung) lag. Es war heiß, die Nächte waren toll, die Menschen<br />

außer Rand und Band, und was an<strong>der</strong>so postwendend als<br />

Klimakatastrophe denunziert wurde, genossen die Kreativen & ihre<br />

Vermarkter in Mitte als Jahrhun<strong>der</strong>tfrühling.<br />

Begonnen hatte alles mit Dash Snow. Seine furchteinflößenden Plakate<br />

waren an jede freie Fläche an jedem Bauzaun - und Bauzäune gibt es<br />

immer viele dort - geklebt, Plakate, die einen schlimmen Yankee aus dem<br />

amerikanischen Sezessionskrieg zeigten, <strong>der</strong> offenbar wegen Mordes<br />

gesucht wurde. Ein Mann mit langen Haaren, manischen, bohrenden<br />

Augen, extrem willensstark wahrscheinlich, fähig, die Leadguitarre bei<br />

"Motörhead" zu halten, o<strong>der</strong> einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg<br />

durchzuziehen, gnadenlos. Dieser Mann war Dash Snow. In <strong>der</strong> Galerie<br />

Contemporary Fine Arts stellte er mehrere hun<strong>der</strong>t Arbeiten aus, die er<br />

allesamt im letzten Halbjahr angefertigt hatte. Er war befreundet mit<br />

Jonathan Meese, ja, er war sogar noch viel mehr als nur befreundet mit<br />

ihm. Was er genau war, wollte sich niemand, <strong>der</strong> seine Arbeiten gesehen<br />

hatte, vorstellen. Abends feierten sie gem<strong>eins</strong>am im Berliner Nachtleben,<br />

tanzten auf den Tischen, aßen im "Bonfini", provozierten die Leute,<br />

machten sich über die Angst <strong>der</strong> Deutschen vor Symbolen <strong>der</strong> Nazi-<br />

Diktatur lustig, machten aus Restaurants russische Polka-Stuben und aus<br />

dem ehrwürdigen "Grünen Salon" in <strong>der</strong> Volksbühne eine durchgeknallte<br />

Bauernhochzeit. Jonathan Meese! Dash Snow! Die Augen <strong>der</strong><br />

Kunstfreunde glänzten. Daniel Richter! Da glänzten sie noch mehr. Es gab<br />

für alles Steigerungen.<br />

Daniel Richter trat spätabends im "nbi" auf, in <strong>der</strong> nahen Schönhauser<br />

Allee. Holm Friebes Zentrale Intelligenz Agentur hatte ihn dorthin<br />

eingeladen, und vor kreischendem Intellektuellen-Publik<strong>um</strong> wurde <strong>der</strong><br />

junge Richter z<strong>um</strong> Löwenbändiger, <strong>der</strong> die Fragen von gleich einem <strong>halb</strong>en<br />

Dutzend fittester, bestens vorbereiteter Power-Emanzen zurückschlug und<br />

den Abend brachial an sich riß. Martin Kippenberger hätte es nicht besser<br />

hingekriegt; eher wäre er da untergegangen. Ach ja, und das Wichtigste<br />

zuletzt: auch Richter zeigte Arbeiten in <strong>der</strong> C.F.A., die ihren Sitz in <strong>der</strong><br />

Sophienstraße 21 hat, quasi ein Seitenarm <strong>der</strong> Auguststraße.<br />

Richter, Aushängeschild und N<strong>um</strong>mer Eins <strong>der</strong> international angesagten<br />

Leipziger Schule, erzielt zur Zeit jeden Preis, den er will. Man muß schon<br />

ein sehr konservativer und langweiliger Galerist sein, wenn man heute<br />

Gerhard Richter kauft und nicht Daniel. Solche Galeristen gibt es natürlich<br />

121


trotzdem, und zwar zu Hauf. Sie kommen aus New York, Amsterdam, Tel<br />

Aviv, und sie entdecken Berlin. Noch immer geblendet von den hohen<br />

Preisen, die die Vorgänger-Generation erzielt, Baselitz, Lüppertz, Polke,<br />

Immendorff, betrachten sie die neuen Deutschen, Tim Eitel, Neo Rauch,<br />

Andreas Gurski, Thomas Demand, vor allem aber Meese, Meese, und<br />

immer wie<strong>der</strong> Meese. Der malt so schön deutsch! Während Kippenberger<br />

noch titelte "Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen", fällt<br />

es bei Meeses Arbeiten verteufelt schwer, an etwas an<strong>der</strong>es zu denken als<br />

an den braunen Abgrund. Den <strong>der</strong> Künstler deswegen ja nicht gutheißt, im<br />

Gegenteil.<br />

Galerien sind weißgestrichene Rä<strong>um</strong>e, in denen keine Möbel stehen und<br />

auch sonst keinerlei Gegenstände, die ein Interesse wecken könnten, und<br />

in denen Bil<strong>der</strong> an den Wänden hängen. Manchmal stehen auch<br />

Skulpturen auf dem teppichlosen, neutral in Grau lackierten Boden. Die<br />

Wand zur (August-)Straße hin ist meist durchsichtig, also ein großes<br />

Schaufenster. Galerien verkörpern das Prinzip <strong>der</strong> Höflichkeit: "Après<br />

vouz, madam". Sie fühlen sich ganz im Dienste <strong>der</strong> Kunstwerke, wollen<br />

selbst ganz in den Hintergrund treten. Das macht alle dennoch im Ra<strong>um</strong><br />

befindlichen galerie-eigenen Details so sympathisch, etwa den weiß<br />

gestrichenen Stromzähler, den weiß abgedeckten Kin<strong>der</strong>schreibtisch <strong>der</strong><br />

diensttuenden Angestellten, o<strong>der</strong> die Angestellte selber, im weißen<br />

Hosenanzug, ohne Schmuck.<br />

Wie<strong>der</strong> draußen, ein paar Meter weiter im Auto zur nächsten Galerie,<br />

"Eigen + Art", Auguststraße 26. Fünf mitgenommene Kunstfreunde<br />

steigen lärmend aus, <strong>der</strong> Motor läuft noch, was nicht nötig wäre, also noch<br />

ein paar Sekunden länger, obwohl <strong>der</strong> Wagen schon eingeparkt ist, sauber<br />

auf dem Behin<strong>der</strong>tenparkplatz. Ein Anwohner h<strong>um</strong>pelt schmerzverzerrt<br />

heran, einer von diesem letzten Prozent wohl, ein Ureinwohner o<strong>der</strong> Ur-<br />

Anwohner? Ein Behin<strong>der</strong>ter, <strong>der</strong> seinen Parkplatz verteidigt? Ein<br />

Wie<strong>der</strong>gänger Herbert Wehners? Er brüllt, <strong>der</strong> Motor solle gefälligst sofort<br />

abgestellt werden, man wolle wohl mit dem Scheiß-CO2 das ganze Viertel<br />

verpesten. Er meinte: das ganze Welt-Klima.<br />

Man gehorcht. Aber lange wohnt <strong>der</strong> nicht mehr da. Rä<strong>um</strong>ungsklage läuft.<br />

Der neue Besitzer, eine Kult-Galerie aus München, hat Eigenbedarf<br />

angemeldet. "Eigen + Art" vertritt Tim Eitel, Neo Rauch, Martin E<strong>der</strong>,<br />

Birgit Brenner, Ricarda Roggan und zehn weitere Stars <strong>der</strong> Leipziger<br />

Schule. Sie haben sogar eine Verkaufsstelle in Leipzig. Die ganze<br />

Kunstwelt blickt auf diese Galerie, die aus dem Nichts heraus entstand.<br />

Lebenswerte Welten sind immer auch solche, in denen voraussetzungslose<br />

<strong>Auf</strong>stiege möglich, ja üblich sind. Johanna Neuschäffer diskutiert geduldig<br />

die Motive ihrer Künstlerin, mit leiser Stimme, eher still als beredt, damit<br />

die Arbeiten nicht bevormundet werden. Die junge Frau hat das naturrote<br />

Haar zurückgebunden. Das schöne Gesicht ist unbehandelt wie das auf<br />

einem altflämischen Gemälde. Ein weites, unscheinbares Kleid verhüllt den<br />

grazilen Körper. So entsteht <strong>der</strong> Wunsch, jemanden zu malen; nicht <strong>der</strong>,<br />

einen Drink auszugeben. Und so ist es wohl immer schon gewesen.<br />

Und abends wie<strong>der</strong> Party. Das machen nicht alle Galeristen mit. Auch<br />

nicht alle, die beruflich in Sachen Kunst in Berlin sind. Es ist ein Beruf,<br />

122


zuweilen hart, wenn die Messetermine sich häufen, wie gerade in diesen<br />

Monaten. Basel, Kassel, Venedig - alles drängt sich jetzt. Da muß man<br />

seine fünf Sinne zusammenhalten, an Frau und Kind denken. Aber die<br />

Künstler selbst MÜSSEN natürlich ausgehen. Und sie feiern härter als die<br />

sonstige Berliner Club-Szene, was auch sofort honoriert wird.<br />

Man hängt sich dran. Man unterstützt das. An den Galerientagen ist<br />

Ausgehen die erste Bürgerspflicht, wie Wilhelm Zwo es wohl formuliert<br />

hätte. Aber Galeristen und Sammler gehen gern essen. Am liebsten mit<br />

Künstlern, doch ohne sie gehts auch. Am liebsten in <strong>der</strong> Friedrichstraße im<br />

"Grill Royal", am Flußufer, o<strong>der</strong> in einem <strong>der</strong> vielen Lokale daneben, etwa<br />

dem "San Ricci".<br />

Es sind Lokale für das große Geld. Aber wie alles in Neu-Berlin bleibt es so<br />

erstaunlich menschlich. Keine Routine bisher, keine versnobten Kellner,<br />

elitären Gesten, ausschließende dress codes. Eine tolle, hochgewachsene<br />

Blondine im schwarzen Abendkleid weist einen ein, führt einen z<strong>um</strong> Tisch,<br />

kann aber dabei ka<strong>um</strong> gehen: das Kleid zwickt, die Schuhe sind zu groß,<br />

und eigentlich studiert sie Bühnenbild, Medienwissenschaften und<br />

Umweltästhetik an <strong>der</strong> H<strong>um</strong>boldt Uni. Dazu als Hobby wissenschaftlichen<br />

Buddhismus an <strong>der</strong> Fernuniversität von Lhasa.<br />

So eine würde an <strong>der</strong> Düsseldorfer Edelmeile "Kö" nicht Empfangsdame<br />

eines Fünf-Sterne-Restaurants werden können. In Berlin Mitte gerade.<br />

Wer würde sie hier nicht lieben?<br />

An den langen, mit doppelten Tischtüchern aus Damast bedeckten<br />

Tischen, sitzen wirklich attraktive und gebildete Frauen. Die Männer sehen<br />

teilweise häßlich aus, teilweise wie Models, aber die Frauen - ausnahmslos<br />

schön. Eine neue Kategorie von Mensch, international, selbstbewußt,<br />

natürlich. Die Top Partien dieser herrlichen Bel Etage müssen eben ALLES<br />

haben: Geschmack, Kapital, alten familiären Hintergrund - und gutes<br />

Aussehen. Die Männer müssen dazu noch erfolgreich sein. Die<br />

Mittdreißiger Erfolgsmänner tragen Britpopfrisuren und Maßanzüge, die<br />

eher spärlich eingestreuten Künstler erkennt man an den schulterlangen<br />

Haaren und dem Bemühen, wie <strong>der</strong> schon geschil<strong>der</strong>te abgehalfterte<br />

Südstaaten-General Dash Snow auszusehen:<br />

verroht und dem Wahnsinn nahe. Das gelingt lei<strong>der</strong> nicht jedem. Ist auch<br />

nicht leicht in diesem blitzsauberen 60er Jahre-Retro-Lokal, in dem <strong>der</strong><br />

spirit aus Leichtigkeit, Freiheit und absolut perfektem Stil einen anweht.<br />

Alle Frauen rauchen, was ihnen gut steht, und nichts ist verraucht, da<br />

Klimaanlage. Durch Panoramafenster sieht man draußen die Spree fließen.<br />

Rote 60er Jahre Lampen neben den Tischen machen das Licht gemütlich.<br />

Das ungekünstelte Lachen <strong>der</strong> Frauen, die sonoren Stimmen <strong>der</strong><br />

mächtigen Männer, natürlich keinerlei Musik, und machmal Satzfetzen, in<br />

denen Worte vorkommen wie Barbara Gladstone... Larry Googosian...<br />

David Zwirner... Anton Kern... et cetera... a nice place to be!<br />

Will man mit den Bil<strong>der</strong>n und <strong>der</strong> Kunst allein sein, muß man mittags<br />

kommen. Erst <strong>um</strong> elf Uhr öffnen die Galerien, vorher erholen sich ja die<br />

Nachtschwärmer noch vom Ausgehen. Es ist wichtig, mit <strong>der</strong> Kunst allein<br />

zu sein, denn sie gibt einem unendlich viel. Und es ist anregend, mehrere<br />

Galerien hintereinan<strong>der</strong> zu sehen. Z<strong>um</strong> Beispiel C.F.A., Hetzler, Arndt und<br />

123


Partner. Drei Galerien in drei Stunden. Bei C.F.A. wird man nur Snow<br />

schaffen, weil er so erschlagend ist. Eng gehängt, wun<strong>der</strong>bar gerahmt,<br />

hun<strong>der</strong>te und aberhun<strong>der</strong>te von Arbeiten, jede an<strong>der</strong>s und dennoch als<br />

von ihm gemacht erkennbar. Dazu hat <strong>der</strong> Typ seine Jugendbibliothek<br />

ausgestellt: tausende von crime-, sex- und blutrünstigen Esoteriktiteln,<br />

wie sie für US-Provinzkiffer typisch sind, und zwar zu allen Zeiten. Return<br />

of the body snatchers, Why the Germans are doing it again, Life of Charles<br />

Manson, Tarot and Future.<br />

Hier sehen wir ihn, den Bodensatz <strong>der</strong> amerikanischen Kultur, und unser<br />

langhaariger Großkünstler gibt ihm genialen Ausdruck. Das überzeugt,<br />

und er sieht ja auch aus wie das, worüber er arbeitet. Hier bietet sich <strong>der</strong><br />

Vergleich zu Thomas Hirschhorn an, <strong>der</strong> dieselben Intentionen hat, <strong>der</strong><br />

ebenfalls seine Jugendbibliothek ausstellt, nämlich bei Arndt & Partner,<br />

und <strong>der</strong> mit einer Unmenge von Leichenbil<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Gerichtsmedizin<br />

aufwartet, zerfetzte, blutüberströmte Körper allesamt.<br />

Aber bei Hirschhorn ist es nicht Satanismus- und Billignazi-Junk, den er in<br />

sein drogenzerfressenes Trashkultur-Hirn gepreßt hat, son<strong>der</strong>n Derrida,<br />

Alexan<strong>der</strong> Kluge, Diedrich Die<strong>der</strong>ichsen und Nietzsche. Und prompt wirken<br />

seine Leichenbil<strong>der</strong> nicht. Die ganze Installation wirkt entsetzlich<br />

ausgedacht, kalkuliert, und somit peinlich. Auch fehlt <strong>der</strong> Sex, den Dash<br />

Snow so im Übermaße ausschüttet, dass einem graust. Ein Grausen ohne<br />

Sex aber kann es nicht geben; das z<strong>um</strong>indest lehrt das Projekt<br />

Hirschhorns.<br />

Dieser Künstler bleibt daher ein Geheimtipp unter den deutschen<br />

Kunstbetrieblern. Die Amerikaner interessieren sich nicht dafür. Sie<br />

machen ihre Geschäfte, und sie verlieben sich in Berlin. Eben weil ihre<br />

Geschäfte hier so gut laufen. "Ich habe zwei Jonathan Meese gekauft!"<br />

strahlt Doron Sebbag aus Tel Aviv, seit 22 Jahren einer <strong>der</strong> großen<br />

Sammler weltweit. Er hatte schon fast alle Deutschen, die jemals die<br />

Millionengrenze durchbrachen: Gerhard Richter, Anselm Kiefer, Georg<br />

Baselitz, Andreas Gurski, Polke vor allem. Er geht mit seiner neuen Frau<br />

beschwingt nach Hause, Richtung Hotel. Er braucht heute kein clubbing<br />

mehr. Die gelben, kleinen, harmlosen Straßenlaternen <strong>der</strong> Auguststraße<br />

leuchten ihm, kein Retro-Look, son<strong>der</strong>n einfach übriggeblieben aus <strong>der</strong><br />

Honecker-Zeit. Er kommt an nicht weniger als drei neu errichteten<br />

Kin<strong>der</strong>spielplätzen vorbei. Das hat die beson<strong>der</strong>e Atmosphäre <strong>der</strong><br />

Auguststraße, ihren eigentümlichen Zauber, nicht vernichten können. Die<br />

niedrigen, fast mittelalterlich kleinen Häuser stehen links und rechts<br />

Spalier, im Dunkel wartend, also ka<strong>um</strong> beleuchtet, wie die alte<br />

Sophienkirche, die Familienkirche des letzten deutschen Kaisers. Dort ging<br />

Wilhelm II, vom nahen Stadtschloß aus (richtig, das nun wie<strong>der</strong>errichtet<br />

wird), mit seiner Familie zu Fuß z<strong>um</strong> Gottesdienst, am Sonntag Morgen,<br />

also, wenn Kaiserwetter war. So ähnlich fühlt sich jetzt wahrscheinlich<br />

auch Doron Sebbag, denn:<br />

Er hat zwei Jonathan Meese gekauft. Und die wird er noch haben, wenn<br />

alles z<strong>um</strong> Teufel gegangen ist. Das Klima z<strong>um</strong> Beispiel.<br />

124


23 Cruisen mit Oliver Pocher<br />

Oliver Pocher stellt seinen neuen DVD-Film „It´s my life“ vor, <strong>der</strong><br />

in zwei Teilen morgen und am Montag darauf (1. Und 8. Oktober<br />

2007) jeweils <strong>um</strong> 20.15 Uhr auf Pro Sieben gezeigt wird. Für<br />

diesen Zweck ist man z<strong>um</strong> Interview verabredet. Aber eigentlich<br />

ist <strong>der</strong> Tag viel zu schön für einen langweilen PR-Termin. Vor<br />

einem Straßenrestaurant in Berlin Charlottenburg steigt Oliver<br />

Pocher in einen neuen Mercedes-Benz 320 CLK AGRESSOR,<br />

Mietwagen, erst 1728 Kilometer gefahren, und fährt damit einmal<br />

quer durch Berlin bis z<strong>um</strong> Bötzowviertel. Er gibt eine Adresse in<br />

den Autopiloten ein und fährt dann tra<strong>um</strong>haft sicher z<strong>um</strong> Ziel, als<br />

würde <strong>der</strong> schwere offene Wagen selbst steuern. Das Wetter ist<br />

wun<strong>der</strong>bar, spätsommerlich, fast noch hochsommerlich, die<br />

Tageszeit von 12 Uhr mittags ideal z<strong>um</strong> Cruisen. Die teure Musik-<br />

Anlage p<strong>um</strong>pt Hiphop auf die Strasse, die Bräute draussen an den<br />

Ampeln erkennen ihn manchmal und machen Angebote. Pocher<br />

kennt je<strong>der</strong>. Seit ´Vollidiot´ ist er ein grösserer Star als Harald<br />

Schmidt, dessen Spielfilmversuche stets an <strong>der</strong> Kinokasse<br />

floppten.<br />

Das Interview führt <strong>der</strong> Star lässig über die Schulter. Die Fragen<br />

interessieren ihn nicht. Was soll dabei schon rauskommen? Einmal<br />

hält er vor dem Hotel Rom am Bebelplatz, springt aus dem Boliden<br />

ohne die Seitentür zu öffnen, spricht mit dem Pförtner, einem<br />

Zwei-Meter-Mann in Phantasie-Uniform. Ein Smoking wird<br />

herausgetragen. Pocher braucht ihn für eine Veranstaltung<br />

abends. Dann gibt er wie<strong>der</strong> Gas, <strong>der</strong> Benz gleitet am<br />

Brandenburger Tor entlang. Eigentlich verboten, aber für Stars<br />

125


seiner Größenordnung gelten stillschweigend an<strong>der</strong>e Regeln. Auch<br />

Tom Cruise darf ja plötzlich in den Bendlerblock, gibt Pocher zu<br />

bedenken. Den guckt man sich daraufhin gleich einmal an, den<br />

alten Nazi-Kasten.<br />

Ein Kind mit Ranzen läuft über die Straße. Pocher erkennt: kein<br />

Ranzen <strong>der</strong> Firma ´Scout´, son<strong>der</strong>n nur von ´Herlitz´, was ihn<br />

betroffen ausrufen läßt: „Ein Loser-Kind! Mit dem Herlitz-Ranzen<br />

kriegt es kein Bein auf die Erde.“ Er winkt die Mutter heran, gibt ihr<br />

40 Euro, nimmt ihr das Versprechen ab, dem Kind schnellstens den<br />

unverzichtbaren Status-Ranzen zu kaufen.<br />

Die Firma Adidas ruft auf dem Handy an und fragt, ob Pocher am<br />

kommenden Abend ein Champions-League-Spiel im Stadion sehen<br />

möchte. Pocher sieht gern Spiele live, natürlich nur die großen.<br />

Während <strong>der</strong> WM hat er elf Spiele besucht. Bezahlen muß er<br />

inzwischen nicht mehr. Das Interview:<br />

WamS: War VIVA Ihre erste Station als Entertainer?<br />

Pocher: Ich stand schon mit 18, 19 auf <strong>der</strong> Bühne. Aber gleich<br />

danach kam VIVA. Ich gehörte zur zweiten Generation, mit Jessica<br />

Schwarz, Nils Ruf. Heike Makatsch war schon weg, Collien<br />

Fernandez noch nicht geboren. VIVA war damals die einzige<br />

Möglichkeit, sich als Neuling zu profilieren.<br />

WamS: Schon ab 2000 wurden Sie immer wie<strong>der</strong> bei Harald<br />

Schmidt als Gast eingeladen. War das nur Sympathie, o<strong>der</strong> steckte<br />

mehr dahinter?<br />

Pocher. Eher Empathie. Harald Schmidt war nie mein Idol, denn ich<br />

habe keine. Wir machen auch heute nichts privat miteinan<strong>der</strong>,<br />

obwohl wir beide in Köln wohnen. Ich kenne noch nicht einmal<br />

seine Kin<strong>der</strong>.<br />

Wams: Kann sich das nicht än<strong>der</strong>n, wenn Sie demnächst<br />

zusammen die Show ´Schmidt & Pocher´ machen?<br />

Pocher: Dass ich bei ihm zuhause auftauche und seinen Kin<strong>der</strong>n<br />

Spielsachen mitbringe? Das kann er vergessen. Ich schätze ihn<br />

beruflich, aber das ist es dann auch schon.<br />

WamS: Vor <strong>der</strong> Kamera sieht das an<strong>der</strong>s aus. Man denkt, da sind<br />

zwei Menschen, die sich wirklich mögen.<br />

Pocher: Tja. Ganz Deutschland will jetzt immer Kommentare von<br />

mir z<strong>um</strong> Verhältnis zu Harald Schmidt, also <strong>der</strong> gem<strong>eins</strong>amen<br />

Show.<br />

126


Wams: Das ist doch auch verständlich. Es handelt sich <strong>um</strong> die<br />

beiden einzigen Entertainer mit Kultstatus. Es ist, als würden<br />

Bayern München und Schalke fusionieren.<br />

Pocher: Und Thomas Gottschalk?<br />

WamS: Thomas wer?<br />

Pocher: Thomas Gottschalk. Der war einmal richtig bekannt. Also<br />

meine Eltern haben den noch gekannt.<br />

WamS: Aber die sind ja auch Zeugen Jehovas. Haben Sie von Ihren<br />

Eltern diesen Schutz gegen jede Art von Ideologie?<br />

Pocher: Ja, das hat mich ziemlich abgehärtet. Ich glaube jetzt<br />

ka<strong>um</strong> noch was, auch nichts Politisches. Welche Partei an <strong>der</strong><br />

Macht ist – völlig egal.<br />

WamS: Aber wenn eine Partei mit verfassungsrechtlich<br />

fragwürdigem Hintergrund...<br />

Pocher: Klar. Immer dagegen. Unterschreib ich Ihnen sofort,<br />

wenn´s sein muß.<br />

WamS: Welche Partei wählen Sie denn?<br />

Pocher: Ich habe noch nie gewählt.<br />

WamS: Wen finden Sie denn gut? Wer ist Ihr Vorbild? Was ist Ihre<br />

Lieblingsmin<strong>der</strong>heit? Wen beneiden Sie am meisten? Guido<br />

Westerwelle? Katrin Bauerfeind? Anne Will?<br />

Pocher: Weiß nicht. Katrin Bauerfeind telepromtet nur. Anne Will<br />

macht es auch nicht an<strong>der</strong>s als ihre Vorgängerin. Neues Studio,<br />

alte Gesichter. Kurt Beck und solche Visagen, nee!<br />

WamS: Im Gegensatz zu den ´Scheibenwischer´-Leuten machen<br />

Sie ka<strong>um</strong> Witze über Politiker. Nicht einmal über Edmund Stoiber.<br />

Pocher: Stoiber ist ein Mann, <strong>der</strong> nur noch fällt und fällt und fällt.<br />

Der tut mir leid. Den ruft keiner mehr an, wenn er nächste Woche<br />

in Pension geht. War<strong>um</strong> sollte ich über den Witze machen? Die<br />

Sendung ´Scheibenwischer´ läßt mich kalt.<br />

WamS: Sie selbst haben ja auch mit einer Behin<strong>der</strong>ung zu kämpfen:<br />

Sie kommen aus Hannover.<br />

Pocher: Hannover hat nur inner<strong>halb</strong> Deutschlands diesen<br />

Schrecken. Aber es ist auch nicht schlechter als Teheran,<br />

beispielsweise. Man muß das relativieren.<br />

WamS: Welche Gäste hätten Sie denn gern in <strong>der</strong> neuen Sendung?<br />

Pocher: Da bin ich völlig schmerzfrei. Alle dürfen kommen. Ich habe<br />

keine Lieblingsgäste.<br />

127


WamS: Klingt wie von einem großen Führer. Wie Jesus, <strong>der</strong> sagt,<br />

lasset die Kindlein zu mir kommen.<br />

Pocher: Echt? Das freut mich.<br />

WamS: Ein grosser Führer schließt keinen aus. Fidel Castro z<strong>um</strong><br />

Beispiel liebt das ganze Volk, von den Schwulen einmal abgesehen,<br />

da ist er noch beim alten Denken.<br />

Pocher: An<strong>der</strong>s geht es auch gar nicht. Es gibt in allen Schichten<br />

nette Leute und nervige. Man muß vorurteilslos seinen Job tun.<br />

WamS: Wie ist Ihr Verhältnis zu den Frauen?<br />

Pocher: Bin seit drei Jahren, sechs Monaten und zwölf Tagen in<br />

festen Händen.<br />

WamS: Wieviel haben Sie denn noch, bis Sie rauskommen?<br />

Pocher: Bin ganz zufrieden soweit, mit <strong>der</strong> Monika.<br />

WamS: Was bringt Sie dazu, morgens freudig aufzustehen und zu<br />

arbeiten? Worauf freuen Sie sich im Leben?<br />

Pocher: Dass wir Europameister werden, und dass 96 international<br />

spielt 2008.<br />

WamS: Noch einmal zu Harald Schmidt: Sie hatten letzte Woche<br />

den ersten gem<strong>eins</strong>amen Pressetermin. Es hieß, die Stimmung sei<br />

prächtig. Schmidt sah man an, dass er glänzend drauf war. Auch<br />

Sie äusserten sich sehr optimistisch. Worauf gründet sich das?<br />

Pocher: Bewußt o<strong>der</strong> unbewußt gibt es da viele Gem<strong>eins</strong>amkeiten.<br />

Wir haben die gleiche Art, medial mit den Sachen <strong>um</strong>zugehen.<br />

WamS: Etwa mit den wenigen global-interest-stories, die jeden Tag<br />

von allen Medien hochgekocht werden, Paris Hilton, Lindsey Lohan,<br />

Britney Spears, Pete Doherty, die entführte Madelaine?<br />

Pocher: Das ist schon ein Ding, wie die Eltern sich da vor jede<br />

Kamera gedrängt haben. Das hat sich echt gelohnt: eine Million<br />

Pfund Spendengel<strong>der</strong>, den Papst getroffen, David Beckham<br />

getroffen...<br />

WamS: Macht es wirklich Spaß, auf diesen Zug aufzuspringen?<br />

Immer dieselbe Handvoll blö<strong>der</strong> Idioten?<br />

Pocher: Die Medien sind so. Die ganze Welt ist eine mediale<br />

Verschwörung.<br />

WamS: Es wird niemals wie<strong>der</strong> besser? Auch nicht, wenn Bush<br />

abgewählt wird?<br />

Pocher: Dann kommt vier o<strong>der</strong> acht Jahre später wie<strong>der</strong> einer, <strong>der</strong><br />

genauso am Rad dreht wie Bush.<br />

128


WamS: Wie hoffnungslos.<br />

Pocher: Ich glaube an jede Verschwörung. Dass sie Bin Laden in<br />

sechs Jahren nicht finden, ist völlig unsinnig. Wo ich mit Google<br />

Earth schon meinen Eltern aufs Dach schauen kann. Amerika<br />

braucht diesen Feind, hat ihn erfunden. Es ist alles manipuliert,<br />

alles, alles! Und zwar mit Hilfe des Fernsehens. Das Fernsehen ist<br />

die allesentscheidende Macht geworden. Eine Islamgefahr gibt es<br />

nicht, ist schwerer Blödsinn. Es geht null <strong>um</strong> den Islam, son<strong>der</strong>n<br />

immer <strong>um</strong>s Geld. Geschäfte müssen gemacht werden, und das<br />

klappt ja auch immer besser.<br />

Musiklandschaften<br />

23. Echo Verleihung in Berlin<br />

Diese alten Menschen mitten im Terrain <strong>der</strong> Jugend, diese Perversen, das<br />

hat mich immer schon abgestoßen. Diese ewigen Ralph Siegels und Katja<br />

Epst<strong>eins</strong>: brrr! Das war schon vor zehn Jahren, vor zwanzig, vor - ja,<br />

wann hat es eigentlich angefangen? Daß solche fetten Hausmeister-Typen<br />

wie Grönemeyer in Jugendsendungen auftraten und verlogener charity das<br />

Wort redeten? Bleiben wir einfach beim Samstag, dem Tag also, als <strong>der</strong><br />

Papst starb. Genau zu <strong>der</strong> Zeit wurde <strong>der</strong> sogenannte 'Echo' verliehen,<br />

angeblich <strong>der</strong> zweitwichtigste Musikpreis <strong>der</strong> Welt. Nach dem 'Grammy',<br />

<strong>der</strong> sicherlich ka<strong>um</strong> besser ist. Dieselbe verlogene Scheiße, wenn Sie mich<br />

fragen. Industrie-Dreck von alten Säcken, gemacht für sie selber, aber<br />

falsch etikettiert als 'angesagte Musik'.<br />

Zur Realität: Das abgelaufene Jahr war das Jahr <strong>der</strong> jungen<br />

deutschsprachigen Musik. Es war phänomenal. Nie zuvor hatte es das<br />

gegeben: dass deutsche Gruppen mehr verkauften als englische.<br />

Stichwort Silbermond, Juli, Wir sind Helden, Dresden Dolls, all die<br />

an<strong>der</strong>en. Würden trotzdem wie<strong>der</strong> Ladenhüter wie Peter Maffay, Udo<br />

Jürgens o<strong>der</strong> gar noch ältere die Preise 'abrä<strong>um</strong>en'? Erneut Katja Epstein?<br />

Immer noch Rex Gildo, posth<strong>um</strong>? O<strong>der</strong> so ein Depp wie Gildo Horn? O<strong>der</strong><br />

Schnappi das Nilpferd? Ich ließ mich gern überraschen, was die alten<br />

Kulturbetriebler diesmal für zeitgemäß hielten.<br />

129


Als erstes wird Antja Vollmer, die Alterspräsidentin des Bundestages,<br />

begrüßt. Der Papst lebt zu dem Zeitpunkt noch, war<strong>um</strong> nicht auch sie.<br />

Dann Klaus Wowereit, <strong>der</strong> Bürgermeister. Der Saal ist übrigens riesig, faßt<br />

tausende von Krawatten- und Anzugträgern, weißhaarige Burschen<br />

z<strong>um</strong>eist wie im Parlament. Selbst die 'jungen' unter ihnen sind über 30<br />

und stecken in speckigen schwarzen Kombinationen wie Blutwürste in <strong>der</strong><br />

Pelle. Nirgendwo Farbe. Als einer in einem bordeauroten Anzug auftaucht,<br />

lachen die Fotografen. Überhaupt die Fotografen: Sie ersetzen die Jugend<br />

komplett. Sie kreischen bei jedem Promi wie früher die Mädchen bei<br />

Robbie Williams.<br />

Die einzige authentische junge Person ist Yvonne Catterfeld. Diese<br />

Augenstellung! Sie ist wirklich nett. Doch wenige Sekunden später taucht<br />

schon Thomas Gottschalk in Le<strong>der</strong>montur auf. Lange Haare, jung<br />

geblieben wie 1972. Avril Lavigne, 22, die letzte Pubertierende des<br />

Erdballs, ist zwar nominiert, wird aber mit keinem Wort mehr erwähnt (fix<br />

rausgewürfelt). Millionen Fans unter Schülerinnen? Unwichtig! Kein<br />

Arg<strong>um</strong>ent gegen Peter Maffay! Die Kamera fängt sein stoisches<br />

Indianergesicht immer wie<strong>der</strong> ein, als wäre er als Konrad Adenauer<br />

wie<strong>der</strong>auferstanden.<br />

Natürlich gewinnt den ersten 'Echo' die mit Abstand scheußlichste Person<br />

aller Zeiten, 'Anastacia', sprich: anästeyischia. Ein blutleerer Brüllelefant<br />

ohne Hirn. Röhrt wie ein Hirsch, kann aber eine Zeitung we<strong>der</strong> von vorne<br />

noch von hinten lesen. Die abgefuckte Alte sieht aus wie 45, wie die<br />

dominante Mutter vom Wowereit, <strong>der</strong> wie<strong>der</strong><strong>um</strong> wie 25 aussieht. Gott,<br />

was für ein Haufen! Was hat das alles mit Jugendkultur zu tun? Na alles,<br />

aber mit Jungsein nichts.<br />

'Live act' bedeutet hier peinlichstes play back. Nena singt ihren neuesten<br />

Song, im Zebra-Minikleid, bewegt sich wie eine 17jährige. Das macht sie<br />

aber so <strong>um</strong>werfend komisch und raffiniert, daß ich sie zu den drei<br />

Pluspunkten des Abends rechne. Die an<strong>der</strong>en beiden: <strong>der</strong> <strong>Auf</strong>tritt Ulf<br />

Pochers und <strong>der</strong> des Kabarettisten Mittermeier. Tatsächlich ist ja das<br />

Potential so groß wie nie. Man läßt sie nur nicht ran, die Jungen. Als<br />

'Silbermond' am Ende einmal danke sagen dürfen, spürt man, welcher<br />

Stromschlag augenblicklich in die toten Fernsehkästen rast. Es ist, als<br />

reiße <strong>der</strong> Schleier <strong>der</strong> Gerontokraten für Minuten auf, als verbrennten sich<br />

die<br />

Reinhard Mays (nominiert), Westernhagens (spielte seine neue Single),<br />

Phil Collins (nominiert), Marianne Rosenbergs und so weiter die gierigen<br />

Finger. Elende Krämerseelen! Von denen hat keiner eine Idee, eine Aura,<br />

ein Herz - und schon gar keine Bedeutung. Da steht keiner für etwas,<br />

außer natürlich für das Alter, also Beharrung, Stillstand, Denkverbot,<br />

Repression. Es ist Mist, was sie uns hinhalten! War<strong>um</strong> sagt das keiner?<br />

Seit 35 Jahren dürfen sie dröhnend auf <strong>der</strong> Stelle treten, und niemand ist<br />

da, <strong>der</strong> mit dem Finger auf sie zeigt und "<strong>Auf</strong>hören!" ruft.<br />

Das Publik<strong>um</strong> ist stattdessen total mau. Keinerlei Resonanz. Tödlich! Der<br />

Mo<strong>der</strong>ator Oliver Geissen ist freilich keiner, <strong>der</strong> das Eis z<strong>um</strong> Schmelzen<br />

bringt. Ein KFZ-Verkäufer, keine Spur jugendlich o<strong>der</strong> gar charmant, nur<br />

130


abgewichst und unsympathisch. Einfach ein weiterer korrupter, schlechter<br />

Mensch, wie fast alle im Saal. Außer Barbara Schöneberger natürlich.<br />

Echo für Echo wird verliehen. Andrea Berg, 45, gewinnt einen. Sie tritt<br />

<strong>halb</strong>nackt auf, ein handbreiter Minirock und ein offenes Top, schmettert<br />

maskulin ins Mikro: "Ich widme diesen Echo einem ganz beson<strong>der</strong>en<br />

Menschen: meinem Produzenten!" Das haben vor ihr schon an<strong>der</strong>e getan<br />

und tun nach ihr einmütig alle: Sie danken ihrem Produzenten, ihrer<br />

Produktionsfirma, ihrem Management und ihrer PR-Abteilung. Klar, weil es<br />

schließlich alles ein Werk dieser Spießer ist, was sie da vortragen. Ein<br />

schriller Zynismus eigentlich, daß all diese Marionetten immer wie<strong>der</strong> als<br />

'Künstler' tituliert werden an diesem Abend, meist mit dem Adjektiv<br />

'wun<strong>der</strong>barer Künstler'. Das Wort 'wun<strong>der</strong>bar' wird inflationär oft<br />

gebraucht. Ein zweites Adjektiv fällt den Mo<strong>der</strong>atoren wohl partout nicht<br />

ein zu den Zombies. Muß man verstehen.<br />

Peter Maffay hat den längsten Act. Le<strong>der</strong>hose, offenes Hemd, 60 Jahre.<br />

Auch die Mitstreiter sind ka<strong>um</strong> jünger. Tattoos überall, Ketten, esoterische<br />

Zeichen, Schwarzhemden - <strong>der</strong> Geschmacksfaschismus <strong>der</strong> Ewiggestrigen<br />

sozusagen. Die immer gleichen Riffs, in 30 Jahren nicht einen Ton<br />

dazugelernt. Wer soll da klatschen, wer soll da kreischen? Wie<strong>der</strong> nur die<br />

Fotografen, später, wenn sie ihr Bild brauchen. Es sind Hun<strong>der</strong>te da,<br />

Hun<strong>der</strong>te auch von schreibenden Journalisten, aber wie<strong>der</strong> wird nicht<br />

einer einen einzigen Satz schreiben, <strong>der</strong> lesenswert wäre. Verkommene<br />

Gesellschaft!<br />

Dann Aneet Louisan, Großväterchens Liebling. Wenn die 45jährigen heute<br />

wie 35 daherkommen, so die 17jährigen wie 7jährige: "Ich will doch nur<br />

spieln, ich tu doch nichts...". Schwamm drüber (sie gewinnt gleich<br />

mehrere Echos). Hansi Hinterseer ist nominiert, die Höhner auch. Das sind<br />

die Jecken, die an Karneval diese Sendungen "Höhner - die ersten 30<br />

Jahre" bestreiten. Hansi Hinterseer ist jünger, ein kraftstrotzen<strong>der</strong> Bergfex<br />

von höchstens 50. Dann die Kastelruther Spatzen, dann die Randfichten.<br />

Und die Beastie Boys, direkt aus <strong>der</strong> Familiengruft geholt. Die sollen<br />

gerade erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhun<strong>der</strong>ts hip gewesen<br />

sein. Auch Rammstein wird nun entdeckt, zehn Jahre zu spät, und die<br />

Boehsen Onkelz, 15 Jahre zu spät. Doch nun kommt das Irrste: Al Green<br />

ist doch tatsächlich angereist. Ja, genau, <strong>der</strong> 20jährige Superstar aus<br />

USA! Die heißeste Sache weltweit - aber er wird nicht erkannt, nicht<br />

beachtet. Kein Fotograf schreit. Und als dann doch alle schreien wie am<br />

Spieß, dreht sich Al Green lächelnd zu <strong>der</strong> Meute und sieht, daß sie nicht<br />

ihn, son<strong>der</strong>n Jenny Elvers meinen, die zufällig hinter ihm steht.<br />

Das ist <strong>der</strong> Echo, besser kann man es nicht zeigen. Die Ärzte sind<br />

natürlich wie<strong>der</strong> nominiert, sodaß irgendwann nur noch die Toten Hosen<br />

fehlen. Udo Jürgens quakt wie<strong>der</strong> am Klavier und danach noch lange ins<br />

Mikro. Schade, <strong>der</strong> Mann hat eigentlich ein gutes Gespür für die Jugend.<br />

Insgeheim findet er sich und seine Rolle hochnotpeinlich. Als er einmal mit<br />

<strong>der</strong> russischen Lesbengruppe tATu in eine Talkshow gesperrt wurde, war<br />

er als einziger von den originären 19jährigen angetan. Es tat ihm<br />

ersichtlich weh, wie Gottschalk den üblichen grienenden Altersspott über<br />

sie ergoß. Aber jetzt ist wohl eh alles egal, die Pferde gehen mit ihm<br />

131


durch, mit Udo Jürgens, und er hält eine endskrass ödende Laudatio auf<br />

irgendeinen Musikindustrie-Knecht, <strong>der</strong> Musicals von Anrew Lloyd Webber<br />

ins Deutsche übersetzte. Einen Knilch von mindestens 70, schlohweiß das<br />

Haar, unsexy die Goldrandbrille. Der absolute Tiefpunkt ist erreicht.<br />

Schlimmer gehts nun nimmer. Genau in dem Moment stirbt <strong>der</strong> Papst. Die<br />

Erlösung.<br />

Das Fernsehen bricht die unmuntere Sendung augenblicklich ab. Doch<br />

hoppla - eine After-Party ist ja noch auf dem Programm. Die müßte nach<br />

dieser Logik natürlich erst recht abgesagt werden. Aber nein, die Party ist<br />

wohl unverzichtbar. Ich merke schnell, war<strong>um</strong>. Weitere Heerscharen von<br />

Senioren strömen nämlich herbei. Es müssen auf jeden Fall mehrere<br />

Tausend sein. Vielleicht Leute, die für die Verleihung keine Karten o<strong>der</strong><br />

VIP-Ticket kriegten und nun erst recht die Prominenten sehen wollen.<br />

Aber die Prominenten sind natürlich längst weg, jedenfalls die <strong>halb</strong>wegs<br />

guten. Geblieben ist wie<strong>der</strong> nur Ralph Siegel, Katja Epstein, Jenny Elvers<br />

und so weiter. Siegel ist kein schlechter Mann. Einer <strong>der</strong> wenigen über 60,<br />

bei denen ich gern einmal Gast beim Abendessen wäre. Auch daß er ein<br />

viel zu junges weibliches Sexualobjekt vor sich herschiebt, sozusagen<br />

Hand an die sexuellen Ressourcen des Landes legt, die Jugend beklaut,<br />

<strong>der</strong> alte Schlawiner, finde ich besser als die unfitte Art <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Bonzen. Nur meine ich, daß er für jede an<strong>der</strong>e Führungsaufgabe im Lande<br />

besser geeignet wäre.<br />

Die Party ist natürlich furchtbar. Den Tod des Papstes stört keinen - genau<br />

das ist so furchtbar. Sie finden den Gestorbenen nur lächerlich, nicht <strong>der</strong><br />

Rede wert. Weil er das hat, was sie am meisten verabscheuen:<br />

<strong>Mein</strong>ungen, eine geistige Haltung, einen Wi<strong>der</strong>stand z<strong>um</strong> totalen<br />

Kons<strong>um</strong>ismus. Für sie ist das 'alt'. Dabei ist es jung, und sie, die jetzt mit<br />

viel Appetit in die Lachscroissants beißen, sind viel älter als <strong>der</strong> Papst.<br />

Keinerlei Jugend ist noch anwesend, das versteht sich ja von selbst.<br />

Buchhalter, angegraute Agenturleute, Werber, die Vertriebsmanager <strong>der</strong><br />

Phono-Branche und so weiter. Wohl gut zehn erlesene Buffetts vom<br />

F<strong>eins</strong>ten künden von <strong>der</strong> Protzsucht <strong>der</strong> Veranstalter (u.a. RTL), allein das<br />

Catering muß Millionen verschlungen haben. <strong>Auf</strong> wessen Kosten schlagen<br />

sich eigentlich all diese verbiesterten Büro-Gesichter die Bäuche voll?<br />

Etwa auf Kosten <strong>der</strong> Jugendlichen, die die CDs kaufen sollen? Brennt bloß<br />

schwarz weiter, Kin<strong>der</strong>!<br />

Wenigstens wird keine Musik gespielt. Was das wohl für eine gewesen<br />

wäre! <strong>Auf</strong> jeden Fall Rammst<strong>eins</strong> gerade mehrfach echogekröntes Lied.<br />

Das geht so: "Ich habe keine Lust... ich habe keine Lust... es ist so kalt...<br />

es ist so kalt!"<br />

Das ist Deutschland. Das alte.<br />

23. Dortmund - Phillip Boa<br />

Das große "U" von <strong>der</strong> Dortmun<strong>der</strong> Union Brauerei prangt auf einer 1945<br />

zerschossenen Ruine, das ist Dortmund, so sieht es jedenfalls aus, wenn<br />

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man bisher nur im ICE daran vorbeigefahren ist. In dieser Stadt wohnt<br />

Philipp Boa, <strong>der</strong> große Dandy und Musik-Avantgardist aus den 80er<br />

Jahren, Gegenspieler von Blixa Bargeld damals. Das ist schon<br />

ungewöhnlich. War<strong>um</strong> tut er das, ich meine dort wohnen, in diesem<br />

Stalingrad <strong>der</strong> Nachkriegshoffnungen, diesem Ghetto? War<strong>um</strong> gerade er?<br />

Der Bryan Ferry Deutschlands? Der "german lord of Indie"? Nun hat er<br />

nach vielen Jahren erstmals wie<strong>der</strong> eine CD herausgebracht, und die ist<br />

ernst, angenehm, superpräzise, sagen wir mal so drauflos: <strong>der</strong>maßen<br />

gelungen, daß wir uns den alten Knaben einmal anschauen wollten.<br />

Dazu mußte ich also erstmals in meinem Leben WIRKLICH nach<br />

Dortmund. Denn obwohl im nahen Köln <strong>der</strong> Papst los war, weigerte sich<br />

<strong>der</strong> Ex-Superstar, seine home town für "ein blödes Interview" zu<br />

verlassen. Er war <strong>der</strong> Presse nie hinterher gerannt, das wußte ich. Wieso,<br />

wußte ich nicht. Es liegt an seiner street credibility, die er sich in 20<br />

Jahren aufgebaut hat, o<strong>der</strong> die ihm zugewachsen ist, und die er niemals<br />

verraten würde. In Dortmund kennt ihn je<strong>der</strong>, das ist ihm wichtiger.<br />

Wir treffen uns im Café Strickmann, einem Kuchen-Restaurant für<br />

Senioren in <strong>der</strong> Innenstadt. Mehrmals erschrecke ich, weil ich meine, ihn<br />

in einem <strong>der</strong> Rentner wie<strong>der</strong>zuerkennen. Man hat mir ja nur gesagt, daß<br />

er vor 20 Jahren eine schwere 80er Jahre Haartolle trug, die inzwischen<br />

grau sein sollte, sowie dunkle Herrenanzüge, und daß er fast zwei Meter<br />

groß sei.<br />

Dann ist es aber gar nicht so schlimm, er ist wohl erst in den frühen<br />

Vierzigern und hat sogar seine junge Freundin dabei, eine Amerikanerin<br />

mit einem unfaßbar lieben Gesicht.<br />

"Hey, mir gefällt deine neue CD, aber müssen wir uns HIER treffen? Laß<br />

uns einen schönen Tag machen und nach Köln rübercruisen! Der Papst ist<br />

da und so weiter."<br />

"Nope. Cruisen können wir auch hier."<br />

Wir steigen in seinen dunkelblauen 244er Stahlpanzer-Volvo, Boa gibt<br />

Stoff. Er zeigt mir seine Welt. Ich sage:<br />

"Cool, daß du mich treffen willst, obwohl du weißt, daß ich manchmal<br />

verletzend schreibe!"<br />

"Die Süddeutsche, die Süddeutsche!"<br />

Ach so. Die Leute winken ihm manchmal zu. Es ist seine Stadt. Als erstes<br />

fährt er z<strong>um</strong> BVB Stadion. Aber schon vorher sehen wir andauernd<br />

Mitbürger in BVB-Kostümen, obwohl gar kein Spieltag ist. Boa erklärt, die<br />

Leute liefen hier so her<strong>um</strong>, die fänden das normal. Zudem:<br />

"Dortmund ist WM-Stadt. Das ist natürlich die einzige Hoffnung für die<br />

ganze Region."<br />

"Was?" Was wäre daran denn Hoffnung? Er schiebt ein Tape mit <strong>der</strong> neuen<br />

CD 'Decadence & Isolation' in den Volvo-Cassettenrecor<strong>der</strong>. So entsetzlich<br />

<strong>der</strong> Name, so gut ist das Produkt. Hat auch Gordon Raphael produziert,<br />

<strong>der</strong> die ersten beiden 'strokes'-Alben gemacht hat. Man versteht sofort<br />

war<strong>um</strong>. Philipp Boa ist wie die Strokes, nur besser. Das Original, nicht <strong>der</strong><br />

Nachklapp auf <strong>der</strong> Retroschiene. Und dazu gehört auch <strong>der</strong> deutsche<br />

Akzent von Boa, so paradox das klingt: dadurch wird es globale Musik.<br />

Gerade das feine Ur-englisch <strong>der</strong> Strokes läßt die Kunsthochschüler<br />

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provinziell klingen, örtlich begrenzt, denn 90 Prozent <strong>der</strong> Erdenbürger<br />

spricht Englisch NICHT akzentfrei. Die lakonische Pia Lund ist wie<strong>der</strong><br />

dabei, allerdings noch uneitler, noch zurückgenommener, noch<br />

anziehen<strong>der</strong> als im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t. Die Songs sind bis auf einen sehr<br />

schnell, sehr intelligent, unbeschreiblich rhythmisch, lassen sofort die<br />

Knochen wippen. Man kann nicht an<strong>der</strong>s, als "gut drauf" zu kommen,<br />

inspiriert zu sein plötzlich, und so frage ich frech:<br />

"War<strong>um</strong> ziehst Du nicht in eine Gegend OHNE Elend? Du kannst es Dir<br />

doch leisten. Nach Köln z<strong>um</strong> Beispiel, wo alle jung und fröhlich sind?"<br />

"Ich mag diese 'Fröhlichen' nicht. Ich mag ehrliche Leute." Er streicht sich<br />

die Haartolle zurück wie ein Handwerker, <strong>der</strong> gerade für ehrlichen Lohn<br />

Steckdosen verlegt hat.<br />

Stimmt. Hier sind alle offensichtlich ehrlich. Aber was ist das genau,<br />

Ehrlichkeit? Wie geht das, wie macht man das, tut das weh? Ich sehe nach<br />

draußen. Kanzler Schrö<strong>der</strong> wirbt auf großen Plakaten mit dem schwer<br />

verständlichen, z<strong>um</strong>indest schwer auswendig zu lernenden Satz "Wer<br />

Gerechtigkeit will, muß das Soziale sichern". Drei Abstrakta in wenigen<br />

Silben, respect. Er im Oberhemd, Ärmel <strong>halb</strong>hoch aufgekrempelt, die<br />

Faust geballt, <strong>der</strong> Blick z<strong>um</strong> Himmel. Ich mag ihn. Für mich verkörpert er<br />

Ehrlichkeit. Nur deswegen lieben ihn die Deutschen immer noch <strong>um</strong> soviel<br />

mehr als die Merkel.<br />

Wie im Osten sind die Verkehrsmittel perfekt ausgebaut. Straßenbahnen,<br />

zentrale U-Bahnhöfe, Busse im Minutentakt, alles toll. Aber wozu? Es<br />

lungern ja doch nur untätige Penner-Punks mit ihren fetten Hunden auf<br />

den Haltestationen. Die Bevölkerung ist gut zwei Generationen älter als<br />

die von Köln.<br />

"Findest du es beson<strong>der</strong>s 'ehrlich', nicht zu arbeiten? Ich meine, macht es<br />

die Sache ehrlicher, weil man unfreiwillig nicht arbeitet?"<br />

"Diese Leute gibt es. Sie sind da. Einer muß sich <strong>um</strong> sie kümmern!"<br />

Er streicht die dichten grauen Haare nach hinten. Er hat das nächste<br />

Kuchenrestaurant für Senioren angesteuert. Wir nahmen Windbeutel aus<br />

selbstgerührter Schlagsahne und aufgewärmten Himbeeren, dazu ein<br />

Kännchen Kaffee Hag. Die liebe Freundin kümmert sich <strong>um</strong> ihn, das sieht<br />

man. Sie bedient ihn nicht, aber sie ist mit Leib und Seele an seinem<br />

Wohlergehen interessiert. Sie will doch nur, daß es ihm gut geht. Mich<br />

beeindruckt das sehr. So eine hätte auch <strong>der</strong> Papst gern unter seinen<br />

Kids, hat sie aber nicht. Ich war ein paar Tage mit diesen Pilgermassen<br />

unterwegs; die sind laut und rüde, sowie permanent auf Partnersuche. Ich<br />

spreche das an, sage, Boa stehe in künstlerischer, weltanschaulicher<br />

Konkurrenz z<strong>um</strong> Papst. Seine Songtexte auf <strong>der</strong> neuen CD kulminierten in<br />

<strong>der</strong> Zeile, er wolle immer noch die Welt verän<strong>der</strong>n, und zwar mehr denn<br />

je. Des<strong>halb</strong>:<br />

"<strong>Auf</strong> z<strong>um</strong> Ratzinger, Alter! Das schauen wir uns doch an!"<br />

Er grunzt nur. Genauso könnte man versuchen, Helge Schnei<strong>der</strong> z<strong>um</strong><br />

Wellness-Kurs in die Schweiz zu überreden. Er zahlt und zeigt mir weiter<br />

seinen Kiez. Wir fahren an einem an sich schönen, mo<strong>der</strong>nen RWE-<br />

Gebäude vorbei, sehr hoch, komplett aus schwarzem Marmor und<br />

kreisrund, aber unten ist die Straße aufgerissen, liegt Gerümpel her<strong>um</strong>,<br />

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Müll, öden geschlossene türkische Reisebüros und seltsame<br />

Wirtschaftszweige vor sich hin: "Gamblers Inn", "Wasserbetten<br />

Discounter", "Spielstudio", "Game Center" und so weiter. Da wirkt <strong>der</strong><br />

schöne schwarze Wolkenkratzer wie eine traurige Bl<strong>um</strong>e auf dem<br />

Misthaufen. Soweit das Auge reicht nur tote Häuser, Leerstand, sogar ein<br />

geschlossenes "Muse<strong>um</strong> für Kunst und Kulturgeschichte". Unbenutzt - ein<br />

Blick nach draußen sagt wohl schon alles. Boas Musik hält all dem stand.<br />

Sie ist ohne Pathos, ohne jene New Wave Dunkelheit früherer Kulttage,<br />

und trotzdem ernst. Boas Stimme ist dafür wohl kongenial, so samtig,<br />

erwachsen, unpeinlich. War<strong>um</strong> sollte ein Mann zwischen seinem 22. und<br />

42. Lebensjahr nicht reifer und besser werden? Hier sehen wir das mal. In<br />

Deutschland wird eben auch die Popmusik nicht auf die leichte Schulter<br />

genommen. Hier wird gründlich gearbeitet, pardon, "ehrlich" gearbeitet,<br />

und so kommt am Ende ein Werkstück heraus, das an<strong>der</strong>s klingt als die<br />

Versuche <strong>der</strong> Jugendzeit. Bei uns hat auch <strong>der</strong> Dandy keinen H<strong>um</strong>or.<br />

Jedenfalls nicht bei fünf Millionen Arbeitslosen.<br />

Trotzdem machen mich die Eindrücke da draußen langsam mürbe, also die<br />

Trostlosigkeit. Diese Ossi-Frisuren immer. 50jährige Männer mit<br />

Wolfgang-Petry-Schnurrbart und langen Haaren, Rentner in Jeans-<br />

Anzügen, Frauen mit nach oben gegeelten Haaren, als seien sie auf dem<br />

Weg zu Bärbel Schäfer. Furchtbar. Benedetto tanzt zur gleichen Zeit mit<br />

einer Million Extase-Kids auf dem Marienfeld, macht sein Ding, sein<br />

Woodstock, und wir hocken hier in Dortmund r<strong>um</strong>! Eine Frau mit einer<br />

dunkelgrün-weiß-hellgrün gestreiften Polyesterbluse läßt den Kopf hängen<br />

und weint, auf <strong>der</strong> Bank einer Bushaltestelle. Sie ist nicht betrunken, nicht<br />

verwahrlost, nicht einmal ALT. Son<strong>der</strong>n nur traurig. Boa sieht es gar nicht<br />

mehr, es ist sein Alltag.<br />

Wir fahren den Körner Hellweg entlang, Ortsteil Wambel, an diesen<br />

Kaufland und so weiter Billigkaufhäusern vorbei, wo den Arbeitslosen <strong>der</strong><br />

Ramsch aus China verkauft wird. Dort, wo die Arbeitsplätze hingewan<strong>der</strong>t<br />

sind, wird das Gerümpel hergestellt, was die global loser dann kaufen.<br />

Noch ein dichtgemachter P & C, ein Hülyam Grill, zwei Pizza Döner, ein<br />

paar Plakate "CDU - Besser für die Menschen", ein paar rührende Heinz-<br />

Ehrhard-Villen mit Jägerzäunen davor, dann erreicht Boa ein Brachland,<br />

das er mir zeigen will:<br />

"Hier stand noch vor fünf Jahren das mo<strong>der</strong>nste Stahlwerk <strong>der</strong> Welt. Bis<br />

die Chinesen es abmontiert haben."<br />

Nun wird das ganze Gelände geflutet. Zusammen mit weiten Teilen<br />

Dortmunds soll hier <strong>der</strong> größte Stadtsee Deutschlands entstehen, achtmal<br />

größer als die Alster in Hamburg.<br />

"Sie wollen ihre unglückliche Stadt fluten? Wie Atlantis?"<br />

Er nickt ernst und streicht sich die Popper-Strähne nach hinten, sein<br />

Markenzeichen. Aus dem Cassetten-Deck dröhnt "Have you ever been<br />

afraid". Er trägt noch immer das schwarze Jackett, das ihm einmal<br />

Benjamin von Stuckrad-Barre geschenkt hat, damals ein Fan von ihm. Der<br />

wollte auch Dandy werden. Und zu ihm aufblicken. Boa sagt, daß ihn seine<br />

Fans wie einen Guru verehrt hätten und von ihm Orientierung abrufen<br />

wollten.<br />

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"Wie ich schon sagte, Mann. Da stehst Du in Konkurrenz zu Benedikt. Nun<br />

steh' doch dazu!"<br />

Er dreht die Musik lauter, "Burn all the flags". Wir kommen nicht weiter<br />

mit dem Auto, Siel-Bauarbeiten, diese Pseudo-Arbeiten, die Jahre die<br />

Straße z<strong>um</strong> Buddelfeld machen und grundsätzlich nie fertig werden. <strong>Auf</strong><br />

den Bürgersteigen ka<strong>um</strong> Menschen. Wo sind sie bloß? Es gibt auch keine<br />

Kioske und ka<strong>um</strong> Currywurst-Buden, und wenn man einmal Leute sieht,<br />

rauchen sie und trinken sie, was ja an sich nicht schlecht wäre, aber<br />

hier... es fehlt die Freude dabei, wie sie die Kölner haben, diese<br />

Lebenslust. Nein, hier könnte Ratzinger nichts reißen. Immer wie<strong>der</strong><br />

rußiger Backsteinbau, und nur ganz selten ein würdevolles<br />

Hauptverwaltungsgebäude aus <strong>der</strong> Vorkriegszeit. Schließlich ein<br />

postmo<strong>der</strong>nes West LB Hochhaus mit scheußlicher Kunst am Bau<br />

Skulptur, Boa zeigt es stolz. Ist natürlich schon schmutzig weiß besprüht,<br />

wie mit Taubenkacke. Die Graffittis geben <strong>der</strong> Stadt den Rest. Aber vor<br />

<strong>der</strong> Skulptur - zwei aufeinan<strong>der</strong> stehende mannshohe Eiseneier,<br />

verbunden mit einem disproportionalen Eisendreieck - stehen vier lustige<br />

Gesellen! Alle dick, alle Anfang 30, sie reden und feixen, mixen sich<br />

Wodka mit Red Bull. Ich sehe interessiert hinüber. Schwarze T-Shirts,<br />

Jeans, Turnschuhe, eine <strong>Auf</strong>schrift "Wir weichen nur zurück, <strong>um</strong> Anlauf zu<br />

nehmen". Aber dann sehe ich den Haken. Besser gesagt die Hakenkreuze.<br />

"Gas geben!"<br />

Ich schreie Boa an, merke selbst, wie hysterisch meine Stimme dabei<br />

wird. "Das sind Nazis!"<br />

"Oh, Scheiße!"<br />

Er hatte gerade die Musik lauter gedreht. Er gibt Stoff, <strong>der</strong> altersschwache<br />

Sechszylin<strong>der</strong> eiert quietschend los. "Das hat uns gerade noch gefehlt!"<br />

"Und ich dachte schon, die kennen dich, Mann."<br />

"Nee, nie gesehen. Glaub mir, ich kenne hier jeden."<br />

"Ist wohl doch nicht so toll, Dein tolles Dortmund."<br />

Ich bin richtig verschnupft. Das wäre uns in Köln nicht passiert. Schon gar<br />

nicht beim Papst!<br />

"Ey, Alter, es tut mir leid. Weißt du, es ist nicht so, wie es aussieht.<br />

Vielleicht... wollten die das Nazi-Ding nur verspotten o<strong>der</strong> so."<br />

Es folgen wie<strong>der</strong> sehr eingängige Melodien. Boa hätte auch als<br />

Mainstreamer Millionen copies verkaufen können. Wenn er gewollt hätte.<br />

Aber er will nicht. Lieber noch ein Kuchen-Café, "Kaffeehaus zur<br />

Postkutsche". Wir sitzen ernst beieinan<strong>der</strong>, er, die liebe Freundin aus<br />

Michigan und ich, trinken Eierlikör und bearbeiten eine Zitronenschnitte<br />

und zwei Marzipan Nußsahnetorten. Dann fährt er mich z<strong>um</strong> Bahnhof. Ich<br />

lasse ihn ungern zurück. Hier, in diesem eingeschlossenen Kessel. Er<br />

winkt dem Zug noch lange nach, so treu und ohne zu lächeln, und ich<br />

denke, daß es okay ist so.<br />

Denn einer muß den Job eben machen.<br />

Fußnote<br />

Dortmund/Philip Boa<br />

Nach diesen Erfahrungen, guten wie schlechten, hatte ich etwas Luft, mal einen Artikel<br />

aus schierer Lust und Laune zu schreiben. Die Süddeutsche Zeitung betreute mich mit<br />

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einem Bericht über einen ehemaligen Popstar <strong>der</strong> Neuen Deutschen Welle mit dem<br />

Namen Philip Boa. Ich glaube wenigstens, es war diese Musikrichtung. Da ich schon über<br />

40 war, dachte man wohl, dieser Mann sei mir aus meiner Jugend bekannt.<br />

Das stimmte sogar, aber alle Erinnerung an diese Zeit war<br />

verständlicherweise von mir in einem bewußten Akt längst gelöscht<br />

worden. Ich war womöglich in den mittleren 80er Jahren als<br />

SPEX-Mitarbeiter auf ihn gestoßen, wußte es aber nicht mehr. Über seine<br />

Musik dachte ich we<strong>der</strong> Gutes noch Schlechtes. War<strong>um</strong> die SZ ein<br />

seitenfüllendes Großportrait über ihn wollte, war mir so schleierhaft,<br />

dass ich gar nicht erst begann, darüber nachzudenken. <strong>Mein</strong> <strong>Auf</strong>traggeber<br />

dort war ein landesweit geschätzter Journalist namens Alexan<strong>der</strong> Gorkow.<br />

Ich hörte viel Anerkennendes über ihn, er schien eine Art Legende des<br />

jungen deutschen Magazinjournalismus zu sein, zudem unberechenbar und<br />

geistesgestört. Bestimmt ein Genie, dachte ich, und sollte Recht<br />

behalten. Ein angenehmer Aspekt meines Jahres als Deutschlandreporter<br />

begann.<br />

Dieser "Philip Boa" wohnte in Dortmund, und das kannte ich natürlich<br />

noch nicht. Was hätte ich jemals, als Schalkefan, in Dortmund zu suchen<br />

gehabt? Ich ärgerte mich einmal die Woche, wenn <strong>der</strong> BVB gewann, o<strong>der</strong><br />

freute mich, wenn er verlor - und das war´s dann auch. NIE wäre ich<br />

freiwillig z<strong>um</strong> Feind gefahren. Aber nun mußte es ja sein, diesem<br />

seltsamen Gorkow zuliebe, <strong>der</strong> mir per Fleurop immer Bl<strong>um</strong>en schicken<br />

ließ. Ich lief, wie im Artikel nachlesbar, mit dem Ex-Popstar durch die<br />

heruntergekommene Stadt. Abends fuhr ich nach Köln, weil ich auf gar<br />

keinen Fall in Dortmund übernachten wollte. Am nächsten Morgen fuhr ich<br />

erneut nach Dortmund und lief exakt den Weg, den ich mit Boa gegangen<br />

war, noch einmal allein ab. Ich hatte ja, als ich zu zweit lief, keine<br />

Notizen machen können. Ich hatte bis dahin nur das Tonband mit Boas<br />

Stimme und keine fixierten Eindrücke von Dortmund. Nun holte ich das<br />

nach. Ich war in einer echten hochgefährlichen Volldepression, als ich<br />

die Stadt wie<strong>der</strong> verließ. In Berlin vernähte ich dann alles, mailte es<br />

an Gorkow, und erntete weitere Bl<strong>um</strong>en von Fleurop. Ich mußte nichts<br />

redigieren, das machte alles ein kleiner Hiwi von Gorkow. Es gab ja<br />

auch nichts zu redigieren. Es war perfekt, wie je<strong>der</strong> Text von mir. Ich<br />

meine nur, ich hätte überhaupt nichts dagegen gehabt, wenn er<br />

redigiert, gekürzt, verlängert, verfälscht worden wäre. Überhaupt<br />

nicht. Aber sie taten es nicht. Und Gorkow kabelte <strong>nachts</strong> <strong>um</strong> <strong>halb</strong> vier:<br />

"Sie sind ein Gott, <strong>Lottmann</strong>! Lassen Sie uns einen Drink nehmen!" Das<br />

ging nicht, weil wir gerade in verschiedenen Städten waren, aber: nett<br />

gemeint. Ich bedankte mich artig.<br />

Der Text erschien, das Foto dazu war großartig, überhaupt war die ganze<br />

Seite super anzusehen: gerä<strong>um</strong>ig, ästhetisch, seriös, und gerade<br />

deswegen knallig und unübersehbar. Doch nun begann das Nachspiel. In<br />

Dortmund standen die Journalisten Kopf. All diese Zeitungen dort, von<br />

denen man nur die komischen Namen kennt, brachten Gegenartikel.<br />

Angeblich hatte ein Reporter <strong>der</strong> SZ - ich also - die ganze Region in<br />

den Dreck gezogen. Man lauerte Philip Boa auf, und <strong>der</strong> distanzierte<br />

sich prompt von dem Artikel. Ich rief ihn an, und stieß auf einen<br />

verstörten, unglücklichen Menschen, <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong><strong>um</strong> von seiner<br />

Distanzierung distanzierte, Gott sei Dank. Wochenlang blieb das Thema<br />

in <strong>der</strong> Region. Man warf mir z<strong>um</strong> Beispiel vor, ich hätte Dortmund das<br />

Stalingrad <strong>der</strong> deutschen Nachkriegshoffnungen genannt. Als einige Zeit<br />

später <strong>der</strong> Karneval begann, wurde ich darüber unterrichtet, dass mir<br />

<strong>der</strong> höchste Dortmun<strong>der</strong> Karnevalsorden verliehen werden sollte, nämlich<br />

"Der Olle Blödkopp" o<strong>der</strong> so ähnlich, ich weiß es nicht mehr genau, es<br />

klang wie "Dat Arschgesicht des Jahres", und so wußte ich nicht, ob ich<br />

ihn annehmen sollte. Es waren 5.000 Euro damit verbunden, wobei aber<br />

wohl stillschweigend erwartet wurde, dass man den Betrag einer<br />

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Dortmun<strong>der</strong> Einrichtung für Downsyndromkranke o<strong>der</strong> so spenden sollte.<br />

Ich überlegte, den Orden anzunehmen und das Geld für mich zu behalten.<br />

Aber dafür hätte ich an einer Veranstaltung in <strong>der</strong> Westfalenhalle mit<br />

tausenden von Karnevalisten teilnehmen müssen. Ich schrieb einen netten<br />

Absage-Brief und rührte mich nicht mehr. Die Süddeutsche Zeitung wurde<br />

noch einige Zeit von <strong>der</strong> Provinzpresse unter Feuer genommen, dass sie<br />

solch einen ehrvergessenen Feind des Ruhrgebiets bei sich arbeiten<br />

lasse. Ich weiß nicht, ob das eine Wirkung hatte. Jedenfalls schickte<br />

Alexan<strong>der</strong> Gorkow eines Tages, aber das war Monate und diverse <strong>Auf</strong>träge<br />

später, keine Bl<strong>um</strong>en mehr. Und auch sonst nichts mehr. Er tauchte<br />

völlig ab. Wie ich manchmal.<br />

25. Maria am Ostbahnhof - The Strokes<br />

The Strokes waren das erste große neue Ding nach Britpop. Sie haben in<br />

<strong>der</strong> heutigen globalisierten Vermarktung mehr Produkte verkauft als David<br />

Beckham seine T-Shirts, was doch etwas heißt. Kulturell gesehen haben<br />

sie den Rock aus seiner ewigen Anbindung an die Unterschicht befreit, soll<br />

heißen: statt rülpsen<strong>der</strong> toter Hosen, die nackig ihre Tattoos zeigen und<br />

auf <strong>der</strong> Bühne Bier verschütten, spielen The Strokes vor New Yorker<br />

Intellektuelen. Also präzise und intelligent. In diesem Fall, vorgestern, in<br />

Berlin. Im Rahmen ihrer 'secret gigs tour' spielten sie ihr komplettes<br />

neues Alb<strong>um</strong> 'First Impressions' durch, das freilich noch nirgendwo zu<br />

kaufen ist.<br />

'Secret gigs tour'? Was ist das, wie geht das, tut das weh?<br />

Folgen<strong>der</strong>maßen: Alle drei Tage findet in in einer Stadt in Europa ein<br />

geheimes Strokes-Konzert statt. Erst eine Woche vorher wird bekannt<br />

gegeben wo und wann. Erst einen Tag vorher werden an zwei<br />

ausgesuchten Kartenhäuschen die Karten verkauft. Wer eine ergattern<br />

will, muß die Nacht über vor dem Kartenhäuschen campieren. Ich war <strong>um</strong><br />

fünf Uhr morgens da und damit zu spät. Ich kam nur rein, weil ich Al<br />

Green kenne, <strong>der</strong> auch da war und ein Freund von Fat Moretti ist, Bassist<br />

<strong>der</strong> Band und Dostojewski-Experte wie Green selbst. Die lesen 'Der Idiot'<br />

im Original und sehen in Berlin nicht die WM-Stadt 2006, son<strong>der</strong>n den<br />

Schauplatz von Döblins 'Alexan<strong>der</strong>platz'. Es geht dar<strong>um</strong>, vor kleinem<br />

Publik<strong>um</strong> <strong>der</strong> Musikfachpresse das neue Alb<strong>um</strong> zu zeigen. Ins 'Maria' am<br />

Ostbahnhof wurden 600 Leute geladen, also 250 Journalisten und 350<br />

Fans.<br />

Die Fans kennen bereits seit einem Monat die Songs, via Internet. Die<br />

Presse tut sich da schwerer, denn man braucht komplizierteste<br />

Programme, <strong>um</strong> das wertvolle Liedgut downzuloaden - das schaffen nur<br />

Min<strong>der</strong>jährige. Es ist erst die dritte Platte <strong>der</strong> Mittzwanziger, aber ihre<br />

beste. Ein metallischer, kontrolliert leidenschaftlicher Sound...<br />

Schon seltsam, daß es nach 100 Jahren in <strong>der</strong> Musikszene immer noch<br />

diese vorgeschriebene Anti-Ästethik zur herrschenden Werbeästhetik gibt.<br />

In dem ehrenwerten Club ist alles abgeranzt, dunkel, schwiemelig und<br />

komplett trostlos. Ein monströser Keller einer Fabrik aus dem<br />

Industriezeitalter, eiskalt und gruselig, und The Strokes passen hier rein<br />

wie Disney-Besucher in eine Kin<strong>der</strong>-Gespensterbahn. Was hier wohl früher<br />

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mal hergestellt wurde? Reaktorbrennstäbe? Die Ordner haben sie direkt<br />

vom letzten Nazifilm übernommen, o<strong>der</strong> vom Rammstein-Konzert: riesige,<br />

fette Fleischmassenkörper, schwarze T-Shirts mit Runen-<strong>Auf</strong>schrift,<br />

glänzende Glatzen. Die Roadies von den Strokes sehen allerdings ka<strong>um</strong><br />

an<strong>der</strong>s aus, haben nur schwarze Hautfarbe. Inmitten dieser Hölle ein mit<br />

Absperrgitter isolierter Bereich für die Band, gewissermaßen die Bühne.<br />

Hier steht die Technik <strong>der</strong> globalen Superband, selbst im Dunklen<br />

funkelnd, wirklich vom F<strong>eins</strong>ten, wie die Ausstellungshalle eines edlen<br />

Oldie Autosalons: Fahrbare Metallschränke, verchromte Verstärker,<br />

Kabelkaskaden, Ra<strong>um</strong>schiff-Mischpulte, E-Gitarren, Zubehör aus Silber<br />

und Platin. Ab und zu blitzt eine Taschenlampe auf, weil ein Techniker<br />

noch etwas nachjustiert. Die Fans sehen nett aus. Auch bei ihnen herrscht<br />

erkennbar ein gänzlich an<strong>der</strong>er dress code als im MTV-Bereich. Undenkbar<br />

dass ein Mädchen bauchfrei daherkäme o<strong>der</strong> sonstwie auf Schlampe<br />

machte. Gedeckte Farben, man raucht nicht, man trinkt Kaffee. Velvet<br />

Un<strong>der</strong>ground spielt auf bei <strong>der</strong> Jungen Union, sozusagen. Also hätte man<br />

früher gesagt. Aber heute ist nicht früher. Hier steht nicht die<br />

Schülermitverwaltung seliger westdeutscher Zeiten, son<strong>der</strong>n die<br />

neoliberale Avantgarde. Spießer sind jetzt die an<strong>der</strong>en, die Linken. Wer<br />

rechts ist, ist cool und hört The Strokes.<br />

Das <strong>Auf</strong>fallendste, nein das Wichtigste an <strong>der</strong> Band ist das Jungenhafte,<br />

Nichtmännliche, sind die dünnen femininen Körper <strong>der</strong> fünf Knaben. Wehe,<br />

einer würde plötzlich dick! Aber davor schützen ja gottlob schon die<br />

Drogen, dafür sind sie ja da. "Dasselbe Outfit hat Julian schon in<br />

Australien getragen!" sagt ein Fan neben mir, eine Schülerin, offenbar<br />

wohlhabend. Ja, da sind sie, die Hübschen: dunkelgrüne sixties<br />

Cordjacketts, Streifenpullis, <strong>der</strong> Leadsänger und Stückeschreiber Julien<br />

Casablanca in selbstgenähter Kapitänsuniform. Ihre Bewegungen sind von<br />

<strong>der</strong> ersten Sekunde an sexy, weil minimalistisch, androgyn und vor allem<br />

unendlich selbstsicher. So lässig eben. Denen macht keiner was vor. Die<br />

müssen niemandem etwas beweisen. Die Presse ist ihnen egal. Die Fans<br />

auch. Al Green auch, <strong>der</strong> keinen back stage Pass bekommen hat und<br />

direkt neben uns am Gitter klebt und die Arme hochreißt. Vielleicht spielen<br />

sie für Kate Moss, für Pete Doherty, für das seltsam große, ernste<br />

Francoise-Hardy-Mädchen inner<strong>halb</strong> <strong>der</strong> Absperrung, dieses deutlich<br />

priviligierte Groupie, sicher die Ehefrau des Bandchefs, vielleicht auch nur<br />

für Dostojewski. Wer weiß. Die Musik reißt jedenfalls total mit. "Besser als<br />

die ersten beiden Alben", weiß besagter weiblicher Fan neben mir. Sie liest<br />

INTRO, den NME, hat Musik Express und VISIONS im Abo, liest Spex und<br />

an<strong>der</strong>e Fachzeitschriften in <strong>der</strong> Bibliothek. Sie kennt sich aus. Sie weiß,<br />

welche Bands gerade gehypt werden und welche davon wirklich gut sind,<br />

nämlich Arctic Monkees, Kaiser Chief, Block Party, Maximo Park und<br />

Razorlight. Alle haben ein bißchen die Strokes nachgemacht, aber nicht<br />

erreicht. Nicht dieses neue dritte Alb<strong>um</strong>!<br />

Es ist tatsächlich gute Laune im Publik<strong>um</strong>. Berlin ist schon die richtige<br />

Stadt für diese Knaben aus New York. Es macht diesen Jurastudenten<br />

nichts aus, einfach Pogo zu tanzen, <strong>eins</strong>t Ritual des Klassenfeindes. Und<br />

auch die Lie<strong>der</strong> klingen nun so, wie Schlachtgesänge, wie ausgelassen vor<br />

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Überschwang, wie maßlos verliebt. Alles macht dieser Sänger, offenbar<br />

Kopf <strong>der</strong> Gruppe und ein bißchen zu selbstbezogen. Er ist theatralisch und<br />

aufwühlend, stemmt sich mit aller Kraft gegen den Mikrophonstän<strong>der</strong>,<br />

geht dabei erschöpft in die Knie. Er macht alles richtig, wirkt ungeheuer<br />

intensiv. Selbst wenn er sich eine Strähne aus <strong>der</strong> Stirn streicht, wirkt es<br />

z<strong>um</strong> Zerreißen intensiv. Aber er singt zu laut. Er galoppiert davon, bricht<br />

aus, verliert die Band, die weiter diesen perfekten, dichten, großartigen<br />

Soundteppich liefert. Vielleicht trägt ihn die Stimmung im Saal davon, und<br />

die Technik war nicht darauf vorbereitet. Die Lautsprecher übersteuern.<br />

Seine schöne, oszillierende, varietéhaft schaukelnde Stimme wird z<strong>um</strong><br />

ohnmächtigen Gebell.<br />

Aber die Leute kennen die Lie<strong>der</strong> ja schon, wissen, wie sie klingen<br />

SOLLEN. Trotzdem sinkt die Stimmung, da Casablanca immer weitermacht<br />

mit dieser Art. Der Act ist auch zu lang. Nachdem alle 17 Songs<br />

runtergehauen sind, kommen die Zugaben, und da geht die Platte von<br />

vorne los. Das Pogotanzen hört auf. Al Green klettert über die Balustrade,<br />

verhed<strong>der</strong>t sich aber (er ist nur 1,55 Meter klein). Francoise Hardy<br />

begrüßt deutsche Freundinnen und verläßt freiwillig die VIP Zone. Endlich<br />

kehren sie zu ihrem eigentlichen Sound zurück, spielen neben drei alten<br />

Lie<strong>der</strong>n die kommende Hitsingle 'Juice Box'. Casablanca, völlig<br />

verschwitzt, ta<strong>um</strong>elt nach hinten und flößt sich etwas aus einem weißen<br />

Becher ein.<br />

"Sie haben für uns gespielt, für die Fans, nicht für die Presse. Sonst<br />

hätten sie nicht die alten Lie<strong>der</strong> in den Zugaben gespielt!" frohlockt das<br />

Fan Girl, und: "Sie wollen sich nicht abgrenzen, wie Oasis früher. Das<br />

neue an den Strokes ist ihr integrales Bewußtsein. Sie sind nicht abfällig<br />

über an<strong>der</strong>e, son<strong>der</strong>n offen!"<br />

Z<strong>um</strong>indest die Fans haben sich (doch) nicht geän<strong>der</strong>t.<br />

26. Out of Mageburg – War<strong>um</strong> Tokio Hotel die neuen Beatles sind<br />

Am Anfang standen die Vorurteile. Sie malen ihre Augen mit Kajal aus und<br />

sehen aus wie japanische Comicfiguren (Tokio Hotel). Sie bestehen nur<br />

aus blöden Pilzfrisuren und den Worten 'Yeah, yeah, yeah' (Beatles). Sie<br />

sind nur gemacht, von cleveren Managern (beide). Inzwischen wissen wir:<br />

Blö<strong>der</strong> kann man über solche Phänomene <strong>der</strong> Musikgeschichte nicht<br />

reden.<br />

Bill Kaulitz, 16, <strong>der</strong> überaus hübsche Sänger und Songschreiber <strong>der</strong><br />

Gruppe, hat das perfekte Gesicht - <strong>um</strong> es als Medi<strong>um</strong> für seine Zwecke<br />

einzusetzen. Und die sind ganz offenbar, Massen zu hypnotisieren,<br />

Menschen mitzureißen. Wie alle echten Superstars hat er - und die<br />

aufgerissenen Augen, die eigene Begeisterung, das Entrücktsein drückt es<br />

aus - etwas vollkommen Durchgeknalltes. Er ist Manie pur. Ihn hat<br />

niemand gemacht. Er ist so, wie er vor uns steht, schon mit neun Jahren<br />

gewesen. Es gibt Fotos, die das beweisen. Da stehen die beiden<br />

140


neunjährigen Brü<strong>der</strong> wie Miniaturausgaben <strong>der</strong> heutigen Tokio Hotel auf<br />

einer Holzbühne in Magdeburg, dieselben Frisuren, blaugeschwärzt die<br />

Haare, mit Kin<strong>der</strong>gitarren und großen kajalgeschwärzten Augen <strong>der</strong> eine,<br />

mit Ballonmütze und blond <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e. Kein Manager weit und breit.<br />

Sein eineiiger Zwillingsbru<strong>der</strong> Tom Kaulitz sieht an sich nicht schlechter<br />

aus. Rein genetisch ist er ihm natürlich wie aus dem Gesicht geschnitten.<br />

Aber wie oft bei Zwillingen sind sie gleich und extrem konträr zugleich. Bei<br />

den Oasis Brü<strong>der</strong>n ranken sich ja Legenden übelster Streiereien darüber.<br />

Tom zieht sich vollkommen an<strong>der</strong>s an, hat nichts Manisches, wirkt im<br />

Gegenteil äußerst vernünftig. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Bühne sorgt er für den soliden<br />

Sound-Teppich, auf dem Bru<strong>der</strong> Bill, exzentrischer Frontmann und<br />

Blickfang, turnt wie ein ukrainisches Olympiamädchen. Die öffentliche<br />

<strong>Mein</strong>ung ist den Brü<strong>der</strong>n völlig egal. Sie sind zwar jung, aber alles an<strong>der</strong>e<br />

als unerfahren. Z<strong>um</strong>indest Bill ist ein klassisches Wun<strong>der</strong>kind gewesen,<br />

und er wußte das. Wie Mozart hat er mit sieben seine ersten Songs<br />

geschrieben. Er ist ein wirkliches lyrisches Talent. In zehn Jahren wird er<br />

als große Songschreiber-Persönlichkeit dastehen.<br />

Wie ist es nur möglich, daß die Medien immer noch so tun, als sei Tokio<br />

Hotel eine von diesen unsäglichen Casting Bands, die von alten Männern<br />

wie Dieter Bohlen entworfen werden? Merken sie nicht, daß hier eine<br />

Massenbewegung entsteht? Dass Mädchen zu tausenden in Ohnmacht<br />

fallen - wie bei den Beatles - während bei Casting Bands nur Playback<br />

läuft? Tokio Hotel hat die erste authentische Jugendbewegung seit zehn<br />

Jahren geschaffen. Immerhin, eines merken die Zeitungen schon jetzt: die<br />

junge Truppe zieht Leser. Die Bild Zeitung berichtete kürzlich in großer<br />

<strong>Auf</strong>machung, Tokio Hotel sei beim Konzert von Robbie Williams gewesen.<br />

Als Zuschauer. Und sie hätten sich gelangweilt. Dazu ein großes Vierfarb-<br />

Foto mit den natürlich äußerst gelangweilten Kaulitz-Brü<strong>der</strong>n. Vom fetten<br />

Robbie nur ein kleines Foto am Rande. Längst interessiert sich kein<br />

vernünftiger, sagen wir: wacher Mensch mehr für die seelenlosen<br />

Dauerentertainer wie Williams, Britney Spears & Co, über die Tom ganz zu<br />

recht urteilt, wer seine Songs nicht selbst schreibe, sei kein Star, son<strong>der</strong>n<br />

ein Star-Darsteller. Wer die alte Dampfnudel Williams zuletzt in Berlin auf<br />

<strong>der</strong> Rampe sah, wünschte sich den späten Elvis zurück. Der war auch kurz<br />

davor, Frank Sinatras 'I did it my way' zu knödeln - von jeher die<br />

Bankrotterklärung eines jeden Interpreten vor <strong>der</strong> Jugend.<br />

Keine an<strong>der</strong>e Band seit Erfindung <strong>der</strong> Tonträger hat jemals so viele<br />

Konzertkarten in Deutschland verkauft wie sie. Kritiker sagen, das liege<br />

am Management, das möglichst viel Geld aus dem Tokio Hype schlagen<br />

wolle; und im Zeitalter <strong>der</strong> Raubkopien gehe das nur noch über den<br />

Kartenverkauf. Falsch! Die Jungs sind tatsächlich süchtig nach <strong>Auf</strong>tritten.<br />

Sie können nicht genug davon kriegen. Weil sie im Kontakt mit ihren Fans<br />

zu ihrem eigentlichen Leben finden.<br />

Wer sie je auf <strong>der</strong> Bühne erlebt hat, hat dazu keine Fragen mehr. Bill<br />

redet nach jedem Lied mit den Fans. Er fragt sie aus, er berichtet von<br />

sich, er holt sie auf die Bühne, er läßt einzelne o<strong>der</strong> alle mitsingen, er ist<br />

<strong>der</strong> glücklichste Mensch <strong>der</strong> Welt. Und immer redet er in so einem<br />

künstlich atemlosen, euphorischen Tonfall, einer Art selbstgebastelten<br />

141


Jugenddialekt, bei dem die Endsilben geschleift, die Worte wie in<br />

Kin<strong>der</strong>sprache verkürzt werden. Und so singt er auch. Das Wort 'an<strong>der</strong>s'<br />

singt er wie 'andaas', aus 'nicht' wird immer 'nich', aus 'beschissen' wird<br />

'beschissn' und so weiter. Und auch die Töne singt er nicht aus, son<strong>der</strong>n<br />

schleift sie, biegt sie rauf und runter wie ein heulendes Kind. Kann mir<br />

keiner sagen, daß sich das ein Manager ausgedacht hat! Günstig dabei:<br />

Ihre erste und bis letzten Freitag einzige Platte sang Bill mit 13 ein - noch<br />

vor dem Stimmbruch! Es handelte sich somit <strong>um</strong> die erste echte Pop-CD,<br />

die von Kin<strong>der</strong>n gesungen wurde. Das erklärt die Affinität <strong>der</strong> großenteils<br />

vorpubertären Fangemeinde zu ihren Idolen.<br />

Natürlich nicht nur. Die Texte sind nicht Gefühls-Bla-bla auf fantasy-<br />

Englisch, son<strong>der</strong>n knallhart, ernst und von den großen Weltschmerz-<br />

Attacken dieses Alters geprägt, bis hin zu suizidären Sehnsüchten: "Wenn<br />

nichts mehr geht, werd' ich dein Engel sein...". Der schlimmste Tag im<br />

Leben ist nicht, wenn "meine Braut einen an<strong>der</strong>en fickt, Mann", son<strong>der</strong>n<br />

wenn die Eltern sich trennen. Das wird herausgeschrien, und <strong>der</strong> Casting-<br />

Rapper bei 'Star Search' sieht dagegen nur noch wie ein Idiot aus. Der er<br />

ja auch ist. Ich darf das übrigens alles sagen, weil ich geschätzte<br />

siebenein<strong>halb</strong> Stunden lang, gestreckt über sechs Wochen, mit <strong>der</strong> Gruppe<br />

gesprochen, später telefoniert habe, sie aus nächster Nähe beobachtet,<br />

nachgedacht, ihre unfaßbar langbeinigen, wun<strong>der</strong>schönen, von ihnen<br />

selbst selektierten Groupies kennengelernt, und am Ende sogar ein<br />

Konzert in <strong>der</strong> Schalker Glückauf-Kampfbahn mit 18.000 Fans, einer<br />

davon meine Nichte Hase, erlebt habe. Hase hat mich da reingezogen. Es<br />

war hart, vor allem <strong>der</strong> durchdringende Schrei <strong>der</strong> Fans, also dieses<br />

zigtausendfache Gekreisch fliegen<strong>der</strong> Möwenschwärme anfangs, <strong>der</strong><br />

gleichmäßige, ferne, fast beruhigende Schrei-Dauerton vor dem<br />

Konzertbeginn, <strong>der</strong> beim ersten <strong>Auf</strong>treten von Bill Kaulitz zu einem ganz<br />

an<strong>der</strong>en Geräusch wird, für das es keine Worte gibt. Frauen in<br />

Gruselfilmen schreien so, wenn King Kong auf sie zuwankt. O<strong>der</strong><br />

bestimmte Nagetiere, ich weiß nicht, welche...<br />

Bill ist glühen<strong>der</strong> Nena-Fan. Wer von den etablierten Rockstars <strong>der</strong><br />

sogenannten Zweiten Neuen Deutschen Welle, 'Juli', 'Silbermond', 'Wir<br />

sind Helden', würde sich trauen das zu sagen? Höchstens noch Judith<br />

Holofernes, das an<strong>der</strong>e große Songschreiber-Talent. Mit ihr ist Bill<br />

offenbar freundschaftlich verbunden. Tom im SPIEGEL-Gespräch: "Wenn<br />

Bill und Judith sich irgendwo zufällig treffen, etwa bei diesen<br />

Medienpreisen wie dem 'Echo', albern sie stundenlang r<strong>um</strong>." Bill mag<br />

Judith, aber verehrt Nena. Und zwar so sehr, daß er Nenas Frisur, ihr<br />

Outfit, ihren Gang imitiert. Aber er traut sich nicht, sie anzurufen. Ist Bill<br />

bulimisch? Zögerte er die Geschlechtsreife durch Magersucht hinaus, <strong>um</strong><br />

seinen Fans nahe zu bleiben? Nein, nein, alles Quatsch. Die Jungs essen<br />

mit Appetit alles, was man ihnen aufs Büffet stellt. Der SPIEGEL konnte<br />

beobachten, wie sie ihre Taschen in die Ecke schmissen und wie die<br />

Heuschrecken auf schokoladigen Süßkram, herzhafte Happen und Obst<br />

losgingen. Aber war<strong>um</strong> haben sie keine Freundin? "Wir haben keine<br />

Freundin!" rufen sie unisono aus, mehrmals am Tag, wenn die Presse<br />

anklingelt. Ja, war<strong>um</strong>? Ist das nicht seltsam? Darf das sein? Steckt da<br />

142


nicht böse PR dahinter? Die Bild Zeitung schreibt doch "Versext Tokio<br />

Hotel unsere Töchter?" Und das geht vielleicht nur, wenn man so tut, als<br />

seien die Jungs noch zu haben. Wahr ist zweierlei. Erstens: die weiblichen<br />

Fans, obwohl erst an <strong>der</strong> Schwelle zur Pubertät o<strong>der</strong> mittendrin, werfen<br />

immer ihre BHs auf die Bühne. Zu tausenden rufen sie "Wir wollen eure<br />

Schwänze sehn!" Und singen dann <strong>um</strong>so lauter die Songs mit, was<br />

ungefähr so klingt, als würden zehntausend Kin<strong>der</strong> aus voller unschuldiger<br />

Kehle 'Alle Vögel sind schon da' singen. Alles irgendwie paradox, vor<br />

allem, wenn man bedenkt, daß die meisten Fans ihre Eltern dabei haben!<br />

Deutschland ist eben das Land <strong>der</strong> lieben Eltern geworden. Also <strong>der</strong><br />

alleinerziehenden lieben Elternteile. Die Single-Väter gucken dann eher<br />

auf die scharfen Mütter <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Kids, als auf die Bühne. Aber<br />

zweitens: die Kaulitzbrü<strong>der</strong> sind wirklich gerade solo, aber das ist Zufall.<br />

Bill hatte bereits feste Freundinnen, und Tom liebt 'Abenteuer', wie er<br />

One-night-stands (hier würde das Wort sogar passen) <strong>um</strong>schreibt. Bill, <strong>der</strong><br />

Charismatiker, glaubt felsenfest an die ewige Liebe, an die eine Frau, die<br />

das Schicksal ihm zuführen wird. Bis dahin redet er zwar gern mit Fans,<br />

schließlich hat er das Messias-Gen und liebt die Menschen, aber läßt sich<br />

nicht auf Sex ein. Die übrigen beiden Jungs, Gustav und Georg, haben<br />

ganz normalen Groupie-Sex. Aber sie, diese so normalen Jungs, spielen ja<br />

nur die Rollen von Ringo Starr und Gerge Harrison. Sie waren von Anfang<br />

an dabei und werden des<strong>halb</strong> auch bis z<strong>um</strong> Ende mitmachen. Die vier sind<br />

eben echte Freunde, das werden die Manager nie verstehen. Wer schon im<br />

letzten Jahrhun<strong>der</strong>t in Magdeburg gem<strong>eins</strong>am Glasmurmeln gespielt hat,<br />

wird sich keinen gecasteten Afro-, Indo- o<strong>der</strong> Asien-Deutschen aufs Auge<br />

drücken lassen, nur weil das im "Fernsehen besser rüberkommt".<br />

Sind sie die neuen Beatles? Ist das wirklich möglich, nach über 40 Jahren?<br />

Musikwissenschaftler bestätigen die These. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> am Freitag<br />

veröffentlichten CD 'Der letzte Tag' geht es im gleichnamigen Lied <strong>um</strong><br />

Halbtonschritte einer kleinen Sekunde beim Gitarren-Riff im Hintergrund<br />

und <strong>um</strong> Mehrstimmigkeit, beides beliebte Stilmittel <strong>der</strong> Beatles. Ihr<br />

bekannter Hit 'Jung und nicht mehr jugendfrei' bringt die Harmonien Es-B-<br />

C-As, genau wie bei 'Let it be', dem letzten Nr.1-Treffer <strong>der</strong> fab four. Bei<br />

<strong>der</strong> vorletzten Hitsingle 'Schrei' (Platz Eins auch sie) erinnert das Intro<br />

zunächst an Linkin Park o<strong>der</strong> Nu Metal. Aber dann gehts los: Wie in 'Help'<br />

von Lennon/McCartney wechselt d-B-F-G auf G-F-d und endet voller<br />

musikalischer Überraschungen auf d-B-d-C-G-A. Der expressive Gesang<br />

hat einen geradezu waghalsigen Mut zur Dissonanz, wobei <strong>der</strong><br />

Beatleskenner 'I've just seen a face' wie<strong>der</strong>erkennen mag. Und <strong>der</strong><br />

absolute Superhit 'Durch den Monsun' besticht durch eine verhältnismäßig<br />

gehobene Harmonieführung, also E-E4-C-C4-D-D, was musikalisch sehr<br />

interessant ist und nicht standardisiert, und einer Einstiegsterz (E-C) wie<br />

bei 'Tell me why' von den Beatles. 'Ich bin nich ich' setzt den Bass auf<br />

jeden vollen Schlag, genau wie bei - nein, nicht den Beatles, wie bei Nena!<br />

Das alles mag die Klasse bestätigen, das Niveau, auf dem Tokio Hotel<br />

spielt - ein Plagiatsvorwurf wird nie daraus. Die smarten Jungs würden das<br />

mühelos mit einem frechen Spruch kontern. Etwa "<strong>Auf</strong> alten Schiffen lernt<br />

143


man segeln" (Gustav, <strong>der</strong> Dr<strong>um</strong>mer). Das war zwar auf die Frage, wie er<br />

zu Sex mit Erwachsenen stehe, würde aber auch auf die an<strong>der</strong>e passen.<br />

>>>>ORIGINALTEXT<br />

Glückaufkampfbahn Gelsenkirchen, am Tag drei nach dem Ende des WM-<br />

Fiebers, dem Ausscheiden <strong>der</strong> deutschen Mannschaft. Woan<strong>der</strong>s sind die<br />

Leute wie<strong>der</strong> so muffig wie vorher, rollen die Fahnen ein, schimpfen auf<br />

die Politiker. Hier auf Schalke aber ist das ganze Jahr Fußball. Die<br />

deutsche Fußballreligion entstand in diesem Stadion, in dem heute Tokio<br />

Hotel spielt, eine ganz ähnliche Religion übrigens. Gem<strong>eins</strong>am ist das<br />

Schreien. Nur schreit <strong>der</strong> Fußballfan nur beim Tor, etwa beim legendären<br />

1:0 Kloses in <strong>der</strong> Nachspielzeit, als selbst die Kanzlerin jede Hemmung<br />

vergaß und wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong> kleinen Mädchen wurde. Die Fans von Bill Kaulitz,<br />

dem charismatischen Sänger <strong>der</strong> Band, schreien immer. Viele Stunden vor<br />

dem Konzert, während dessen, und auch noch, wenn die Jungs längst im<br />

Bett liegen. Und in höchster Lautstärke. Für sie ist immer Tor. Immer die<br />

91.<br />

Minute, Odonkor flankt, Klose rutscht heran, Tor, Tor, Tor. Das Geräusch<br />

ist auch an<strong>der</strong>s. Das Schreien <strong>der</strong> Fans ist unmoduliert, we<strong>der</strong> weiblich<br />

noch männlich codiert, es kommt aus keinen geschlechtsspezifischen,<br />

h<strong>um</strong>anen Körpern, son<strong>der</strong>n direkt aus dem Wahnsinn. Frauen schreien so,<br />

wenn sie vor King Kong stehen. O<strong>der</strong> bestimmte Nagetiere, wenn <strong>der</strong><br />

Tsunami kommt.<br />

Die Tsunami heißt hier Tokio Hotel, und <strong>der</strong> Anmarschweg z<strong>um</strong> Stadion<br />

sieht auch wirklich so aus. Hun<strong>der</strong>te von Metern nur Verwüstung,<br />

liegengebliebene Rucksäcke, Decken, tausende Stofftiere, letzte<br />

Habseligkeiten von Menschen, die die ganze Nacht ausgeharrt haben, <strong>um</strong><br />

beim Einlaß möglichst nahe an die Band zu kommen. 38.000 Menschen<br />

faßt die legendäre alte Spielstätte des FC Schalke 04, ein dunkles<br />

Ungetüm mit Stahlträgern aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> industriellen Revolution.<br />

Das Konzert ist restlos ausverkauft, selbst Schwerbehin<strong>der</strong>te werden nicht<br />

mehr hereingelassen. Nie zuvor hat Tokio Hotel vor so vielen Menschen<br />

gespielt.<br />

Erstaunlich, denn die Jungs haben praktisch erst eine CD aufgenommen,<br />

und das ist fast ein Jahr her. Seitdem koppeln sie die einzelnen Songs im<br />

Quartalstakt aus, je<strong>der</strong> schafft die Chartspitze. Erst Mitte August soll<br />

wirklich neues Material kommen. Dann gnade uns Gott.<br />

Daß die Konzerte so gut laufen, haben sich die Jungs hart erkämpft. Sie<br />

haben Deutschland mit einer beispiellosen Tournee überzeugt. Selbst wer<br />

die Musik nicht mag, muß heute zugeben, daß die Bühnenshow alles in<br />

den Schatten stellt, was seit den Beatles 1964 geboten wurde. Es ist das<br />

Gegenteil von dem, was sogenannte Casting Bands bieten. Das sind<br />

zusammengewürfelte Schauspieler-Combos, die auf Befehl Dieter Bohlens<br />

zu belangloser lalala-Musik die Lippen bewegen.<br />

Tokio Hotel ist die Antwort auf eine gewissenlose Jugendkultur-Industrie,<br />

die von alten Männern und Frauen gemacht wird und mit <strong>der</strong> Realität von<br />

Jugendlichen nur eines zu tun hat: dass die Eltern zahlen. Für Handy-<br />

144


Klingeltöne, Diddelmäuse, Madonna-CDs, Casting-Shows, Spielekonsolen,<br />

Plastik-Stars wie la Fee, Deutschland-sucht-den-Superstar-Verwertungen<br />

und an<strong>der</strong>e Merchandising-Produkte geben deutsche Haushalte Milliarden<br />

aus. Aber geschrien wird nur bei Tokio Hotel.<br />

Die visual Key Klamotten - zu erkennen an japanischen Schriftzeichen -<br />

machen sich die Kin<strong>der</strong> selber. So wie sich Kaulitz und Co. ihre Hits selber<br />

schreiben. Diese Musik machen sie seit ihrem 7. Lebensjahr. Auslöser war<br />

die Trennung <strong>der</strong> Eltern. Die ganze Geschichte klingt wie ein Märchen,<br />

besser: wie ein modifizierter Stoff aus <strong>der</strong> Bibel, ist aber bis ins Detail<br />

belegt. Es gibt Fotos <strong>der</strong> Gruppe als 9jährige, wo sie auf <strong>der</strong> Bühne<br />

stehen, unverwechselbar die Frisuren, J-Pop-Klamotten, Bewegungen. Sie<br />

müssen vom Himmel gefallen sein. Die Eltern stecken nicht dahinter. Mit<br />

dem Scheidungsvater keinen Kontakt, die rührende Mutter eher<br />

ahnungslos. <strong>Auf</strong> J-Pop, also Japan-Pop, werden mitten auf dem Land in<br />

<strong>der</strong> ehemaligen DDR auch keine Manager verfallen sein: die kriegen das ja<br />

selbst in westlichen Großstädten erst ab 2008 mit. Und <strong>der</strong> SPIEGEL<br />

Kulturteil ab 2010. Und DIE ZEIT ab 2015. Wir leben ja im Land <strong>der</strong><br />

Kultur-Zombies...<br />

Der Haß <strong>der</strong> etablierten Unterhaltungsindustrie auf die Seiten<strong>eins</strong>teiger ist<br />

natürlich riesig. Hastig werden neue Instant-Bands auf den Markt<br />

geworfen, die etwas von dem Erfolg abkriegen sollen. Aber die können<br />

nicht auftreten. Und wenn doch, brauchen sie Vorgruppen, Animateure,<br />

Anheizer, Playback-Maschinen, eingespielte Softporno-Filmchen auf Video-<br />

Großleinwänden und so weiter. Was gibt es bei Tokio Hotel in den Stunden<br />

vor dem <strong>Auf</strong>tritt? Nirvana. Sie lassen superhart Nirvana vom Band laufen.<br />

Das ist ihre Ansage. Damit messen sie sich.<br />

Davor haben sie keine Angst.<br />

Deutschland ist das Land <strong>der</strong> lieben Eltern (geworden). Die meisten<br />

Besucher sind noch zu klein für 22 Uhr, und so gehen neue deutsche Väter<br />

gut gelaunt mit und schauen sich die vielen scharfen Mütter <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Scheidungskin<strong>der</strong> an.<br />

Den vielbeschworenen Generationenkonflikt gibt es schon seit Ewigkeiten<br />

nicht mehr, genau gesagt, seit Familien nicht mehr zusammen bleiben.<br />

Und die gelegentlichen Haschischschwaden im Stadion kommen nicht von<br />

den Kleinen. Auch nicht <strong>der</strong> Ausruf "Mann, das ist ja Woodstock!", als es<br />

anfängt zu regnen. Der große deutsche Fußballsommer endet in<br />

Kalifornien.<br />

Das Konzert wird live im WDR übertragen, das ist natürlich nochmal ein<br />

beson<strong>der</strong>er Kick. Die Stimmung ist großartig. Als würden Reste <strong>der</strong> noch<br />

immer überschießenden WM-Stimmung sich mit infantiler ad-hoc-Euphorie<br />

verbinden. Das Gekreische - und das ist wirklich verblüffend, also das das<br />

noch geht - verzehnfacht sich, als Bill Kaulitz erscheint. Dieser neue<br />

Schrei erfaßt alle Hysterienerven, fährt auch dem Hartgesottenen in Mark<br />

und Bein. Ein Meer von Menschen, gereckten Armen, ein wogendes<br />

Kornfeld im Sommer, erfaßt von <strong>der</strong> tiefstehenden Sonne, nein von<br />

geschickten Scheinwerfern. Die ganze Show ist total interaktiv.<br />

So wie die Scheinwerfer immer wie<strong>der</strong> das Publik<strong>um</strong> erfassen, und<br />

natürlich die Kameras, und das auf eine Leinwand werfen, so spricht<br />

145


Kaulitz nach jedem Song mit den Leuten, geht zu ihnen, holt sie auf die<br />

Bühne, läßt wahlweise einzelne o<strong>der</strong> zehntausende mitsingen. Wobei zu<br />

sagen ist, dass ohnehin alle Songs mitgesungen werden. Nach einem Jahr<br />

Dauerfeuer kennt z<strong>um</strong>indest die Refrains jedes Kind. Mit Schrecken<br />

erinnert sich mancher des verklemmten Schweigens o<strong>der</strong> Nuschelns<br />

vermeintlich großer Rockstars, etwa Bob Dylans, <strong>der</strong> zwischen den Lie<strong>der</strong>n<br />

ka<strong>um</strong> eine Silbe herausbringt. Kaulitz:<br />

"Wenn Ihr denkt, dass dies hier nichts Beson<strong>der</strong>es für uns ist, irrt Ihr<br />

Euch!<br />

Wir haben noch nie vor so vielen Leuten gespielt!"<br />

Später relativiert er: in Magdeburg seien es bereits 75.000 gewesen, aber<br />

das sei ja auch quasi ihre Heimatstadt. Den nächsten Song kündigt er so<br />

an:<br />

"Es geht einem nicht immer gut, vor allem, wenn man dann keinen <strong>um</strong><br />

sich hat, mit dem man reden kann. Aber es gibt noch Schlimmeres. Etwa<br />

wenn die Eltern sich trennen. Uns ist es so gegangen jedenfalls. Den<br />

folgenden Song haben wir geschrieben darüber, da waren wir neun Jahre<br />

alt..."<br />

Z<strong>um</strong> Vergleich: Selbst 50 Cent hätte hier nur "Next song... ahm... ahm...<br />

its called... ahm... Against my will... ahm" herausgestottert. Und sich<br />

ersatzweise in den Schritt gefaßt.<br />

O<strong>der</strong> Bon Jovi! Wer erinnert sich noch an Bon Jovi? O<strong>der</strong> Guns´n´Roses?!<br />

Das war doch Standfußball à la Günter Netzer dagegen. Sogar Mick Jagger<br />

wäre hier nur r<strong>um</strong>gehampelt, die Bühne rauf- und runtergerannt und<br />

hätte dabei doch wie ein angeschossener Elch gewirkt, im Vergleich zu<br />

dem Luftwesen Bill Kaulitz, <strong>der</strong> keinerlei Körpergewicht zu haben scheint.<br />

Der sich nicht schämt, Nena als Vorbild zu nennen. Die verehrt er, seit er<br />

mit Sieben "Nur geträ<strong>um</strong>t" hörte.<br />

Zwillingsbru<strong>der</strong> Tom hört seit sechs Jahren nur Hip hop, was ihn nicht<br />

daran hin<strong>der</strong>t, Bills Affenliebe für Nena zu akzeptieren. Ja gut zu finden.<br />

Die Songs werden sowieso an<strong>der</strong>s. Georg z<strong>um</strong> Beispiel_ist ganz ein Kind<br />

<strong>der</strong> Beatles. Sein Vater hatte ihn damit vollgemüllt. Und er liebt seinen<br />

Vater.<br />

Aber Bill liebt Nena. Er versucht, genauso auszusehen wie sie. Ihre Frisur<br />

hat er schon vollständig adaptiert. Und auch das Gesicht wirkt inzwischend<br />

ähnlich. Mit einem Unterschied: Bill hat das perfekte Gesicht. Jede<br />

angehende Hollywood-Schauspielerin wäre glücklich, wenn sie dieses<br />

Gesicht hätte. Keira Knightley wirkt dagegen schr<strong>um</strong>pelig. Cameron Diaz<br />

wie eine Boxerin nach einem verlorenen Kampf. Nur die ganz frühe Liz<br />

Taylor hatte ein Gesicht dieser Perfektion, dieser Ausdruckskraft. Und mit<br />

diesem Gesicht kann Kaulitz im Zeitalter <strong>der</strong> Großleinwände eine Aura<br />

kommunizieren und verbreiten, die es vorher noch nicht gab.<br />

Der Spießer wird an dieser Stelle wie<strong>der</strong> fragen: ja, ist er denn schwul,<br />

<strong>der</strong> feine Herr Sänger? Nein, so wenig wie es alle geborenen Superstars<br />

<strong>der</strong> Popgeschichte vor ihm waren, so wenig wie David Bowie vor 20, Marc<br />

Bolan vor 30, Mick Jagger vor 40 Jahren. Aber damit hört es bei Kaulitz<br />

nicht auf. Denn er ist auch nicht das an<strong>der</strong>e. Und auch nichts drittes. Er<br />

ist, geschlechtlich gesehen, das Neue. Er hat das Geschlecht <strong>der</strong> Millionen<br />

146


alleinerzogener Kin<strong>der</strong>. Spätere Soziologengenerationen werden uns<br />

sagen, was das bedeutet.<br />

Zunächst einmal: alle vier Jungens von Tokio Hotel haben keine Freundin.<br />

Ihre Freundin ist die Guitarre. Den ganzen Tag hocken sie im Studio<br />

her<strong>um</strong> und da ddeln an neuen Songs. Nach dem Konzert werden trotzdem<br />

zwei wun<strong>der</strong>schöne min<strong>der</strong>jährige Groupies ins Zelt geführt. Häßliche fette<br />

Security Bullen führen die hochbeinigen Starlets ab, bringen sie wie<br />

Gefangene über die harte Grenze z<strong>um</strong> innersten VIP-Bereich, die alle<br />

an<strong>der</strong>en nur mit drei (!) Pässen überwinden. Was die Bill und Tom mit<br />

ihnen machen werden, wird die Presse nie erfahren; sicher ist nur, dass<br />

sie nicht z<strong>um</strong> Frühstück bleiben dürfen.<br />

Das Konzert tobt. Wo die Beatles nach 40 Minuten stoppten (auch, weil<br />

die meisten <strong>der</strong> Fans schon <strong>der</strong> Ohnmacht nahe waren), legen Tokio Hotel<br />

noch zu. Die Sanitäter sind nun pausenlos im Einsatz. Es gibt gar nicht<br />

soviele Tragen, <strong>um</strong> all die Ohnmächtigen sofort wegzubrinden.<br />

Normalerweise sind es schon mehrere Hun<strong>der</strong>t in <strong>der</strong> ersten Stunde. Aber<br />

hier ist alles nochmal eine Dimension größer, greller, ergreifen<strong>der</strong>. Eine<br />

kultische Veranstaltung, bei die alten Inkas blass werden würden. Und<br />

nicht nur die. Michael Jackson erst, <strong>der</strong> plötzlich merkte, dass er ein<br />

trotteliger Braunbär war, ein peinlicher Hampelmann, im Vergleich zu<br />

diesem Magier. Wie <strong>der</strong> die Massen tanzen läßt, wie Marionetten, wie sie<br />

seinem Wort gehorchen! In Sachen Massenhysterie setzt er neue<br />

Standards. Das aufgerissene, euphorische Gesicht beherrscht die<br />

Situation. Dagegen sähe selbst Hitler alt aus.<br />

Die Medien reagieren hilflos. Berichten über die Bulimie des Sängers, mit<br />

<strong>der</strong> er die Geschlechtsreife hinauszögere, <strong>um</strong> seinen kindlichen Fans nahe<br />

zu sein.<br />

O<strong>der</strong> verweisen auf irgendeinen Manager, o<strong>der</strong> PR-Mann, o<strong>der</strong><br />

Produzenten, o<strong>der</strong> Geheimniskrämer, <strong>der</strong> "in Wirklichkeit" Tokio Hotel<br />

"gemacht" habe. Alles Blödsinn. Seit Adam und Eva ist alles von Menschen<br />

gemacht. Der Erfolg von Genies erklärt sich immer aus ihrer Genialität<br />

heraus. Der Mißerfolg von Casting Bands ja ebenso: wo nichts drin ist,<br />

kann auch nichts rauskommen. "La Fee", das neueste synthetische Star-<br />

Produkt, wird ein temporärer, rein kommerzieller Verkaufserfolg bleiben,<br />

wie "du darst"-Käse, den heute auch keiner mehr will. Tokio Hotel<br />

dagegen sind echte deutsche Helden und werden <strong>der</strong><strong>eins</strong>t in <strong>der</strong> Walhalla<br />

stehen.<br />

Oft rühren die Texte eine juvenile Todessehnsucht auf. Bloß gut, daß die<br />

Eltern nicht so genau hinhören. Lie<strong>der</strong> wie "Wenn nichts mehr geht, werd<br />

ich ein Engel sein, nur für Dich allein" spielen mit <strong>der</strong> Lust am Hinwerfen<br />

nach <strong>der</strong> ersten, oft tra<strong>um</strong>atischen Liebesenttäuschung. Jugendliche<br />

Suizidverklärung ("Die Unendlichkeit ist nicht mehr weit") bewegt<br />

seltsamerweise oft die jüngsten <strong>der</strong> Fans. Sie sehen dann aus wie<br />

ergriffene Erwachsene. Am meisten bewegt sie das Lied "Leb die<br />

Sekunde", das zu einem ekstatischen Genuß in <strong>der</strong> Gegenwart auffor<strong>der</strong>t.<br />

Bleibt den Kleinen nur noch so wenig Zeit? Wenn die wüßten, dass sie in<br />

<strong>der</strong> schlimmsten Elendsregion des Landes sich befinden, wo die<br />

Arbeitslosigkeit Generationen vorher Einzug hielt, also bevor sie in ganz<br />

147


Deutschland ausbrach. <strong>Auf</strong> Schalke! Wo die Menschen nichts haben außer<br />

einem bankrotten Verein, <strong>der</strong> nie Meister wird. Na, vielleicht genau DER<br />

magische Ort für einen Visionär ("Rette mich!", <strong>der</strong> letzte Chart-Renner).<br />

Kaulitz hat ohne Zweifel das Messias-Gen. Wo es an<strong>der</strong>en (Hiphop-) Stars<br />

<strong>um</strong> Kohle, fette Limousinen, geile Bräute und noch geilere Plattenverträge<br />

geht, geht es ihm <strong>um</strong> die Massen. Er will sie beglücken. Sie und Nena.<br />

Sie spielen acht Zugaben. Ihre dreizehn Songs <strong>der</strong> CD haben sie längst<br />

alle gespielt, machen es einfach nochmal, ein zweitesmal, das ganze<br />

Konzert. Sie schwitzen nicht, krepieren nicht wie Joe Cocker auf <strong>der</strong><br />

Bühne, das Mikro im Sterben <strong>um</strong>klammert. Sie haben Kraft für zwei, drei,<br />

viele Konzerte. Und nicht nur dafür. Der Regen stoppt sie, das<br />

versprochene Sommergewitter. Die perfekte Gelegenheit, nochmal "Durch<br />

den Monsun" zu spielen, z<strong>um</strong> drittenmal, durch Blitz und Donner, diesmal<br />

locker eine zehn-Minuten-Fassung. Und danach das Ende im Fanal<br />

nichtendenden Jubels.<br />

Eine deutsche Band, kein Zweifel. Danach <strong>der</strong> Abmarsch. Zehntausende<br />

bewegen sich in einer gelenkten Kreisbewegung - wie die Pilgermassen<br />

beim Gang <strong>um</strong> die Kabaa - nach draußen. Die Mädchen schreien weiter. Es<br />

bleibt laut. Und wird immer unwirtlicher und nasser. Aber das ist die openair-Situation,<br />

an die sich die Tokio Hotel Fans nun gewöhnen müssen.<br />

Konzerte in geschlossenen Rä<strong>um</strong>en wird es in Zukunft wohl nicht mehr<br />

geben. Das Schreien überschreitet inzwischen die gesetzlich zulässige<br />

(eigentlich für die Verstärker gedachte) Dezibel-Obergrenze.<br />

Interview mit TOKIO HOTEL/ Vögelsen bei Lüneburg, August 2006<br />

SPIEGEL: Am Freitag Morgen <strong>um</strong> 9 Uhr kommt „Der letzte Tag“ in die<br />

Musikgeschäfte. Wird es wie<strong>der</strong> die N<strong>um</strong>mer Eins werden?<br />

Tom: Das wissen wir ab etwa Dienstag. Aber in <strong>der</strong> zweiten Woche sollten<br />

wir es geschafft haben.<br />

SPIEGEL: Was bedeutet Euch diese CD?<br />

Tom: Wir reflektieren über das letzte Jahr. Über das Songschreiben, den<br />

Medienhype, das All<strong>eins</strong>ein, in das man sich dann flüchtet.<br />

SPIEGEL: Wie ist denn die Musik diesmal?<br />

Tom: Melancholisch, gitarrenlastig... ein bißchen wie Nirvana vielleicht.<br />

Aber das darf man natürlich nicht sagen, das sind ja Heilige. Es sind<br />

Momentaufnahmen.<br />

SPIEGEL: Ist Tokio Hotel die erste authentische Jugendbewegung seit<br />

zehn Jahren, also die Antwort auf die sogenannten Casting-Bands?<br />

Bill: Wir sind auch keine Fans von Casting-Bands. Uns war es schon immer<br />

wichtig dass wir genau in <strong>der</strong> Formation bleiben und das machen worauf<br />

wir Lust haben.<br />

SPIEGEL: Die letzten Jahre bescherten uns künstliche Bands. Alte<br />

Personen wie Dieter Bohlen schreiben die Texte, ältere komponieren, noch<br />

ältere erfinden „Deutschland sucht den Superstar“ und an<strong>der</strong>e sogenannte<br />

Casting Shows. Verachtet Ihr das?<br />

Bill: Also eigentlich finde ich traurig was da passiert. Heutzutage ist es<br />

sehr schwer die richtigen Leute zu finden und da gibt es bei Castings<br />

148


estimmt ganz viele Künstler die eigentlich authentisch arbeiten o<strong>der</strong> die<br />

vielleicht sogar eine Band haben o<strong>der</strong> sehr talentiert sind, die aber<br />

vielleicht keine an<strong>der</strong>e Möglichkeit mehr sehen, als bei einem Casting<br />

mitz<strong>um</strong>achen. Wir waren eine Band in Magdeburg, wir wussten auch nicht<br />

wie das gehen sollte, aber wir waren irgendwann zur richtigen Zeit am<br />

richtigen Ort und haben unseren Produzenten getroffen. Aber diese<br />

Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, ist ja mehr als gering.<br />

TOM: Ich meine, man kann schon so vorgehen und Tapes an<br />

Plattenfirmen verschicken, aber es nützt eben nichts. Sie gelangen nie an<br />

die richtigen Personen, sie werden abgefangen und nach ein paar Wochen<br />

wahrscheinlich weggeworfen,<br />

SPIEGEL: Die Musikszene in Deutschland ist doch eigentlich recht<br />

lebendig zur Zeit... wir sind Helden, Silbermond, Juli und so weiter. Man<br />

hat das Gefühl es wäre doch eine funktionierende Szene, ein Markt,<br />

Mechanismen die das irgendwie regeln, dass da unten in <strong>der</strong> Mitte und<br />

ganz oben die Leute hinkommen, die das Talent dazu haben. Das hättet<br />

ihr doch auch schaffen können o<strong>der</strong> nicht? Also ohne den großen Zufall<br />

des ‚Entdecktwerdens‘?<br />

Bill:: Viele deutsche Bands haben jetzt wie<strong>der</strong> die Möglichkeit auf sich<br />

aufmerksam zu machen, die Zeit ist günstig, weil das natürlich jetzt<br />

gerade angesagt ist. Ist ja klar, wenn eine Band gut funktioniert, dann<br />

suchen die Plattenfirmen natürlich nach an<strong>der</strong>en Bands, das heißt dann<br />

gibt es für viele wie<strong>der</strong> eine Möglichkeit den richtigen Kontakt zu<br />

knüpfen. Wir spielen seit 6 Jahren zusammen und als wir anfingen, da<br />

hatten wir auch schon die ersten <strong>Auf</strong>tritte in vielen kleinen Clubs. Da<br />

steht aber nicht einfach ein Produzent her<strong>um</strong> o<strong>der</strong> jemand von einer<br />

Schallplattenfirma und sagt:“ Ich will dich haben!“. Das war ein<br />

Glücksfall, dass genau dieser Produzent an diesem Abend da war. Und wir<br />

sind sehr dankbar dafür, dass das passiert ist. Das war mehr als<br />

unwahrscheinlich und wir hätten nie damit gerechnet.<br />

SPIEGEL: Wie wäre das gewesen, wenn ihr nach Berlin gegangen wärt,<br />

etwa ein Jahr später?<br />

Georg: Das wäre schwer gewesen. Wir waren ja alle noch ziemlich jung<br />

und wir fanden es bereits cool, dass unsre Eltern uns in Magdeburg her<strong>um</strong><br />

fuhren, das ist ja auch nicht selbstverständlich.Es ist schon unglaublich<br />

schwer einen ersten <strong>Auf</strong>tritt in Berlin zu bekommen.<br />

Bill:: Ja, ohne Kontakt ist das echt schwer. Es gibt so unfassbar viele<br />

Bands. Allein wenn ich daran denke, mit wie vielen Musikern wir in<br />

Magdeburg aufgetreten sind, die alle nach uns und vor uns spielten, Da<br />

waren auch ganz viele talentierte Leute mit dabei, die Songs schreiben,<br />

die schon jahrelang auftreten, die aber einfach den Kontakt nicht haben.<br />

SPIEGEL: Aber ihr seid doch was beson<strong>der</strong>es...<br />

Tom: Ja vielleicht. Der Produzent wollte ja auch was mit uns machen und<br />

nicht mit den 30 an<strong>der</strong>n Bands die da mit uns aufgetreten sind.<br />

SPIEGEL: Kann es auch sein, dass euer Profil o<strong>der</strong> euer Programm,<br />

dieses Japanhafte eben doch sehr neu und ungewöhnlich ist immer noch<br />

und dass die normale eingefahrene Indiszene damit gar nicht<br />

zurechtgekommen wäre?<br />

149


BILL: Das ist auf jeden Fall so. Wir waren immer an<strong>der</strong>s als die an<strong>der</strong>n<br />

Bands. Wir sind immer heraus gestochen. Das ist vielleicht auch <strong>der</strong><br />

Grund, war<strong>um</strong> es dann funktioniert hat.<br />

SPIEGEL: Habt Ihr persönlich Kontakt zu den Stars <strong>der</strong> deutschen Welle<br />

wie Judith Holofernes, Jochen Diestelmeier, Bernd Begemann?<br />

Tom: Bill versteht sich sehr mit Judith. Wenn die sich irgendwo treffen,<br />

beim ‚Echo‘ o<strong>der</strong> so, stehen sie stundenlang zusammen und albern r<strong>um</strong><br />

und lachen und so weiter.<br />

SPIEGEL: Und wie geht es euch jetzt, wenn ihr in Zeitschriften immer mit<br />

diesen wi<strong>der</strong>wärtigen Bands „us five“ verglichen werdet?<br />

TOM:: DerVergleich betrifft wohl eher den Erfolg als die Musik.<br />

SPIEGEL: Wie ist euer Verhältnis zu den Casting-Bands ganz persönlich?<br />

Sind das für Euch auch Musiker? O<strong>der</strong> habt Ihr ein gewisses<br />

Überlegenheitsgefühl?<br />

Georg: Musiker würde ich nicht sagen. Es sind Interpreten.<br />

TOM:Ja, eher Interpreten... Die sind ein Produkt sozusagen, die sind<br />

gemacht worden. Sie bekommen alles vorgeschrieben, stehen auf <strong>der</strong><br />

Bühne und müssen das präsentieren.<br />

SPIEGEL: Gibt es in <strong>der</strong> Musik für Euch eine Untergrenze, wo selbst Ihr<br />

sagt: das ist mir zu schrecklich, das kann ich nicht hören?<br />

BILL: Also was ich z<strong>um</strong> Beispiel privat gar nicht höre und wo mit ich<br />

nichts anfangen kann, ist Techno und Schlager. Das hat null Emotionen<br />

und ist nicht echt. Also mir geht das so, ich spreche da nur für mich.<br />

TOM: Ja, mit Techno geht es mir ebenso, da können wir uns alle<br />

anschließen.<br />

SPIEGEL: Was war das erste Lied, was euch mal als Kind geprägt hat<br />

o<strong>der</strong> Euch aufgefallen ist?<br />

BILL: Bei mir war das „99 Luftballons“ von Nena. Ich bin ja immer noch<br />

Nena-Fan und das seit ich sechs bin. Da hab ich sie z<strong>um</strong> ersten mal<br />

gesehen und kurze Zeit später hab ich ja mit Tom bereits angefangen<br />

Songs zu schreiben und Gitarre zu spielen. Ihre deutschen Texte und<br />

Kompositionen waren einfach gut und ich mag sie auch einfach als Typ.<br />

TOM: Nena höre ich eher nicht. Seit vielen Jahren höre ich privat nur<br />

noch Hip-Hop, deutschen Hip-Hop, z.B. Samy Deluxe. Ich mag es<br />

natürlich nicht, wenn es dann nur dar<strong>um</strong> geht zu zeigen, wieviel Geld man<br />

hat und wieviele Frauen, das finde ich eher primitiv. Aber Samy Deluxe<br />

ist jemand, mit dessen Texten ich mich sehr identifizieren kann.<br />

Georg: Ich bin mit den Beatles, den Rolling Stones aufgewachsen. Da bin<br />

ich wohl <strong>der</strong> letzte, <strong>der</strong> das noch von sich behaupten kann (lacht). Ich<br />

war noch ich ziemlich klein bei <strong>der</strong> „Bridges to Babylon-Tour“ von den<br />

Rolling Stones. Da war ich in Leipzig auf dem Konzert und kann ich mich<br />

noch genau erinnern wie sie mit dem Hubschrauber erst über die Leute<br />

flogen und dann hinter <strong>der</strong> Bühne landeten. Das war eine coole Show.<br />

SPIEGEL: Wie verbindet sich bei euch <strong>der</strong> Input und <strong>der</strong> Output? Gibt es<br />

zwischen <strong>der</strong> Musik die Ihr hört und <strong>der</strong> Musik die Ihr schreibt einen<br />

Zusammenhang?<br />

BILL:Ich glaube das kommt automatisch. Dadurch dass wir alle komplett<br />

verschiedene Musik hören und dadurch dass wir alle so unterschiedlich<br />

150


sind , vermischt sich das automatisch und unbewusst. Wir wissen jedoch<br />

immer alle ganz genau was wir machen wollen.<br />

SPIEGEL: Wie schreibt Ihr Eure Songs? Zuerst den Text o<strong>der</strong> zuerst die<br />

Musik?<br />

BILL: Das ist auch unterschiedlich. Die Jungens schreiben immer die Musik<br />

und ich mach die texte und manchmal wenn sie schon ein Riff gefunden<br />

haben schreib ich dann einen Text <strong>der</strong> mir grade dazu einfällt. o<strong>der</strong> aber<br />

ich hab schon einen Text geschrieben,und habe eine Melodie in meinem<br />

Kopf, dann schreiben die Jungens dafür die Musik.<br />

SPIEGEL: Ihr habt ja einen <strong>Auf</strong>tritt nach dem an<strong>der</strong>en. Gibt es da nicht<br />

auch eine Sättigungsgrenze, so dass ihr keine Lust mehr habt?<br />

G: Bei Live-<strong>Auf</strong>tritten gibt es keine Sättigungsgrenze.<br />

BILL: Wir haben demnächst unser größtes Konzert und spielen in<br />

Gelsenkirchen vor 18.000 Leuten. Das wird richtig gut, das finden wir<br />

schon sehr sehr cool!<br />

SPIEGEL: Mögt ihr Deutschland?<br />

TOM:. Wir sind hier aufgewachsen, das ist unsere Heimat und natürlich<br />

fühlen wir da eine Verbindung.<br />

SPIEGEL: Was sagt ihr z<strong>um</strong> Ost-West-Gegensatz z<strong>um</strong> Beispiel?<br />

G: Das ist für uns überhaupt kein Thema<br />

BILL: Wir sind ja auch nicht in <strong>der</strong> DDR aufgewachsen.<br />

G: Das war alles vor unserer zeit.<br />

Gu: Vielleicht hatten wir nicht immer so viele Bananen wie die<br />

Westdeutschen...<br />

SPIEGEL: Spricht man Euch nicht drauf an, dass ihr aus Magdeburg<br />

kommt?<br />

G: Die meisten wissen nicht einmal wo Magdeburg liegt<br />

SPIEGEL:Lest ihr Zeitung? Tageszeitungen o<strong>der</strong> so?<br />

TOM: Ja, morgens z<strong>um</strong> Frühstück liest man schon mal die Zeitung.<br />

SPIEGEL: Deine Einstellung zu Angela Merkel?<br />

G: Also wenn schon unsere Bundeskanzlerin aus Ostdeutschland kommt,<br />

dann können wir ja wohl auch nicht so weit hinterher sein.<br />

SPIEGEL: Woran denkt Ihr bei dem Stichwort Neonazis?<br />

TOM: Wir als Jugendliche beschäftigen uns auf jeden Fall damit. Das<br />

begann schon in <strong>der</strong> Schule, da war Rechts/Links schon auch ein Thema.<br />

Natürlich finden wir ‚Rechts’ nicht gut,<br />

BILL:: Also es ist erstaunlich und auch traurig wie viele Leute quasi noch<br />

hinterm Mond leben und eine <strong>Mein</strong>ung haben, die erschreckend ist.<br />

TOM.: Vielleicht liegt es an <strong>der</strong> falschen Erziehung <strong>der</strong> Eltern, vielleicht<br />

auch am Umgang mit den falschen Leuten. Jugendliche sind ja auch<br />

extrem beeinflussbar und wenn man jung ist und nicht genügend<br />

<strong>Auf</strong>merksamkeit bekommt, dann rutscht man vielleicht schnell in falsche<br />

Kreise ab.<br />

G: Ja aber das muss man doch aber irgendwann mal begreifen. Man liest<br />

ja Zeitung und man schaut fern. Da muss man doch irgendwann<br />

reflektieren.<br />

151


BILL:Jedenfalls hab ich keinerlei Verständnis für diese Leute. Ich habe<br />

kein Mitgefühl und kein Verständnis. Na, vielleicht doch Mitgefühl, weil ich<br />

das mit JEDEM Menschen hab, aber kein Verständnis.<br />

SPIEGEL:Die Videokultur ist ja auch im Untergang begriffen, stimmt Euch<br />

das nachdenklich?<br />

BILL: Ich könnt heulen wenn ich daran denke! Überall laufen nur<br />

Klingeltonwerbung und diese „Dismissed“- Sendungen. Die sollten auch<br />

nicht auf MTV laufen, das passt zu RTL, aber nicht zu MTV.<br />

Ich finde, es sollte mal wie<strong>der</strong> einen Sen<strong>der</strong> geben, wo ausschließlich<br />

Musik läuft. Und diese Klingeltonwerbung, die finde ich echt so<br />

unerträglich, die sollte verboten werden, ganz im Ernst.<br />

SPIEGEL:Das Geld ist einfach nicht mehr da, <strong>um</strong> diese aufwendigen Filme<br />

herzustellen. Wie läuft das mit <strong>der</strong> Plattenfirma?<br />

BILL: Wir wissen dass das Geld knapp ist für Videos und so weiter, wir<br />

klemmen uns auch immer persönlich dahinter zusammen mit unserer<br />

Plattenfirma. Wir werden immer versuchen <strong>um</strong> jeden Preis ein Video zu<br />

machen.<br />

SPIEGEL:: Der Spiegel will natürlich wissen, was Ihr als Band soziologisch<br />

bedeutet, welcher Teil <strong>der</strong> Jugend sich aus welchen Gründen mit Euch<br />

identifiziert. War<strong>um</strong> gibt es jetzt Tokio Hotel Fans die so ganz an<strong>der</strong>s sind<br />

als z<strong>um</strong> Beispiel Fans <strong>der</strong> Kelly Family? Was bedeutet es, was auf deinem<br />

T-Shirt steht, <strong>der</strong> Schmuck, das ganze Äußere?<br />

BILL: Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer Dinge getan mit<br />

denen ich auffalle und die provozieren. Die Art, wie ich meine Haare trage<br />

o<strong>der</strong> wie ich mich anziehe, bringen meine Persönlichkeit z<strong>um</strong> Ausdruck<br />

Das hängt davon ab, wie ich morgens gelaunt bin,Ich kann nie<br />

vorhersagen, was ich tragen werde o<strong>der</strong> ob ich z<strong>um</strong> Beispiel morgen eine<br />

Glatze schneiden werde.<br />

SPIEGEL: Passt Ihr bei diesen ganzen jugendlichen Fans, die knapp über<br />

zehn Jahre alt sind nicht ein bisschen mehr darauf, was ihr sagt und tut?<br />

BILL:Also wir wissen, dass wir mit unserem Beruf Vorbil<strong>der</strong> sind für viele<br />

Menschen, dass sich viele Jugendliche an uns orientieren und sich mit<br />

unseren Texten identifizieren, wir haben jedoch nicht den Eindruck, dass<br />

wir ein schlechtes Vorbild sind und dass sich irgendwer sein Leben damit<br />

verbauen würde.<br />

SPIEGEL: Ich glaube, dass eure Jugend, die die auf Euch schaut,sich auch<br />

irgendwie unterscheidet von <strong>der</strong> Jugend, die es vorher gab, z.B. zur Zeit<br />

<strong>der</strong> Beatles. Fragt sich nur, in welcher Hinsicht unterscheidet sie sich?<br />

G: Die nehmen keine Drogen<br />

BILL: Also wenn wir Texte machen wie „Schrei“, dann beabsichtigen wir<br />

etwas und dann wollen wir, dass unsere Fans das verkörpern. Wir hatten<br />

schon so viele Briefe, von dankbaren Fans, die, seit sie den Song kennen,<br />

mit noch mehr Selbstbewusstsein durch's Leben gehen. Vielleicht sind wir<br />

insofern dann ein Vorbild, dass wir etwas bewegen und dass die Leute sich<br />

an<strong>der</strong>s fühlen, wenn sie uns hören.<br />

TOM: Das ist eine Jugend, die nicht macht, was sie gesagt bekommt, die<br />

sich nicht unterbuttern lässt, son<strong>der</strong>n die lernt ihren eigenen Weg zu<br />

gehen.<br />

152


SPIEGEL:Also vielleicht auch eine Jugend, die von allein erziehenden<br />

Müttern großgezogen wurde, aus Scheidungsfamilien kommt und sich<br />

dann auch verstanden fühlt, wenn sie Tokio Hotel hört?<br />

Bill (wesentlich ruhiger, bedächtig): Das ist ja mit ein Thema, was wir<br />

angesprochen haben auf dem letzten Alb<strong>um</strong>. Der Song heisst „Gegen<br />

meinen Willen“.<br />

TOM: Das ist bei vielen Fans ein Thema, die hören das Lied und das hilft<br />

ihnen.<br />

SPIEGEL: Was war <strong>der</strong> schwärzeste Tag in eurem leben? Die größte<br />

Gemeinheit?<br />

BILL: Nicht unbedingt <strong>der</strong> schlimmste Tag, aber ein schlimmer Tag war,<br />

als meine Eltern sich getrennt haben. Es ist schwer das zu verstehen,<br />

wenn man so jung ist, mit sechs,<br />

TOM: Ja das ging mir ebenso, aber bei mir gab es dann auch so Zeiten,<br />

wo ich mich in <strong>der</strong> Schule nicht verstanden gefühlt habe, wo ich aneckte<br />

bei den Lehrern. Und das war schon schlimm.Bill und ich wir hatten<br />

immer viele Freiheiten, wurden sehr offen erzogen, konnten sagen, was<br />

wir dachten und da sind wir natürlich viel auf Wi<strong>der</strong>stand gestossen.<br />

Bill: Wir hatten immer unseren Freira<strong>um</strong>, ich lief her<strong>um</strong> wie ich wollte,<br />

schon mit etwa zehn Jahren durfte ich mir meine haare färben Unsere<br />

Mutter liess uns immer diesen Freira<strong>um</strong>.<br />

TOM: War<strong>um</strong> sollte sich ein junger Mensch nicht die Haare blau färben<br />

dürfen, wenn er Lust dazu hat?Das kann man immer wie<strong>der</strong> än<strong>der</strong>n,<br />

wenn das irgendwann nicht mehr gehen sollte wegen des Jobs z.B., Aber<br />

es ist auch wichtig, dass die Eltern ihrem Kind den Weg zeigen und auf es<br />

aufpassen. Und wenn sie merken, dass das Kind das schon irgendwie<br />

hinkriegt und seine Sache schon macht, dann sollte man ruhig auch den<br />

nötigen Freira<strong>um</strong> schaffen.<br />

G: Ich denke die Eltern müssen Freirä<strong>um</strong>e vor allem für Fehler lassen,<br />

weil man nur aus Fehlern lernt.<br />

SPIEGEL: Bill:, du hast doch bei Starsearch mitgemacht, wie kams dann<br />

dazu?<br />

TOM:Wir saßen auf <strong>der</strong> Couch und in diesem Moment lief die Werbung im<br />

Fernsehen für diese Casting-show bei <strong>der</strong> sich junge Leute bewerben<br />

konnten, die unter 16 waren. Zwischen Tom und mir lief damals eine<br />

Wette und wir beschlossen: wer verliert, <strong>der</strong> muss sich da bewerben<br />

BILL: Jedenfalls hatten wir gewettet und ich verlor wie man nun weiss. Ich<br />

musste den <strong>Auf</strong>tritt also durchziehen und das war mir schon sehr peinlich.<br />

Bis heute habe ich das nie wie<strong>der</strong> angeschaut und die Teilnahme hat mir<br />

im Nachhinein auch nichts genützt. Keiner hat mich entdeckt, niemand hat<br />

sich daraufhin gemeldet. .<br />

Auch <strong>der</strong> Versuch die Jungens mit einzubauen, hat nicht funktioniert<br />

SPIEGEL:Jetzt muss ich doch mal eine Bravo-Frage stellen...<br />

G: ...wir haben keine Freundin!<br />

SPIEGEL:Also Mädchen müssen ja doch irgendeine Rolle im Laufe <strong>der</strong><br />

Bandgeschichte gespielt haben<br />

BILL:Da die Band an allererster Stelle steht, haben wir natürlich nur<br />

wenig Zeit. Das war bei mir schon immer so. Für mich stand immer fest,<br />

153


dass ich Musik machen möchte, und dahin wendet sich meine ganze<br />

Konzentration. Dafür investiere ich alles, meine ganze Zeit und meine<br />

Energie. Und natürlich hatten wir Freundinnen und das war auch alles gut<br />

und schön und aber das wurde eben irgendwann immer ein Problem. Wir<br />

hatten und haben immer weniger Zeit.<br />

TOM: Wir waren eine Männer-Runde.<br />

Georg: Das war unsere eigene Welt...<br />

BILL: ...zu <strong>der</strong> niemand Zutritt hat.<br />

SPIEGEL: Aber Ihr interessiert Euch doch für Mädchen?<br />

Tom: Das versteht sich doch von selbst. Bill hatte auch schon feste<br />

Freundinnen. Aber wir unterscheiden uns in unserer Einstellung extrem.<br />

Ich bin nicht abgeneigt auf ein Abenteuer, während Bill sowas niemals<br />

machen würde.<br />

Bill: Ich warte auf die große Liebe.<br />

Tom: Bill ist da so extrem, das kann man sich gar nicht vorstellen.<br />

SPIEGEL: Der spricht lieber mit dem Tourbus-Fahrer als mit einem<br />

hübschen Groupie?<br />

Bill: Oh nein, nein! Natürlich spreche ich mit dem Mädchen! Aber es muß<br />

schon eine schicksalshafte Begegnung sein, wenn mehr daraus werden<br />

soll.<br />

SPIEGEL: Und Drogen?<br />

Tom: Da sind wir noch extremer. Das ist für uns außer<strong>halb</strong> je<strong>der</strong><br />

Vorstellungsmöglichkeit.<br />

SPIEGEL: Aber Popstars nehmen doch Drogen.<br />

Tom: Mag sein, sollen sie. Vielleicht kommen wir ja später mal auf den<br />

Geschmack. Aber jetzt ist es echt das Allerletzte, woran wir denken<br />

würden. Dieser Scheiß!<br />

SPIEGEL: Apropos später: Was müsste passieren in den nächsten fünf<br />

Jahren, damit ihr denkt: so ist es am allerbesten?<br />

TOM: Weitere Alben, weitere Konzerte und .wenn sich alles so gut<br />

weiterentwickelt wie bisher, dann kann es perfekter nicht sein. Wir haben<br />

Schallplatten auf dem Markt, sie verkaufen sich gut, die Menschen<br />

interessieren sich für uns, viele Zeitungen schreiben über uns, wir haben<br />

viele Fans und wir sind in <strong>der</strong> Lage riesige Konzerte zu geben.<br />

SPIEGEL: Habt ihr auch schon einmal überlegt das Projekt mit Eurer Band<br />

zu stoppen ?<br />

Bill, Georg: Niemals!<br />

TOM: Nein, niemals. Also wir könnten es je<strong>der</strong>zeit. Wir könnten sagen ich<br />

mag nicht mehr...<br />

BILL: ...aber das kommt für uns gar nicht in frage, das ist das letzte<br />

woran wir denken. Wir haben noch viel vor. Wir möchten schreiben viel<br />

erleben und es macht uns Spass in <strong>der</strong> Welt her<strong>um</strong> zu kommen.<br />

Gustav: Schliesslich müssen wir noch nach Tokio.<br />

TOM: Vielleicht fragen Sie uns in fünf Jahren noch einmal.<br />

Fußnote<br />

Tokio Hotel<br />

154


Z<strong>um</strong> ersten Mal schlug ich das Thema dem SPIEGEL vor, als die Gruppe "Durch den<br />

Monsun" herausbrachte. Ich sah das Video zufällig auf dem Musikkanal VIVA. Ich drehte<br />

lauter. Als ich in die Küche zu meiner Frau Barbi ging, hörte ich, dass sie mitsang. Aber<br />

nicht richtig, sie äffte es eher nach. Sie kannte das Lied schon und hasste es. Ich dachte<br />

spontan: "Ich sollte einen Artikel schreiben, <strong>der</strong> müßte die Überschrift tragen: `Sind<br />

Tokio Hotel die neuen Beatles?`" War<strong>um</strong> ich das dachte, weiss ich nicht. Vielleicht weil<br />

meine Mutter, als ich sieben war und z<strong>um</strong> erstenmal die Beatles hörte, ebenso reagierte.<br />

Erwachsene mögen keine Kin<strong>der</strong>musik. Ich mußte nicht darüber nachdenken, wie die<br />

Redakteure des SPIEGEL Tokio Hotel fanden. Natürlich unter aller Sau.<br />

Indiskutabel. Das absolut letzte. Das sagten sie nicht. Das dachten sie nicht einmal.<br />

Aber ich wußte es. Wenn ich meinen Artikel so nannte, war das die größte denkbare<br />

Provokation für sie, diese Riege alter Babyboomer und Beatlesfans. Als würde man einen<br />

gläubigen Moslem fragen: `War Mohammed Britney Spears?`. Ich schrieb mehrere E-<br />

Mails an den Ressortchef, das Thema immer weiter ausschmückend, bekam aber keine<br />

Antwort. Dann schlug ich es in <strong>der</strong> Redaktionssitzung vor.<br />

<strong>Mein</strong>e Angst war insgeheim, man würde mir sexuelle Neigungen zu den kleinen Jungs<br />

unterstellen, da jedes an<strong>der</strong>e Motiv ausgeschlossen war. Die Reaktion darf ich nicht<br />

schil<strong>der</strong>n, da ich Redaktionsgeheimnisse nicht verbreiten darf. Nur<br />

soviel: Es geschah nichts. Ein <strong>halb</strong>es Jahr verging. Die Gruppe wurde immer bekannter,<br />

mein Interesse immer geringer. Nach ihrem dritten N<strong>um</strong>mer Eins Hit schlug ich das<br />

Thema nochmal vor, und diesmal bekam ich ein mattes Okay. Ich konnte jetzt<br />

wenigstens mal auf eigene Faust recherchieren, ohne ein Dementi <strong>der</strong> Redaktion<br />

befürchten zu müssen. Inzwischen hatte <strong>der</strong> `stern` die übliche Alles-nur-gemacht<br />

Entlarvungsgeschichte gedruckt, wie sie es bei je<strong>der</strong> echten Neuheit seit<br />

35 Jahren tun. Das beruhigte die Kollegen, die nun wohl auch von mir eine<br />

spotttriefende, hämische Hinrichtung von Tokio Hotel erwarteten. Es kam zu einem<br />

Treffen mit den vier Jungen in einem norddeutschen Bauernhof, wo sie irgendwie<br />

trainierten, Butterbrote aßen, den Hühnern zusahen o<strong>der</strong> sonstwie abtauchten.<br />

Es war nicht ihr Elternhaus, aber so etwas ähnliches. Völlige Ruhe <strong>um</strong>gab das irgendwie<br />

gottverlassene Anwesen. Ich machte mein Interview, und da die Kin<strong>der</strong> nichts<br />

Brauchbares antworteten, dauerte es ewig. Es ist nämlich so: Ich kann kein Interview<br />

beenden, bevor nicht etwas Sinnvolles und somit Druckwürdiges gesagt wurde. Als die<br />

üblichen 20 Minuten vorbei waren, hatte ich noch keinen einzigen Gedanken auf dem<br />

Zettel. So machte ich weiter. Nach vier Stunden hatte ich endlich soviel Material, dass ich<br />

mir zutraute, durch geschickte Verdichtung, Collagetechnik, mit dem Management<br />

abgesprochene Manipulation, eigene Inspiration sowie weitere Schnipsel in privaten<br />

Gesprächen "off the record", mein Interview fertig zu kriegen. Dabei ist zu sagen, dass<br />

die Antworten von Bill und Tom Kaulitz keineswegs d<strong>um</strong>m waren, im Gegenteil: sie<br />

waren zu klug. O<strong>der</strong> zu richtig, zu realistisch, zu professionell. Es waren<br />

Roboterantworten, die aber nicht von Robotern gesprochen wurden, son<strong>der</strong>n von höchst<br />

leidenschaftlichen, liebenswerten Jugendlichen. Man hat diesen Eindruck (ganz selten)<br />

einmal, wenn einem ein neues Politikergesicht ausnahmsweise sympathisch ist, etwa<br />

Katja Kipping, bevor es schon beim zweiten o<strong>der</strong> dritten Talkshowauftritt für immer in<br />

<strong>der</strong> eigenen Wahrnehmung erstarrt. Die an<strong>der</strong>en beiden Jungs waren nett und normal.<br />

Sie sprachen nicht wie Roboter. Es waren Menschen. Aber es ging auch keine Faszination<br />

von ihnen aus. Faszinierend waren Tom und Bill, wobei Bills Faszination deutlich größer<br />

war als Toms. Ohne im mindestens schwul zu wirken o<strong>der</strong> zu sein, wahrscheinlich gerade<br />

des<strong>halb</strong>, verwirrte er die Sinne aller Menschen, Tiere und Gegenstände beträchtlich. Der<br />

Mann war nicht einzuordnen, von niemandem, und selbst Jesus Christus hätte Mühe<br />

gehabt, ihm den Bru<strong>der</strong>kuss zu geben ohne Herzklopfen.<br />

Wir waren uns sympathisch und verabredeten ein weiteres Treffen. Ich wollte mir die<br />

Gruppe live beim <strong>Auf</strong>tritt ansehen, und zwar in <strong>der</strong> Glückauf Kampfbahn in<br />

Gelsenkirchen. <strong>Mein</strong> Interview löste beim SPIEGEL verheerende Reaktionen aus.<br />

Es würde zu lange dauern, all die verschiedenen Versuche meinerseits, das Interview zu<br />

retten, <strong>um</strong>zuschreiben, zu kürzen und so weiter, und die Reaktionen <strong>der</strong> Redaktion<br />

darauf zu schil<strong>der</strong>n. Wahrscheinlich ist <strong>der</strong> ganze Prozeß gar nicht mehr rekonstruierbar.<br />

Wozu auch, die Interviewform war ohnehin nicht typisch für mich und die Arbeit beim<br />

SPIEGEL. Interviews müssen immer geän<strong>der</strong>t werden, haben mit Kreativität und<br />

155


Sprachschönheit nichts zu tun. Diesen Konflikt hatte ich dagegen wie<strong>der</strong> bei meiner<br />

Reportage über das Tokio Hotel Konzert, die ich nun schrieb. Wie alle meine Texte war<br />

sie rund<strong>um</strong> gelungen und unverbesserbar wie eine Fuge von Bach. Das Ritual des<br />

Umschreibens und Verschlechterns begann. Nach dem 37. Umschreiben - zuletzt nur<br />

noch von meiner Frau Barbi vorgenommen - war <strong>der</strong> Text komplett ruiniert. Es gab nun<br />

z<strong>um</strong> Thema Tokio Hotel bereits zwei zerstörte <strong>Lottmann</strong>texte, beide aufwendig<br />

recherchiert und teuer finanziert. Das war wohl <strong>der</strong> Grund, war<strong>um</strong> über viele weitere<br />

Zwischenstufen es dann plötzlich DOCH zu einer Veröffentlichung kam. So kommt es<br />

nämlich auch bei dem normalen Mitarbeiter z<strong>um</strong> Erfolgserlebnis: er wird gedruckt, weil er<br />

sich solange bemüht hat, so lange r<strong>um</strong>gekrebst hat in <strong>der</strong> Warteschleife mit den 300<br />

an<strong>der</strong>en unglücklichen Mitarbeitern, weil er "dran ist". Es kam nun zu einer Fassung, die<br />

alle möglichen Elemente <strong>der</strong> 37 <strong>um</strong>geschriebenen Versuche enthielt, z<strong>um</strong> Beispiel diesen<br />

Musikwissenschaftler, <strong>der</strong> die musiktechnischen Gem<strong>eins</strong>amkeiten von Tokio Hotel und<br />

den Beatles erklärte. Von meinem ersten Themenvorschlag bis zur Realisierung war<br />

genau ein Jahr vergangen. Das Provokationpotential war fast schon verflogen; die Band<br />

stand kurz davor, auch von den seriösen Medien anerkannt zu werden. Vielleicht auch<br />

nicht, vielleicht lag es nur an meinem SPIEGEL Artikel, <strong>der</strong> dazu führte, dass Tom und Bill<br />

Kaulitz in die nächste Beckmannsendung durften. Der `stern` schwenkte <strong>um</strong>, brachte<br />

den ersten "sie sind wirklich neu"-Bericht seit Menschengedenken. <strong>Mein</strong> Anliegen, eine<br />

Band zu för<strong>der</strong>n, die keine Casting Band ist, und dabei das Casting Unwesen als Teil einer<br />

großen Generationenungerechtigkeit zu zeigen, hatte ich durchgesetzt. Es war dasselbe<br />

Anliegen, dass mich auch meinen letzten Roman `Zombie Nation` schreiben liess. Beim<br />

SPIEGEL blieb das Entsetzen. Tokio Hotel gut? Quel blasphémie! Es war so, und das ist<br />

natürlich auch wie<strong>der</strong> ein bißchen ärgerlich und albern, als hätte ich mir durch diesen<br />

Artikel selbst beweisen wollen, wie recht ich doch in "Zombie Nation" gehabt hatte: die<br />

Generation <strong>der</strong> deutschen Feuilletons, diese von-Neill-Young-bis-Madonna-Generation,<br />

objektiv und subjektiv ja längst "Zombies" (daher <strong>der</strong> Titel) verhielt sich gegenüber<br />

allem, was nicht in ihren 1981-er Kanon paßte, arrogant und ignorant.<br />

27. Palast <strong>der</strong> Republik - DER KIRCHENTAG DER NEUBAUTEN<br />

Es war ganz schön scheußlich. Wirklich. Es war so, wie man sich es<br />

vorstellt: altgewordene Wendeverlierer aus dem Westen verkrümeln sich<br />

in den Weiten <strong>der</strong> galaktisch großen Tiefkühltruhe 'Palast <strong>der</strong> Republik'.<br />

Nun sind diese beiden Worte "Einstürzende Neubauten" und "Palast <strong>der</strong><br />

Republik" allein schon einen Artikel wert. Weil ja diese Band so alt und<br />

eingestürzt ist wie <strong>der</strong> Palast selbst. Weil da zwei Deutschlands<br />

zusammenfinden, die beide etwas Haarsträubendes haben: Die Grufti-<br />

Szene aus seligen Kohl-Tagen und die tote Welt <strong>der</strong> Inka-Mon<strong>um</strong>ente<br />

Erich Honeckers. Das müßte eigentlich was geben. Und <strong>der</strong> Artikel wird ja<br />

auch geschrieben.<br />

'Ideal' piept und säuselt aus dem Tour-Bus. Berlin leuchtet. Der Dom, von<br />

Willem Zwo höchstselbst bezahlt, funkelt neben den ganzen an<strong>der</strong>en<br />

evergreens <strong>der</strong> Berliner Republik, Schinkels Neue Wache, Schrö<strong>der</strong>s Alte<br />

Kommandatur, Schadows Zeughaus und so weiter. Doch dann <strong>der</strong> 'Palast'!<br />

Wie eine US-amerikanische 'gothic'-Comicphantasie ragt das braune<br />

Rostgebirge in den schwarznassen Nachthimmel. Hier können sie, mal<br />

wie<strong>der</strong>, 'blade runner II' drehen. Eine lange Schlange wie vor dem Moma<br />

kriecht von <strong>der</strong> Straße her an das gestürzte Megasymbol unbarmherziger<br />

Diktatur heran, wohl am Brandenburger Tor beginnend. Keine Autos. No<br />

games, just sport. Die Leute sehen alle aus wie Michael Stipes o<strong>der</strong> wie<br />

156


<strong>der</strong> heißt, von R.E.M. (<strong>um</strong> mal eine nichtdeutsche Spur zu legen, denn von<br />

nun an wirds fürchterlich teutonisch).<br />

Es ist eiskalt. Was für ein Bau! Wie allesverschlingend, allesvernichtend<br />

riesig. Man ahnt das von außen ja gar nicht. Es sind halt die Ausmaße des<br />

Alten Stadtschlosses, ob von Schinkel o<strong>der</strong> Schadow ist da ganz egal.<br />

Gewaltige meterdicke, 140-Meter-lange Stahlträger halten oben eine<br />

bedrohlich schwere Betondecke davon ab, herunterzustürzen auf diesen<br />

namenlosen Reichsparteitag wabern<strong>der</strong> deutscher New Wave Gefühle.<br />

Eine Kulisse wie für ein George-Orwell-Video, o<strong>der</strong> lassen wirs gleich raus,<br />

wie von Leni Riefenstahl geträ<strong>um</strong>t. Hier haben die Matrosenräte von<br />

Petrograd getagt, 1917 o<strong>der</strong> wann, im Beisein Eisenst<strong>eins</strong>! Das spüre ich<br />

doch! Da kann mir keiner was erzählen! Heraus z<strong>um</strong> Ersten Mai, jawoll,<br />

weil <strong>der</strong> Prolet ein Prolet ist! Man hört die schwere Kirchenorgel und<br />

dazwischen deutsche Worte wie "Fahrstuhl", "Taxi", "Minibar" - <strong>der</strong> Blixa<br />

Bargeld singt schon. Die Veranstaltung hat auf die Minute pünktlich<br />

angefangen, und ohne Vorgruppe...<br />

Ich schaue nach oben, immer wie<strong>der</strong>, zur Betondecke. Ein Kamikaze-<br />

Düsenjet würde an ihr zerschellen. Aber angsterregen<strong>der</strong> noch sind die<br />

vielen funzeligen Neben-, Tief- und Hinterebenen, die sich im Dunkel<br />

verlieren und ahnen lassen, daß <strong>der</strong> Schrecken dieses Ortes keinesfalls<br />

schon abgeschlossen, ausgegrenzt ist. Die hysterische Weibsmann-<br />

Stimme des Sängers erreicht jeden Winkel. Das ist ein Typ, hilf Himmel,<br />

zuckend, ekstatisch, <strong>der</strong> ewige Kinski natürlich, 'ausdrucksstark'. Blixa<br />

Bargeld. Nimmt sich entsetzlich wichtig, ist so h<strong>um</strong>orlos. Es gibt keine<br />

Ansagen, kein einziges Wort fürs Mikrofon, keine <strong>Auf</strong>lockerung. Der<br />

Hohepriester will seine Messe zelebrieren. Dabei ist die Hütte voll und<br />

je<strong>der</strong> könnte etwas Stimmung gebrauchen. Denn im 'Palast' wirkt jede<br />

Volksmasse verloren. Die Leute frieren wie wahnsinnig. Viele werden sich<br />

erkälten, einige sterben. Arme harmlose 30- bis 40jährige West-Loser, alle<br />

so nett... sie tun mir leid, ich mag sie. Sie tragen dunkle, zerbeulte<br />

Alltagshosen, Thermojacken von Tschibo, o<strong>der</strong> nur einen angejahrten V-<br />

Pullover. Die 'Neubauten' treten in Wave-Anzügen auf, Blixa im<br />

dunkelgrauen Dreiteiler mit Weste. Ein Bäuchlein schützt ihn davor, den<br />

späten Jagger zu geben und auf 'Sexsymbol' zu machen. Nein, er hat als<br />

'Aguirre <strong>der</strong> Zorn Gottes' die Rolle seines Lebens gefunden. Immer schön<br />

tiefsinnig hinter Nebelwänden und vor 'hypnotisierten' Menschenmassen,<br />

die in Trance die Köpfe nicken auf Befehl, grusel-grusel. D<strong>um</strong>pfe<br />

Trommelschläge nehmen ihnen den letzten freien Willen, diesen Ur-<br />

Germanen, die ihrem apokalyptischen comman<strong>der</strong> in chief hörig folgen, ja<br />

ja ja, das ist <strong>der</strong> Kick für die Auslän<strong>der</strong>, die auch Rammstein schon<br />

entdeckt haben, als 'typical kraut art'. Dann bricht es doch wie<strong>der</strong> aus,<br />

bricht die feierliche Stimmung weg, als <strong>der</strong> Zeremonienmeister seine<br />

Kompetenz überdehnt und zu jodeln anfängt wie Hubert von Goisern und<br />

seine Almkatzerln. Da nutzt ihm auch die exzentrisch lange Hitler-Tolle<br />

nichts mehr, die er wütend nach vorn ins Gesicht wirft: das zahlende<br />

Publik<strong>um</strong> will nun partout nicht mehr heilig gestimmt sein! Es beginnt zu<br />

lachen, sich zu unterhalten, Handygespräche anzunehmen. Also die, die<br />

ein Handy besitzen. Die meisten <strong>der</strong> schmächtigen, redlichen West-Loser-<br />

157


Senioren können sich ja k<strong>eins</strong> leisten, o<strong>der</strong> sind mit <strong>der</strong> Technik noch<br />

nicht vertraut...<br />

Blixa will nun das Konzert tatsächlich abbrechen. Und tut es auch erstmal.<br />

Er sagt, es sei ihm zu laut. Minutenlang tut sich nicht mehr viel. Die Leute<br />

werden nicht leiser. Blixa will die sakrale Stille für seine Botschaften.<br />

Welche Botschaften? Was hat er uns zu sagen? Was WILL dieser Mann?<br />

Seit wann gibt es ein Schweigegebot bei Kitsch? Das sieht niemand ein.<br />

Bei 'H<strong>um</strong>an League' hätten sie vielleicht mehr Respekt gehabt, weil man<br />

außer "She was a waitress in the cocktail bar" nicht viel versteht, als<br />

jemand, den das Leben bestraft hat, weil er zu spät gekommen ist. Aber<br />

hier? Dieser weihevolle Trübsinn? Man versteht doch jedes Wort! Die Band<br />

macht trotzdem weiter - düster, dräuend, ahnungsvoll, und dann sagt<br />

dieser Frontmann doch noch etwas: daß die Band jetzt die greatest Hits<br />

aus 25 Jahren Einstürzende Neubauten spielen werde.<br />

Ich gehe die Treppe hinunter, entferne mich. Ich erinnere mich daran, wie<br />

alt mir die Rolling Stones vorkamen, als sie ihr zehnjähriges<br />

Bühnenjubilä<strong>um</strong> feierten. Da war ich noch ein Kind. Alte Menschen, dachte<br />

ich damals, sollten nicht mehr auf <strong>der</strong> Bühne r<strong>um</strong>hampeln.<br />

Schicksalsschwer zittert ein dunkles Cello. Dann wie<strong>der</strong> Hardrock-Griffe,<br />

maßlos laut, die Toten Hosen sozusagen brettern mit ihrer Bier-Musik<br />

durch den Palast <strong>der</strong> Republik. Schon seltsam, daß dieser Ort, genau hier<br />

und nirgendwo an<strong>der</strong>s, das Allerheiligste des Sozialismus war, die<br />

kommunistische Kabaa. Und heute: Quatsch und Kitsch; deutsche<br />

Schauerromane, tödlich ernst aufgetischt.<br />

Nur hat keiner mitgemacht. Die Band verzog sich reichlich beleidigt nach<br />

zwei Stunden hinter die Bühne und wartete darauf, für mindestens vier<br />

Zugaben rausgeklatscht zu werden. Als keiner klatschte, kamen sie auch<br />

so. Für eine.<br />

28. Popstar aus Lüdenscheid - Jens Friebe<br />

„Wie findest du eigentlich meine Platte?“<br />

Jens Friebe will geliebt werden – als Popstar. Halb hat <strong>der</strong> Berliner Sänger<br />

das mit seiner Debüt-CD schon geschafft. Eine Begegnung<br />

„I don't know what it is<br />

It makes me feel like this,<br />

I don't know where you are<br />

But you must be a kind of superstar..."<br />

(Kelly)<br />

Es nieselt leicht, aber man kann ohne Regenschirm den dürren<br />

Grünstreifen auf <strong>der</strong> Stalinallee entlangschleichen, dem Osten entgegen.<br />

Kein Auto zeigt sich, es ist Sonntag, es sind sogar Ferien. Jens Friebe ist<br />

noch fertig vom letzten <strong>Auf</strong>tritt. Er musste plötzlich Bl<strong>um</strong>feld ersetzen,<br />

eine Band, die nun keiner mehr hören will. Nicht mehr, seit vor kurzem<br />

158


Friebes CD „Vorher Nachher Bil<strong>der</strong>“ (ZickZack) erschienen ist. Dabei ist<br />

Friebe nicht gerade schön, aber dreist angeschwult und undefinierbar<br />

daneben. Irgendwas ist da, das es bisher nicht gab. Die Mädchen sind<br />

verrückt nach ihm, auf Konzerten sieht man sie, rot angelaufen, verheult,<br />

erregt. Die Manager registrieren diesen „Groupiefaktor“ sehr genau.<br />

Wann hatte es zuletzt einen deutschen Star mit diesem Faktor gegeben?<br />

Selbst <strong>der</strong> frauenfixierte Bernd Begemann zog in demselben Alter nur<br />

männliche Fans an, vor 15 Jahren. Doch nun: Jens Friebe. Ein Name wie<br />

eine Autowerkstatt. Wie für eine schlechte Comedysendung ausgedacht.<br />

So könnte ein Busfahrer heißen. Aber einer, <strong>der</strong> MTV-Mädchen in den<br />

Orgasmus treibt? Wie ist das überhaupt, mit so vielen Groupies zu<br />

schlafen? Was machen da seine metrosexuellen Persönlichkeitsanteile?<br />

„Ich kann’s dir nicht sagen, Mann, selbst wenn ich es könnte“, stöhnt er.<br />

Zur Metrosexualität gehört auch, nicht mehr über Sex zu reden: „Das ist<br />

einfach over.“ Eine gute Kombi sei, verrät er immerhin, die mittelalte Frau<br />

mit Kind. Da verbinde sich die reale Lebenserfahrung <strong>der</strong> Frau mit <strong>der</strong><br />

unterstellten Medien-, also Welterfahrung des nur <strong>halb</strong> so alten Jungstars.<br />

Aber am liebsten schläft er immer noch mit seiner Freundin Doreen aus<br />

Hellersdorf, weil da „Spiritualität“ hinzukomme.<br />

Anyway: Er will dafür geliebt werden, ein Star zu sein. Nur als Star fühlt<br />

er sich gemeint. Alles an<strong>der</strong>e wäre austauschbar. „An<strong>der</strong>e Jungs haben<br />

alles, was ich auch habe. Aber den Starstatus haben sie nicht.“ Bei<br />

Frauen, die ihn deswegen lieben, muss er keine Konkurrenz fürchten.<br />

„Wer sollte da kommen? Die Jungs von Echt vielleicht? Das sind doch<br />

Schüler!“ Schlecht gelaunt stolpert er weiter. Der Sozialismus hat<br />

Grünflächen nie in den Griff bekommen. Die wilden Grasbüschel im<br />

Mittelstreifen machen, was sie wollen. Na ja, Honecker ist tot, da tanzen<br />

die Mäuse auf den Tischen.<br />

„Wie findest du eigentlich meine Platte?!“, fragt Friebe ungeduldig. Ich<br />

erkläre es: „Sehr dynamisch! Die Musik hängt mich immer nach zehn<br />

Sekunden ab. Von da an kann ich nicht mehr auf den Text achten,<br />

son<strong>der</strong>n werde von dieser sich ständig steigernden Dynamik ergriffen. Das<br />

ist bei allen Stücken so. Sie beginnen intellektuell und enden dramatisch.“<br />

Jens nickt befriedigt. Er gilt nämlich als politisch und engagiert. Aber<br />

lieber wäre er ein guter Musiker.<br />

Die Stalinallee, die heute wie<strong>der</strong> Frankfurter heißt, nimmt kein Ende.<br />

Friebe schaltet auf Konversation <strong>um</strong>, also Städtevergleiche, Horoskope,<br />

Weltreligionen und so weiter. Köln sei die Stadt mit dem schlimmsten<br />

Regionalismus. An Berlin komme natürlich nichts heran: „Und man denkt:<br />

War<strong>um</strong> bin ich nicht gleich hierher gezogen?“ Wir stolpern nach vorn,<br />

unseren Füßen hinterher. Friebe hat den totalen hangover. Die lassen so<br />

einen hübschen jungen Popstar ja nicht einfach wie<strong>der</strong> in den Tourbus<br />

steigen, die weiblichen Fans. Eine Gruppe Ostjugendlicher überholt uns.<br />

159


Gelbe Haare, wie sie Die Ärzte haben, schwarze Klamotten, Jeans mit<br />

Löchern, die eine Hand am Arsch <strong>der</strong> Freundin, in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ba<strong>um</strong>elt<br />

eine offene Flasche Rotkäppchensekt. Eine Blonde schlägt im Gehen auf<br />

ihren Freund ein, immer wie<strong>der</strong>, ritsch-ratsch.<br />

Das beste Lied auf Friebes CD heißt „Das deutsche Kino ist das<br />

schlechteste von <strong>der</strong> Welt“. Damit meint Friebe die Moritz-Bleibtreu- und<br />

Franka-Potente- Filme ebenso wie „Gegen die Wand“. „Da wird immer<br />

gebrüllt und geschrien wie im mo<strong>der</strong>nen Theater. Je mehr Kotze und<br />

Schleim, desto echter, denkt die Kritik und jubelt. Für mich sieht<br />

Realismus an<strong>der</strong>s aus.“ Für den Song wird er oft unbegreiflich hart<br />

angegriffen und versteht es nicht. Friebe liebt Robert Stadelober, dem er<br />

übrigens ziemlich ähnlich sieht. Auch <strong>der</strong> hat dieses nachlässig<br />

Angeschwulte, ohne schwul o<strong>der</strong> wenigstens schön zu sein. Prompt zieht<br />

auch Stadelober megaschwere Aggressionen auf sich. Er werde auf <strong>der</strong><br />

Straße manchmal sogar angespuckt, habe <strong>der</strong> ihm gestanden. Kein<br />

Wun<strong>der</strong>, dass <strong>der</strong> Schauspieler („Crazy“) seinen Beruf nicht achtet und<br />

lieber Musiker sein möchte. Lei<strong>der</strong> ist seine Band zu schlecht.<br />

Friebe hält kurz inne, <strong>der</strong> 22-jährige Blondschopf atmet schwer. Soweit<br />

das Auge reicht diese pfeilgeraden fortgesetzten Germania-Fantasien,<br />

Hitlers letztes Spielzeug. Umgesetzt natürlich von an<strong>der</strong>en. Der Senat hat<br />

nach <strong>der</strong> Wende ein paar Kastanien gepflanzt, sieht aber immer noch<br />

unmenschlich aus. Jens <strong>um</strong>klammert eine Straßenlaterne mit römischer<br />

Standarte obendrauf. Heil dir, mein Sportsfreund, heil Weltfestspiele <strong>der</strong><br />

Jugend, heil Honecker! Er geht weiter. Es geht wohl wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

P<strong>um</strong>pe.<br />

Das Gute am Popstarberuf ist, dass man nicht in Euro, son<strong>der</strong>n in<br />

Mädchen bezahlt wird. So ist das gesellschaftlich verabredet. Aber zu<br />

diesem Regelwerk gehört auch, dass man darüber schweigt. Rio Reiser<br />

hat die Namen seiner 375 Groupies mit ins Grab genommen. Auch Jens<br />

seufzt, sieht auf seine zitternden Hände und lächelt nur. Popstar zu<br />

werden, ist kein Weg, son<strong>der</strong>n eine Entscheidung. Er war es schon mit 17.<br />

Ein echtes Glück bei seinem Aussehen. Er sieht weiß Gott nicht süß aus,<br />

hätte in keiner boy group eine Chance. Aber gerade die Dämlichkeit <strong>der</strong><br />

boy groups sowie die feminine Allergie gegen HipHop waren seine Chance.<br />

In Deutschland kann ein Junge, <strong>der</strong> seine Beobachtungen in Lie<strong>der</strong> packt,<br />

noch immer etwas werden. Bei Frauen. Nicht bei Männern: „Oft werden<br />

wir gerade bei linksalternativen Hip-Festivals entbucht, also trotz Buchung<br />

wie<strong>der</strong> ausgeladen. Die Typen da hassen mich einfach.“<br />

Wäre nicht schlecht, jetzt den Bus zurück zu nehmen. Aber die Linie ist<br />

eingestellt. Eigentlich weiß Friebe nicht, welches Lied er als nächstes<br />

schreiben soll. Beim vorletzten dachte er bereits, es käme nun k<strong>eins</strong><br />

mehr. Einmal Popstar sein und danach das richtige Leben beginnen, das<br />

war sein Plan. Vielleicht macht er es aber doch an<strong>der</strong>s. Übernimmt die<br />

Galerie seiner Mutter nicht. Landet noch ein paar Hits, lernt Mädchen<br />

160


kennen. Er reckt den Kopf, blickt mutig in den Himmel. Die blonden Haare<br />

flattern nach hinten, an den Ohren vorbei. Der Mund selbstgerecht und<br />

hart, die Lippen scharf geschnitten, unfähig zur Zärtlichkeit. Ein deutscher<br />

Kurt Cobain? Ein David Beckham <strong>der</strong> Popmusik?<br />

Unrasiert ist er ja. Die senfgelbe Fliegerjacke aus f<strong>eins</strong>tem Le<strong>der</strong><br />

kontrastiert angenehm zu einem bis z<strong>um</strong> vierten Knopf aufgeknöpften<br />

Cote-d'Azur- Hemd mit breiten violetten und schwarzen Streifen. Heidi-<br />

Kl<strong>um</strong>-Lover Enio Flaviatore könnte ihm das geschenkt haben, als <strong>der</strong><br />

Bauch zu sehr anquoll. Ich bringe meine Assoziationen zur Sprache, Friebe<br />

pariert: „Ja, Beckham. Lei<strong>der</strong> ist dieses durchaus neue, fortschrittlichweibliche<br />

role model eines Mannes bei <strong>der</strong> EM zerstört worden. Durch<br />

diesen Rooney, dieses Tier, dieser Bierpöbeltyp alten Schlages. Kurt<br />

Cobain dagegen war keineswegs antimaskulin, nicht seine Musik.“<br />

Die Stalin-jetzt-wie<strong>der</strong>-Frankfurter-Allee ist zu Ende. Wir biegen links ab<br />

nach Friedrichshain, besuchen ein Steh-In<strong>der</strong>- Restaurant, zu dem wir<br />

schon die ganze Zeit wollen. Zwei Tische, drei Gerichte. „Seltsam“, meint<br />

Jens, „vor einem Jahr war <strong>der</strong> Laden doppelt so groß. Die müssen etwas<br />

zugemauert haben.“ Eine bahnbrechend reizende junge Frau bedient,<br />

keine In<strong>der</strong>in, eher eine schwarzarbeitende Schülerin. Kräftige, selbst<br />

geschnittene Haare, grünes Unterhemd, darüber ein marmeladenrotes T-<br />

Shirt, das sie auszieht, als sie meinen Begleiter als Jens Friebe<br />

identifiziert. Er mustert ihre Figur mit einem langen, müden Blick von<br />

oben bis unten. Aber sie kommt nicht mehr dazu, ihn anz<strong>um</strong>achen, da<br />

zwei an<strong>der</strong>e Kunden zahlen wollen.<br />

Er isst im Weiterlaufen ein Süppchen mit weißen Pilzimitaten, ich trinke<br />

aus einer schmalen Blechdose Litschi-Saft. Der Himmel ist so grau,<br />

weißlich-grau und gräulich-grau, wie bei einer Kap- Hoorn-Umsegelung.<br />

Das sieht so trostlos aus, dass ich ihn bitte, etwas zu singen. Er stützt die<br />

linke Hand in die Hüfte, atmet einmal tief durch, überlegt kurz, behält das<br />

gerade klingelnde Handy in <strong>der</strong> rechten Hand. Ohne sich zu genieren – es<br />

geht ihm jetzt auch besser, nach <strong>der</strong> Suppe, und ich merke, dass er eine<br />

großartige Stimme hat –, intoniert er seinen aktuellen Hit „Weil ich ein<br />

Star bin“: „Dass ich dich hab/ Reicht mir einfach nicht/ Ich will nicht/ Dass<br />

du mich trotz meiner Schwächen liebst/ O<strong>der</strong> weil man mit mir über alles<br />

sprechen kann/ O<strong>der</strong> weil ich für dich da bin/ Ich will/ Dass du mich willst/<br />

Weil ich ein Star bin!“<br />

„Was machen wir jetzt?“, fragt <strong>der</strong> Star und sieht mich aus<br />

blutunterlaufenen, nicht gerade dezent geschminkten Augen an. „Ich<br />

muss meine Freundin anrufen, wir haben uns gestritten.“<br />

„Ach!“<br />

[Politik: Ohne Schrö<strong>der</strong> im Merkelland]<br />

161


29. DIE AVUS - Deutschlands erste Autobahn<br />

Vielleicht ging es den Testern, die die AVUS Raststätte so schlecht<br />

bewertet hatten, ja so wie mir: eigentlich wollten sie auch alles mögliche<br />

loben, aber am Ende waren sie so fix und fertig, so vernichtet, daß überall<br />

<strong>der</strong> Da<strong>um</strong>en nach unten ging. Ich würde die übrigens gern einmal<br />

kennenlernen, die Tester. Wie hatten die das überlebt? Konnten sie ihren<br />

Beruf danach fortsetzen? Allein das Ding zu finden - noch eine eher<br />

leichtere Übung - erwies sich als schier unmöglich. Ich versuchte es<br />

dreimal.<br />

Annäherung 1: mit dem Auto (vielleicht sollte man es im ältlichen AVUS-<br />

Deutsch von 1913 ausdrücken: mit dem eigenen Automobil). Man fährt so<br />

gut wie sämtliche Berliner Stadtautobahnen rauf und runter, die bündeln<br />

sich irgendwie an dieser Stelle. Man sieht immer wie<strong>der</strong> den Funkturm,<br />

denn da soll es doch sein.<br />

Es gibt sogar ein verblättertes blaues Hinweisschildchen mit diesen<br />

schwarzen Signets auf weißem Grund, so ein Bett, Messer und Gabel, ein<br />

Zapfhahn. Es ist aber schon so ganz und gar nicht neu, daß man ihm nicht<br />

mehr glaubt.<br />

Autobahnhinweisschil<strong>der</strong> müssen neu und makellos sein. Und wirklich: da<br />

kommt dann nichts. Man fährt in die Irre. Mal Richtung Hamburg,<br />

Magdeburg, Hannover, Potsdam, o<strong>der</strong> plötzlich wie<strong>der</strong> Leipzig, München,<br />

Kassel, Wannsee, Cottbus, Dresden, o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> Rostock, Spandau,<br />

Magdeburg und so weiter. Ganz Deutschland dreht sich <strong>um</strong> diese Achse.<br />

Funkturm ja, AVUS-Gebäude ja (man kennt es noch aus besseren Tagen<br />

und man SIEHT es zwischen den Bä<strong>um</strong>en schimmern, bei Tempo 130),<br />

aber Einfahrt nein. Es gibt nur einen kleinen Einlaß, eine plötzliche<br />

Öffnung ohne Zubringer, die muß man kennen. Ich erwische sie im dritten<br />

Anlauf. Schwer atmend bzw. rasselnd rollt das Automobil, ein<br />

wehrmachtsgrauer Volkswagen aus <strong>der</strong> frühen Adenauerzeit, auf die<br />

holprige Piste. Das passende Auto z<strong>um</strong> nostalgischen, nein<br />

hochgefährlichen Einsatz. Ich bin Tom Cruise. Die unmögliche Mission:<br />

Essen Sie in <strong>der</strong> Raststätte mit den schlechtesten Noten Deutschlands.<br />

Ich will vorsichtig vorgehen, in mehreren Stufen <strong>der</strong> Annäherung. Ich sehe<br />

mich <strong>um</strong>. Brachland. Eine offizielle Autobahntankstelle gibt es auch, eine<br />

sehr an die DDR erinnernde Baracke mit einigen Zapfsäulen davor. In dem<br />

kleinen Kabuff ka<strong>um</strong> Platz für das Nötigste: Pornohefte, Taschenlampen,<br />

Schweizer Mehrzweckmesser, Pornohefte für die Br<strong>um</strong>mifahrer, Coca Cola,<br />

Un<strong>der</strong>berg und Sex-Magazine, also Pornohefte. Ich schleiche daran vorbei.<br />

Vierzig Meter weiter die Raststätte. Dazwischen Campingwagen, vielleicht<br />

von Asylanten o<strong>der</strong> so bewohnt. Hinter mir raschelt etwas. Winkt da <strong>der</strong><br />

Tankwart mit einem Pornoheft? War das ein Asylantenkind aus Albanien,<br />

das von <strong>der</strong> Mutter an den Haaren in den Bus zurückgerissen wurde? Ich<br />

sehe Container, die wirken aber unbewohnt. Gut zwanzig große LKW<br />

stehen da noch r<strong>um</strong>. Aber eher wie tot. Es ist wohl sowas wie ein<br />

Dauerparkplatz.<br />

162


Ich finde den Hintereingang zur Raststätte. Ist natürlich <strong>der</strong> einzige<br />

Eingang. Ein junger Mann mit freiem Oberkörper und kahlrasiertem<br />

Schädel kommt heraus, geht wie in Trance an mir vorbei, muskelbepackt.<br />

Der hat mich wahrscheinlich nicht gesehen, und dann auch nicht<br />

zugeschlagen. Ich sehe die alten, vertrauten Raststättensymbole:<br />

Wickelra<strong>um</strong> für Babys, Dusche, Toiletten. Nur Behin<strong>der</strong>te gab es damals<br />

noch nicht, also keine Klos für die. Freilich, man muß es einfach sagen, es<br />

geht nicht an<strong>der</strong>s: die Wand- und Bodenfarben braun und blau sind<br />

wirklich superscheußlich. Siebziger style, gewiß, aber muß es gleich so<br />

kraß sein? Hätte nicht auch orange und hellblau gereicht?<br />

Ich drehe mich nochmal rasch <strong>um</strong>. Alles menschenleer. Keine Geräusche.<br />

In <strong>der</strong> Ferne nur das feine Meeresrauschen des ewigen Autobahnverkehrs.<br />

Im Hotel selbst nur das Surren <strong>der</strong> Belüftungsanlage. Ich lese ein Schild,<br />

<strong>der</strong> alte Kommandoton aus dem Kalten Krieg: "SIE BEFINDEN SICH IN<br />

EINEM BETRIEB DER TANK UND RAST AG!" Die Sonne brennt. Ich bin<br />

Dennis Hopper in ´Paris, Taxas´. Gleich kommt Nastassja Kinski. Es ist<br />

Mitte August. Die Stadt ist leer. Der alte Bau ist von <strong>der</strong> Sonne aufgeheizt.<br />

Die braunen Kacheln am Fußboden sind vielleicht nicht gar keine braunen<br />

Kacheln. Die Bl<strong>um</strong>en sind jedenfalls auch keine. Aus Stoff.<br />

Nein, aus Stoff-Imitat. Ich setze mich und bestelle schließlich Rührei mit<br />

Schinken.<br />

Ich kann es nicht aufessen, weil es so VIEL ist. Das sind noch die<br />

Portionen für die ausgehungerten Flüchtlinge aus <strong>der</strong> Zone, die sich 33<br />

Tage lang unter <strong>der</strong> Mauer einen Tunnel gegraben hatten. Das ist natürlich<br />

nett, eigentlich, also wirklich rührend, und ich will schon den ersten<br />

Pluspunkt notieren, jedoch:<br />

das ganze Zeugs ist so maßlos FETT, alles trieft und schwimmt im Fett,<br />

alles schliert und glibbert und tunkt in einer undefinierbaren Soße aus<br />

ranzigwirkendem, schmalzartigen Irgendwas, daß mein Magen rebelliert.<br />

Er schwillt an aud Medizinballgröße, ich muß ständig aufstoßen, und als<br />

ich die Innenfläche meiner rechten Hand behutsam auf die Bauchdecke<br />

senke, unbeobachtet, ja, was passiert da? Da muß ich doch wirklich einen<br />

Kampf gegen den Brechreiz ausfechten!<br />

Dabei habe ich einen Magen wie einen Panzer. Mir wird eigentlich niemals<br />

schlecht.<br />

Also, das ist schon bedenklich. Ich versuche, mich auf die Aussicht zu<br />

konzentrieren, mich abzulenken, auf die Fotos zu starren, die zu<br />

hun<strong>der</strong>ten im Ra<strong>um</strong> angebracht sind. AVUS-Fotos aus besseren Zeiten.<br />

Bernd Rosemeyer, ´Hänschen´ Stuck, Ernst Henne, Rudolf Carrachiola.<br />

Fotos mit Hakenkreuzen und Standarten, Siegerehrungen und jubelnden<br />

Massen, Silberpfeilen und Fortschritten beim Reichsautobahnbau. Die<br />

AVUS, Mann! Hier war was los. <strong>Auf</strong> jeden. Hier haben die Nazis<br />

Geschwindigkeitsweltrekorde aufgestellt, die heute noch gelten. Also fast.<br />

Hier ist Ernst Henne am 30. Mai 1933 über 219 km/h schnell gefahren,<br />

z<strong>um</strong> Beispiel.<br />

Drei Stunden lang sitze ich da und kämpfe mit meinem Magen, immer<br />

regungsloser, den Blick auf die vorbeiführende Autobahn geheftet, wo<br />

breitbeinige deutsche Mannen auf ihren sogenannten ´Chopper´-<br />

163


Motorrä<strong>der</strong>n entlangbrettern, das Glied erigiert, auf dem Kopf <strong>der</strong><br />

nachttopfrunde Weltkrieg-I-Helm, alles Blut ist aus meinem Kopf<br />

gewichen, dann muß ich das Handtuch werfen. Bloß weg nach Hause,<br />

morgen ist auch noch ein Tag. Ich notiere noch in meinen Rechercheblock,<br />

daß ich in den drei Stunden <strong>der</strong> einzige Gast war.<br />

2. Annäherung: mit <strong>der</strong> S-Bahn. Tags darauf, mit frischer Kraft, bestens<br />

vorbereitet, mit ´Rennie´-Magentabletten, <strong>der</strong> zweite Versuch. Ich bin<br />

guter Dinge; wie ich heute weiß, mache ich mir etwas vor. Der Magen hat<br />

sich über nacht nicht wirklich beruhigt... Ich steige am S-Bahnhof<br />

Westkreuz aus. Der ist aber auch schon wie<strong>der</strong> so seltsam zugemauert. Es<br />

gibt eigentlich keinen Ausgang. Der Bahnhof dient praktisch nur dem<br />

Umsteigen zwischen den Linien nach Spandau, Potsdam, Dahlem, Moabit,<br />

Ostkreuz und Flughafen Schönefeld. Also auch wie<strong>der</strong> alles und nichts.<br />

Nichts konkretes. Westkreuz als realen Ort gab es nicht. Ich wußte aber,<br />

daß die Raststätte in Sichtweite war - ich mußte nur über Gleise und/o<strong>der</strong><br />

Autobahnen klettern. Das mit den Gleisen war dann nicht nötig, ich fand<br />

eine überwachsene dead end street, die die hun<strong>der</strong>t Meter zwischen<br />

Bahnhof und Autobahnkreuz überbrückte. Dann aber wurde es<br />

schrecklich. Ich überquerte vier Spuren, kletterte einen Abhang hoch,<br />

sprintete zwischen den Autos über die zweite Autobahn, kraxelte noch<br />

höher, immer die AVUS schon z<strong>um</strong> Greifen nahe, lief in 18 Meter Höhe<br />

eine dritte Autobahn entlang, unter mir die an<strong>der</strong>en Autobahnen - und<br />

ohne Seitenstreifen. Der wurde nämlich immer dünner und hörte dann<br />

ganz auf. Die Motorradfahrer - für sie ist die AVUS noch immer eine reine<br />

Rennstrecke und die Überführung dort die alte legendäre Nordkurve -<br />

überboten rudelweise den Rekord Ernst Hennes, aber das war mir egal.<br />

Die 25-Tonner, die mit 120 Sachen auf mich zukamen und dadurch Wirbel<br />

entfachten, die mich wegpusteten, waren die Gefahr. Ich rannte zurück,<br />

über verkohlte Reifenfetzen. Ein Taxi nahm mich zufällig auf und fuhr mich<br />

zur Raststätte. Ich sagte ihm den Trick, also den Weg. Der Mann konnte<br />

nicht fassen, was ich gewagt hatte. "Wofür?"<br />

fragte er immer wie<strong>der</strong>, "wofür?". Für das SZ Magazin, antwortete ich<br />

höflich.<br />

Staunend stand er vor <strong>der</strong> unheimlichen Raststätte mit den zugemauerten<br />

Fenstern.<br />

"Hier du wollen übernachten?"<br />

Ich nickte. Ich mietete sofort ein Zimmer. Im Fernseher ging nur ein<br />

Programm, Eurosport mit <strong>der</strong> Internationalen FIA GT Meisterschaft 2000.<br />

Ich verstand den Receiver noch nicht. In Wirklichkeit gingen 199<br />

Programme, per Satellit.<br />

Endlos viele, wahrscheinlich leere Zimmer. Ich ging in meinem auf und ab.<br />

Gar nicht mal übel. Ob sie hier ein Zimmermädchen hatten? Irgendwo<br />

mußte es stecken.<br />

Ich lief durch die Flure. Eine 60jährige Frau mit ausfallenden Haaren<br />

machte die Betten. Kein Mädchen.<br />

"Was macht man, wenn man sozialen Anschluß sucht, wieviel muß man<br />

investieren?" fragte ich die diensttuende Frau in <strong>der</strong> Raststätte. Ich saß an<br />

<strong>der</strong> Bar. Sie war Mitte 40, ihr Unterbau steckte in aufquellenden, monströs<br />

164


dicken Cordhosen, dafür hatte sie oben keinen Busen und keine Haare,<br />

also sehr kurze Haare, wahrscheinlich mit <strong>der</strong> Gartenschere selbst<br />

abgeschnitten. Sie zuckte immer so übernervös, und ich hatte sie schon<br />

von weitem übertrieben laut lachen gehört, und ich merkte nun, daß ich<br />

mit ihr nicht reden konnte. Sie zuckte und brüllte mehr als daß sie fragte,<br />

was ich hätte wissen wollen. Es war diesmal noch ein weiterer Gast da.<br />

Ich fragte nicht noch einmal. Und selbst wenn ich gesagt<br />

hätte: Bitte eine junge Frau, über 18, aber nicht viel älter als 20, dann<br />

hätte sie mir keine 31jährige geschickt, was normal gewesen wäre,<br />

son<strong>der</strong>n eine ´fabelhaft guterhaltene´ Mittvierzigerin, wie sie selbst. O<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> Endhorror, eine gutaussehende Mittvierzigerin, die in Wirklichkeit<br />

schon 60 war. Nee, nee.<br />

Ich sah in ihr nervöses, lärmend aufgerissenes Gesicht und sagte nur:<br />

"Ich hätte gerne einen Apfelsaft."<br />

"Einen Apfelsaft o<strong>der</strong> eine Apfelschorle?"<br />

"Einen großen, kalten Apfelsaft."<br />

"Groß und kalt... aber lieber eine Apfelschorle, nicht."<br />

"Nein, bitte klaren Apfelsaft!"<br />

Es kommt die Schorle, mangels Alternative. Der an<strong>der</strong>e Gast kommt aus<br />

Bonn.<br />

Ein Wende-Verlierer, wie die Frau, die ohne lange Umwege erklärt, in <strong>der</strong><br />

DDR sei vieles besser gewesen, z<strong>um</strong> Beispiel <strong>der</strong> Staatszirkus. Der Bonner<br />

schimpft übe r die faule Jugend, das zu teure Berlin und so weiter. Er ist<br />

sicher über 50, trägt Jeans, Sandalen, weißliche Joggingsocken, ein rotes<br />

Ba<strong>um</strong>wollhemd und natürlich Bart. Goldrandbrille, Topfschnitt: ein Muß. Er<br />

pöbelt gegen die Schrö<strong>der</strong>leute und daß er "nur vier-zwei" nach Hause<br />

bringt, nach Bonn. Mir wird schlecht, noch bevor ich was bestellt habe.<br />

Nun ist es eh egal: Ich bestelle ein Bauernomelett. Es kommt ein zehn cm<br />

hohes und wohl 30 cm langes Stück Fraß, daß mir <strong>der</strong> Unterkiefer<br />

runterfällt. Ich esse ein Drittel davon, ganz vorsichtig, spüle immer gut<br />

nach mit <strong>der</strong> Apfelschorle. Dann taste ich mich zurück ins Treppenhaus<br />

mit den falschen Terrakottafliesen, zurück ins Zimmer. Dort vergehen die<br />

Stunden ohne Gedanken.<br />

Es ist <strong>der</strong> stille, heroische Kampf des Körpers gegen die ungünstige<br />

Nahrung, und er braucht dafür alle Kraft und alle Liebe - ich gebe sie ihm.<br />

Und viel Zeit. Als ich wie<strong>der</strong> denken kann, dunkelt es schon. Ich schleppe<br />

mich z<strong>um</strong> Tankstellen-Häuschen und decke mich mit ablenken<strong>der</strong> Lektüre<br />

für die hereinbrechende Nacht ein. SPIEGEL und ZEIT finde ich nicht,<br />

bleiben also nur Playboy, Penthouse, Coupé, das neue Wochenend, Geile<br />

N<strong>um</strong>mer, Spaß am Sex und Dynamit. Spaß am Sex macht mit dem Thema<br />

auf "Bauern-Mädchen Kirsten: Hilfe! Ich kann nur in Str<strong>um</strong>pfhosen<br />

b<strong>um</strong>sen!" Geile N<strong>um</strong>mer powert mit dem Service-Thema ´FKK und<br />

Gruppensex auf dem Campingplatz´. Da konnte ich mich einfach nicht<br />

entscheiden.<br />

Ich schlurfe durch die endlosen, laborartigen, niedrigen, fensterlosen,<br />

grünlackierten und grünlich beleuchteten Flure. Das einzige Licht kommt<br />

nämlich von einer grünen Notausgangsleuchte ganz am Ende des Ganges.<br />

165


Dort stehen dann auch die Zwillinge aus ´Shining´, vermute ich,<br />

weswegen ich nie bis dahin gehe.<br />

Die Nacht über pendle ich zwischen Raststätte, Hotel und Tankstelle, auf<br />

dieser Insel zwischen den Autobahnen. Oft bleibe ich vor den<br />

Heldenpostern vergangener, nein besserer Tage stehen. Der strahlende<br />

Rudolf Caracciola am 11. Juli<br />

1926 <strong>um</strong> 14 Uhr beim Großen Preis von Deutschland, hier, genau hier, wo<br />

ich Nach geborener nun stehe. An <strong>der</strong> Kasse verkauft man immer noch die<br />

Berlinpostkarten mit <strong>der</strong> Mauer. Einmal gerate ich sogar kurz in den<br />

Schlaf. Aber durch eine fahrige, unbewußte Bewegung beim Einschlafen<br />

fliegt die papierleichte Nachttischlampe durch die Luft, landet Meter weiter<br />

klirrend am Boden, und ich bin wie<strong>der</strong> hellwach. Das Bett hat sich ohne<br />

mein Wissen <strong>um</strong> 45 Grad verschoben, also jener Teil, auf dem ich liege,<br />

hat sich von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hälfte weit entfernt. Es sind wohl Gleitrollen an<br />

den Bettfüßen. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Matratze versinkt man wie auf einem Wasserbett,<br />

man sinkt auf je<strong>der</strong> Stelle, die man berührt, gleichermaßen ein, bis auf<br />

den Grund, da gibt es kein Halten mehr. Die Weichg<strong>um</strong>mi-Scha<strong>um</strong>stoff-<br />

Füllung macht diesen ungewollten, aber irgendwie auch reizvollen Effekt<br />

möglich. Nicht alles muß man negativ sehen. Ich entdecke, daß die Anlage<br />

auch einen gewissen Charme hat. Die blaue Zierleiste etwa, die sich von<br />

<strong>der</strong> Holztäfelung löst, könnte einem die Haut aufreißen, im Dunkeln, beim<br />

Geschlechtsakt, mit <strong>der</strong> 60jährigen, und so weiter. Aber es passiert ja<br />

nicht. Ist ja alles Einbildung. In Wirklichkeit ist die Zierleiste eigentlich<br />

ganz hübsch. Und die Holztäfelungen an den Wänden. Auch gut. O<strong>der</strong> die<br />

Bastmöbel. Bequem. Der Claude Monet im Wechselrahmen, ich meine:<br />

Was sonst? Hatte ich Joseph Beuys erwartet? Nein, nur Monet o<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />

Dégas kamen in Frage, da gab es sicher ein altes Tank-und-Rast-Gesetz.<br />

Ich liege im Bett, höre das Luftdruckbremsenschnaufen <strong>der</strong> Laster, das<br />

unheilschwere Röhren <strong>der</strong> unwuchtig gewordenen dicken Lasterreifen, ein<br />

ganz eigentümliches Geräusch übrigens, das eine herannahende<br />

Katastrophe anzukündigen scheint. Nie vorher habe ich darauf so intensiv<br />

geachtet wie jetzt. Es sensibilisiert ganz ungemein, dieses Hotel, und das<br />

ist doch auch schon wie<strong>der</strong> etwas Gutes. Tanklaster rast in Hotel,<br />

Tagesschau, größte Explosion seit 1945, Feuer noch immer nicht unter<br />

Kontrolle, wir schalten <strong>um</strong> zur AVUS... ich stehe auf, sehe aus dem<br />

Fenster. Die Beton-Absperrung <strong>der</strong> alten Nordkurve (o<strong>der</strong> was das ist)<br />

sieht von hier wirklich aus wie ´die Mauer´. Verbotsschil<strong>der</strong>,<br />

Maschendraht, sehr hohe Lager-Lampen, ein erschöpfter Lada-Fahrer,<br />

froh, die DDR verlassen zu haben. Seine Lichtkegel tasten die unebene<br />

Fahrbahndecke ab, beleuchten langgezogene Pfützen, die nicht trocknen,<br />

obwohl es seit langem nicht geregnet hat. Ich höre Geräusche aus dem<br />

Nebenra<strong>um</strong>. Der Nebenra<strong>um</strong> ist mit meinem Zimmer durch eine bloße<br />

Holztür verbunden. Wer hat den Schlüssel? Ich bin versichert gegen alles,<br />

Diebstahl, Überfall, Körperletzung, das hat mir die Redaktion versichert,<br />

es ist eine offizielle Dienstreise.<br />

Ich rufe die Rezeption an. Das ist wie<strong>der</strong> die Frau von vorhin.<br />

"Bitte geben Sie mir den Zimmerservice!"<br />

"Haben wir nicht."<br />

166


"Dann jemanden von <strong>der</strong> Reinigung! Ich... will mein Hemd bügeln lassen!"<br />

Ich werde richtig verrückt.<br />

"Ham wa nich."<br />

"Aber das Zimmer kostet 145 Mark! Westmark! Ich will, daß sofort jemand<br />

kommt!"<br />

Schweigen. Ich höre, daß jetzt noch mehr Leute unten sind. Na gut, dann<br />

laufe ich eben runter. Die Geräusche im Zwillingsra<strong>um</strong> werden lauter,<br />

zugleich undeutlicher. Ich kann nicht sagen, ob es ein Mann und eine Frau<br />

ist o<strong>der</strong> mehrere Männer.<br />

An <strong>der</strong> Bar sitzen tatsächlich ein paar Gestalten. Ein Mittfünfziger, grauer<br />

Walroßschnurrbart, Latzhose. Und ein älterer Basecap-Zoni mit einem<br />

neunjährigen Mädchen. Eine alte Stereo-Anlage spielt ´Tell me the<br />

meaning of being lonely´. Neben mir hängt <strong>der</strong> gute alte Patronengurt mit<br />

den Un<strong>der</strong>berg-Fläschchen.<br />

Als Kind hatte ich einmal daran gerochen. Nie wie<strong>der</strong>. Also an dieser<br />

braunen Flüssigkeit. <strong>Auf</strong> einem Schild steht: "Unser Hit: Rühreier mit<br />

Schinken, 2 Brötchen, 1 Pott Kaffee, 10,50 Mark". Ob ich das jetzt<br />

bestellen soll? Mir ist plötzlich, als habe mir jemand in den Magen<br />

geschlagen. Ich greife hastig zur AVUS-Broschüre und lenke mich ab. Nur<br />

nicht an Essen denken! Die<br />

Automobil-Verkehrs- und Übungsstraßen GmbH (AVUS) wurde 1909<br />

gegründet... 1913 erste Autobahn Deutschlands und damit <strong>der</strong> Welt...<br />

1935 Umbau <strong>der</strong> Rennstrecke... Bernd Rosemeyer und so weiter... nach<br />

dem Krieg nur noch Touring-Rennen, das letzte vor zwei Jahren, dann gar<br />

nichts mehr. Aus, Ende, Schluß, vorbei. Aus den Augenwinkeln beobachte<br />

ich den Basecap-Schnurrbart und das neunjährige Mädchen.<br />

"Was möchten Se?" fragt die Frau z<strong>um</strong> wie<strong>der</strong>holten Mal. Klar, man muß<br />

etwas bestellen. Sonst darf man nicht bleiben. Vielleicht heißer<br />

Apfelstrudel mit Vanilleeis und künstlicher Schlagsahne aus <strong>der</strong><br />

Spraydose? Dazu einen Satz Un<strong>der</strong>berg? Nein, ich kriege nichts runter,<br />

gehe weg.<br />

"Wie lange haben Sie geöffnet?" frage ich noch.<br />

"Bis Weihnachten 16 Uhr!"<br />

Ich erschrecke. Machen die dann pleite? Ende des Jahres? Nein, es war<br />

´pfiffig´ gemeint. Soll heißen: 24-Stunden-Betrieb Tag und Nacht.<br />

Am nächsten Morgen war dann auch wirklich so etwas wie normaler<br />

Betrieb.<br />

Sechs, sieben Leute waren da, normale Deutsche, Leute, die den<br />

Treffpunkt noch von früher kannten. Es gab ein Frühstücksbüffet und die<br />

Bild Zeitung. Ein gewisser Stuck ("Stuck schreibt in BILD") überlegte, ob<br />

Sch<strong>um</strong>i die erste Runde beim nächsten Rennen ohne Crash durchfahren<br />

könne. Da wurden angeblich Wetten angenommen. <strong>Auf</strong> den ersten Seiten<br />

das Nazi-Thema. Brauner Terror, Bomben, Heil-Hitler-Websites. Kein<br />

Zweifel, wir lebten immer noch in Deutschland. Aber wer war "Stuck"? Der<br />

Sohn von ´Hänschen´? Der Enkel? Er selbst? Bernd Rosemeyer konnte<br />

nicht mehr für BILD schreiben. Er starb für Führer und Vaterland beim<br />

Rekordversuch mit seinem Auto Union 16 Zylin<strong>der</strong> Boliden auf <strong>der</strong><br />

Steilgeraden <strong>der</strong> AVUS zwischen Funkturm und Nikolassee. Ich stand<br />

167


später an <strong>der</strong> Stelle und schwieg betroffen. So betroffen wie vorher das<br />

Pärchen im Frühstücksra<strong>um</strong>. Schweigend, rauchend, ruhig. In <strong>der</strong> Ruhe<br />

liegt die Kraft. Er: Mitte 40, Jeans, Schnurrbart, stierer Blick. Sie:<br />

eigentlich noch ganz passabel, blonde Hausfrauendauerwelle, weiße Bluse,<br />

Jeans. Sie sitzen sich gegenüber, Auge in Auge, rauchen ein Päckchen leer<br />

und sagen nicht ein Wort. Seit 22 Jahren verheiratet. In diesem Lokal<br />

kennengelernt, I suppose...<br />

Ich ließ mir ein Taxi kommen und fuhr wie<strong>der</strong> rein nach Berlin, am<br />

Fernsehturm vorbei, dem kleinen Bru<strong>der</strong> vom Tour d´Eiffel, so klein und<br />

zwergenhaft sieht <strong>der</strong> doch inzwischen aus, nur noch traurig in seiner<br />

Winzigkeit. Das war einmal ein Wahrzeichen <strong>der</strong> Stadt, Symbol des<br />

Technikrausches, wie auch die AVUS. Das ist nun alles vorbei. Die<br />

Autobahn-Tank- und Raststätte aber gibt es noch, das ist historisch<br />

verdienstvoll. Ich habe es überlebt, und es tut mir leid, daß ich über so<br />

viele negative Dinge berichtet habe. Ich war am fernsten und <strong>eins</strong>amsten<br />

Ort <strong>der</strong> Welt, mit den <strong>eins</strong>amsten und ärmsten Menschen. Ihr solltet alle<br />

dort hinfahren und Euch das angucken. Mit neuen Autos und neuen<br />

Zeitungen.<br />

Und mit den Leuten da reden. Sicher habe ich ihnen unrecht getan - Angst<br />

ist ein schlechtes Antriebsmittel für objektive Bericherstattung. Gewiß war<br />

alles gar nicht so mies. Wie gesagt, die blauen Zierleisten. Das Frühstück<br />

war NICHT WIRKLICH schlecht, die Bedienung rund<strong>um</strong> freundlich.<br />

Natürlich konnte man nicht nur Sexmagazine kaufen in <strong>der</strong> Tankbaracke.<br />

Ich habe mich einfach nur gefürchtet.<br />

30. DIE GRÜNEN werden grau<br />

Darf man über alte Leute Witze machen? Darf man sie scheußlich finden?<br />

Sie singen "Mit 66 Jahren" von Udo Jürgens, normalerweise, und tun ganz<br />

harmlos, sind aber in Wirklichkeit schon 77 und haben an<br />

Vernichtungsfeldzügen <strong>der</strong> deutschen Wehrmacht gegen artfremde<br />

Untermenschen teilgenommen. Die Alten an sich sind böse in<br />

Deutschland, von dem Bild kommt man nicht los. Normalerweise. Doch<br />

seit gestern muß ich <strong>um</strong>denken. Ich habe die Juilä<strong>um</strong>sveranstaltung "25<br />

Jahre Grüne" besucht. Was für nette Senioren! Ein Streicherquartett<br />

fidelte Procul Har<strong>um</strong>s 'A whiter shade of pale' und die weicheren<br />

Z<strong>um</strong>utungen von Led Zeppelin (wie gesagt, kein Witz) in die Hörrohre <strong>der</strong><br />

grauen Panther, äh, <strong>der</strong> grauhaarigen Grünen. Irre, wie man in einem<br />

Vierteljahrhun<strong>der</strong>t vergreisen kann! Das sind doch nur 25 Jahre. Da<br />

können an<strong>der</strong>e noch Radfahren o<strong>der</strong> sogar einen Beruf ausüben. Z<strong>um</strong><br />

Beispiel Otto Schily. Aber <strong>der</strong> ist ja zur SPD gewechselt.<br />

O<strong>der</strong> auch Joschka Fischer. Am Vortag im Volmer-<br />

Untersuchungsausschuß, am Tag darauf in Davos beim Kamingespräch<br />

<strong>der</strong> Superreichen, da hätte er eigentlich, an diesem freien Tag<br />

dazwischen, kommen können. Ja müssen. Eine Gründungsomi schüttelt<br />

störrisch ihre weiße Beatlesfrisur: "Da hätte er sich echt mal blicken<br />

lassen können!" Sie ist stolz darauf, alles mitgemacht zu haben.<br />

"Brokdorf, Gorleben, Dünnsäureverklappung, Hofgarten... eben das ganze<br />

168


Programm." Mit Hofgarten meint sie Willy Brandts Friedensrede in Bonn<br />

gegen den Nato-Doppel... ach, wissen Sie schon. Man weiß irgendwie<br />

alles. Auch daß die Grünen immer 'gestalten' wollen. Das Wort fällt<br />

andauernd, auf einer Podi<strong>um</strong>sdiskussion mit Schäuble, Marie-Louise Beck,<br />

Ralf Fücks und so weiter. Nur die Tochter von Marie-Louise Beck sieht gut<br />

aus. Cool. Die einzige Frau unter 50. Lei<strong>der</strong> interessiert sie sich nicht für<br />

die Grünen. Nicht für Ralf Fücks z<strong>um</strong> Beispiel, geschätzte 59, mit Piercing<br />

im Ohr und Hiphop-Glatze. Obwohl er noch so fresh rüberkommt,<br />

favorisiert die 17jährige Eminem.<br />

Gleich mehrere Hallen <strong>der</strong> weitläufig totsanierten Kulturbrauerei sind von<br />

den Grünen zwei Tage lang gemietet worden. Man quält sich durch die<br />

dunklen Backsteingemäuer von Halle zu Halle. Hier wird diskutiert, dort<br />

getrunken, woan<strong>der</strong>s ein Film gezeigt. Jede Halle hat auch eine Bar, und<br />

dort wird geredet, geredet, geredet. Eigentlich keine schlechte Sache.<br />

Spät in <strong>der</strong> Nacht taucht auch eine Prominente auf, Christa Müller,<br />

Staatministerin. Sie guckt mir über die Schulter, liest meine Notizen.<br />

"Hallo Kleines!" sage ich spontan. Sie dreht sich weg. Die Süße ist noch<br />

keine 60, muß die Haare ka<strong>um</strong> nachfärben. Sie ist meine zweitliebste<br />

Politikerin. An erster Stelle steht Krista Sager. Auch sie kommt, ich sage:<br />

"Sie haben das so fein gemacht in Hamburg mit Ortwin Runde. Damals lag<br />

das Schicksal <strong>der</strong> Stadt noch in den Händen redlicher Menschen. Herr<br />

Runde war sicher auch ein sehr partnerschaftlicher und fairer Mann!" Bei<br />

dem Wort verschluckt sie sich fast. "Partnerschaftlich?!" Sie hustet,<br />

überlegt lange. "Na, fair, von mir aus."<br />

Je länger <strong>der</strong> Abend, desto netter die Gäste. Konrad Weiß, Werner Schulz,<br />

Andrea Fischer, Minu Barati sind da, z<strong>um</strong>indest eine blutjunge Muslimin,<br />

die sie sein könnte. Ich spreche sie an. "Wo ist Josef? Josef Fischer?<br />

Joschka??" Sie hat in Ankara Abitur gemacht und studiert an <strong>der</strong><br />

H<strong>um</strong>boldt Universität Internationale Politik und Europäische Studien o<strong>der</strong><br />

sowas. Seit drei Wochen ist sie erst in Deutschland. Seit einer Woche ist<br />

sie Mitglied <strong>der</strong> Grünen. Keiner hat ihr gesagt, daß es keine jungen<br />

Grünen gibt. Sie sitzt da wie in <strong>der</strong> Tanzschule und wartet darauf,<br />

aufgefor<strong>der</strong>t zu werden. Aber kein feuriger junger Tänzer kommt. Das<br />

Methusalem Komplott hält sie <strong>um</strong>fangen. Röchelnd kommen Hans-Jürgen<br />

Wussow Typen auf sie zugetorkelt. "Oh my god! They're so OLD!" Ich<br />

erkläre es ihr. Weiß ich doch, daß unter den jungen Auslän<strong>der</strong>n<br />

('Deutschlän<strong>der</strong>' nennen sie sich) Rentner und Nazis synonyme Begriffe<br />

sind. "They are old, but good people. In former times, they have been<br />

lions! They fought for the right thing..." Bl<strong>um</strong>ig sprach ich von ihren<br />

Taten, wie sie mit friedlichen Mitteln und pazifistischer Absicht Züge<br />

entgleisen ließen, Strommasten kippten und mit Säurefarbbeuteln das<br />

Trommelfell des Außenministers z<strong>um</strong> Platzen gebracht hatten. Doch halt,<br />

das war ja Fischer... aber sie nicht seine Minu. Von <strong>der</strong> Optik her hätte es<br />

sein können ("Die Physik muß stimmen", dj rezzo schlauch<br />

zugeschriebenes Motto), aber sie wars trotzdem nicht.<br />

Und dann ein Mann im Dreiteiler. Ein Frem<strong>der</strong>. Ein CDU-Typ: Reinhard<br />

Bütikofer vom Bundesvorstand. Alles an ihm schien zu schreien: 'ICH BIN<br />

ANDERS! Ich bin kein Fusselbart! Ich bin nicht grün! Led Zeppelin gehen<br />

169


mir am Arsch vorbei!!' Dabei hat seine Hippiephobie überhaupt keine<br />

Grundlage. Echte Hippies gibt es nirgendwo mehr. Keine stillenden Mütter<br />

mehr im Bundestag (aus dem Alter sind sie raus). Keine strickenden Öko-<br />

Greteln mehr, die die Kamera einfangen könnte. Schon gar keine<br />

zerrissenen Turnschuhe, mitgebrachte Tiere und absurde Sonnenbl<strong>um</strong>en<br />

mehr. Keine spontanen Zwischenrufe, kein antiautoritäres <strong>Auf</strong>mucken.<br />

Ganz, ganz, ganz im Gegenteil. Ein bleischweres Spießert<strong>um</strong> liegt wie<br />

Mehltau über allen Veranstaltungen. Diese Leute, die aussehen wie Helge<br />

Schnei<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> wie Reinhard May 1977 in alt, verhalten sich töter und<br />

unvitaler als je<strong>der</strong> Sparkassenleiter zur Adenauerzeit. Von wegen<br />

Hardrock: hier tut sich rein gar nichts mehr. Und die Promis auf <strong>der</strong> Bühne<br />

reden so, als wollten sie den Preis für kleinbürgerliches Berufspolitikert<strong>um</strong><br />

gewinnen: "Akzeptanz neu austarieren müssen... Thema am Wickel<br />

haben... demographischen Wandel gestalten... was Ansätze zur Teilhabe<br />

leisten können... diesen Gestus durchzubuchstabieren... Agenda neu<br />

verorten, bis wir wie<strong>der</strong> optimal aufgestellt sind." <strong>Auf</strong>gestellt! Brrr! Bäh!<br />

Hier redet inzwischen JEDER so wie Guido Westerwelle, und die Grufties<br />

unten nicken nicht einmal. Kein Mensch käme noch auf die Idee, das Mikro<br />

an sich zu reißen und zu rufen: "Was macht Euch Spaß? Was langweilt<br />

Euch? Soll <strong>der</strong> Arsch im Nadelstreifen hier uns wirklich zulabern dürfen?!"<br />

Es sind auch jede Menge body guards im Ra<strong>um</strong>, die das verhin<strong>der</strong>n<br />

würden. Sie symbolisieren sozusagen die "neue Sicherheitslage" in<br />

Deutschland, die wir seit "dem 11. September, nicht wahr" haben und<br />

weswegen ein Bürgerrecht nach dem an<strong>der</strong>en abgeschafft werden darf.<br />

Unter grüner Verantwortung.<br />

Aber man soll nicht ungerecht sein. Ich gebe zu, auf keine <strong>der</strong> vielen<br />

Foren, Rückblicke, Debatten, Empfänge und Partys gab es etwas<br />

Unerwartetes und Spontanes o<strong>der</strong> gar Lebendiges. Nicht einmal als eine<br />

Rednerin (Manuela Rottmann) etwas ungeschickt fragte: "Sollen wir etwa<br />

Politik für die neuen Familien am Kollwitzplatz machen, die Bio-Produkte<br />

kaufen und ihre Kin<strong>der</strong> in die Waldorfschule schicken?!" gab es kein<br />

lautes, kräftiges, vielstimmiges "Jaaa!" Und doch ist es so: Für genau<br />

diese Leute sitzen die Grünen in <strong>der</strong> Regierung. Und das ist gut so. Denn,<br />

wenn Sie mich fragen: Es gibt keine besseren Menschen als die jungen<br />

Familien am Kollwitzplatz, die Bio-Produkte kaufen und ihre Kin<strong>der</strong> in die<br />

Waldorfschule schicken!<br />

Fußnote zu den GRÜNEN<br />

DUTSCHKES PULLOVER<br />

Rudi Dutschkes Frau Gretchen schenkte dem Revolutionsführer auf dem Höhepunkt <strong>der</strong><br />

politischen und soziokulturellen Auseinan<strong>der</strong>setzungen Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre des<br />

letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts einen Pullover, den ihre eigene Mutter, somit Rudis<br />

Schwiegermutter, selbst gestrickt hatte. Dies ist insofern verblüffend - also die<br />

Abstammung von <strong>der</strong> Schwiegermutter - als dieser bald legendäre "Rudi-Dutschke-<br />

Pullover" bis heute mächtigstes Indiz für Rudis Tauglichkeit als Pop-Star sein soll. Wer so<br />

einen Pullover trägt, so die Arg<strong>um</strong>entationslinie vieler Theoretiker <strong>der</strong> Popkultur, habe<br />

das "Zeug zu jugendidolmäßigen Ikonographisierung" (Professor Dr. Diedrich<br />

Die<strong>der</strong>ichsen, Hamburg und Berlin). Es ist, als erführe man, James Deans Jeans aus<br />

"Rebel without a cause" habe dessen fränkische Großmutter in Nürnberg nach eigenen<br />

Mustern in den 20er Jahren zusammengenäht. An<strong>der</strong>erseits erklärt sich nur so die<br />

mythische Kraft des Pullovers, in den hanfhaltige sowie feine silberhaltige Heilfäden aus<br />

170


China eingewebt wurden. Maschinell wäre das gar nicht möglich gewesen. Nur so ist die<br />

Tatsache zu rationalisieren, daß <strong>der</strong> SDS-Führer in allen Straßenschlachten, in denen er<br />

den magischen Pop-Pullover weit sichtbar für Freund und Feind trug, unverletzt blieb. Um<br />

die herrliche Textilie - heute eine Reliquie im Muse<strong>um</strong> für mo<strong>der</strong>ne Gegenwartsgeschichte<br />

in Luckenwalde - bildete sich ein unsichtbarer, magischer Ra<strong>um</strong>, <strong>der</strong> unbetretbar war,<br />

auch und gerade den waffenstarrenden Mordsöldnern vom Schlage Kurras´. Die große<br />

Textilienforscherin Rebekka Casati schrieb in ihrer Magisterarbeit "Von Außen nach<br />

Innen: Der Dutschkepullover und die Revolution" von <strong>der</strong> enormen Sogwirkung, die von<br />

<strong>der</strong> Farbgebung des Stoffes ausging. Keinesfalls die erwarteten Popfarben, schon gar<br />

nicht Kin<strong>der</strong>farben machten den Reiz aus, son<strong>der</strong>n braune, handtellerbreite Streifen, die<br />

sich mit schlecht ausgeführten, unregelmäßigen weißen, grünen und magentafarbenen<br />

Streifen abwechselten. Frauen waren beson<strong>der</strong>s davon angezogen. Eines Tages, erzählt<br />

Marek Dutschke, heute Sohn des Verstorbenen, kam Rudi völlig verstört nach Hause,<br />

streifte den Pulli ab und sagte zu Gretchen: "Du kannst dir nicht vorstellen, was mir eben<br />

mit einer fremden Frau passiert ist. Sie wollte, daß ich dich verlasse und mit ihr<br />

zusammenziehe!" Vorher hatte sie den Pullover bewun<strong>der</strong>t, die eingewebten Fäden<br />

berührt...<br />

Auch heute ist er noch wichtig. Dutschkes Pullover ist weiße Magie und damit das<br />

natürliche Gegenstück z<strong>um</strong> schwarzmagischen "Speer des Bösen", den Hitler verehrte. Es<br />

versteht sich von selbst, dass immer wie<strong>der</strong> hochrangige Gutmenschen versuchten, in<br />

den Besitz des charismatischen Pullovers zu gelangen. In ihm transzendiert sich viel<br />

mehr von Rudis wahrer Macht als nur vor<strong>der</strong>gründige Fragen wie "Mache ich jetzt eine<br />

Räterepublik? O<strong>der</strong> später? O<strong>der</strong> erst die Wie<strong>der</strong>vereinigung? Und kommen die Nazis<br />

wie<strong>der</strong> an die Macht und wie verhin<strong>der</strong>e ich das? Und was sagt uns Faust II dazu, und so<br />

weiter..." Es ist eher etwas von <strong>der</strong> Absolutheit <strong>der</strong> Liebe, die in den geheimnisvollen<br />

Streifen steckt, aber auch von <strong>der</strong> Verschränktheit vom Glauben an sich selbst und <strong>der</strong><br />

Universalität <strong>der</strong> Gesellschaft: nur wer seinen Pullover selbst strickt, für sich o<strong>der</strong> für<br />

einen geliebten Menschen, wird die befreite Menschheit in den Blick bekommen können.<br />

31. Kanzlerdämmerung - Berliner Sommerfeste<br />

Nachdem zu Hause endlich wie<strong>der</strong> alles in Ordnung gekommen war,<br />

konnte ich mich vor dem Urlaub noch ein bißchen <strong>der</strong> großen Politik<br />

widmen. Schrö<strong>der</strong> war noch immer im Amt, das war meine Chance. Ich<br />

mochte ja den Gerd. Solange er die Fäden zog in <strong>der</strong> Hauptstadt, konnte<br />

ich mich überall <strong>um</strong>tun. Längst war es Sommer geworden, nicht nur in<br />

Köln, auch in Berlin, und hätte es auch dort Ring-Prolls gegeben, so<br />

hätten sie nach Herzenslust gebechert und Krach geschlagen. Es gab aber<br />

keine. Die Kommune glich einer Totenstadt. Dabei hatten die Ferien noch<br />

gar nicht begonnen. Traurig schlich ich durch das verwüstete Brachland.<br />

’Dies ist einmal die 'Berliner Republik' gewesen!’, sagte ich zu mir selbst.<br />

Dann kam aber die Woche <strong>der</strong> großen Sommerfeste. Es begann am<br />

Montag mit dem 'Bild Sommerfest'. Eine große überregionale Tageszeitung<br />

richtete es aus. Am nächsten Tag las man in <strong>der</strong> Bild Zeitung, wer alles da<br />

war. Die Feste hießen meistens 'Gala', also Benefiz-Gala <strong>der</strong> Aids-Stiftung,<br />

o<strong>der</strong> 50-Jahre-BamS-Geburtstags-Gala, o<strong>der</strong> Bundespresseball, o<strong>der</strong> eben<br />

Sommerfest, diesmal. Man sah dann hun<strong>der</strong>t kleine Farbbildchen, und auf<br />

jedem war ein sogenannter Bild-Prominenter, also einer, <strong>der</strong> inner<strong>halb</strong> des<br />

Bild-Kosmos prominent war, Leute, die sonst keinerlei Bedeutung hatten,<br />

wie Babs Becker o<strong>der</strong> Udo Walz. Ich fuhr also z<strong>um</strong> Axel-Springer-Haus in<br />

<strong>der</strong> Axel-Springer-Straße, direkt an <strong>der</strong> Mauer.<br />

171


Eine seltsame Mondlandschaft war das da. Keine Menschen, keine<br />

Limousinen, gar kein <strong>Auf</strong>trieb. Die Gegend war beson<strong>der</strong>s trostlos, we<strong>der</strong><br />

Wohngegend noch Geschäftsgegend. Überall nur Brandmauern und<br />

dazwischen unbebaute Plätze, o<strong>der</strong> Tiefgaragen, die unbelegt waren. Dann<br />

ein mehrere hun<strong>der</strong>t Meter langer roter Teppich, <strong>der</strong> zig Kurven nahm und<br />

vom Haupteingang zu dem Gebäude führte, auf dessen Dachterrasse die<br />

große Sause stattfinden sollte. Ich trabte von Kurve zu Kurve. Alle zehn<br />

Meter stand eine junge Hostess stramm und lächelte verheißungsvoll -<br />

wahrscheinlich, weil ich, soweit ich sehen konnte, <strong>der</strong> einzige Gast war.<br />

Wenn man aus Köln kam, fiel einem immer sofort auf, wie leer und<br />

unbewohnt Berlin war. Aber war<strong>um</strong> kamen selbst z<strong>um</strong> Großen Bild<br />

Sommerfest weniger Menschen als zu je<strong>der</strong> Pittermännchen-Kneipe in<br />

Kölns Außenbezirken? Mindestens hun<strong>der</strong>t Pseudo-Prominente mußten<br />

dann doch da gewesen sein, ihr Fotochen am folgenden Morgen bewies es.<br />

Endlich erreichte ich den Tresen, an dem man seine Einladungskarte,<br />

unterschrieben von Friede Springer, vorzeigen mußte. Ich hatte keine und<br />

sagte das auch, wurde jedoch geradezu hektisch weitergewunken. <strong>Auf</strong><br />

jeden Gast kamen ungefähr zwei Kellner. Ich schritt den Kies auf <strong>der</strong><br />

Dachterrasse ab, kam an einer Gruppe älterer grauhaariger Herren aus<br />

dem Vertrieb vorbei. Ich hörte, wie einer sagte: "Hast Du Udo Walz<br />

gesehen?"<br />

Der an<strong>der</strong>e konterte wie aus <strong>der</strong> Pistole geschossen:<br />

"Ja und <strong>der</strong> Scharping ist da!"<br />

Wow! Der Herr Bundesverteidigungsminister von vor vielen Jahren! Mit<br />

Gräfin Pilati wahrscheinlich. Tatsächlich konnte man am nächsten Tag<br />

ihren ganzen Namen lesen, die Buchstaben größer als das Foto: ‚Ex-<br />

Minister Rudolf Scharping (57) verliebt mit Partnerin Kristina Gräfin Pilati-<br />

Borggreve (57)!’<br />

Da auf einen Kellner etwa zwei Fotografen kamen, wurde auch ich<br />

fotografiert. Aber als was würden sie mich bezeichnen? Welche Frau<br />

konnten sie mir zuordnen? Tatsächlich kam <strong>der</strong> männliche Gast<br />

grundsätzlich mit Frau. Allmählich erkannte ich vage die ersten Gesichter.<br />

Das heißt, ich 'erkannte' die jeweiligen Fake-Promis immer nur zu zehn<br />

Prozent und rätselte dann minutenlang weiter: ‚War das nicht... äh... äh...<br />

äh... <strong>der</strong> Typ, <strong>der</strong> mal mit Boris Becker befreundet gewesen war, dieser<br />

Hochspringer... Bernd Herzsprung, nein, Bernd, nein Carlo Tränhart! O<strong>der</strong><br />

doch nicht?’<br />

Die meisten Gesichter kamen mir bekannt vor, weil sie Kol<strong>um</strong>nen in <strong>der</strong><br />

Bild Zeitung schrieben und ihr Portrait daneben abgedruckt war. O<strong>der</strong> weil<br />

sie bei <strong>der</strong> Berichterstattung über eigene Galas, Feste, Bälle und Jubiläen<br />

im Foto neben Halbprominenten gestanden hatten. Claus Jacobi erkannte<br />

ich, weil <strong>der</strong> mal bei <strong>der</strong> WELT Senior-Chef gewesen war, als ich dort als<br />

Volontär anfing, nach dem Abitur. Nun stand er wie<strong>der</strong> vor mir, rüstige<br />

110, offenes Hemd, braun gegerbte Haut. Mir war's zu unheimlich, und ich<br />

schlen<strong>der</strong>te grußlos weiter. Noch immer schrieb er täglich eine endlos<br />

lange Moral-Kol<strong>um</strong>ne auf <strong>der</strong> zweiten Seite, direkt unter 'Post für Wagner'.<br />

Sein Gehirn hatten sie für immer dichtgemacht und plastikverschweißt, als<br />

Adenauer z<strong>um</strong> Kanzler gewählt wurde.<br />

172


Ich nahm die Musik wahr, so sehr ich mich auch dagegen sträubte.<br />

Altherren-Disco. So ein p<strong>um</strong>pen<strong>der</strong>, automatisch eingestellter Boney-M-<br />

Rhythmus, zu dem zuletzt meine Eltern auf Ibiza tanzten, als Dieter<br />

Bohlen noch ein richtig heißer Tip war.<br />

Schon wie<strong>der</strong> ein wi<strong>der</strong>wärtiges Gesicht: Klaus Uwe Benneter. Angeblich<br />

Generalsekretär <strong>der</strong> SPD, in Wirklichkeit StamoKap-Führer aus <strong>der</strong> Apo-<br />

Zeit. Was machte <strong>der</strong> beim Klassenfeind? Was wollte <strong>der</strong> hier? War<strong>um</strong><br />

verteilte er nicht Flugblätter gegen Vietnam?<br />

Dann natürlich Wowereit, Berlins Regieren<strong>der</strong> Partymeister. Und Béla<br />

Anda, „früher bei BILD, heute Regierungssprecher". Und Vicky Leandross.<br />

Früher Schlagerstar, seit 40 Jahren nicht mehr, dafür von Beruf<br />

„Prominente“, wie auch viele an<strong>der</strong>e, bis hin zu Laurenz Meyer: „Der Ex-<br />

CDU-General (57) und Freundin Sonja (32) gut gelaunt: 'Uns geht's richtig<br />

gut!'" Und so weiter, Ex, Ex, Ex.<br />

Immer wie<strong>der</strong> beschleunigte ich meinen Schritt, weil irgendjemand häßlich<br />

lachte. Dieses häßliche Altmännerlachen, dagegen bin ich nämlich<br />

allergisch. Endlich ein noch amtieren<strong>der</strong> „Prominenter“: Kai Diekmann!<br />

Und erst (41)! Der Jüngste auf <strong>der</strong> Party. Ich blieb in seiner Nähe stehen,<br />

und wirklich kam Holger Pfahls hinzu, nein, äh... äh... Friedberg Pflüger,<br />

<strong>der</strong> außenpolitische Sprecher <strong>der</strong> CDU, glaube ich, (51), und <strong>der</strong> hatte<br />

eine echte Status-Frau dabei! Eine attraktive Blondine, märchenhaft<br />

schön, im weißen Kleid, winziger Popo, mit breitem Lachen, das sie<br />

je<strong>der</strong>zeit <strong>eins</strong>etzen konnte. Ich hatte Pflüger immer für schwul gehalten,<br />

o<strong>der</strong> für einen Waffenhändler. Wie man sich doch in den Menschen<br />

täuschen konnte, bis man sie persönlich traf!<br />

Aber gerade, als ich mir ein Getränk geholt hatte, <strong>um</strong> mir Mut<br />

anzutrinken, und die anziehende Status-Frau (27) ansprechen wollte,<br />

waren die Pflügers wie<strong>der</strong> gegangen. Das kalte Buffet mit tausenden von<br />

Crèmes, Puddings, Eis und Petit Fours blieb fast völlig unberührt. Es waren<br />

einfach zu wenig Leute da. Und wenn Pflüger schon ging, wollte ich nicht<br />

<strong>der</strong> Lückenfüller sein und ging auch.<br />

Diese Enttäuschung hätte mir fortan das Vorurteil eingeben können, dass<br />

Medienfeste scheiße sind. Aber ich war nicht so. Alles bekam bei mir eine<br />

zweite Chance, Vorurteile waren mir vollkommen unbekannt. Tags darauf<br />

gab es das große ZDF-Sommerfest.<br />

‚Nichts wie hin!’ dachte ich mir. Sicher konnte man <strong>um</strong>sonst essen und<br />

endlich an<strong>der</strong>e Nasen sehen als die von Babs Becker und FDP-Gerhardt<br />

(61). Ich ahnte noch nicht, wie sehr ich recht haben sollte! Da waren<br />

tausend Mal mehr Leute als beim Schmuddelblatt. Alle, die Angst hatten,<br />

neben Vicky Leandros als neues Mitglied des Loser-Clubs abgelichtet zu<br />

werden, strömten z<strong>um</strong> ZDF-Fest. Ich merkte plötzlich, wo die wahre<br />

Macht im Lande lag. Weiß Gott nicht bei <strong>der</strong> Groschen-Postille, wie ich so<br />

lange gedacht hatte, son<strong>der</strong>n bei <strong>der</strong> großen öffentlich-rechtlichen<br />

Riesenkrake, die strukturell links war, weil Teil des Sozialstaates.<br />

Zehntausende von gut ausgebildeten, lebenslang korr<strong>um</strong>pierten, bestens<br />

versorgten Leuten organisierten das kollektive Bewußtsein und<br />

verwalteten es, gewissenhaft und mit tödlicher Langeweile. An ihrem<br />

lethargischen Klammergriff war inzwischen unser ganzes Gemeinwesen<br />

173


abgestorben. Das waren die Assoziationen, die ich in dem Moment hatte<br />

und die natürlich komplett blöde sein konnten.<br />

Ich ging hin. Schon wie<strong>der</strong> hatte ich keine Einladung. Aber diesmal wurde<br />

ich nicht durchgewunken. Hun<strong>der</strong>te von fabrikneuen BMW-Siebener-L-<br />

Limousinen standen vor dem Lustgarten und dem Berliner Dom. Ich sah,<br />

wie vor mir Leute abgewiesen wurden und verzweifelt-unschlüssig vor den<br />

hohen Stahlgittern verharrten, die die Polizei errichtet hatte. Ich erkannte<br />

sogar Leute, die in gewisser Weise fast prominent waren, etwa Mathias<br />

Döpfner, Michael Mronz, Peter Limbourg und Vicky Leandros. Wenn DIE<br />

schon nicht reindurften, dann durfte ich es erst recht nicht. Z<strong>um</strong>al genau<br />

an dem Morgen Bild ein briefmarkengroßes Portrait von mir veröffentlicht<br />

hatte, mit den Worten ‚Schreibt ein neues Buch: Kult-Dichter Johannes<br />

Lohmer (45) mit BILD-Hostess Julia Vetter (21)’. Da hatte ich wohl zufällig<br />

neben einem <strong>der</strong> Zigaretten-Mädchen gestanden und mich festgequatscht.<br />

Weil das die einzigen Nicht-Geronots da waren. Ich konnte nur beten,<br />

dass die Naomi es nicht entdeckte. Na, die würde eher Harakiri begehen<br />

als die verhaßte BILD Zeitung auch nur anzufassen...<br />

Was also tun? Der Trubel und <strong>der</strong> Polizeischutz waren größer als beim<br />

Clinton-Besuch vor einigen Jahren. Gut, da war Clinton bereits<br />

Privatmann. Es war leichter, als Terrorist mit zwei Kilo Sprengstoff in eine<br />

Lufthansa-Maschine zu kommen, als hier ohne Einladung ins Sommerfest.<br />

Schließlich sprach ich einen Gast an, <strong>der</strong> das Sommerfest bereits verließ,<br />

ob er mir nicht seinen festgetuckerten Armreifen überließ. Er tat es. Mit<br />

dem Ding am Handgelenk konnte ich im Prinzip lässig durch die Kontrollen<br />

laufen. Ich sah aber, dass vor mir jemand, <strong>der</strong> genau das tun wollte,<br />

festgehalten wurde. Er mußte erneut nicht nur seine schriftliche Einladung<br />

zeigen, son<strong>der</strong>n auch seinen Personalausweis und seine Tasche, die nach<br />

Waffen untersucht wurde. Ich verzichtete daher auf komplizierte Manöver<br />

und wartete lieber, wie im Fußball, auf die Sekunde für den tödlichen<br />

Pass, für die geniale, imaginierte Vorlage. Als die Pitbulls am weitesten<br />

auseinan<strong>der</strong>standen, lief ich los, erst gegen die Laufrichtung des einen,<br />

dann gegen die des nächsten, immer so weiter, und immer das linke<br />

Handgelenk mit dem ZDF-Bändchen locker <strong>halb</strong>hoch in Gesichtshöhe<br />

haltend. Sie koordinierten sich falsch, die Ordner, und niemand wußte,<br />

wer von ihnen nun für mich zuständig sein sollte. So kam ich hinein.<br />

Diese Leute hatten wirklich Geschmack. Das schönste Areal <strong>der</strong> Stadt<br />

hatten sie sich gesichert. Die Spree floß ruhig an den alten Arkaden<br />

vorbei. Hier hatte schon <strong>der</strong> Ur-Lohmer seine schönsten Stunden<br />

verbracht, in den Wandelgängen <strong>der</strong> Muse<strong>um</strong>sinsel, wacker diskutierend<br />

mit dem jungen Fichte und dem unschicklich heterosexuellen Jacobi. Doch<br />

statt erbaulicher Kammermusik gewahrte ich nun eine Musik, die noch<br />

scheußlicher war als die <strong>der</strong> Bild-Fuzzis, nämlich live gespielten Swing<br />

Jazz. Es handelte sich natürlich nicht <strong>um</strong> eine Big Band - soviel Stil konnte<br />

das ZDF nicht haben - son<strong>der</strong>n <strong>um</strong> eine Combo, die einfach nur<br />

abgegriffene Assoziationen aus schlechten Woody-Allen-Filmen hervorrief.<br />

Mit dieser Musik konnten noch nicht einmal schlechte Art-Direktoren<br />

schlechte Kino-Eiswerbung machen - <strong>um</strong> das Grauen in höchster Potenz<br />

gleich einmal anzuführen. Nicht 'In the Mood' wurde versucht, was auch<br />

174


schon schmerzhaft gewesen wäre, son<strong>der</strong>n Dixieland-Swing wie bei FDP-<br />

Frühschoppen-Veranstaltungen am Sonntagvormittag. Gerd Schrö<strong>der</strong> war<br />

da eine volle Epoche weiter, wenn er sich auf Wahlpartys die frühen<br />

Stones wünschte.<br />

<strong>Mein</strong>e Euphorie wurde durch die vielen alten Leute etwas gedämpft. Schon<br />

wie<strong>der</strong> dieses dominierende Grau auf allen Köpfen. Die Leute waren<br />

deutlich älter als die Ganoven von Springer. Mich hätte es nicht<br />

gewun<strong>der</strong>t, wenn sie sogar die Zigarettenmädchen aus dem Seniorenstift<br />

geholt hätten. Und überall hörte ich Dialekte, die ich nicht zuordnen<br />

konnte. Schließlich fragte ich entnervt zwei Omis in Walla-Walla-Klei<strong>der</strong>n,<br />

die wohl 'Sommerklei<strong>der</strong>' darstellen sollten:<br />

"Wo kommen Sie her?"<br />

Die Antwort war Mainz. Das ganze ZDF kam aus <strong>der</strong> Gegend. In<br />

Son<strong>der</strong>bussen war diese Ethnie nach Preussen gefahren. Ich sah nun viele<br />

Notarzt-Teams emsig her<strong>um</strong>laufen, hörte aber keine Sirenen. Ein Attentat,<br />

kein Attentat, ein Probealarm? Nein, es waren nur einige ältere Gäste mit<br />

Kreislaufproblemen zu behandeln. Bis zu zwei Dutzend Schlaganfälle<br />

gleichzeitig hätte man versorgen können, soviel Personal stand<br />

ärztlicherseits zur Verfügung. Ich fühlte nach, ob ein Schlaganfall bei mir<br />

bevorstand, fand aber nichts. Die P<strong>um</strong>pe schlug in aller Ruhe vor sich hin.<br />

Ich war zu jung für diese Gesellschaft. "Trau keinem unter 50" schien das<br />

Motto <strong>der</strong> ZDF-Gewaltigen zu sein. Das hübscheste Mädchen war Gräfin<br />

Pilati, die über eine Notleiter vom Dom aus eingestiegen war. Mit ihren<br />

(57) war sie für mich aber zu alt. Ich bevorzugte die ewigen 35jährigen,<br />

die Claudius Seidl in seinem Buch 'Schöne junge Welt' erfunden hatte. Und<br />

überhaupt war ich in festen Händen und treu wie Gold.<br />

Ich blickte auf die bewegte Menge und mir fiel auf, dass dieses Publik<strong>um</strong><br />

besser gekleidet war als bei Bild. Ja, diese öffentlich-rechtlichen<br />

Gerontokraten aus Mainz. Arrogante Gutmenschen o<strong>der</strong> sogar<br />

Herrenmenschen, elitär und trotzdem r<strong>eins</strong>ten Gewissens. Aber<br />

verdammt, wo waren jetzt die Prominenten, nein, die Politiker? Ich wollte<br />

über die Neuwahlen sprechen und über Schrö<strong>der</strong>s Vertrauensfrage, die<br />

unmittelbar bevorstand. Ich blickte angestrengt <strong>um</strong> mich. Überall essende<br />

Alte. Als wäre hier die Massenspeisung im Lande Kanaan o<strong>der</strong> sowas.<br />

Kilometerweit Büffetts, mal heiß, mal kalt, mal wie<strong>der</strong> heiß.<br />

Endlich sah ich Scharping, aber <strong>der</strong> war ja nicht mehr gut informiert. Dann<br />

Udo Walz, aber <strong>der</strong> war nun gar kein Politiker. Da, Müntefering, aber <strong>der</strong><br />

ging gerade. Und Otto Schily. Den traute ich mich nicht anzusprechen.<br />

Manfred Stolpe. Zu glatt - was sollte DABEI schon herauskommen? Peter<br />

Limbourg, dieser N24-Chef. Sicher mit dem Ohr an <strong>der</strong> Macht, aber er<br />

guckte immer so seltsam zu mir herüber, als hätte er etwas gegen mich.<br />

Außerdem war er so hochgewachsen, dass ich zu ihm hätte hochbrüllen<br />

müssen. Ich sah ein paar befreundete Journalisten. Gut, besser als nichts.<br />

Ich sprach dann lange mit politischen Redakteuren vom SPIEGEL, merkte<br />

aber, dass sie schlechter informiert waren als ich. Anschließend waren alle<br />

Politiker verschwunden. Die kamen und gingen wohl alle binnen einer<br />

Viertelstunde. So hatte ich die Merkel und den alten Kohl mit seiner neuen<br />

175


Lebensgefährtin verpaßt. Ich nahm mir vor, beim nächsten Sommerfest<br />

früher zu kommen und besser aufzupassen.<br />

Das war am nächsten Tag, beim großen Stern-Sommerfest. Nun waren es<br />

nur noch Stunden bis z<strong>um</strong> historischen Mißtrauensvot<strong>um</strong>. Ich hatte mir<br />

diesmal eine Einladung besorgt. Das war problemlos, da ich mit <strong>der</strong><br />

gastgebenden Zeitschrift befreundet war. Um Punkt Acht betrat ich das<br />

Spree-Palais, in dem <strong>der</strong> Stern residierte. Erneut galt: Die Linken hatten<br />

sich Berlins Filetstücke gesichert. Nobler und feiner konnte man nicht<br />

residieren. Die Leute badeten in Prunk und Protz, schienen Geld ohne<br />

Ende zu haben. Alles war noch eine Dimension großartiger und feiner als<br />

am Abend zuvor. Man hörte auch keinen verschollenen Dialekt mehr. Die<br />

meisten Herren trugen schwarze Anzüge, und einige hatten sogar noch<br />

ihre natürliche Haarfarbe. Natürlich gab es trotzdem erneut keine einzige<br />

35jährige, aber ich blieb, denn ich war glücklich verheiratet und brauchte<br />

keine schönen Frauen zu meiner Erbauung. Son<strong>der</strong>n waschechte Politiker!<br />

Und ich bekam sie. Sie waren alle da. Hier beim Stern, bei den Linken.<br />

Nicht beim FOCUS, nicht beim CDU-Sommerfest, nicht beim BDI. Der<br />

Staat gehörte einfach den Linken, denn die Linken waren die Medien, und<br />

das würde sich beim Regierungswechsel nicht än<strong>der</strong>n. Hans-Ulrich Jörges<br />

war da und auch die Merkel. Sie ging nicht nach zehn Minuten, son<strong>der</strong>n<br />

blieb den ganzen Abend. Andauernd rannte sie z<strong>um</strong> Büffett, bestimmt vier<br />

Mal, immer selbst und ohne Diener, was ich sympathisch fand, mit<br />

unzügelbaren Appetit.<br />

Die Schultern hatte sie leicht eingezogen, und an<strong>der</strong>s als ihr Vorgänger<br />

Schrö<strong>der</strong>, strahlte sie nichts Präsidiales aus. Immer guckte sie so unsicher<br />

seitlich und stand überbetont breitbeinig da, was auch eher unsicher<br />

wirkte. Die Sachen, die sie anhatte, sahen übel aus. Unpassend,<br />

unelegant, abgetragen, wie bei Woolworth gekauft. Ein eher helles<br />

Sommerjackett, das ihr nicht stand, kurze Haare, die aber hochtoupiert<br />

waren, eine dunkle Männerhose und absatzlose Latschen. Sie sah<br />

außerdem überarbeitet und deutlich älter aus, als sie war. Ein Wrack also,<br />

noch ehe sie mit <strong>der</strong> Regierungsarbeit begonnen hatte. Das konnte nichts<br />

werden. Irgendwie sah sie aber auch nett aus und mütterlich, so wie diese<br />

Berliner Frauen mit Mutterwitz. Sie wirkte dadurch unernst und wie ein<br />

Leichtgewicht. Jemand wie sie konnte unmöglich den Posten vom Gerd<br />

übernehmen. Das war es, was Stoiber gemeint hatte, als er von ihr und<br />

Westerwelle als „Leichtmatrosen“ gesprochen hatte. Die ganze Zeit hatte<br />

sich dieser N24 Chefredakteur neben sie aufgebaut, Peter Limbourg, <strong>der</strong><br />

dafür viel zu groß war und <strong>der</strong> auch nichts sagte. Merkel und Limbourg<br />

sprachen nicht miteinan<strong>der</strong>, war<strong>um</strong> also wich er nicht von ihrer Seite?<br />

Suchte er verzweifelt die Nähe zur Macht? Es sah schon absurd aus,<br />

dieses ungleiche Paar, und dass die Merkel den Tölpel nicht loswurde,<br />

sprach gegen sie. Schrö<strong>der</strong> hätte den mit einem einzigen Haifischlächeln<br />

verscheucht.<br />

Maynhard Graf Nayhauss schlich her<strong>um</strong>, endlich einmal ein echter<br />

Prominenter, eine hochgradige Persönlichkeit erster Kajüte.<br />

"Na, alles in Dortmund, Herr Graf?" fragte ich beflissen. Er ging nervös<br />

zuckend weiter. Hier war Geld, hier war Luxus und Überfluss. Die<br />

176


Hostessen trugen dunkelrote Goldbrokatklei<strong>der</strong> und waren natürlich alle<br />

Models. Man hätte sie an sich reißen mögen. Aber alle im Areal waren<br />

bestens verheiratet und hatten keinerlei Sinn für solchen Erotik-Schmarrn.<br />

Wozu eine Frau dieser Art auch nur beachten, wenn man einen Angela-<br />

Merkel-Typ zu Hause hatte, o<strong>der</strong> sogar neben sich? Wie<strong>der</strong> waren alle<br />

Männer mit weiblicher Begleitung gekommen. Wer das nicht tat, galt<br />

heutzutage als stockschwul. Des<strong>halb</strong> kamen selbst die Halbschwulen in<br />

weiblicher Begleitung, <strong>um</strong> nicht als stockschwul zu gelten.<br />

Als Kampa-Chef Machnig einmal zufällig neben mir stand, fragte ich ihn,<br />

ob er auch glaube, dass es keine Neuwahlen gebe. "Klar gibt es die!"<br />

"Naja, Köhler prüft das und sagt dann nein. Basta!"<br />

"Kann er nicht, weil schon Kohl das so gemacht hat."<br />

"Dann geht die Klage nach Karlsruhe und die Sache scheitert da."<br />

"Ja, aber erst lange NACH den Wahlen. Bis dahin kräht kein Hahn mehr<br />

danach."<br />

Lächelnd ging er weiter. Hatte er recht? Kohl hatte den Bundestag<br />

aufgelöst, <strong>um</strong> sich durch Neuwahlen einen fetten Sieg zu bescheren; eine<br />

grobe Manipulation zu seinen Gunsten. Genau DAS hatte das Grundgesetz<br />

verhin<strong>der</strong>n wollen. Und es war trotzdem durchgekommen. Dann mußte es<br />

jetzt erst recht durchgehen. Verschüchtert fragte ich Wolf von Lojewski.<br />

Der machte mir wie<strong>der</strong> Mut:<br />

"Köhler ist an<strong>der</strong>s. Ein weltfrem<strong>der</strong> Technokrat, ein Außenseiter. Er wird<br />

sturköpfig das entscheiden, was er zufällig für richtig hält. Und da ist<br />

beides gleichermaßen möglich. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ’nein’ sagt,<br />

beträgt genau 50 Prozent. Ich kenne ihn gut, habe ihn oft getroffen."<br />

Innerlich jubelte ich. Doch keine Neuwahlen, vielleicht! Und <strong>der</strong> Kanzler<br />

hatte bereits definitiv gesagt, dass er weitermachen werde, wenn Köhler<br />

nein sagte. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Schrö<strong>der</strong> wäre dann ein Kanzler, <strong>der</strong><br />

bewiesen hätte, dass er nicht an seinem Stuhl klebte. Ein Politiker, dem es<br />

nicht <strong>um</strong> Macht, son<strong>der</strong>n <strong>um</strong> Verantwortung ginge, <strong>um</strong> Gestaltung, <strong>um</strong><br />

des Volkes Willen. Ein Regierungschef, <strong>der</strong> nicht nur vom Volk gewählt<br />

war, son<strong>der</strong>n nun auch noch zusätzlich die Legitimation durch den<br />

Bundespräsidenten besaß. Und Köhler mußte sich volle 21 Tage Zeit<br />

lassen mit seiner Entscheidung, das war so vorgeschrieben. Genug Zeit<br />

also für Schrö<strong>der</strong>, mit dem Mann ein paarmal Essen zu gehen und ihn z<strong>um</strong><br />

Freunde zu gewinnen. Das schaffte <strong>der</strong> Gerd mit links. Eine kleine<br />

Charme-Offensive, und <strong>der</strong> spröde Technokrat war Feuer und Flamme für<br />

unseren herrlichen jungen Kanzler! Erst beim zweiten o<strong>der</strong> dritten Essen<br />

mitsamt Frauen würde Schrö<strong>der</strong> einfliessen lassen, wie leicht die<br />

Staatskrise in ihr Gegenteil zu wenden wäre, wenn das Staatsoberhaupt<br />

persönlich für die mühsam angestrebte, aber nur auf diesem etwas<br />

fragwürdigen Weg zu erreichende Legitimation durch ein 'Weitermachen!'-<br />

Machtwort sorgte...<br />

Solchermaßen beflügelt wandte ich mich an Laurenz Meyer, den Ex-CDU-<br />

General:<br />

"Köhler sagt nein. Wissen Sie es schon?" Er sah mich dunkel an, mit fast<br />

brutalen Augen.<br />

"Zunächst einmal: Für wen arbeiten Sie?"<br />

177


Die Frage hatte ich durchaus erwartet. Und ich wußte, dass er sich wortlos<br />

wegdrehen würde, wenn ich gestand, nur ein Privatmann zu sein. So<br />

antwortete ich:<br />

„Für die 'taz'.“<br />

Sofort tanzte ein Lächeln auf seinem vorher so mürrischen Gesicht. Er<br />

sagte:<br />

"Köhler sagt ja. Und tut damit etwas Gutes für Deutschland. Je<strong>der</strong> Tag<br />

ohne Rot-Grün ist ein guter Tag für Deutschland." "Aber es wäre<br />

verfassungswidrig. Des<strong>halb</strong> sagt er nein. War<strong>um</strong> sollte er einen<br />

Verfassungsbruch begehen? Welches Motiv sollte er dafür haben? So ein<br />

ehrenwerter Mann, Sie kennen ihn doch?" "Nein, ich kenne ihn nicht. Und<br />

er wird es tun, weil es gut ist für Deutschland, für unser Vaterland. Weil er<br />

damit unserem Volk einen sehr großen Dienst erweist! Weil nämlich je<strong>der</strong><br />

weitere Tag, an dem das rot-grüne Regierungschaos NICHT mehr besteht,<br />

ein wun<strong>der</strong>voller und guter Tag für unser gesamtes deutsches Vaterland<br />

sein wird!"<br />

"Ich danke Ihnen!"<br />

Ich schlug im Geiste die Hacken zusammen und war froh, Herrn Meyer<br />

wie<strong>der</strong> los zu sein. Den hatte die Merkel also abserviert. Sauber, Angie!<br />

Nun spielte die Musik auf, <strong>der</strong> gemütliche Teil sollte wohl starten. Stevie<br />

Won<strong>der</strong> von 1972 wurde von einer Kapelle intoniert, also die<br />

meistgespielte Platte zwischen Caruso 1904 und 'Thriller' 1985. Selbst<br />

'Street Life' und 'Its raining Men' hatte man im Vergleich dazu seltener als<br />

Stimmungsmittel geriatrischer Schwachsinnsfeste eingesetzt. Ich machte<br />

förmlich einen Satz Richtung Ausgang. Auch <strong>der</strong> 'Stern' war kulturell also<br />

1972 stehengeblieben, wie die ganze Gesellschaft. Ob ich es inner<strong>halb</strong> <strong>der</strong><br />

mir vergönnten Gesamtlebensspanne noch einmal an<strong>der</strong>s erlebte? Würde<br />

diese Zeit jemals aufhören? Würde jemals, und sei es in 25 Jahren, also<br />

2030, etwas an<strong>der</strong>es auf Stern-Sommerfesten gespielt werden als Stevie<br />

Won<strong>der</strong> von 1972? Nein, diese Hoffnung bestand nicht. Denn es war ja<br />

nichts nachgewachsen, schon biologisch nicht. Also konnte ich auch<br />

bleiben, auf dem Fest.<br />

Neben mir mampfte Dagmar Berghoff ein Lachsbrötchen. Mit lag die<br />

zynische Frage auf <strong>der</strong> Zunge, war<strong>um</strong> sie die Tagesschau nicht mehr<br />

mo<strong>der</strong>iere, in ihrem Alter, mit noch nicht einmal 75 Jahren? Aber ich ließ<br />

es. Immerhin hatte SIE sich zurückgezogen, mit noch frischen 65 Lenzen.<br />

Dann waren da immer wie<strong>der</strong> so seltsame 40jährige Stern-Reporter, die<br />

schulterlange Curt-Kobain-Matten trugen, Vier-Tage-Bärte und auffallend<br />

helle Sommerjacketts. O<strong>der</strong> waren sie doch schon 50? O<strong>der</strong> FAST 50,<br />

somit noch jung und rebellisch? Wie sah ihre Rebellion textlich aus?<br />

Schrieben sie wüsten, anarchischen Scheiß, <strong>halb</strong> Bukowski, <strong>halb</strong> Fifty<br />

Cent? Böse Zuhältertexte über Einbrüche im Penny-Markt und heiße<br />

Bräute, die für sie anschafften... nein, das ging bei uns nicht. Ich hätte<br />

gerne noch herausgefunden war<strong>um</strong>, aber immer mehr waschechte<br />

Politiker liefen an mir vorbei, und ich wollte noch ein paar abfischen.<br />

Bütikofer! Ich kannte ihn schon vom Grünen-Sommerfest her, das bereits<br />

vor Unzeiten stattgefunden hatte. Ich sagte:<br />

"Wissen Sie es schon? Es gibt keine Neuwahlen."<br />

178


"So? Dann warten Sie den morgigen Tag einmal ab."<br />

"Die SPD rettet sich in die Große Koalition, dar<strong>um</strong> geht es. Dafür das<br />

ganze Theater. Statt Neuwahlen gibt es einen Koalitionswechsel."<br />

"Wer sagt das? Wer will das?"<br />

"Das haben sich Schrö<strong>der</strong>, Müntefering, Kurt Beck und Fischer Mitte Mai<br />

ausgedacht. Wußten Sie nichts davon?"<br />

Er stand mit offenem Mund da:<br />

"Nein."<br />

"Dann sage ich es Ihnen hiermit."<br />

"Das ist ja eine Verschwörung."<br />

"Genau. Was werden Sie jetzt dagegen tun?"<br />

"Wie ich schon sagte: Erstmal die Rede des Kanzlers morgen anhören."<br />

Ich dankte, er ging weiter.<br />

War er nicht ganz vernünftig? Plötzlich wollte auch ich diese Rede hören.<br />

Die mußte ja total brisant sein. So ging ich früh ins Bett und stellte den<br />

Wecker. Um acht Uhr informierte <strong>der</strong> Kanzler seine Fraktion. Um 8 Uhr 30<br />

die Fraktion <strong>der</strong> Grünen. Von da an begann die Son<strong>der</strong>berichterstattung<br />

von N24. Peter Limbourg berichtete nahezu nonstop aus dem Reichstag.<br />

Um zehn Uhr sprach <strong>der</strong> Kanzler. Die Rede war sehr gut, aber alles an<strong>der</strong>e<br />

als brisant. Dann sprach die Merkel. Wie<strong>der</strong> wirkte sie so fiepsig und<br />

leichtmatrosenhaft, wie auf <strong>der</strong> Party. Sie hatte außerdem einen<br />

Schluckauf, <strong>der</strong> sie ziemlich außer Gefecht setzte. Kein gutes Zeichen für<br />

sie und ihre schwere <strong>Auf</strong>gabe. Bei <strong>der</strong> Rede verschluckte und versprach<br />

sie sich andauernd, und es schien ihr gar nichts ausz<strong>um</strong>achen. So<br />

unbekümmert und unernst hatte ich zuletzt Mitschüler erlebt, die vor <strong>der</strong><br />

mündlichen Prüfung gekifft hatten.<br />

Die Strafe folgte auf dem Fuß, in Gestalt von Joschka Fischer, <strong>der</strong> eine<br />

mitreissende, geniale Wahlrede hielt und die Merkel glatt abschoß.<br />

Hustend, schluckend und augenblinzelnd saß sie auf ihrem Sesselchen und<br />

war alles an<strong>der</strong>e als die neue Regierungschefin. Schließlich kam noch ein<br />

Abgeordneter namens Werner Schulz, <strong>der</strong> genau begründete, war<strong>um</strong> die<br />

Neuwahl ein Verfassungsbruch wäre. Später sagten alle Kommentatoren,<br />

dass diese Rede die beste gewesen wäre. Ich dachte: Wenn <strong>der</strong> Köhler<br />

diese Rede auch gehört hat, ist es vorbei mit dem ganzen Theater. Was<br />

natürlich toll wäre. Schrö<strong>der</strong> wurde dann erwartungsgemäß das Mißtrauen<br />

ausgesprochen, und noch während die Typen von <strong>der</strong> CDU hämisch<br />

klatschten, lief <strong>der</strong> alte und neue Kanzler im Geschwindschritt z<strong>um</strong><br />

Ausgang, <strong>um</strong> z<strong>um</strong> Schloß Bellevue zu fahren, z<strong>um</strong> Bundespräsidenten, <strong>um</strong><br />

mit ihm den Beginn einer wun<strong>der</strong>baren Männerfreundschaft einzuleiten.<br />

32. Politiker Bashing …<br />

Als <strong>der</strong> noch amtierende deutsche Bundeskanzler Gerhard Schrö<strong>der</strong><br />

vorgestern seine Abschiedsrede auf dem SPD Parteitag hielt, fielen allen<br />

die Tränen auf und die Emotionen <strong>der</strong> 18 Minuten lang klatschenden<br />

Delegierten - aber <strong>der</strong> Kern seiner Rede ging unter. Nur wenige, schon gar<br />

179


nicht die Medien, haben mitgekriegt, daß es sich <strong>um</strong> die bisher schärfte<br />

Medienschelte eines führenden Politikers handelte. Schrö<strong>der</strong> führte den<br />

Begriff des 'Politiker Bashings' ein. Sinngemäß sagte er, das in<br />

Deutschland zunehmend beliebte 'Politiker Bashing', also das blinde<br />

Einschlagen <strong>der</strong> Medien auf die Politiker, werde die Demokratie ruinieren.<br />

Wörtlich: "Solche, die es angeht, müssen wissen, daß am Ende dieses<br />

Weges nicht mehr Demokratie steht, son<strong>der</strong>n deutlich weniger." Er bezog<br />

sich also nicht ausdrücklich auf die Medien - das Wort fiel nicht - und<br />

verließ sich darauf, dass "solche, die es angeht" schon richtig verstanden<br />

würde. In <strong>der</strong> 'Tagesschau' wurde dann prompt berichtet, irgendwelche<br />

parteiinternen Kritiker seien gemeint gewesen. In <strong>der</strong> 'Tagesschau' liest<br />

man wohl keine Zeitungen.<br />

Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> morgens die Bild Zeitung aufschlägt, findet die ersten drei<br />

Seiten vollgekleistert mit wüster Pöbelei gegen 'die Politiker'. Es ist<br />

offenbar die neue (alte?) Volksreligion, denn das Blatt handelt nicht finster<br />

verschwörerisch, son<strong>der</strong>n macht damit <strong>Auf</strong>lage, trifft die Seele des Volkes.<br />

Bis zur Wahl am 18. September waren natürlicherweise die regierenden<br />

Rotgrünen 'die Politiker', die als Lügner, Betrüger, Abzocker, Abkassierer,<br />

Egoisten, Schwätzer, Faulenzer, Falschmünzer, Schmarotzer und so weiter<br />

an den Pranger gestellt wurden, immer nach <strong>der</strong> Leier 'Sie predigen<br />

Wasser und trinken Wein'. Es handelte sich ganz offensichtlich <strong>um</strong> DAS<br />

Feindbild <strong>der</strong> Deutschen, und die Monomanie und Häufigkeit, mit <strong>der</strong> diese<br />

kleine Gruppe <strong>der</strong> Gesellschaft attackiert wurde, erinnerte z<strong>um</strong>indest mich<br />

durchaus an die bekloppte Besessenheit, mit <strong>der</strong> etwa die Zeitschrift 'Der<br />

Stürmer' das damalige Feindbild 'Die Juden' immer und immer wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong><br />

nicht vorhandenen Thema machte. Nun soll man in Deutschland ja solche<br />

Vergleiche nicht anstellen, und ich nehme ihn auch sofort zurück. Ich<br />

sagte nur, es 'erinnerte' mich daran. Und wenn die Erinnerung erst einmal<br />

anfängt, ist sie nicht zu stoppen: Ist <strong>der</strong> Haß auf die demokratisch<br />

gewählten Politiker, auf die Demokratie, auf das Parlament und den<br />

<strong>Mein</strong>ungsstreit nicht überhaupt das konstituierende Element des<br />

deutschen Wesens? Beispiele dafür gäbe es ohne Ende, drei kurze seien<br />

genannt: Kaiser Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr" löste schon<br />

1914 grenzenlosen Jubel aus. Hitlers Siegeszug verdankte sich einer<br />

täglichen Hetze gegen 'die Schwatzbude', die er 'dichtmachen' wollte, das<br />

Parlament. Die 68er polemisierten eine Generation später vor allem gegen<br />

'das System' und übernahmen damit denselben Begriff, <strong>der</strong> auch den<br />

Nazis schon alles bezeichnete, was mit Demokratie zu tun hatte, von<br />

'Novemberverbrecher' bis 'Handlanger des Kapitals'. Als ich gestern abend<br />

den Taxifahrer in Köln auf dem Weg z<strong>um</strong> Hauptbahnhof fragte, was er von<br />

<strong>der</strong> Großen Koalition hielte, sah ich in seiner prompten Antwort, daß<br />

dieses Volk nie unpolitisch ist, aber immer demokratiefeindlich. Seine<br />

leicht kölschhaltigen, versoffenen Sätze waren für mich wie akustische<br />

Bild Zeitung, wie rheinische 'Post von Wagner': "Die reden ja viel, aber<br />

solange das Grundproblem des deutschen Volkes nicht angesprochen wird,<br />

än<strong>der</strong>t sich da gar nichts." Ich fragte, was das sei. Er drehte sich<br />

verwun<strong>der</strong>t <strong>um</strong>, sein langer Schnauzbart wippte: "Das ist, dass die<br />

Politiker die ganzen Milliarden in die eigene Tasche <strong>um</strong>leiten!"<br />

180


Zurück z<strong>um</strong> Thema. Mit dem 18. September nun, <strong>der</strong> Großen Koalition,<br />

hat das 'Politiker Bashing' nicht aufgehört. Das Einschlagen auf das linke<br />

Lager, das man <strong>der</strong> Rechtspresse unterstellt, und zwar als gutes Recht<br />

und als ehrwürdige Tradition, war mitnichten die Ursache. Denn zu meiner<br />

ziemlichen Überraschung ging es nun erst richtig los. Die "Da grinsen sie<br />

frech, die Abzocker-Politiker"-Artikel <strong>der</strong> Yellow Press gehen munter weiter<br />

und treffen nun alle Parteien. Und keiner wird behaupten können,<br />

irgendein Medi<strong>um</strong>, ob ZEIT, Stern, Coupé, Spex o<strong>der</strong> auch taz hätte eine<br />

grundsätzlich an<strong>der</strong>e Einstellung. Politiker sind einfach das Letzte,<br />

ungefragt, unüberprüft, das versteht sich von selbst, da sind sich alle<br />

einig. In keinem an<strong>der</strong>en Punkt sind sich alle Deutschen so beängstgend<br />

einig wie in diesem. Eine Gegenrede hat noch keiner gehalten. Ich blickte<br />

dann im Zug auf die Zeitungen, die die Fahrgäste vor <strong>der</strong> Nase hatten:<br />

'Große Koalition bittet ALLE zur Kasse - nur DIE POLITIKER verzichten auf<br />

nichts!' (Bild), 'Die Akte <strong>der</strong> Ungerechtigkeit. Unsere Politiker sparen<br />

überall, nur bei sich selbst nicht' (Bild Innenteil, ganzseitige <strong>Auf</strong>listung<br />

aller 'Privilegien' <strong>der</strong> Politiker wie "Anspruch auf eine Büroausstattung",<br />

"Netzkarte <strong>der</strong> Deutschen Bahn", "Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fraktionsspitze<br />

bekommen sogar persönliche Dienstwagen!"), 'Enttäuschung über Merkels<br />

Regierungsprogramm. Große Koalition startet mit Verfassungsbruch'<br />

(WELT), 'Verheerende Rezepte' (WELT Leitkommentar), 'Man wurstelt sich<br />

so durch' (WELT Innenteil), 'Koalition im Kreuzfeuer' (Kölner Stadt-<br />

Anzeiger), 'Mit Steuererhöhungen und Sparaktionen verärgert Schwarz-<br />

Rot das Wahlvolk' (DER SPIEGEL), 'Postengeschacher vor <strong>der</strong> Kanzlerwahl'<br />

(DER SPIEGEL)... Ein Fahrgast hatte bereits die Bild Ausgabe des<br />

kommenden Tages ('Die Große Koalition <strong>der</strong> Diebe'), ein an<strong>der</strong>er eine<br />

etwas ältere Ausgabe vor Augen ('Ihr Steuer-Lügner!'), auf <strong>der</strong> Merkel,<br />

Stoiber und Münte mit langen Lügen-Nasen abgebildet waren: "So<br />

schamlos wurden wir Wähler wohl noch nie belogen! Die peinlichen Lügen<br />

unserer Politiker, wie <strong>der</strong> Griff in unsere Kassen geplant wird - Seite 2!"<br />

Ich wartete, bis <strong>der</strong> Fahrgast auf Seite 2 blätterte, und dann ging das<br />

Inferno von vorne los: 'Faul, feige, fantasielos' (Kommentar von Hans-Olaf<br />

Henkel). 'Sie brechen alle Wahl-Versprechen' (Headline), 'So schamlos<br />

haben uns DIE POLITIKER betrogen! (6 Zentimeter hohe Lettern), 'Liebe<br />

Lügner von Berlin (Post von Wagner). 'Fantasielos' waren vor allem die<br />

Lauftexte: "...Das Blaue vom Himmel versprochen... greifen wie gemeine<br />

Diebe in die Taschen... schamlos... belogen... alles Lüge!... Faul sind sie...<br />

Glaubwürdigkeit beerdigt... Lügenland... Mehrwertsteuer-Lüge... lügt die<br />

SPD immer noch... Steuerreform-Lüge..." und sicher noch ein weiteres<br />

Dutzend Mal das blöde Wort.<br />

Was war nun eigentlich die Lage an diesem Montag, dem 14. November<br />

2005? Wer hatte wen verraten? Wer hatte einen völkerrrechtswidrigen<br />

Angriffskrieg inklusive Völkermord begonnen o<strong>der</strong> was? Wer hatte <strong>um</strong><br />

Posten geschachert, in fremde Taschen gegriffen, intrigiert, gelogen, sich<br />

persönliche Vorteile verschafft, war dabei faul, feige und fantasielos<br />

gewesen? Wer hatte die Milliarden am Volk vorbei in die eigene Tasche<br />

geleitet? Ja ja, ich weiß, die Politiker. Aber was war WIRKLICH geschehen?<br />

Folgendes: In geradezu unfaßbar disziplinierter Weise haben 605<br />

181


Parlamentarier in 18 Arbeitsgruppen, Unter- und Oberglie<strong>der</strong>ungen,<br />

geräuschlos und sachlich eine Verzahnung des Managements des Landes<br />

(eine Firma mit über 30 Millionen Arbeitsplätzen) hingekriegt. Vom ersten<br />

Tag nach <strong>der</strong> Wahl an haben sie - von Stoiber abgesehen - zielgerichtet<br />

und sachbesessen gearbeitet. Keiner hat sich profiliert - vergessen wir<br />

Andrea Nahles, Ausnahmen bestätigen die Regel - keiner wurde<br />

ideologisch, keiner nervte mit langen Reden. Sie haben gearbeitet wie die<br />

Bienen. Wie Krankenhausärzte in den 50er Jahren, 18 Stunden am Tag,<br />

und am Wochenende ebenso. Wofür DaimlerChrysler Jahre brauchte und<br />

es nicht schaffte, nämlich die Fusion zweier großer gesellschaftlicher<br />

Gebilde, benötigten Union und SPD drei Wochen. Allen in 36 Jahren<br />

Gegnerschaft gewachsenen Feindschaften, Unterschieden, auch<br />

landsmannschaftlichen und kulturellen Unterschieden z<strong>um</strong> Trotz wuchsen<br />

sie in dieser vollkommen sachbezogenen Mammutarbeit so sehr<br />

zusammen, dass alle Reporter insgeheim den Eindruck hatten, die beiden<br />

Lager seien ineinan<strong>der</strong> verliebt. Nirgends war es zu sehen, das immer<br />

behauptete 'Hauen und Stechen' <strong>der</strong> schamlosen Egoisten, denen es<br />

einzig <strong>um</strong> den Posten, die Macht, die Eitelkeit, das Nie<strong>der</strong>stechen des<br />

Mitbewerbers geht. Und nun z<strong>um</strong> Ergebnis. Wurde <strong>der</strong> Staat<br />

kaputtgespart? Wurde die Kaufkraft abgeschöpft? Wurde das Geld den<br />

Bürgern aus <strong>der</strong> Tasche gezogen? Nein, die Schuldenaufnahme wurde<br />

sogar noch drastisch ausgedehnt, <strong>um</strong> die Wirtschaft wenigstens im ersten<br />

Jahr NICHT abzuwürgen. Erst wenn die Konjunktur richtig angesprungen<br />

ist, will man den Haushalt in den Griff kriegen, vorsichtig, aber dann mit<br />

heiligem Ernst und kompromißlos.<br />

Hat es jemals etwas <strong>der</strong>artig Vernünftiges in <strong>der</strong> Politik gegeben? Es ist,<br />

als hätten sich alle Erkenntniss <strong>der</strong> letzten zehn Jahre zu einer<br />

einzigartigen Gem<strong>eins</strong>chaftsleistung verdichtet. Und wer handelt<br />

verantwortungslos? Die Politiker?<br />

… und seine Folgen<br />

Schrö<strong>der</strong> und Doris sind weg, die Merkel sitzt allein im schönen<br />

Kanzleramt, ohne Mann und ungeliebt von den Medien wie ihr Vorgänger.<br />

Die Regierung hat gewechselt - aber das 'Politiker Bashing' geht munter<br />

weiter.<br />

Wenn Hans Jürgen Jörges auch weiterhin im 'Stern' allwöchentlich gegen<br />

Müntefering ("Du bist Münte!"), Stoiber, Wulff, Merkel, Platzek und so<br />

weiter mit alttestamentarischer Wucht wettert, erbleichen die Kollegen <strong>der</strong><br />

Bild Zeitung. Sie besorgen das Geschäft mit gleichem Eifer und geraten<br />

doch in ihrer ohnmächtigen Knast- und NPD-Sprache immer mehr auf<br />

unterstes Pöbel-Niveau. Die Buchstaben werden immer größer, die<br />

Aussagen immer kleiner, sinngemäß dass die Große Koalition schon jetzt<br />

"am Arsch" sei, auch die jetzt gewählten Politiker Abzocker seien, Lügner,<br />

Betrüger, Abkassierer, faule Hunde, Schwätzer und so weiter. Die NPD<br />

plakatierte jüngst im Bundestagswahlkampf "Schnauze voll? Zocker-<br />

Politiker abstrafen! NPD". Das war pl<strong>um</strong>p, aber vom Tenor her das, was<br />

182


auch alle an<strong>der</strong>en Medien dem Volk zunehmend heftig suggerieren. Das<br />

geht bis hin z<strong>um</strong> SPIEGEL, bis hin zur 'taz', und ein Spiegel-Redakteur<br />

sagt treuherzig: "Das zeigt doch gerade unsere Freiheit, dass wir beide<br />

Seiten kritisieren, SPD und CDU." Das stimmt. Die Freiheit, einen<br />

demokratisch gewählten Politiker einmal zu loben, kann sich keine Zeitung<br />

mehr herausnehmen. Zu hermetisch, zu konsensual ist inzwischen <strong>der</strong><br />

geschürte Haß gegen diese Leute. Es handelt sich dabei <strong>um</strong> echte Hetze.<br />

Allein die in <strong>der</strong> letzten Woche erschienenen Berichte über die neuen<br />

'Abzocker-Politiker' würde diese heutige taz <strong>um</strong> ein Vielfaches sprengen.<br />

Am beliebtesten dabei sind endlose Tabellen, in denen die einzelnen<br />

Bezüge <strong>der</strong> Abgeordneten bis z<strong>um</strong> allerletzten bezuschußten Bürobleistift<br />

aufgelistet werden. Immer wie<strong>der</strong> einen Schrei <strong>der</strong> Empörung wert: die<br />

7.037 Euro Grundgehalt <strong>der</strong> "Unersättlichen"! Wo doch ein einfacher<br />

ungelernter Arbeiter mit zwei geschiedenen Frauen und einer Vorstrafe<br />

viel weniger erhält! Diese Schweinerei! Die verarschen uns doch! Die sollte<br />

man doch alle z<strong>um</strong> Mond schießen! ÜBER SIEBEN TAUSEND! Hängt sie alle<br />

auf, die eitlen Schwätzer!<br />

So Volkes Stimme. Der 'Stern' beschreibt die Mehrwertsteuererhöhung im<br />

übernächsten Jahr als einen auf unsere Wirtschaft zurasenden Kometen,<br />

<strong>der</strong> sie zerschmettern wird: "Noch 410 Tage bis z<strong>um</strong> Einschlag!" Danach<br />

wird auf 21 Heftseiten haarklein bewiesen und vorgerechnet, daß alles,<br />

alles, alles schlecht sei am neuen Koalitionsvertrag. Ein unfaßbares, z<strong>um</strong><br />

Lachen kleinliches und kleinkariertes Gejammer, dass sich wie Realsatire<br />

liest. Furchteinflößende Headlines: "Wer verliert 2007 am meisten?"<br />

(S.28), "Über Nacht werden unsere Lagerbestände drei Prozent weniger<br />

wert" (S.29), "Die Letzten beißen die Hunde" (S.34), "Ein bißchen<br />

schwanger / Die neue Regierung startet ohne Vision" (S.36), "Wir<br />

verlieren nochmal fast 160.000 Jobs" (S.42), "Pascha-Paare sollen mehr<br />

bezahlen" (S.44), "Unersättlich / Die Bürger werden abkassiert, die<br />

Politiker bedienen sich ungeniert" (S.46) und so weiter. Daß 'FOCUS' und<br />

an<strong>der</strong>e Spießerblätter dem nicht nachstehen, versteht sich von selbst.<br />

DEREN Headlines sind dann aber wackeren taz-Lesern nicht mehr<br />

z<strong>um</strong>utbar. Wenn selbst <strong>der</strong> ehemals kons<strong>um</strong>kritische 'Stern' mit Scha<strong>um</strong><br />

vor dem Mund die Erhöhung einer elektrischen Zahnbürste bei Tschibo<br />

von 6,99 Euro auf 7,12 Euro im Jahr 2007 anprangert (natürlich käme<br />

niemand auf die Idee, per reality check kurz festzuhalten, dass die<br />

Zahnbürste vor einigen Jahren das Zehnfache kostete und alle Elektronik-<br />

Güter ständig billiger werden), so kann man sich die Veitstänze <strong>der</strong><br />

kons<strong>um</strong>freudigen und wirtschaftsnahen Blätter lieber gleich ersparen. Im<br />

Zentr<strong>um</strong> <strong>der</strong> Dauerhetze steht aber auch diese Woche eine Marginalie: die<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Vizepräsidentensitze im Bundestag von fünf auf sieben. Es<br />

gab dafür zwingende Gründe, z<strong>um</strong> Beispiel den Einzug einer weiteren<br />

Partei ins Parlament. Doch nun geht das Geschrei los. Was die uns wie<strong>der</strong><br />

kosten. Was <strong>der</strong> kleine Mann davon hat, nämlich nichts. Was die<br />

überhaupt zu tun haben, nur blödes Repräsentieren. Dass die <strong>um</strong>sonst<br />

Autofahren dürfen, diese Abzocker, und Bundesbahnfahren auch. Selbst<br />

bei <strong>der</strong> Straßenbahn in Aachen kriegen sie einen Zuschuß, und zwei<br />

Zeitungen täglich geschenkt durch ein Geschenk-Abo. Denen fliegen die<br />

183


gebratenen Tauben zu, o<strong>der</strong> Würste und Wein, wie heißt es doch gleich,<br />

ach ja, sie predigen Wasser und trinken Wein, diese 'Damen' und 'Herren'<br />

Parlamentarier. Weg mit ihnen! Dichtmachen die Schwatzbude! Die<br />

grinsenden Volksabkassierer in den Steinbruch schicken z<strong>um</strong> Arbeiten,<br />

jawoll! Letzteres steht nicht in den Zeitungen, hört man aber von jedem<br />

Taxifahrer, den man auf das Thema anspricht. Möge <strong>der</strong> taz-Leser einmal<br />

selbst den Taxifahrertest machen, so wie ich gestern abend vor dem<br />

Kölner Hauptbahnhof.<br />

Die leicht kölschhaltigen, versoffenen Sätze waren für mich wie akustische<br />

Bild Zeitung, wie rheinische 'Post von Wagner'. Wie er denn die neue<br />

Große Koalition fände?: "Die reden ja ville, aber solange dat<br />

Grundproblem des deutschen Volkes nit anjesprochen wird, än<strong>der</strong>t sich da<br />

gar nichts." Ich fragte, was das sei. Er drehte sich verwun<strong>der</strong>t <strong>um</strong>, sein<br />

langer Schnauzbart wippte, die Kölschfahne wehte mir ins Gesicht: "Dat<br />

is, dat die Politiker die janzen Milliarden in die eigene Tasche <strong>um</strong>leiten!"<br />

Politiker sind ganz offensichtlich <strong>um</strong> DAS Feindbild <strong>der</strong> Deutschen, und die<br />

Monomanie und Häufigkeit, mit <strong>der</strong> diese kleine Gruppe attackiert wird,<br />

erinnert durchaus an die bekloppte Besessenheit, mit <strong>der</strong> etwa die<br />

Zeitschrift 'Der Stürmer' das damalige Feindbild 'Die Juden' immer und<br />

immer wie<strong>der</strong>... Entschuldigung, sowas sagt man ja nicht mehr. Ich<br />

nehme es auch sofort zurück. Ich sagte nur, es 'erinnerte' mich daran.<br />

Und wenn die Erinnerung erst einmal anfängt, denkt man unwillkürlich<br />

noch weiter zurück: Ist <strong>der</strong> Haß auf die demokratisch gewählten Politiker,<br />

auf die Demokratie, auf das Parlament und den <strong>Mein</strong>ungsstreit nicht<br />

überhaupt das konstituierende 'deutsche' Element <strong>der</strong> letzten hun<strong>der</strong>t<br />

Jahre? Beispiele dafür gäbe es ohne Ende, drei seien kurz angerissen:<br />

Kaiser Wilhelms "Ich kenne keine Parteien mehr" löste schon 1914<br />

grenzenlosen Jubel aus. Krieg statt Demokratie, super! Auch Hitlers<br />

Siegeszug verdankte sich einer täglichen Hetze gegen 'die Schwatzbude',<br />

die er 'dichtmachen' wollte, das Parlament. Die 68er polemisierten eine<br />

Generation später vor allem gegen 'das System' und übernahmen damit<br />

denselben Begriff, <strong>der</strong> auch den Nazis schon alles bezeichnete, was mit<br />

Demokratie zu tun hatte, von 'Novemberverbrecher' bis 'Handlanger <strong>der</strong><br />

Wallstreet-Juden'. Die 68er nannten es 'Das Kapital' und 'die<br />

Scheißliberalen'...<br />

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, war<strong>um</strong>, entgegen <strong>der</strong> Wilhelm-II-<br />

Logik, <strong>der</strong> Schulterschluß von SPD und Union NICHT z<strong>um</strong> Ende <strong>der</strong><br />

Medienhetze führte. Dieses "Wir kennen keine politischen Lager mehr, wir<br />

sind Deutschland!" zieht nicht. Alle machen sich über die Du-bist-Merkel-<br />

Kampagne lustig. War<strong>um</strong>? Weil die Große Koalition immer noch ein<br />

Produkt <strong>der</strong> Politik ist und nicht <strong>der</strong>en Ersatz. Aber genau dar<strong>um</strong> geht es<br />

<strong>der</strong> antiparlamentarischen Hetze: <strong>der</strong> Primat <strong>der</strong> Politik soll zerstört<br />

werden. Die Wirtschaft allein soll das Sagen haben. Politiker sollen durch<br />

Manager ersetzt werden. 'Politik', also das Verhandeln <strong>der</strong> Interessen<br />

ALLER Bürger, soll als zutiefst schäbiges, verlogenes Tun diskreditiert<br />

werden, das dem Wirtschaftsaufschwung im Wege steht. Und das einzig<br />

wahre Interesse aller Bürger soll <strong>der</strong> Wrtschaftsaufschwung sein. Immer<br />

184


nach dem Lied: "Lieber Geld in <strong>der</strong> Tasche als ein<br />

Antidiskriminierungsgesetz."<br />

Der Gedanke ist jedoch falsch. Überläßt man den Staat ganz <strong>der</strong><br />

Wirtschaft, kommt es zu Gewinnexplosionen und kurz darauf zu einer<br />

Zerrüttung <strong>der</strong> Wirtschaft. Das Kapital nimmt mit, was geht, und wan<strong>der</strong>t<br />

weiter. 'Die Wirtschaft' ist an <strong>der</strong> Wirtschaft gar nicht interessiert. Man<br />

sieht das überall auf <strong>der</strong> Welt, wo 'die Wirtschaft' den Staat übernahm,<br />

z<strong>um</strong> Beispiel in Argentienien unter Menem. Der Neoliberalismus zerstörte<br />

in drei Jahren die Industrie und die Infrastruktur. Das Staatseigent<strong>um</strong><br />

wurde privatisiert, ausgeschlachtet, und stillgelegt. Von 30.000<br />

Eisenbahnkilometern waren plötzlich nur noch 3.000 übrig.<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende Kin<strong>der</strong> starben und sterben an Unterernährung. Das<br />

einmal schwerreiche Schwellen-Land fiel auf den Stand eines afrikanischen<br />

Drittwelt-Problemgebiets ab.<br />

Dieses alles und noch viel mehr wissen natürlich verantwortliche<br />

Journalisten. Dass Burda-Schreiberlinge das NICHT wissen, rettet sie als<br />

Menschen, nicht aber als Demokraten. Deswegen ist es so schlimm, was<br />

mit dem SPIEGEL in letzter Zeit passiert ist. Ich kenne Franziska Augstein<br />

gut genug, <strong>um</strong> zu wissen, daß sie ihre Kritik an dem "geschwätzigen Blatt<br />

unter an<strong>der</strong>en (geschwätzigen Blättern)" politisch meinte und nicht<br />

verlegerisch. Als Zeitschrift ist <strong>der</strong> SPIEGEL, inhaltlich wie formal, im<br />

letzten Jahr sogar besser geworden. Also keinesfalls 'geschwätziger',<br />

son<strong>der</strong>n interessanter und anregen<strong>der</strong>, vor allem das Feuilleton. Hier<br />

kämpfen uralte, fruchtbare Antagonismen, die es immer wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

Geschichte <strong>der</strong> Pressefreiheit gab. Während im Politikteil prinzipienlos auf<br />

alles eingeschlagen wird, was ins Parlament gewählt wurde, führt die<br />

Lektüre von exquisit langen Enzensberger-Essays und ähnlichem im<br />

Kulturteil zu neuem Denken und zur Emanzipation im besten Sinne.<br />

Während vorne erst Rotgrün und nun Schwarzrot von beiden Seiten<br />

populistisch angegriffen wird - agieren sie sozialdemokratisch, sind sie die<br />

Pleitegeier, agieren sie neoliberal, sind sie Abkassierer - weitet sich <strong>der</strong><br />

Geist wie<strong>der</strong>, je weiter hinten man in <strong>der</strong> noch immer besten Publikation<br />

<strong>der</strong> Welt blättert. Diesen Luxus gibt es in vergleichbaren Massenmedien<br />

nicht. Da stinkt <strong>der</strong> 'Stern' von beiden Seiten, und <strong>der</strong> ist noch <strong>der</strong> beste...<br />

Es bleibt somit Hoffnung. "WO WAR IHR MANN?" ist immer noch die Frage<br />

des Tages. Und solange wir uns die vom Parlament gewählte Kanzlerin als<br />

alleingelassenes, aufrichtiges Mädchen vorstellen und nicht als wi<strong>der</strong>liche<br />

'Polit-Abzockerin', hat die rechte Propaganda sowieso keine Chance!<br />

33. Köln -Gott führt uns zusammen: Der Papst kütt<br />

Die Mädchen auf dem Weltjugendtag sehen atemberaubend aus. Sie<br />

wirken wie befreit von <strong>der</strong> allgemeinen Pornografisierung. Sie sind unter<br />

das schützende Dach <strong>der</strong> Kirche geflüchtet. Der Papst war übrigens auch<br />

da<br />

Der Kern einer jeden Bewegung (im weltanschaulichen Sinn) ist die<br />

tatsächliche körperliche Bewegung. Keiner bleibt stehen, alle sind IMMER<br />

185


auf Achse. Alle sind unentwegt geleitet, durch Unterführer,<br />

Gruppenführer, Fähnleinführer o<strong>der</strong> wie sie heißen mögen. Wie im<br />

Ameisenhaufen weiß je<strong>der</strong> Trupp inmitten <strong>der</strong> Myriaden von an<strong>der</strong>en<br />

Zügen immer ganz genau, wo er hinwill, zögert nicht eine Sekunde,<br />

verharrt nicht, es sei denn z<strong>um</strong> Zählappell. Militärische Rituale machen<br />

Jugendbewegungen groß, das kennt <strong>der</strong> neue Papst noch von <strong>der</strong><br />

Hitlerjugend her. Aber natürlich ist <strong>der</strong> WJT nicht <strong>der</strong> Reichsparteitag <strong>der</strong><br />

HJ, im Gegenteil. Hitler war böse, <strong>der</strong> Papst ist gut.<br />

Wir dürfen uns diese herrlichen Fahnenspektakel nicht durch die<br />

lächerlichen zwölf Jahre kaputtmachen lassen. Ist doch toll, wenn<br />

Millionen starker, junger, kräftiger, entschlossener junger Menschen<br />

wie<strong>der</strong> voranmarschieren, in endlosen Kolonnen, positiv denken, Gutes<br />

tun und zur Holzgitarre Lie<strong>der</strong> singen, am liebsten sogar das<br />

Deutschlandlied: "Ei-nig-keit und Recht und Frei-i-heit …" Ich habe sie<br />

gehört, die jungen Deutschen, und sie waren kein bisschen<br />

nationalistischer als ihre bayerischen o<strong>der</strong> italienischen K<strong>um</strong>pel. An<strong>der</strong>e<br />

Nationen singen sogar lauter und haben noch viel bessere Lie<strong>der</strong> als nur<br />

ihre Nationalhymne, z<strong>um</strong> Beispiel "la bamba" o<strong>der</strong> die La-Ola-Welle.<br />

Zudem: Käme jemand auf die Idee, lustig grölende Fußballfans als<br />

bescheuert abzutun, ihnen die politische Reife abzusprechen? Nein, wir<br />

alle sind gern mal beim FC (Hertha, HSV, etc.) und haben Spaß. Also:<br />

keine Vorurteile! Irony is over. Den säuselnd-unterschwelligen Spott<br />

überlassen wir den Mainstream-Medien. Wir gucken einfach ganz genau<br />

hin.<br />

Was kommt da auf uns zu? Zunächst einmal schöne Menschen. Nicht<br />

mehr die armen Wesen <strong>der</strong> früheren evangelischen Kirchentage. Diese<br />

Schlusslichter <strong>der</strong> Gesellschaft, Behin<strong>der</strong>te, zu kurz Gekommene. Leute,<br />

die auf dem erotischen Markt nur Ladenhüter waren, wie Houellebecq<br />

richtig bemerkte. Nein, z<strong>um</strong>indest die jungen Frauen sehen<br />

atemberaubend aus. Und sie sind auch keineswegs verklemmt. Son<strong>der</strong>n<br />

wirken wie befreit, so, als hätten sie einen Weg gefunden, <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Pornografisierung <strong>der</strong> Gesellschaft zu entgehen. Indem sie unter das<br />

schützende Dach <strong>der</strong> Kirche flüchten konnten.<br />

Z<strong>um</strong> ersten Mal ohne die Eltern<br />

Dann ist da das kindliche Element. Es sind eben 16-Jährige, die z<strong>um</strong><br />

ersten Mal ohne die Eltern wegdürfen. Das ist aufregend für sie. Jugend<br />

führt Jugend, man sieht fast überhaupt keine Erwachsenen. Nerven tut es<br />

trotzdem, dieses Kindische, und zwar, weil es übertrieben wird. Schließlich<br />

waren wir alle einmal selbst jung und wissen, dass wir damals nicht sieben<br />

Tage lang Ringelreihen, Abklatschen und "Die Reise nach Jerusalem"<br />

gespielt haben. Wir haben auch nicht pausenlos gute Laune gehabt, haben<br />

nicht unsere ganze Jugend lang "Oh du lieber Augustin" auf <strong>der</strong><br />

Wan<strong>der</strong>gitarre gegeben o<strong>der</strong> "Frère Jacques' o<strong>der</strong> gar "Knock-knockknockin'<br />

on heaven's do-o-or". Wir haben nicht die Arme im Gleichschritt<br />

geschwenkt, mit den Gänsepopos im Refrain gewackelt und schon<br />

morgens vor dem ersten Nesquick "Juppijeh!" gerufen. Alle <strong>um</strong>armt und<br />

186


geliebt haben wir nur auf Pille. Eine Extasy, die uns drei Jahre lang zu<br />

Spaßmonstern gemacht hätte, hätten wir nicht genommen. Aber egal. Der<br />

Punkt ist mir nicht wichtig. Nur das dämliche Bischofsgerede stört mich,<br />

wonach nunmehr bewiesen werde, dass "junge Gläubige auch Spaß haben<br />

könnten". Wieso "auch"? Ihr Problem ist, dass sie nichts an<strong>der</strong>es können.<br />

Sie nerven, die kleinen Idis.<br />

Na, schnell vergessen. Angesichts <strong>der</strong> wehenden Fahnen, <strong>der</strong> deutschen<br />

Adler, vereint mit den Wappenflaggen des Vatikans, wun<strong>der</strong>bar. "D'r Papst<br />

kütt!", <strong>der</strong> Papst kommt, die Stadt ist in <strong>Auf</strong>ruhr. Ist schon eine prächtige<br />

Sache, das. Ich bin bester Stimmung. Und die herrlichen jungen Frauen,<br />

diese fantastischen Körper, zu hun<strong>der</strong>ttausenden, das macht einen ja ganz<br />

verrückt - und bestimmt auch IHN, den Papa himself, Ratzinger. Seltsam<br />

ist es schon, dass das Körperliche so ausgestellt wird, diese Sexiness, wo<br />

es doch angeblich <strong>um</strong> innere Werte geht, <strong>um</strong> das Himmelreich, <strong>um</strong> die<br />

Keuschheit. Drei Handbreit bauchfrei ist die Regel, bei fast 30 Grad Celsius<br />

und Hochsommerwetter. Aber die Antwort kriege ich schnell heraus. Im<br />

Katechismus, gerade neu herausgegeben, lese ich die Erläuterungen z<strong>um</strong><br />

Siebten Gebot "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib". Demnach<br />

würden durch ein gezielt keusches Leben auch die Gedanken keusch<br />

werden, und die Augen würden sich nicht mehr "verirren". Ja, das wäre<br />

das Richtige für mich! Ich kaufe das Büchlein sofort. Und als mich wie<strong>der</strong><br />

so eine junge Bitch anspricht, starre ich ihr manisch auf die Nasenwurzel<br />

und nur dahin. Ziemlich scheußlich sind allerdings auch die Lie<strong>der</strong>abende.<br />

Über 400 Veranstaltungen hat <strong>der</strong> WJT, und meistens wird dasselbe<br />

Liedgut verwendet, und das ist doch ein - 'tschuldigung, das muss jetzt<br />

raus - 50er-Jahre Matsch aus verpopten Gospels und <strong>um</strong>gedichteten<br />

Schunkellie<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Nachkriegszeit. Also "Cotton Fields" von Udo<br />

Jürgens bis "Yellow Submarine" von den Beatles. Gut, geschenkt,<br />

verziehen. Das "Horst-Wessel-Lied" war ja auch nicht von Mozart.<br />

Der Papst, <strong>der</strong> Papst! Verlieren wir nicht das Wichtige aus dem Blick.<br />

Trillerpfeifen, Zirkustrompeten, maßlose Freude. Die größte Party aller<br />

Zeiten, viermal größer als die Berliner Love Parade in ihren besten Jahren.<br />

Fremde fallen sich schluchzend in die Arme: ER kommt, <strong>der</strong> Heilige Vater,<br />

<strong>der</strong> Stellvertreter Gottes auf Erden, il papa! "Be-ne-det-to! Be-ne-det-to!!"<br />

Die Massen geraten in Ekstase. <strong>Auf</strong> einer Großleinwand vor dem Dom<br />

sieht man das riesige weiße Flugzeug majestätisch im Anflug, ohne Ton,<br />

sieht, wie es langsam <strong>um</strong> den Dom kreist. Köln ist das Rom des Nordens.<br />

Alle Schranzen sind schon versammelt. Der erste deutsche Papst seit 487<br />

Jahren. Nun wird, ebenfalls z<strong>um</strong> ersten Mal seit 487 Jahren, die große<br />

deutsche Papstglocke geläutet. Die Stalinorgeln waren nichts dagegen.<br />

"Bomm, bomm, bomm …!" Was für eine ergreifende Stimmung! Und das<br />

Fahnenmeer wird nicht ruhig. Unbeschreiblicher Jubel brandet auf, als <strong>der</strong><br />

Papst z<strong>um</strong> ersten Mal auf <strong>der</strong> Großleinwand zu sehen ist (die ist fast<br />

größer als <strong>der</strong> Dom selbst). Jetzt fallen auch alle an<strong>der</strong>en Glocken ein. Gut<br />

500.000 Gläubige sind bereits auf dem Platz. Köhler hält eine Rede, aber<br />

man hört nichts, wegen dem Glockengedröhn und den ekstatischen<br />

187


Schreien <strong>der</strong> Massen. Ein Blin<strong>der</strong> kann wie<strong>der</strong> sehen, erste Wun<strong>der</strong><br />

kündigen sich an.<br />

Das Auto des Antichristen<br />

Alles wird übertragen. War<strong>um</strong> fahren die alle Audi? Da muss doch <strong>der</strong><br />

Stern her! Ratzinger fährt doch sonst einen 95er 600 SEL Cabrio, das<br />

schönste und größte Auto <strong>der</strong> Neuzeit, so groß wie die Dinger, mit denen<br />

<strong>der</strong> Antichrist z<strong>um</strong> Berghof hochgefahren ist, also Hitler, <strong>der</strong> womöglich<br />

heimliche Gegenspieler in Benedikts Leben. Mit diesem Papst begeben wir<br />

uns ein allerletztes Mal in den Zeitkreis <strong>der</strong> Hitlerei. Nach ihm wird es<br />

endgültig Geschichte sein, tote Daten. Und die britischen Bomber, die<br />

Benedetto vom Himmel geholt hat mit seiner Flak, damit sie nicht noch<br />

mehr Frauen und Kin<strong>der</strong> töteten, werden ungeheuerliche Legende sein,<br />

nicht zu glauben, nicht zu beweisen, wie die Blutträne <strong>der</strong> Schwarzen<br />

Madonna von Perpignan.<br />

Immer mehr Menschen strömen auf den Domplatz. Die hübsche<br />

Brasilianerin mit <strong>der</strong> goldenen Haut und den <strong>um</strong>florten kritischen Augen,<br />

<strong>der</strong> ich vorhin auf die Nase gestarrt hatte, ist nun - ein Wun<strong>der</strong>? - direkt<br />

hinter mir und wird an mich gepresst. Ich kann nichts dagegen tun, es ist<br />

die Wucht <strong>der</strong> Nachdrängenden. Sie hat nur ein petrolgrünes T-Shirt und<br />

eine einfache Jeans an, sonst nichts. Dann wird sie an mir<br />

vorbeigequetscht und ist plötzlich direkt vor mir. Gott führt uns<br />

zusammen, das ist objektiv keine Lüge! Ihr Körper ist selbst wie eine<br />

Kathedrale, schlank, groß, nicht ein Gramm Fett, alles wohlgestaltet und<br />

edel. Finger- und Fußnägel hat sie silbern lackiert, die Augenbrauen sehen<br />

nicht nur wie gemalt aus, und <strong>der</strong> Eye Liner ist auch recht pompös<br />

aufgetragen. Sie dreht sich <strong>um</strong>, weil sie denkt, ich würde drängeln, und<br />

diesmal versenkt sie gekonnt ihren ernsten Blick in meine Augen. Sie war<br />

so nahe dran, ich fand die Nasenwurzel nicht mehr.<br />

Der Papst wie Peter Sellers<br />

Pech gehabt. Aber <strong>der</strong> Papst! Die Rheinfahrt. Das ganze Programm. Und<br />

immer ER als Einziger ganz in Weiß. Die Ikonografie leicht verän<strong>der</strong>t,<br />

schon jetzt unverwechselbar: die beiden Hände immer erhoben und<br />

gespreizt. Die Handteller erst nach innen, dann nach außen gedreht. Und<br />

eine neuartige Spannung aus sehr fortgeschrittener Hölzernheit und<br />

befreiend ausbrechenden, ruckartigen Bewegungen. Schon jetzt erkennt<br />

man ihn auf hun<strong>der</strong>t Meter Entfernung an seiner ganz eigenen,<br />

einzigartigen Körpersprache. Wenn er plötzlich den Arm hochreißt wie<br />

Peter Sellers in "Wie ich lernte die Bombe zu lieben", dann mutet das wie<br />

ein Jesus-Wun<strong>der</strong> an, als wenn ein bis dahin Lahmer auf einmal laufen<br />

kann! Und dann war er selbst da. <strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Domplatte. Direkt vor mir,<br />

lebend! Seit <strong>der</strong> totalen Sonnenfinsternis vor sechs Jahren habe ich nicht<br />

mehr etwas so Beeindruckendes erlebt! Natürlich war Kaiserwetter. Wie<br />

ein Gebirge Gottes ragte <strong>der</strong> Dom in den Himmel, bis ganz nach oben, nur<br />

die grelle Augustsonne war noch geringfügig höher. In früheren<br />

188


Jahrhun<strong>der</strong>ten, als es die hohen Häuser noch nicht gab, mussten die Leute<br />

wirklich gedacht haben, die Domspitze erreiche den Bereich <strong>der</strong> Engel.<br />

Lei<strong>der</strong> sind jetzt wie<strong>der</strong> die Schranzen dran, die Würdenträger, die feisten<br />

purpurnen Bischöfe mit den dicken Bäuchen und dem falschen Lächeln,<br />

<strong>der</strong> Bürgermeister mit <strong>der</strong> Karnevalskette, <strong>der</strong> wahlkämpfende Köhler,<br />

Angeber und Wichtigtuer aller Art und Provenienz, am schlimmsten<br />

natürlich wie<strong>der</strong> Lehmann. Der hatte Tags zuvor die Hirnverbranntheit<br />

besessen, die katholische Sexualmoral hinterfragen zu wollen. Woraufhin<br />

ihn die geistlosen Mainstream-Medien postwendend z<strong>um</strong> "liberalen<br />

Hoffnungsträger" ausriefen. Was für eine Idiotie! Die katholische<br />

Sexualmoral ist die einzige Tr<strong>um</strong>pfkarte <strong>der</strong> Kirche, <strong>der</strong> einzige<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen die vom Turbokapitalismus gewollte Pornografisierung<br />

unserer Gesellschaft, besser gesagt seelenlose Warenwelt. Doch dann riss<br />

<strong>der</strong> Papst wie<strong>der</strong> alles raus.<br />

Er schritt ins Innere des Domes, langsam und doch kräftig, bis hin z<strong>um</strong><br />

großen Hauptaltar, und fiel dort nach einer Kunstpause auf die Knie. Man<br />

sah die weiße Gestalt beten, ja im Gebet verharren, minutenlang, völlig<br />

unbeweglich, wie tot. <strong>Auf</strong> dem Domplatz wurde es auf einmal ganz ruhig.<br />

Keiner wagte mehr zu atmen. 1,2 Millionen Menschen schlossen die<br />

Augen, vergaßen Köhler, Merkel und Bischof Lehmanns Karrierepläne und<br />

beteten. Ein vielhun<strong>der</strong>tstimmiger Frauenchoral setzte ein. Ich bekam eine<br />

Gänsehaut. Es war, als würde ein Geist durch alle Versammelten<br />

hindurchgehen.<br />

Der Papst erhob sich. Würdevoll, ohne den blöden Stab, an den sich sein<br />

siecher Vorgänger immer klammern musste, ging er wie<strong>der</strong> zu den<br />

Gläubigen und hielt seine Predigt. Eine frohe Botschaft. Wir sollten IHN<br />

anbeten, sagte er, und meinte damit nicht einmal sich selbst. Er begrüßte<br />

die Jugend aus 193 Nationen. Die Jugend sei nicht verunsichert und<br />

ängstlich, erklärte er lachend und zur Verblüffung <strong>der</strong> 6.500 ebenfalls<br />

angereisten Journalisten.<br />

"Die Jugend", erklärte er ihnen, "will das Große."<br />

34. Die hessische Stadt Schlitz - Schauplatz des neuen Buches von<br />

Florian Illies<br />

Nun wird auch die Natur neu entdeckt. Was die WM fürs Nationale, könnte<br />

dies Buch für die verlorene Naturbegeisterung <strong>der</strong> Deutschen werden. Für<br />

ihre Romantik. Ihr Heimatgefühl. Endlich darf man es wie<strong>der</strong> sagen, denn<br />

Illies hat den Mut dazu aufgebracht, und <strong>der</strong> muß beträchtlich gewesen<br />

sein: "Peitscht <strong>der</strong> Regen übers Land, dann drätschds; fallen sehr dicke<br />

Tropfen aus dunklen Wolken, dann draddelds; kommen die Tropfen nur<br />

vereinzelt und kleiner von oben, dann drebbelds." Über die Schlitzer,<br />

Einwohner seiner Geburts- und Heimatstadt, schreibt er, weit ausholend,<br />

189


mit dem langen Atem Marcel Prousts: "Über Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg, in<br />

denen sie an verregneten Maitagen hinter ihren Fenstern saßen und<br />

zusahen, wie sich die Tropfen auf ihren Scheiben sammelten, <strong>um</strong> dann<br />

gem<strong>eins</strong>am in die Tiefe hinabzugleiten..." hätten sie <strong>der</strong> Deutschen<br />

Sprache bereichert.<br />

Wohl dem Volk, das solch einen Dichter sein eigen nennen darf, den Autor<br />

von 'Generation Golf' und 'Generation Golf II'! Und Schlitz gibt es wirklich.<br />

"Wo immer Onkel Hägar konnte, nahm er seinen mittelalterlichen Pflug<br />

zur Hand, wälzte die Erde <strong>um</strong> und pflanzte neue Nadelbä<strong>um</strong>e." Z<strong>um</strong><br />

Beispiel bei Illies Eltern, die bei Onkel Hägar eine Buchenhecke bestellten.<br />

Die Hecke steht da immer noch, ebenso das Haus in <strong>der</strong> Parkstraße 85,<br />

und die beiden Golfs stehen davor, ein schwarzer und ein weißer. Der<br />

Taxifahrer kennt "den Florian" natürlich, den kennen alle dort. Weil<br />

nämlich alle Schlitzer sich gegenseitig kennen. Das steht ja auch schon so<br />

schön im Buch. Im Buch ist übrigens ALLES schön. Alle lieben sich. Alle<br />

sind rührend einfältig, ein bißchen doof, aber rechtschaffen, redlich, <strong>der</strong><br />

Zeit trotzend, bauernschlau. Eine Idylle dort. Früher hätte man es als<br />

Kitsch abgewehrt, aber das wird diesmal nicht gehen; dazu ist es zu gut<br />

geschrieben. Dies kleine, aber feine Büchlein erzähle von den kleinen<br />

Wun<strong>der</strong>n, werden die Feuilletons schon bald wispern. Die<br />

Naturbeschreibungen seien von rembrandt'scher Größe und so weiter. Und<br />

auch die Golf-Fans kämen auf ihre Kosten, da auch immer wie<strong>der</strong> Autos<br />

eine Rolle spielten, etwa <strong>der</strong> gelbe Daf von Tante Do o<strong>der</strong> die vielen<br />

verschiedenen Traktoren <strong>der</strong> Schlitzer Bauern. Nun sagt <strong>der</strong> Taxifahrer<br />

aber: "Der Florian war ein Jahr jünger als ich. Wir waren immer bei Illies<br />

z<strong>um</strong> Fußballspielen. Zu acht waren wir, immer acht Jungen. Wegen dem<br />

Fußballspielen. Jeden Nachmittag." Er zeigt den Garten <strong>der</strong> Illies, ein<br />

extrem abschüssiges Gelände. Wer den Ball verschoß, mußte<br />

kilometerweit nach unten laufen. Befreundet seien sie alle nicht gewesen<br />

mit dem 'rich kid', nein, es sei nur wegen dem Fußballspielen gewesen. Er<br />

betont es immer wie<strong>der</strong>, wie ein nervöser Zeuge im Tatort-Verhör.<br />

Illies galt im Dorf als schnöselig, mal als arrogant, mal als versponnen;<br />

gemocht hat ihn wohl keiner. Was für eine Hölle für ein waches,<br />

neugieriges, phantasiebegabtes Kind: da kommen jeden Nachmittag<br />

sieben Gleichaltrige in die Wohnung, und alles was sie wollen, ist blödes,<br />

d<strong>um</strong>pfes R<strong>um</strong>gebolze mit einem Ball, <strong>der</strong> ständig in Richtung Abgrund<br />

verschwindet. Grund genug eigentlich für ein Genie, mit diesem Ort des<br />

St<strong>um</strong>pfsinns abzurechnen, ihn qua Literaturgeschichte auf ewig zu<br />

schwärzen. Doch nein, Illies schreibt eine Schmonzette darüber, im "So<br />

zärtlich war Suleiken"-Stil von Siegfried Lenz. Was ist da passiert?<br />

Nun, die Leute wissen es natürlich: <strong>der</strong> Vater, von außen kommend und<br />

schon alt, fiel eines Tages tot <strong>um</strong>, ließ die junge Mutter, Tochter des<br />

Schlitzer Bürgermeisters, mit dem Kind Florian zurück. Der wurde dann<br />

ein Mutter-Sohn, und mit dem Buch ehrt und verklärt er heute ihre Welt.<br />

So würde es z<strong>um</strong>indest Volker Wei<strong>der</strong>mann sehen. Nichts dagegen! Aber<br />

wie ist Schlitz wirklich?<br />

Knarzen die Treppenstufen N<strong>um</strong>mer 27 und 29 von Tante Dos Stiege in<br />

<strong>der</strong> Straße Im Grund 17 immer noch? Nein, das Haus wurde luxussaniert,<br />

190


z<strong>um</strong>indest renoviert. Liegen die Häkeldeckchen mit den eingenähten<br />

Bleikügelchen immer noch auf dem Tisch von Oma Soundso? Sind die<br />

Ureinwohner immer noch so liebenswerte Tierchen mit dem Verstand einer<br />

Schnecke? Schrullig, kauzig, und auf dreistellige Alterszahlen zugehend?<br />

Sitzt die Großmutter noch am Kachelofen? Waschen die Spießer in<br />

karierten Holzfällerhemden noch immer ihre Opel Kadetts?<br />

Die Antwort verblüfft: Sie tun es mehr als damals. Irgendwie und gewiß<br />

unabsichtlich hat Illies das vielleicht mo<strong>der</strong>nste Buch <strong>der</strong> Saison<br />

geschrieben, nämlich <strong>eins</strong> über die alte Gesellschaft. Die Perspektive ist<br />

die eines dieser heute so typischen letzten Nachgeborenen inmitten einer<br />

Fülle von Alten und Uralten. Der Enkel, <strong>der</strong> im Altersheim aufwächst.<br />

Der Opa reißt die Dachluke auf, weil ein Zeppelin vorbeischwebt, und ruft<br />

"Hurra! Hurra!". Na prima. Da schmunzeln einem die Seiten entgegen,<br />

aber eigentlich ist das alles nur gruselig. Das reale Schlitz ist's nicht<br />

min<strong>der</strong>. Die Hauptstraße quält sich gewunden und tempodrosselnd durch<br />

den Ort. Ein anthrazitgrüner Golf V kommt herangeschlichen, weiß nicht,<br />

was er tun soll, mit einer alten Frau drin, die eine noch ältere Frau im<br />

Fond her<strong>um</strong>fährt. Provinz scheint zu sein, wenn immer Autos hin- und<br />

herfahren, die lackglänzend und grün und fabrikneu sind und in denen alte<br />

weißhaarige Leute sitzen, die rüstig sind und freundlich, aber mit denen<br />

man kein Wort wechseln möchte. Früher, das sagen alle Schlitzer, war<br />

Leben auf den Straßen. Wo ist das Leben bloß hingegangen? Schlitz wirkt<br />

wie eine Westernstadt, in <strong>der</strong> Mittagsglut, in New Mexico.<br />

Man sieht ka<strong>um</strong> einen. Ab und zu ein paar Alte. Die sich immer etwas über<br />

die Straße hinweg zurufen, was man aber nicht versteht, weil Hessisch.<br />

O<strong>der</strong> eine kahlrasierte Punkerin, fett, schiebt einen Kin<strong>der</strong>wagen vor sich<br />

her, im Hintern eine lange Silberkette mit dem Schlüsselbund. Solches<br />

Personal kennt man aus den Oliver-Geissen-Shows, und man weiß: das ist<br />

Provinz, und genau des<strong>halb</strong> zieht man in die Stadt, sobald man ein<br />

Girokonto eröffnen kann.<br />

Drei junge Leute lümmeln am stillgelegten Schlitzer Bahnhof. Ein Bus<br />

fährt jetzt hier an manchen Tagen, aber auf den warten sie nicht. Sie<br />

hängen einfach nur ab. Sie fluchen auf alles, was mit Schlitz zu tun hat.<br />

"Die Gemeindepolitiker tun wirklich alles für die Menschen hier - wenn sie<br />

nur alt sind! Für die Jugend wird absolut nichts getan." Das Jugendhaus<br />

wurde geschlossen, weil Russen es demoliert hatten. "Die Russen haben<br />

alles zerschlagen, die letzten Sachen mitgenommen, sogar den Computer<br />

geklaut." Unter den Jugendlichen hätten Deutsche keine Chance mehr. In<br />

Schlitz gibt es nur noch eine Schule - die Gesamtschule - und da herrsche<br />

Gewalt und Drogen durch die Auslän<strong>der</strong>. "Wenn ich mal Kin<strong>der</strong> hab, geh<br />

ich weg hier. Die kann ich nicht in diese Schule <strong>eins</strong>chulen!" Fulda sei<br />

besser. Da gebe es noch mehr deutsche Kin<strong>der</strong> und auch verschiedene<br />

Schulformen.<br />

"Ortsgespräch" wird in ganz Deutschland gelesen werden und zu einer<br />

romantischen Rückbesinnung auf Natur und Heimat führen. In Schlitz<br />

nicht.<br />

Fußnote:<br />

191


Schlitz/Florian Illies<br />

Endlich bekam ich einen <strong>Auf</strong>trag, den ich mir nicht selbst ausdenken<br />

mußte, son<strong>der</strong>n ein Chef, so wie sich das gehört. Ich sollte über ein<br />

Buch von Florian Illies schreiben. Das war eine wirklich leichte<br />

<strong>Auf</strong>gabe, abgesehen davon, dass für mich alle <strong>Auf</strong>gaben leicht waren, bis<br />

auf die, den eigenen Text wie<strong>der</strong> zerstören zu müssen - und das würde<br />

mir auch bei diesem so leichten Thema wie<strong>der</strong> blühen. Ich fuhr in einen<br />

Ort in Süddeutschland namens "Schlitz", in dem das Buch spielte. Dort<br />

lief ich zwei Tage lang r<strong>um</strong>, sprach Leute an, machte mir Notizen. Es<br />

begann ganz gut, nämlich mit <strong>der</strong> Anreise, die absurd schwierig gewesen<br />

war. Im Notfall konnte ich das schreiben, Stichwort "das Ende <strong>der</strong><br />

Welt". Dann erzählte mir <strong>der</strong> Taxifahrer, was für eine fiese Möp <strong>der</strong><br />

Autor gewesen war, über den ich berichten mußte. Also ich schloß das<br />

deduktiv aus seinen Aussagen, seinem Gesicht dabei, seinem Befremden.<br />

Er war angeblich mit Illies zur Schule gegangen, hatte jahrelang<br />

regelmäßig die Nachmittage im Hause <strong>der</strong> Illies verbracht, legte aber<br />

entschieden Wert darauf, ihm dabei menschlich und persönlich nicht<br />

nahegekommen zu sein. Nun muß ich eines gestehen: mein Verhältnis zu<br />

dem Autor war zu diesem Zeitpunkt schlecht. Aus vielerlei Gründen.<br />

Zuallererst natürlich, weil ich diverse Male von ihm gekränkt worden<br />

war. Objektiv hatte ich dabei selbst schuld gehabt. Normalerweise macht<br />

mir so etwas nichts aus. Aber einmal hatte ich mich für meine Frau<br />

verwendet, und erlebte dann, wie er mich noch mehr geringschätzte als<br />

vorher. Mir vorzustellen, dass er womöglich auch meine Frau in diese<br />

Geringschätzung miteinbezog, machte mich rasend. So ist es ja immer:<br />

selbst angegriffen zu werden, macht einem souveränen Menschen nichts<br />

aus, aber wehe, es trifft seine Freunde o<strong>der</strong> gar Familie. Deswegen<br />

hatte ich jetzt z<strong>um</strong> Ressortleiter gesagt: "Ich hasse diesen Mann,<br />

lassen Sie mich den Artikel schreiben." Er lächelte fein und freute<br />

sich. Das würde sicher ein toller <strong>Lottmann</strong>text werden.<br />

Aber, seien wir ehrlich, Florian Illies war auch ohne dem eine<br />

fragwürdige Gestalt. Ein geistiges Leichtgewicht par excellence.<br />

Niemand verkörperte wie er diese fipsige, wertelose, infantil<br />

gebliebene Zwischengeneration "Golf", über die er unfreiwillig<br />

selbstentlarvend geschrieben hatte. An<strong>der</strong>erseits war aber gerade sein<br />

neues Buch, über das ich schreiben sollte, richtig gut geworden. Ich<br />

mußte also das gute Buch verreißen, <strong>um</strong> den Autor <strong>der</strong> vorangegangenen<br />

schlechten Bücher zu treffen. Das war ein Manöver, das mich, ob man mir<br />

das glaubt o<strong>der</strong> nicht, unglücklich machte. Ich schrieb meinen Bericht<br />

vor Ort, in nur einer Stunde, und traf dann noch durch einen Zufall<br />

Jugendliche, die mir entscheidendes neues Material lieferten. Sie<br />

legten glaubhaft dar, dass alles, was in Illies Buch stand, komplett<br />

überholt war und somit die reine Lüge. Indem ich diese Dinge noch<br />

aufnahm, verpaßte ich meinen Zug, <strong>der</strong> mich zurück nach Hamburg bringen<br />

sollte, wo ich die Pressevorführung von "Superman III" sehen sollte.<br />

Das war äußerst wichtig. Ich sollte o<strong>der</strong> wollte nämlich ins Filmressort<br />

wechseln, was seit Jahrzehnten mein eigentliches Ziel gewesen war. Es<br />

war das einzige Gebiet, von dem ich etwas verstand. Also eine<br />

SPIEGEL-übliche Kompetenz besaß. Ich war zehn Jahre lang jeden Abend<br />

ins Kino gegangen, besaß in meiner Wohnung einen Vorführra<strong>um</strong> und ein<br />

Filmarchiv mit beispielsweise 200 deutschen Filmen aus den 30er und<br />

40er Jahren. Für DIE ZEIT hatte ich schon als Student in den 80er<br />

Jahren geniale Filmkritiken geschrieben, über Blockbuster, was damals<br />

noch als unmöglich galt. Ich behandelte die großen, das globale<br />

Massenbewußtsein konstituierenden Hollywoodfilme wie an<strong>der</strong>e<br />

Kulturprodukte, etwa aus <strong>der</strong> Weltliteratur. Beim SPIEGEL lag das<br />

Filmressort allerdings bei Lars Olav Beier in festen Händen. Wäre<br />

dieser Kollege wie die an<strong>der</strong>en gewesen, hätte ich niemals eine Chance<br />

192


ekommen. Aber Beier war nett. Schon lange, bevor ich beim SPIEGEL<br />

anfing, hörte ich aus vielerlei Quellen, ich solle mich an Lars Olav<br />

halten, denn <strong>der</strong> sei <strong>der</strong> einzige Nette dort. Und das stimmte auch<br />

irgendwie. Ich fand ihn nicht nett, aber in extremer Weise integer, was<br />

ja noch bessser ist. Deswegen gab er mir jetzt, an <strong>der</strong> Chefredaktion<br />

und den an<strong>der</strong>en Hierarchien vorbei, diesen <strong>Auf</strong>trag. Bestimmt bezog er<br />

deswegen Prügel, denn DER SPIEGEL liebt Son<strong>der</strong>wege & Spontaneität wie<br />

die alte DDR die Perestroika - gar nicht. Und nun VERPASSTE ich diesen<br />

Termin. Es war mein Ende als Filmkritiker und wahrscheinlich <strong>der</strong><br />

Wendepunkt z<strong>um</strong> Schlechten in meiner SPIEGEL-Karriere insgesamt.<br />

<strong>Mein</strong> Text war wie erwartet äußerst subtil und gemein, und diesmal mußte<br />

ich ihn nicht 37mal <strong>um</strong>schreiben, son<strong>der</strong>n bekam z<strong>um</strong> erstenmal einen<br />

Redakteur zur Seite gestellt, <strong>der</strong> mir die autorenfremde Tätigkeit des<br />

Redigierens abnahm. Der Text wurde nur zwei- o<strong>der</strong> dreimal <strong>um</strong>geschrieben<br />

und dabei nur unwesentlich verschlechtert. Also weniger verschlechtert,<br />

als wenn ich selbst das schändliche Geschäft hätte besorgen müssen. Aus<br />

meinen zauberhaften, authentischen jungen Leuten, die auspackten, welch<br />

bedrückendes Schrottleben einen in <strong>der</strong> Geisterstadt "Schlitz" erwartet,<br />

wurden blöde "Halbstarke", die sowieso nichts rafften. So ist nun<br />

einmal die Denke im Kulturbetrieb. Jung ist blöd ist Bierflasche ist<br />

Pubertät. Das lernt ja je<strong>der</strong> "Tatort"-Lohnschreiber auf <strong>der</strong><br />

Drehbuchschule. Aber egal. Ich war nur froh, nicht mehr <strong>um</strong>schreiben zu<br />

müssen. Allerdings hatte ich nun in Florien Illies einen weiteren<br />

mächtigen Feind im Leben, und <strong>der</strong> Preis, den ich für den Artikel zu<br />

zahlen hatte, war natürlich viel zu groß. Und <strong>der</strong> Redakteur, <strong>der</strong> mir<br />

hatte "helfen" müssen, erzählte überall her<strong>um</strong>, meine Texte seien unter<br />

aller Sau, total dillettantisch, eigentlich vollkommen unbrauchbar, und<br />

ich hätte im SPIEGEL nichts vorloren. Er half mir auch nie wie<strong>der</strong>, so<br />

sehr ich auch dar<strong>um</strong> bettelte.<br />

34 Nahaufnahme: Die Wies’n in den Zeiten <strong>der</strong> Paranoia<br />

Die Welt zu Gast bei Leuten, die im Sommer noch Freunde waren.<br />

Sechs Millionen Besucher erwartet das Oktoberfest, viele davon<br />

Auslän<strong>der</strong>. Vielleicht kommen weniger, "wegen <strong>der</strong> Lage",<br />

befürchtet eine Frau aus Shanghai.<br />

Welche Lage? Deutsche Fahnen werden in Kaschmir verbrannt,<br />

wegen Papst. Die rechtsradikale NPD erobert Tags zuvor<br />

193


Parlamentssitze. Die Bombenfunde in deutschen Bahnhöfen waren<br />

doch erst. Die Eingänge <strong>der</strong> Wiesn sind von Polizei <strong>um</strong>stellt -<br />

logisch. Eine Familie mit schwarzer Hautfarbe wird gecheckt, als<br />

wollte sie gerade von London nach Tel Aviv fliegen. Es ist gerade<br />

"Familientag" auf <strong>der</strong> Wiesn, mit <strong>halb</strong>en Preisen.<br />

Security überall. Polizisten, private Sicherheitsleute, verdeckte<br />

Ermittler, Leute, die wie U-Bahn-Kontrolleure aussehen.<br />

Misstrauische Männer in Jeansanzügen, ohne Taschen, nur ein<br />

Kitbag <strong>um</strong> den Bauch, die zu viert, zu fünft zusammenstehen und<br />

nichts zu tun haben. Die Paranoia ist wechselseitig.<br />

Ist das jetzt einer? Der Tunesier mit <strong>der</strong> grünen Le<strong>der</strong>jacke und<br />

<strong>der</strong> verdächtigen Plastiktüte? Ein Terrorist, ein Schläfer, ein<br />

"Einzelläufer"? Ein Einzelläufer ist einer, <strong>der</strong> ohne einzeln kommt.<br />

Ohne Gruppe! Sehr verdächtig. Die Leute gehen immer<br />

gruppenweise zur Wiesn. Mit <strong>der</strong> Firma, dem Verein, den Nachbarn.<br />

<strong>Auf</strong> den ersten Blick stimmen die linken Vorurteile noch: Saufen,<br />

Gem<strong>eins</strong>chaft, Marschmusik. Deutsche Trachten. Bertulucci könnte<br />

hier sofort wie<strong>der</strong> einen Film über den Röhmputsch drehen. Aber<br />

seltsam: Da sind Horden grölen<strong>der</strong> Germanen, und keiner fürchtet<br />

sich.<br />

<strong>Auf</strong> den zweiten Blick sieht man es wie<strong>der</strong>, das lockere, neupatriotische<br />

Deutschland <strong>der</strong> WM. So betrunken die Männer auch<br />

sind, sie werden einfach nicht aggressiv.<br />

Und die Frauen trinken sie unter den Tisch. "Hier kommen schon<br />

die ganz jungen Mädchen her und saufen sich so <strong>der</strong>massen zu,<br />

dass jede sofort was aufreisst", sinniert Johanna Werner, 22, und<br />

denkt an früher, als sie es selbst so machte. Der Führer würde sich<br />

im Grabe <strong>um</strong>drehen, hätte er <strong>eins</strong>.<br />

Johannas Cousine Philomena ist extra aus London gekommen, weil<br />

man dort erzählt, das soll so toll sein. Manchmal dominiert das USamerikanische<br />

Idiom, mal das italienische, je nach Bierzelt und Tag.<br />

Jede Ethnie hat hier ihr eigenes Ding, die Punker kommen<br />

gem<strong>eins</strong>am, die Schwulen haben ihren Tag im "Pröllrosel".<br />

Verbrü<strong>der</strong>ung wohin man blickt:<br />

"<strong>Auf</strong> die Hessen!"<br />

"Baßt scho!"<br />

"Baßt!"<br />

194


Sechs Millionen Biertrinker und kein einziger faschistischer<br />

Übergriff. Dabei singen sie in den Zelten die WM-Hits vom Sommer.<br />

Das beson<strong>der</strong>e Wiesn-Bier wird nur beim Oktoberfest<br />

ausgeschenkt und berauscht schon nach <strong>der</strong> ersten Maß.<br />

Hun<strong>der</strong>ttausende torkeln, haben mit <strong>der</strong> Schwerkraft zu kämpfen -<br />

als hätte jemand Extacy in das städtische Trinkwasser gemischt.<br />

Die laufen einen glatt <strong>um</strong>. Notarztwagensirenen heulen, gehen<br />

aber im seltsamen Lärmbrei unter, werden Teil des Akustik-Orkans<br />

aus "Du gehörst zu mir / Wie mein Name an <strong>der</strong> Tür", "Tainted<br />

Love", 50er Jahre Schlager von Peter Kraus und Rita Pavone, UFA<br />

Wochenschau Fanfaren, Blasmusik und Gekreische aus den<br />

Karussells. Fern <strong>der</strong> Wiesn, ein paar Strassenzüge weiter, hört man<br />

das Massengekreische noch als untergründigen Dauerton,<br />

vergleichbar den Schlachtengesängen in englischen Stadien.<br />

Bayern allerorten, o<strong>der</strong> verkleidete, mit Sepplhosen. Sie stehen an<br />

den aufgestellten Geldautomaten und ziehen die hiesige Währung<br />

aus den Schlitzen. Paul Breitner aus Minnesota. Basti<br />

Schw<strong>eins</strong>teiger aus Calais, Nordfrankreich.<br />

Ein feuerroter, nagelneuer ERSTE HILFE Automat zieht weniger<br />

Publik<strong>um</strong>. Für jeden Notfall und je 1 Euro kann man ziehen: Pflaster<br />

(Schlägerei), Verband (schwere Schlägerei), Kondome (drohen<strong>der</strong><br />

Sex-Unfall) und "Tampons light". So ist das Vaterland heute.<br />

Fürsorglich, überorganisiert, permissiv. Der globale Geheimtip im<br />

Wirtschaftsfaktor Spaß.<br />

Der neue deutsche Mann setzt sich mit an<strong>der</strong>en Männern acht<br />

Stunden lang ins Zelt und trinkt dabei. Er wird dabei kein Fascho,<br />

kein Macho, kein Schläger, kein Hunne. Er bleibt: ein Mensch. Dann<br />

fährt er mit dem Taxi nach Hause. So sieht es auf den zweiten<br />

Blick aus.<br />

<strong>Auf</strong> den dritten aber sieht man den Wahnsinn. In jedem <strong>der</strong><br />

Monster-Zelte, groß wie Petersdome, spielen vielköpfige<br />

Blasorchester, stehen die Leute zu Tausenden auf den Tischen und<br />

bewegen sich wie Irrsinnige. Sie recken die Arme in die Luft,<br />

krächzen "Deutschland!" o<strong>der</strong> "Vivat Colonia!“<br />

"Yes Sir, I can boogie"... Mallorca letztes Jahr? Sylt vor 30 Jahren? Das uralte Riesenrad, <strong>der</strong> Flohzirkus, <strong>der</strong> Hippodrom: alles so irreal. Die<br />

herzigen Herzerl mit den "Mausi, ich liebe Dich" und "I muas oiwei an di denken"-Sprüchen... müßte es nicht längst „Knackarsch“ und<br />

„Geile Sau“ heißen? Wie in einer Zeitreise wird die Internetwelt einfach zurückgelassen. Als eine Art Engel, die das Elend des Irdischen<br />

verlassen, finden sich die Wiesn-Besucher in einem Kosmos aus weissgepunkteten Röcken, dicken Strickjacken mit aufgenähten<br />

Waldmotiven, Holzpferden im Dreh-Karussell, Tra<strong>um</strong>sequenzen aus alten Fellini-Filmen und Ständen und Geschäften wie<strong>der</strong>, die ziemlich<br />

crazy wirken würden, wenn sie nicht so real wären: Großmutter hat hier schon Suppe und Stulle gegessen, <strong>der</strong> Wurzelsepp macht immer<br />

noch den besten Enzianschnaps, und im Illusionstheater beim "Schichtl" wird eine lebendige Frauensperson in zwei Teile zersägt...<br />

195


Der Himmel ist nun schwarz. Saloon-Stimmung wie in alten 30er<br />

Jahre Western. "Juchuuu!" Die Säufer purzeln aus den<br />

Bierburgen... draußen peitscht <strong>der</strong> Regen ins Gesicht, niemanden<br />

stört's. Loopings bei 100 km/h in <strong>der</strong> sich drehenden, in<br />

den nassen Himmel schießenden "Top Spin" Rakete. Nach jedem<br />

Bier ein Super Scooter, und zur Beruhigung wie<strong>der</strong> ein Bier.<br />

Todesschreie in den Sitzen, o<strong>der</strong> Lustschreie.<br />

Die Drehorgel mit dieser alten, zugleich roboterhaften Musik, die<br />

Musik von Alpträ<strong>um</strong>en... die achte Maß inzwischen. Eine<br />

südamerikanische Sambamusik schwappt heran, diese Dean-Martin-<br />

Filme aus Acapulco in den frühen 60ern, die Platte haben sie aber<br />

gut aufgehoben. Schwarze Hiphopper lungern am Autoscooter<br />

her<strong>um</strong>, warten auf Landeier... und die kriegen sie auch... da, die<br />

küssen sich... jetzt schwankt ein Haus WIRKLICH, das ist ja ideal<br />

für Betrunkene, es ist das "Hof Freu Haus"...<br />

Das Volk marschiert. Es ist ja auch ein Volksfest. Alles bewegt<br />

sich, ist aufgewühlt, feurig, durchgeknallt, drängt zur Bastille.<br />

Jeden packt es. Die altertümlichen Glühbirnen überall, <strong>der</strong><br />

mächtige Winterhimmel darüber, es ist so wahnsinnig romantisch.<br />

Man liebt sie alle. Die Bierkrüge schleppen sie nachlässig mit sich,<br />

bei jedem Schritt schwappt mächtig was raus...<br />

"Die Fußballweltmeisterschaft, da warns scho alle aus dem<br />

Häuschen, dann <strong>der</strong> Papst, und jetzt des Oktoberfest..."<br />

23 Uhr, die Wiesn schließt, die letzte Maß. Nur bei Feinkost Käfer<br />

noch was los... nix wie hin... das Zelt ist systematisch mit Security<br />

Leuten abgeriegelt... Einstieg durch ein Fenster... aber bei Käfer ist<br />

ein ganz an<strong>der</strong>es Wiesn-Feeling. Das ist die Stoiber-und-Uschi-<br />

Glas-Welt. Leute, die VIP-Tische bestellen. Versteinerte George-<br />

Grosz-Visagen, schrecklich. Das Böse lebt. Da muß man gar nicht<br />

mehr in die "Horror-Schau" ("Lebendige Geister!"). Reaktionäre<br />

Rockmusik, daran erkennt man immer die Schurken: "We will / we<br />

will / rock you!" Die Welt <strong>der</strong> Türsteher, <strong>der</strong> geheimen Zeichen für<br />

das Reindürfen o<strong>der</strong> Draußenbleibenmüssen. Nein, das bringt<br />

nichts. Die Wiesn ist zuende.<br />

<strong>Auf</strong> den letzten Blick ist alles wie<strong>der</strong> wie immer.<br />

196


35. Berlin–Neukölln – 39 Fragen an den Rächer <strong>der</strong> Rütli-Schule<br />

(Interview mit <strong>der</strong> Netzeitung)<br />

<strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>, 49, gilt als einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> deutschen<br />

Popliteratur. Jüngst ist sein neuer Roman „Zombie Nation“ erschienen, ein<br />

launischer Feldforscherblick auf die Verhältnisse zwischen Männern und<br />

Frauen, jung und alt, Kultur und Politik in Deutschland. <strong>Lottmann</strong> arbeitet<br />

außerdem seit Jahren als Journalist, seit Oktober ist er Kulturredakteur<br />

beim „Spiegel“. Er lebt in Berlin und Köln.<br />

1. Wo sollen wir uns denn treffen? Ich wohne im Berliner Stadtteil<br />

Neukölln, komme aber gerne überall hin. Schlagen Sie einfach was<br />

vor…<br />

! Sie sind in Neukölln? Bleiben Sie wo Sie sind, ich komme zu Ihnen. Das<br />

muss jetzt einfach sein. Das ist ja total krass, Rütli-Schule, die ganzen<br />

Prolls, die Gewalt. Da laufen doch überall nur so Mike-Tyson-Leute r<strong>um</strong>.<br />

Alle mit Kapuze, die Frauen voll verschleiert, und darüber noch eine<br />

Kapuze. Treffen wir uns doch am Hermannplatz und gehen dann<br />

spazieren.<br />

Eine <strong>halb</strong>e Stunde später am Hermannplatz beginnt das Interview.<br />

<strong>Lottmann</strong>s Hunger auf eine Kartoffelsuppe führt uns anfangs ins Karstadt-<br />

Restaurant, wo es zwar keine Kartoffel-, wohl aber eine Kohlrabi-Suppe<br />

gibt. Der angekündigte Neukölln-Spaziergang muss erstmal warten.<br />

2. Sie wollten unbedingt nach Neukölln kommen und jetzt sitzen wir<br />

hier im Karstadt-Restaurant, abgeschottet, unter Rentnern. Sieht so<br />

Ihre Feldforschung aus?<br />

! Ich liebe diese Art von Restaurants, f<strong>eins</strong>te Küche, sehr atmosphärisch,<br />

international mehrfach ausgezeichnet.<br />

Z<strong>um</strong> ersten Mal war ich hier am Hermannplatz im März 2000, da habe ich<br />

für die Berlinseite <strong>der</strong> „Süddeutschen“ über dieses Türkenghetto<br />

geschrieben, vor allem aber über die Ängste, die die Deutschen davor<br />

haben. Tagelang habe ich nach etwas gesucht, was solche Ängste<br />

auslösen könnte. Gefunden habe ich aber nur kleine Puzzleteilchen, von<br />

denen es ganz schön viele braucht, damit daraus ein Gesamtbild <strong>der</strong><br />

Angst wird.<br />

3. Was für eine Angst ist das? Wo kommt sie her?<br />

! Aus Amerika. Gangster-Rap, Filme wie Eminems „Eight Mile“. Ich wollte<br />

gar keinen Elendsbericht abgeben, son<strong>der</strong>n das Gegenteil: Jugend dieser<br />

197


Welt, schau und komm nach Berlin-Neukölln. Hier geht’s zu wie im<br />

allerf<strong>eins</strong>ten Hip-Hop-Ghetto in New York. Die Redakteure haben mir das<br />

aus den Händen gerissen.<br />

4. Also keine Sozialmilieustudie über Arbeitslosigkeit, Alkohol …<br />

! Das läuft gar nicht. Arbeitslosigkeit ist das langweiligste Wort <strong>der</strong> Welt.<br />

Arbeitslosigkeit – das ist ein Wort wie „Der Kons<strong>um</strong>ent“ o<strong>der</strong> so was.<br />

Einfach saublöd.<br />

5. Hat sich Neukölln seit dem Jahr 2000 geän<strong>der</strong>t?<br />

! Es ist sauberer, heiterer, Menschenfreundlicher, farbfroher, mehr Geld<br />

ist da, mehr Wohlstand, mehr Zufriedenheit, die Menschen leben ihr selbst<br />

bestimmtes Leben, sind erfüllter und freuen sich, dass es aufwärts geht.<br />

6. Das steht in krassem Wi<strong>der</strong>spruch zu „Zombie Nation“ und Ihrer<br />

These vom totalen Stillstand in Deutschland.<br />

! Ja, das stimmt. Für die Mehrheitsgesellschaft trifft das nicht zu. Aber<br />

Neukölln steht ja nicht für Deutschland, das ist Klein-Istanbul, ein<br />

türkisches Viertel, das nicht zu Berlin gehört. Völlig untypisch. Ganz<br />

an<strong>der</strong>s als im Prenzlauer Berg, wo ich wohne. Diese Mischung aus Ost-<br />

Intelligenz und West-Provinz gibt es nirgendwo sonst. Keine Auslän<strong>der</strong>,<br />

keine Alten. Aber viele Kin<strong>der</strong>, die höchste Geburtenrate in <strong>der</strong> ganzen EU.<br />

Vielleicht wird das in einer Generation mal ein richtig netter Ort. Wenn all<br />

diese Kin<strong>der</strong> mal groß sind.<br />

7. Wo Kin<strong>der</strong> sind, müssen Männer und Frauen ja z<strong>um</strong>indest eine<br />

zeitlang ganz gut miteinan<strong>der</strong> ausgekommen sein. In dem von<br />

Ihnen selbst verfassten Klappentext zu „Zombie Nation“ aber heißt<br />

es: „Was Frauen den Männern antun, ist <strong>der</strong> eigentliche Irakkrieg<br />

unserer Epoche“.<br />

! Kin<strong>der</strong> scheinen <strong>der</strong> letzte gem<strong>eins</strong>ame Nenner zu sein. Trotzdem danke<br />

ich meinem Herrgott, dass ich das nicht mitmachen musste, diese Kriege<br />

<strong>um</strong> die Kin<strong>der</strong>, die meine Brü<strong>der</strong> erlebt haben. Das ist so wie <strong>der</strong><br />

30jährige Krieg, danach bleibt nur noch grenzenloses Grauen. Ich bin seit<br />

1988 verheiratet. <strong>Mein</strong>e Frau gehört zur alten Schule und sagt, in diese<br />

Welt kann man doch keine Kin<strong>der</strong> setzen.<br />

8. In Ihren letzten beiden Büchern ist <strong>der</strong> Ich-Erzähler Johannes<br />

Lohmer auch verheiratet; einmal mit „<strong>der</strong> April“, einmal mit „<strong>der</strong><br />

Barbara“. Erkennt sich Ihre Frau in einer dieser Figuren wie<strong>der</strong>?<br />

! Sie hat beide Bücher nicht gelesen. Vielleicht hat sie mal reingeguckt<br />

und irgendwas gefunden, was ihr nicht gefällt. Und bevor sie dann<br />

schlechte Laune bekommt, liest sie halt nicht weiter.<br />

9. Sind Sie und Ihre Frau lieber in Köln o<strong>der</strong> in Berlin?<br />

! Am liebsten bin ich mit meiner Frau in Berlin. Das ist <strong>der</strong> beste Zustand.<br />

Der zweitbeste ist, alleine in Berlin zu sein. Dann folgt, zusammen mit<br />

meiner Frau in Köln Zeit zu verbringen. Und absolut horrorvoll ist es,<br />

198


alleine in Köln zu sein. Man findet dort niemanden mehr, den man treffen<br />

kann. Während man in Berlin stets alle Leute erreicht und niemals eine<br />

Ablehnung bekommt, wenn man sich verabreden will. In allen an<strong>der</strong>en<br />

Städten <strong>der</strong> Welt fangen die Leute erstmal an, in ihrem Terminkalen<strong>der</strong> zu<br />

blättern. Ich hasse Termine, die muss man die ganze Woche im Kopf<br />

behalten, und am Ende wird man dann versetzt.<br />

10. Aber bald wird Berlin von Köln ka<strong>um</strong> noch zu unterscheiden<br />

sein. Immer mehr Kölner Künstler und Medien ziehen nach Berlin:<br />

Erst die Popkomm, dann die Verlage und jetzt hat auch noch das<br />

Musikmagazin „Spex“ angekündigt, den Verlagssitz wechseln zu<br />

wollen.<br />

! Dann muss ich die mal besuchen und das neue Büro mit „Zombie<br />

Nation“-Plakaten tapezieren. Ich habe ja bei <strong>der</strong> „Spex“ kurz nach <strong>der</strong><br />

Gründung gearbeitet, 1983. Bis ich durch mein erstes Buch berühmt<br />

wurde, war ich dort gerne. Nun hassen sie mich. Martin Kippenberger<br />

sprach irgendwann eine Fatwa gegen mich aus. Dann starb <strong>der</strong><br />

Kippenberger und konnte die Fatwa nicht mehr zurücknehmen. Die bleibt<br />

nun lebenslang bestehen. Dabei mag ich die „Spex“..<br />

11. Vielleicht weil die „Spex“ wie Sie noch weiß, was Jugendkultur<br />

ist und was sie sein könnte.<br />

! Ich habe mit jungen Leuten nie was zu tun gehabt, auch nicht, als ich<br />

selbst jung war. Ich war immer <strong>der</strong> einzige, <strong>der</strong> zu Klassen- und<br />

Geburtstagspartys nicht eingeladen wurde - vielleicht kommt daher mein<br />

lebenslanges Tra<strong>um</strong>a, bei <strong>der</strong> Jugend nie dabei gewesen zu sein. Erst als<br />

ich meinen vorletzten Roman „Die Jugend von heute“ geschrieben habe,<br />

bin ich wirklich mit Jugendlichen zusammengekommen, mit meinem<br />

Neffen, seinen Freunden und <strong>der</strong>en Welt. Ich habe alles aufgeschrieben,<br />

was ich dort erlebt habe, und habe dabei endlich mal keine Angst vor<br />

Menschen gehabt.<br />

12. Ein Journalist, <strong>der</strong> Angst vor Menschen hat?<br />

! Ich bin hochgradig soziophob. Unter Menschen zu sein, strengt mich<br />

furchtbar an. <strong>Mein</strong> Betriebssystem ist dafür nicht geeignet – OS 7.2, die<br />

an<strong>der</strong>en sind aber schon bei VX 20. Ich kann das, was die an<strong>der</strong>en reden,<br />

so schnell gar nicht begreifen. Davon bekomme ich Migräne und die<br />

Schmerzen zwingen mich, die Sozialstation schnellstmöglich wie<strong>der</strong> zu<br />

verlassen. Deswegen bin ich auch beim „Spiegel“ so gut aufgehoben, dem<br />

letzten Magazin <strong>der</strong> Welt, wo man noch seinen eigenen kleinen Bunker<br />

hat. Alle „Spiegel“-Leute sitzen den ganzen Tag in ihrem Kabuff, brüten<br />

vor sich hin, hassen die an<strong>der</strong>en und vermeiden jedes Gespräch.<br />

13. Sollen wir jetzt mal langsam mal zur Rütli-Schule spazieren?<br />

! Ja. Ich bin jetzt satt.<br />

199


14. Gehen wir also zur Rütli-Schule. Aber erwarten Sie nicht zu viel, die<br />

Fernsehsen<strong>der</strong> sind längst wie<strong>der</strong> abgezogen, es geht dort jetzt sehr ruhig<br />

zu.<br />

! Ja, das Fernsehen, da will ich unbedingt rein. Bei meinem letzten Buch<br />

wollten alle Printmedien was mit mir machen, hier ein Interview, da ein<br />

Porträt, dort ein Beitrag. Und hinterher musste ich für alle was schreiben.<br />

Das will ich nicht mehr, ich will jetzt nur noch ins Fernsehen. Ich möchte<br />

es zu einer lieben Gewohnheit machen, dass ich abends nicht vor dem<br />

Fernseher, son<strong>der</strong>n in einer Talkshow sitze. Also mit <strong>der</strong> Nation von <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite her in Kontakt trete. Die ganzen <strong>Auf</strong>tritte koordiniert mein<br />

Lektor.<br />

15. Der auch in Ihrem Roman mitspielt. Wie viele echte Personen passen<br />

eigentlich in einen Roman? Benjamin von Stuckrad-Barre hat mal gesagt,<br />

er versuche 50000 Namen in einem Buch zu platzieren. Denn dann gebe<br />

es auch 50000 Leute, die es kaufen.<br />

! 80 Namen passen auf jeden Fall rein und den meisten Leuten gefällt es<br />

gut, genannt zu werden. Zur realistischen Beschreibung <strong>der</strong> Wirklichkeit<br />

gehören Namen einfach dazu. Stuckrad-Barre hat das auch gemacht, gut<br />

gemacht, und das im wichtigen Bereich Medien. Das war keine<br />

Berufsstrategie. Er hat trotzdem keine Verbündeten gefunden, keine<br />

Bunnys, die es auch so machen. Ist das nicht total ungerecht? Er zeigt uns<br />

allen diese finsteren Medienstrukturen, diesen Medienfaschismus, und am<br />

Ende ist er völlig verbrannt und alle sehen nur seine finsteren Absichten<br />

am Werk.<br />

16. In was für eine Schule sind Sie gegangen?<br />

Zuerst in eine Konfessionsschule in Belgisch-Kongo. Erst als ich 13 war<br />

sind wir nach Hamburg gezogen. Die Grundschule war toll, weil da auch<br />

an<strong>der</strong>e christliche Kin<strong>der</strong> waren, die eine ähnliche Hautfarbe hatten wie<br />

ich. Vorher wäre ich vor Einsamkeit fast gestorben. Es war eine Explosion<br />

von Lebensglück, als ich in die Schule kam.<br />

In Hamburg hingegen war Schule für mich ohne jede Bedeutung. Anfangs<br />

habe ich so einen Fleiß-Flash bekommen, <strong>um</strong> meine pubertären Probleme<br />

zu kompensieren. Später bin ich ka<strong>um</strong> noch hingegangen. Die frühe<br />

Fleißphase hat gereicht, <strong>um</strong> später, als <strong>der</strong> Leistungspegel immer mehr<br />

gegen Null ging, trotzdem das Abitur machen zu können.<br />

17. Ihre literarischen und journalistischen Jugendbeobachtungen kommen<br />

völlig ohne den Bereich Schule aus.<br />

! Ja, das hat mich nach <strong>der</strong> Schulzeit nie wie<strong>der</strong> interessiert. Für einen<br />

jungen Menschen ist Schule doch das Uninteressanteste überhaupt. Allein<br />

diese absurden Fächer: Mathematik, Chemie, Physik, Erdkunde – eines<br />

unwichtiger als das an<strong>der</strong>e, k<strong>eins</strong> davon hat irgendeinen Wert.<br />

18. Wenn man das hört, dann wun<strong>der</strong>t man sich, dass es nicht in je<strong>der</strong><br />

Schule zu Krawall kommt. O<strong>der</strong> zu einer hohen Anzahl an Selbstmorden.<br />

200


! Schüler betrachten ihre Schule als Club. Da geht man halt hin. Da sind<br />

die Chicks, die Bräute, das Clubleben, die gute Musik, die Homies, da wird<br />

was aufgestellt, da haben sie eine gute Zeit…<br />

19. …aber die Lehrer verstehen das nicht und servieren keine Cola,<br />

son<strong>der</strong>n wollen unterrichten?<br />

! Lehrer, das sind doch die letzten, die man dort braucht. Es muss<br />

furchtbar sein, dass diese Typen da her<strong>um</strong>sitzen. Stellen Sie sich das doch<br />

mal vor: Du bist 16, gehst in deinen Lieblingsclub und plötzlich hockt da<br />

so ein alter, schwabbliger, völlig verunsicherter Typ, <strong>der</strong> dir was von<br />

Molekularstrukturen erzählen will. Und <strong>der</strong> einfach nicht begreift, dass er<br />

den Mund halten muss. Ist doch klar, dass <strong>der</strong> solange auf die Fresse<br />

kriegt, bis er es begriffen hat.<br />

20. Und daran liegt es, dass die Probleme in den Schulen anwachsen?<br />

! Die „Bild“ schreibt ja immer, dass die Schüler frustriert sind und zu<br />

Recht böse werden, weil sie keine Lehrstelle bekommen. Ich glaube das<br />

nicht. Als ich in <strong>der</strong> Schule war, habe ich niemals an eine Lehrstelle o<strong>der</strong><br />

auch nur an den nächsten Tag gedacht. So etwas macht man in dem Alter<br />

einfach nicht. Auch die Fernsehbil<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Rütli-Schule drücken was<br />

ganz an<strong>der</strong>es aus. Lachende, fröhliche Kin<strong>der</strong>, fantastisch aussehende<br />

Mädchen, Jungs, die Spaß haben. Man müsste die Kin<strong>der</strong> mal selbst<br />

fragen. Wenn die dann aber sagen, dass sie mehr über Chemie erfahren<br />

wollen, dann müsste hier wirklich kasernenhart durchgegriffen werden.<br />

Wenn etwas konsequent gemacht wird, kann es ja auch Spaß machen.<br />

War ja schon bei den Großeltern so.<br />

21. Damit wären wir wie<strong>der</strong> bei „Zombie Nation“ und „Die Jugend von<br />

heute“, wo Sie schreiben, dass die Jugend eigentlich gar keine Jugend ist,<br />

son<strong>der</strong>n nur ein Abziehbild <strong>der</strong> Eltern- und Großelterngeneration.<br />

! Ja, würd’ ich sagen.<br />

22. Dann handelt es sich bei <strong>der</strong> Schulgewalt also <strong>um</strong> eine Rebellion <strong>der</strong><br />

An- und Überangepassten?<br />

! Nein, <strong>um</strong> einen Kulturkampf. Die Lehrer bieten eben keine Kultur. In<br />

einer ZDF-Reportage sehe ich, dass die Lehrer mit abgewetzten<br />

Strickjacken, Ba<strong>um</strong>wollhemden und Wackelhosen in den Unterricht<br />

kommen, die Haare nicht gekämmt, die wollen da echt auf cool machen:<br />

„Ey, hört mal Kin<strong>der</strong>, mit mir könnt ihr doch reden. Ich bin doch kein<br />

autoritärer Arsch.“ Zu Hause lernen die Kin<strong>der</strong>, was Vorschriften sind, wie<br />

man Regeln einhält, und in <strong>der</strong> Schule hocken diese Typen. Einfach<br />

unmöglich!<br />

23. Was für ein Kulturkampf soll das denn sein? Ganz klassich Orient<br />

gegen Okzident? O<strong>der</strong> Unterschichtenfernsehen gegen die Relikte des<br />

bürgerlichen Bildungsideals?<br />

! Es muss <strong>der</strong> Kulturkampf sein, denn alles an<strong>der</strong>e hat es ja schon immer<br />

gegeben, das Jungsgepose, die Messerstecher- und Raufereien,<br />

201


Hauptschule war immer schon <strong>der</strong> Abgrund. Neu ist nur die Verachtung<br />

jugendlicher Moslems gegenüber <strong>der</strong> westlichen Kultur. Und das finde ich<br />

sogar nachvollziehbar. Noch mal zu diesen Lehrern: keine Autorität, keine<br />

Ordnung, keine Struktur. Wer würde die nicht verachten?<br />

24. Mir wäre ein antiautoritärer Lehrer tausendmal lieber als ein<br />

autoritärer. Was Sie sagen klingt sehr nach dem guten alten „FAZ-<br />

Feuilleton“ und <strong>der</strong> üblichen konservativen Abrechnung mit den Folgen<br />

von 1968.<br />

! Nein. Die wollen ja immer Werte vermitteln. Aber es sind ja gar keine<br />

da, die sich vermitteln ließen. Sehen Sie sich doch die Feuilletondebatten<br />

über Bildung, Familie o<strong>der</strong> neue Bürgerlichkeit mal an. Da wird doch alles<br />

zerredet. Niemand sagt klar und deutlich, Bildung ist gut und Unbildung<br />

ist schlecht. Immer wird sofort ein „aber“ nachgeschoben, wird noch mal<br />

relativiert. Ich kann Ihnen genau sagen, was ich gut und was ich schlecht<br />

finde.<br />

25. Und das wäre?<br />

! Das sag’ ich jetzt nicht, weil ich sonst aus unserem System rausfliege.<br />

Aber ich könnte es jedenfalls.<br />

26. Wenn sie es verrieten, entspräche es dann dem, was Ihr Verleger<br />

neulich bei einer Lesung über Sie gesagt hat? Dass Sie ein durch und<br />

durch konservativer und romantischer Mensch sind?<br />

! Ja, genau.<br />

27. Wenn wir jetzt geradeaus gehen, kommen wir nach Kreuzberg: mehr<br />

Cafés, weniger Prolls, was einem soziophoben konservativen Romantiker<br />

wie Ihnen vielleicht mehr behagt als dieses dreckige Neukölln mit seinem<br />

Gemisch aus türkischen o<strong>der</strong> arabischen Jugendgangs, die, wie sie sagten,<br />

auch noch den Westen verachten. Gehen wir aber rechts o<strong>der</strong> links,<br />

bleiben wir in Neukölln. Entscheiden Sie.<br />

! Wir bleiben. Das hier ist besser als jedes Honorar. Da, schauen Sie sich<br />

diese Typen an, immer zu dreien o<strong>der</strong> vieren geballt, und wie sie sich und<br />

ihre Umgebung anstieren. Z<strong>um</strong> Glück habe ich das Geld aus meinem<br />

Portemonnaie genommen und Zeitungspapier rein getan. Über was die<br />

sich wohl gerade unterhalten?<br />

28. Über Mädchen, Musik und all das, worüber auch ihre deutschen<br />

Mitschüler reden.<br />

! Ja, denn die deutschen und die nicht deutschen Jugendlichen haben ja<br />

meistens das gleiche Wertesystem. Es ist das Regelwerk <strong>der</strong> Straße, das<br />

von beiden Gruppen verinnerlicht wird. Aber einen Unterschied gibt es<br />

doch: die Deutschen haben sexuelle Probleme und die Auslän<strong>der</strong> nicht.<br />

O<strong>der</strong> doch, aber es sind an<strong>der</strong>e sexuelle Probleme.<br />

29. Wie kommt man von einem Jugendromand zu einem Familienroman?<br />

202


! Indem man die noch fehlenden Generationen berücksichtigt. Vor allem<br />

die M<strong>um</strong>ien, also die mittlere Generation, die die Alten und die Jungen<br />

gleichzeitig unterdrückt. Ihre kulturelle Hegemonie hat dazu geführt, dass<br />

die übrigen Teile <strong>der</strong> Gesellschaft keine Ausdrucksmöglichkeiten mehr<br />

haben, z<strong>um</strong>indest keine mediale.<br />

30. Trotz o<strong>der</strong> wegen 68 und den Folgen?<br />

! Ich habe 68 nie verstanden. Höchstens als Hereinbrechen des<br />

Wahnsinns. Da komme ich mir vor wie Höl<strong>der</strong>lin o<strong>der</strong> Nietzsche, die<br />

einfach irgendwann irre wurden. Nein, es geht <strong>um</strong> meine Generation, die<br />

etwas später <strong>eins</strong>etzt, und <strong>der</strong>en eigenartige Unverän<strong>der</strong>barkeit, was ihre<br />

kulturellen Prägungen und <strong>Mein</strong>ungen angeht. Gestern rief eine Freundin<br />

an, hielt ein kreischendes Radio an den Telefonhörer und rief: „Hör mal,<br />

sie spielen unsere Musik!“ Das war irgend so ein Getröte von H<strong>um</strong>an<br />

League. Die sind seit über 20 Jahren tot, das ist doch nicht meine Musik.<br />

31. Son<strong>der</strong>n?<br />

! Immer nur das Neueste. <strong>Mein</strong>e Zeitung ist doch auch nicht die „Bild“ von<br />

einem beliebigen Tag im Jahr 1982. Es ist die von heute.<br />

32. Aber die heutige Regierungschefin Angela Merkel ist nicht ihre<br />

Kanzlerin. Ihr Kanzler war Gerhard Schrö<strong>der</strong>.<br />

! Ein feiner Kerl. Ich habe ihn mal in einer Talkshow getroffen, da war er<br />

noch Ministerpräsident von Nie<strong>der</strong>sachsen. Nach dem Talk habe ich ihm<br />

gesagt, er habe so abscheulich pastoral gesprochen. Dann hat er mir eine<br />

Abreibung verpasst. Spät abends noch von <strong>der</strong> Seite angequatscht und<br />

kritisiert zu werden, sei ja wohl das letzte. Sein Ton war gar plötzlich nicht<br />

mehr pastoral, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> eines Bauarbeiters. Nach meiner<br />

Entschuldigung hat er uns zwei Bier geholt und wir haben noch ein wenig<br />

geklönt.<br />

33. War er ein pastoraler Kanzler o<strong>der</strong> ein Bauarbeiterkanzler?<br />

Beides. Aber wenn man es sich von den Ergebnissen her ansieht, wird<br />

klar, was überwiegt. Heute ist Deutschland eine Baustelle. Außerdem war<br />

Schrö<strong>der</strong> ein Mann des Volkes, nein: er war das Volk selbst.<br />

34. Hm. Von <strong>der</strong> Jugend erwarten Sie eine Revolte gegen die M<strong>um</strong>ien und<br />

beim Kanzler geben sie sich mit so wenig zufrieden?<br />

! Das war schon eine ganze Menge. Seine Nachfolgerin steht jedenfalls für<br />

das, was dem „Spiegel“-Kulturteil unterstellt wird. Sie will eine<br />

Revitalisierung des Bürgerlichen, und weil sie einen langen Atem hat, wird<br />

sie das in 20 Jahren auch erreichen. Das wenige, was vom Bürgert<strong>um</strong><br />

noch übrig ist, wird sie stärken und dafür sorgen, dass es nach und nach<br />

den Rest <strong>der</strong> Gesellschaft durchdringt. Nicht länger soll <strong>der</strong> Wendeverlierer<br />

aus Frankfurt/O<strong>der</strong> im Jogginganzug <strong>der</strong> Repräsentant des deutschen<br />

Bürgert<strong>um</strong>s sein, son<strong>der</strong>n einer, <strong>der</strong> Abitur hat und sich fein anzieht.<br />

35. Egal ob jung o<strong>der</strong> alt?<br />

203


! Ganz egal. Dieses ganze Gerede über Generationengerechtigkeit, Renten<br />

und Kin<strong>der</strong> ist total verlogen. Als ob die Jungen die Renten <strong>der</strong> Alten<br />

überhaupt bezahlen könnten. Die sind doch alle arbeitslos. Hätten wir<br />

doppelt so viele junge Leute, hätten wir doppelt so viele Arbeitslose. Man<br />

muss doch nicht mehr Menschen zeugen <strong>um</strong> mehr Leistung zu erhalten,<br />

es reicht, das Leistungspotenzial <strong>der</strong> Alten abzurufen. Frank Schirrmacher<br />

sagt ja, wenn erstmal die M<strong>um</strong>ien alle in Rente gehen, spätestens in acht<br />

Jahren, dann gibt es hier wirklich eine Rentnerschwemme. 50 Millionen<br />

Menschen, die nicht mehr arbeiten und nur noch essen wollen. Ich sage:<br />

Lasst sie doch länger arbeiten, dann gibt es das Problem nicht.<br />

36. Noch zehn Jahre länger Thomas Gottschalk, Pur und Wim Wen<strong>der</strong>s,<br />

die „Zombie Nation“ als Generation, die niemals abtritt – das kann doch<br />

nicht Ihr Ernst sein.<br />

! Stimmt auch wie<strong>der</strong>.<br />

37. Also ein unauflösbarer Wi<strong>der</strong>spruch?<br />

! Der Umgang mit den M<strong>um</strong>ien, das ist das wahre Problem in unserem<br />

Land, nicht Steuern, Kin<strong>der</strong> und Gesundheit. Wie sich jetzt die<br />

Literaturkritik gegen Volker Wie<strong>der</strong>mann stellt, wie sich zusammenrotten<br />

und z<strong>um</strong> allerletzten Schlag gegen einen 36Jährigen ausholen – das hat’s<br />

noch nie zuvor gegeben. Wie in einem Romero-Film sind die Zombies<br />

aufgestanden und gehen auf die Lebenden los. Ulrich Greiner in <strong>der</strong><br />

Hauptrolle. Und es sind viele Zombies, die ganzen Rezensenten, all die<br />

Germanisten, die Verteidiger <strong>der</strong> Suhrkamp-Kultur. Das ist richtig<br />

gruselig.<br />

38. Jetzt sind wir bald wie<strong>der</strong> dort, wo wir den Spaziergang begonnen<br />

haben: am Hermannplatz. Irgendwelche neuen Eindrücke von Neukölln?<br />

! Es ist ruhiger geworden, bürgerlicher. Wie ein beschauliches<br />

westdeutsches Städtchen in <strong>der</strong> Vorwendezeit. Ein Stadtteil ohne Gewalt.<br />

Wo sind denn hier eigentlich die Bettler, Alkoholiker, Junkies? Weit und<br />

breit keiner zu sehen.<br />

39. Woran liegt das?<br />

Das liegt bestimmt an Schrö<strong>der</strong>, <strong>der</strong> hat das hier alles in Schuss gebracht.<br />

36. Wann wollen Männer heute ein Kind? Von Desperate<br />

Housewives und Superman<br />

Die deutschen Sparkassen werben zurzeit auf grossen Plakaten mit einem<br />

jungen Paar. Beide gucken auf das Stäbchen eines Schwangerschaftstests,<br />

<strong>der</strong> «positiv» anzeigt. Die Frau ist schwanger. Sie gafft glückstrunken,<br />

kann es ka<strong>um</strong> fassen. Er verzieht das Gesicht, als hätte er in eine<br />

bittere Mandel gebissen.<br />

204


An dieser Werbung kann man wie<strong>der</strong> schön sehen, wie lange es dauert,<br />

bis sich eine gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ung bis zu den Werbefuzzis<br />

her<strong>um</strong>gesprochen hat. Diese Anzeige will lustig sein. Sie baut auf das alte<br />

Vorurteil, Frauen liebten Kin<strong>der</strong> und Männer erlebten den Beginn einer<br />

Schwangerschaft als grössten anzunehmenden Unfall. Jetzt muss <strong>der</strong><br />

arme Tropf, suggeriert das Plakat, den One Night Stand heiraten, dem<br />

Kind seinen Namen geben, die Frau 60 Jahre lang bis zur diamantenen<br />

Hochzeit durchfüttern.<br />

Alles Quatsch. Wenn es heute jemanden gibt, <strong>der</strong> objektiv allen Grund<br />

hat, keine Kin<strong>der</strong> zu wollen, dann ist es die Frau. Sie hätte nämlich<br />

neunzig Prozent aller Belastungen zu tragen, die damit verbunden<br />

sind. Ohne dafür das zu kriegen, was Frauen früher im Gegenzug<br />

bekamen: die Heirat, die Versorgung, den Status, die soziale Absicherung,<br />

die Befreiung von <strong>der</strong> Erwerbsarbeit. Und das wissen alle.<br />

Umgekehrt wollen die Männer heute Nachwuchs. Sie haben nichts zu<br />

bieten und nichts zu erwarten, haben keine richtige Arbeit und keine echte<br />

berufliche Perspektive, ja sie haben überhaupt keine Perspektive, nicht in<br />

Deutschland, ka<strong>um</strong> in <strong>der</strong> Schweiz – was nicht ihre Schuld ist. Da passt es<br />

wun<strong>der</strong>bar, wenn sich plötzlich eine Familie als grosser Sinnersatz<br />

gründen lässt. Und wieso «-ersatz»? Es ist <strong>der</strong> Sinn, auch das spricht sich<br />

schnell her<strong>um</strong> bei den Neo-Slackern <strong>der</strong> digitalen Bohème, den<br />

arbeitslosen Dauerstudenten, den nicht vermittelbaren Akademikern,<br />

<strong>der</strong> ganzen «Generation Praktik<strong>um</strong>». Bevor ihr ganz verzweifelt, macht<br />

Kin<strong>der</strong>!<br />

In den Berliner Jugendbezirken Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain<br />

– ältere Journalisten würden von «Szene» faseln – laufen so viele neue<br />

Väter her<strong>um</strong>, dass ein Mann ohne Kin<strong>der</strong>wagen auffällt wie in Riad eine<br />

Frau im Bikini.<br />

Aber nicht nur die jüngeren Männer wollen Väter werden, bevor sie gar<br />

nichts werden. Das Virus hat alle Altersgruppen erfasst. Frauen erzählen<br />

einem, dass es heute kein erstes Date mehr gibt, an dem <strong>der</strong> Mann nicht<br />

sehr rasch testend durchblicken lässt, wie wichtig ihm <strong>der</strong> Punkt sei und<br />

wie es überhaupt damit stehe bei ihr? Eine Freundin empörte sich: «Noch<br />

bevor man überhaupt Sex hatte! Bevor man die Eltern kennen gelernt und<br />

Weihnachten hinter sich gebracht hat! Bevor überhaupt irgendetwas<br />

gelaufen ist, soll man sagen: Ja, ich will Kin<strong>der</strong> mit Ihnen! Das ist doch<br />

wohl das Letzte!»<br />

Für Frauen sind Kin<strong>der</strong> das Letzte, für Männer inzwischen das Erste, woran<br />

sie denken. Sie wollen alle Kin<strong>der</strong>, alle, alle. In Deutschland ist man<br />

schnell masslos.<br />

Entwe<strong>der</strong> sind alle für das Vaterland o<strong>der</strong> keiner (jüngst bei <strong>der</strong> WM<br />

wie<strong>der</strong> alle). Das Denken und Fühlen rauscht immer im Kollektiv durch die<br />

Geschichte. Und jetzt hat die Grossgruppe das Wun<strong>der</strong> des Lebens<br />

entdeckt und will «Verantwortung übernehmen». Z<strong>um</strong>al doch «wir»<br />

gerade aussterben. Bei so vielen Embryos im Leib <strong>der</strong> Frauen wird die<br />

Bevölkerung bald auf das Doppelte hochschnellen.<br />

205


Gewiss, die Schweizer Uhren gehen an<strong>der</strong>s. Dort wird das erst zehn Jahre<br />

später geschehen. Aber es wird kommen. Die Frauen freuen sich nicht<br />

mehr auf Babys, werden trotzdem dazu überredet.<br />

Von Burschen, die früher lieber mit ihren K<strong>um</strong>pels «War Craft» gespielt<br />

hätten. O<strong>der</strong> eine (weitere, nutzlose) Fortbildungsschulung absolviert<br />

hätten. O<strong>der</strong> im Club an<strong>der</strong>e sexuelle Orientierungen ausprobiert hätten.<br />

Sage keiner, Kin<strong>der</strong> seien zu teuer. Jeden Abend ausgehen ist teurer. Und<br />

zahlen müssen ohnehin die Frauen. Und die Schwiegereltern, die eigenen<br />

Scheidungseltern und viel verzweigten Neupartner, die ganze neue<br />

kin<strong>der</strong>verrückte Gesellschaft. Gut so.<br />

Doch so grundsätzlich die neuen Möchtegernväter auch Kin<strong>der</strong> wollen, es<br />

gibt Unterschiede beim genauen Zeitpunkt. Wann passiert es wirklich?<br />

Wenn die Zwischenprüfung wie<strong>der</strong> nicht bestanden wurde? Wenn <strong>der</strong><br />

elterliche Check ausbleibt? Wenn sie den Job verliert? Wenn die Liebe<br />

bröckelt? Wenn alle an<strong>der</strong>en im Freundeskreis schon <strong>eins</strong> haben? Wenn<br />

die nächste hippe Fertilisationsklinik im eigenen Viertel aufmacht?<br />

Die Antwort lautet: Das Kind wird in dem Moment gezeugt, in dem die<br />

Frau den Eindruck gewinnt, dass <strong>der</strong> Mann seinen H<strong>um</strong>or verliert. Also es<br />

ernst meint. Bitterböse, heilig ernst, in dieser Frage.<br />

Desperate Housewives und "Bis auf die Spitzen"<br />

'Desperate Housewives', Nachfolgerin <strong>der</strong> Zeitgeist-Sendung 'Sex and the<br />

City', läuft nun lange genug, <strong>um</strong> ein paar Fragen zu beantworten. Was<br />

machen diese vier Vorstadt-Hausfrauen eigentlich in <strong>der</strong> Wysteria Lane?<br />

Wie bringen sie den langen, nichtsnutzigen Tag her<strong>um</strong>? Was lesen sie,<br />

was beschäftigt ihre ka<strong>um</strong> trainierten Gehirnzellen? Womit verdienen ihre<br />

Männer das viele Geld? War<strong>um</strong> hat eine von ihnen (Susan) keinen Mann<br />

und trotzdem denselben Wohlstand? Was will uns diese Langzeitstudie<br />

über ein Leben ohne Arbeit nun genau sagen?<br />

'Sex and the City' war eine beliebte und lustige, aber im Kern todtraurige<br />

Leidensbeschreibung des Krankheitsbildes 'Single'. Es ging <strong>um</strong> fünf<br />

altgewordene Frauen jenseits <strong>der</strong> 40, die sich wie Teenager benahmen<br />

und deswegen allein blieben. Je mehr sie sich anstrengten, doch noch ihr<br />

Glück zu finden, je verrückter sie sich dabei aufführten, desto schroffer<br />

gestaltete sich ihr Scheitern. Tragische Figuren! Aber es war das Leiden<br />

von Millionen. Da lachte frau noch über sich selbst. Nur worüber lachen<br />

die Millionen bei 'Desperate Housewives'?<br />

Auch hier sind es Frauen über 40 (nur Gabrielle ist jünger), aber ihr Sex-<br />

Appeal ist höher, gerade weil es erwachsene Frauen sind und keine<br />

aufgebrezelten späten Mädchen, die die letzte U-Bahn nach <strong>der</strong> Disco<br />

verpaßt haben. Auch wenn sich Alice Schwartzer im Grabe <strong>um</strong>dreht, diese<br />

arbeitsscheuen Berufsgattinnen und Mütter wirken natürlicher und<br />

selbstverwirklichter als ihe hysterischen Schwestern aus den<br />

Führungsetagen des New Yorker Business. Sie bewegen sich besser, sie<br />

haben drei Dimensionen mehr Stil in ihrer Kleidungsauswahl, ja sie<br />

206


scheinen so etwas wie natürliche Würde zu besitzen. Und sie beschäftigen<br />

sich nicht in je<strong>der</strong> freien Minute mit 'Beziehungsscheiß'.<br />

Aber womit dann? Mit <strong>der</strong> bösen Nachbarin, dem Terror <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

peinlich junggebliebenen Hippie-Großmutter, den wirtschaftskriminellen<br />

Manipulationen des Ehemannes, <strong>der</strong> Versicherung für den Auto-Schaden,<br />

den Erpressungsversuchen jugendlicher Liebhaber aus <strong>der</strong> Nachbarschaft,<br />

den Dinnerparties... aber das alles reicht nicht. Es fehlt das Eigentliche,<br />

die Story, das Schicksal. So beschreibt sich die strenge Brie gegenüber<br />

ihrem Psychiater Dr. Goldfein zwar als weiße Protestantin, <strong>der</strong> Gott,<br />

Familie und Nation etwas bedeuten, und ihr Leben hat tatsächlich die<br />

entsprechenden schönen Konflikte zu bieten. Ihren zutiefst verklemmten<br />

Mann muß sie mit <strong>der</strong> Nilpferdpeitsche z<strong>um</strong> Höhepunkt treiben, und den<br />

Sohn kriegt sie nur mit <strong>der</strong> Einweisung in ein Elite-Internat von <strong>der</strong><br />

häßlichen Schwulen-Szene weg. Nein, <strong>um</strong> die Quote hoch zu halten,<br />

hantiert die Sendung noch mit <strong>der</strong> zusätzlichen Stimulanz des Krimi-<br />

Genres. Wie bei 'Twin Peaks', <strong>der</strong> alten Vorort-Kultserie von David Lynch,<br />

wird dem vermeintlich banalen Tun <strong>der</strong> Hausfrauen ein rätselhafter<br />

Ritualmord untergemischt, <strong>der</strong> nie aufgeklärt wird, aber mit 'unheimlicher'<br />

Musik und ständigen vagen Hinweisen beschworen wird. Angeblich erhöht<br />

das die Spannung. Und macht die Figuren interessanter, vor allem den<br />

männlichen Hauptdarsteller, <strong>der</strong> ohne den pseudogeheimnisvollen Spuk<br />

nur ein doofer Prolet im Holzfällerhemd wäre. Er macht den Klempner und<br />

sieht auch so aus. Topfschnitt, d<strong>um</strong>me kleine Augen, Viertagebart,<br />

niedrige Stirn, Muskeln satt. Ausgerechnet er ist <strong>der</strong> Liebhaber <strong>der</strong> extrem<br />

reizenden supersexy Susan. Wünschen sich die weiblichen TV-Gucker so<br />

einen Schrat im Bett? Offensichtlich. Damit es nicht auffällt, ist er im<br />

Nebenberuf angeblich CIA-Agent. Und ich bin <strong>der</strong> Kaiser von China!<br />

<strong>Auf</strong> Dauer wird das Konzept bei uns nicht aufgehen. In den USA schon.<br />

Dort kann man die noch vorhandenen traditionellen Werte gegen die<br />

Unwerte des Zeitgeistes ausspielen und Komik erzeugen. Das macht die<br />

Figuren mehrdimensional, wi<strong>der</strong>sprüchlich, ja fast menschlich. Man kann<br />

sie lieben. In Deutschland läuft das alles viel brutaler ab, wie die neue<br />

Serie 'Bis in die Spitzen' zeigt. Sie ist höchst aufwendig hergestellt und<br />

nicht nur ästhetisch ein Meisterwerk.<br />

Hierzulande ist eine inszenierte Dialektik von Gut und Böse nicht mehr<br />

möglich. Es geht auch ohne. Ist sogar angemessener für uns. Wo gibt es<br />

seit dem Abgang Pfarrer Flieges noch gute Menschen? Claudia Roth, ich<br />

weiß. Aber sonst - nada. Z<strong>um</strong>indest legt das 'Bis auf die Spitzen' nahe.<br />

Dort sind alle gleichmäßig vulgär, sprich 'ehrlich', desillusioniert,<br />

sexsüchtig, unfreundlich, unhöflich, eben deutsch. Je<strong>der</strong> betrügt jeden,<br />

sexuell gesehen. Bei circa einem Dutzend Figuren ergeben sich<br />

mathematisch 144 Betrugsmöglichkeiten. Und die werden vom Drehbuch<br />

auch komplett ausgeschöpft. Ist es schon bei den Housewives<br />

unwahrscheinlich, daß eine die Zeitung, die ein Bike-Kid in den Vorgarten<br />

wirft, tatsächlich LIEST, etwa beim zweiten Frühstück und unter dem Bild<br />

Gerge W. Bushs, das Brie liebevoll aufgehängt hat, so ist <strong>der</strong>lei<br />

Unsexuelles beim neuen SAT1-Schlager gänzlich ausgeschlossen. Hier liest<br />

keiner, hier sieht keiner die Tagesschau, hier hat keiner einen einzigen<br />

207


nichtsexuellen Gedanken im verrohten Germanenschädel.<br />

Interessanterweise soll diese edel fotografierte und überaus<br />

geschmackvolle Welt die <strong>der</strong> Unterschicht sein, nämlich die Friseurszene.<br />

Das stimmt natürlich nicht. Historisch gesehen handelt es sich <strong>um</strong> die<br />

erste virtuelle Weltkonstruktion aus <strong>der</strong> Sicht des<br />

Unterschichtsfernsehens. So wie <strong>der</strong> Drehbuchknecht sich vorsellt daß ein<br />

Friseur sich die (ganze) Gesellschaft vorstellt, so ist dieses interessante<br />

Machwerk zu entschlüsseln. Klassen und Schichten werden völlig neu<br />

durchdekliniert. Ober-, Unter- und Mittelschicht hören auf dieselben<br />

Kommandos, und die sind pornografischer Natur. Gewandet sind diese<br />

Arschlöcher in f<strong>eins</strong>tem Zwirn, wie Grafen und Künstler aus den 20er<br />

Jahren, sehr edel anzuschauen, gut ausgeleuchtet, <strong>der</strong> Tonmann hat die<br />

Hintergrundstille perfekt hochgedreht, und die Schauspieler überzeugen<br />

allesamt wie nie zuvor in einer deutschen Serie. Der Schnitt, die<br />

Schwenks, die Fahrten, die gekonnte Ruhe: man kann gar nicht sagen,<br />

wie toll und stimmig das alles ist! Jede Sekunde ein Genuß, ein perfekter<br />

Werbeclip auf Ewigkeit verlängert und durchgehalten. Als Schriftsteller<br />

mußte ich an Bret Easton Ellis denken, <strong>der</strong> schon vor 20 Jahren das<br />

Thema sexuelle Verrottung zu phantastischen Büchern <strong>um</strong>geschmolzen<br />

hat ('The Rules of Attraction', 1985), ehe er blöde Anleihen beim Krimi-<br />

Genre nahm. 'Bis in die Spitzen' kommt ohne Mord aus. Schon dafür<br />

gebührt dieser Serie unsere Hochachtung. Nicht einmal eine Pistole<br />

kommt vor!<br />

Aber natürlich bleibt es Pornografie. Und das ist das Gegenteil von<br />

Sexualität, wie schon SPIEGEL-Autorin Schirach jüngst erklärte. Der Erfolg<br />

<strong>der</strong> Serie findet vor einem TV-Publik<strong>um</strong> statt, daß von AIDS-Phobien,<br />

Min<strong>der</strong>wertigkeitsgefühlen, Impotenz und völliger Entfremdung geschüttelt<br />

wird und körperliche Zweisamkeit nur noch vom Hörensagen kennt. Derlei<br />

verunsichert halten die Leute womöglich den promisken Zirkus für das<br />

ihnen entgangene Leben. Die armen Teufel! Analog <strong>der</strong><br />

Zigarettenwerbung sollte man auf die schädlichen Folgen des Kons<strong>um</strong>s <strong>der</strong><br />

Serie hinweisen: "Vorsicht! Diese Sendung kann Krebs verursachen!"<br />

Denn das kann sie, da bin ich mir sicher.<br />

Superman<br />

Lois Lane ist nie ohne Kind. Wie eine Schmerzensmutter, Mater Dolorosa,<br />

h<strong>um</strong>orfrei, unendlich stark, dominiert sie den Film zwar nicht, hat aber<br />

etwas penetrant überlegenes. Der Zuschauer spürt auf bittere Weise: im<br />

Grunde ist Lois Lane zur spießigen kleinen Medientante abgestiegen, aber<br />

sie verkörpert inzwischen alle heimlichen Gesetze, nach denen wir<br />

funktionieren. Sie lacht nie, zieht permanent das quakige,<br />

verhaltensgestörte Kind hinter sich her, besser noch: trägt es auf dem<br />

Arm wie <strong>der</strong> hl. Christopherus, verdient das Geld, paßt auf, steht ihren<br />

Mann, verweigert jeden Flirt und jede Zärtlichkeit, stapft durch die Welt<br />

wie Jutta Köter aus Bad Salzuflen. Maria und Kind, immer heilig, immer<br />

ernst, immer doof. Die Königin <strong>der</strong> Sachzwänge. Hart und kompromißlos,<br />

das <strong>eins</strong>t schöne Gesicht zur beleidigten Fresse erstarrt. Wenn Supermann<br />

208


mal wie<strong>der</strong> die Flatter macht, und dabei zart lächelt, wirkt er nicht<br />

ebenbürtig, nicht wie Lois Lanes Mann und Vater ihres Kindes, son<strong>der</strong>n<br />

wie ein Weichei. Nein, viel mehr, das Wort Weichei faßt es nicht mehr:<br />

Gesellschaftlich gesehen markiert <strong>der</strong> Superman von 2006 den Tiefpunkt<br />

des männlichen Nie<strong>der</strong>gangs schlechthin. Tiefer kann es nun nicht mehr<br />

gehen. Ausgerechnet Superman! Er ist Vater geworden und kastrierter<br />

Kamerad zugleich. Obwohl er Zugang zu seinem Sohn hat, spricht er nicht<br />

mit ihm. Verklemmt sitzt er am Fensterbrett des Kin<strong>der</strong>zimmers, nur noch<br />

scheue Fle<strong>der</strong>maus, und sieht ihm beim Schlafen zu. O<strong>der</strong> er liegt selbst<br />

im Koma im Krankenhaus, und Sohn und alleinerziehende Mutter sehen<br />

ihm zu. Meist fliegt er im Dunkel des Weltalls her<strong>um</strong>, was schrecklich<br />

aussieht, auf jeden Fall nichtsnutziger, als wenn Lois dem kleinen Racker<br />

Cornflakes aufschüttet und dabei einen engagierten Artikel für den 'Daily<br />

Planet' in den Computer hackt. Zware hat Lane keine echte Ausstrahlung;<br />

alles was sie sagt sind diese gesäuselten Mutter-Kind-Sätze "Alles ist gut,<br />

ist ja alles gut, Schatz", "Danke mein Schatz", "Komm Schatz", "Hey, alles<br />

wird doch gut!" - immer dann, wenn gerade die Welt untergeht. Mit dem<br />

Teenager-Comic-Gesicht samt variationsarmer Jugend-TV-Mimik ist sie<br />

auch zu jung für eine Mami alten Stils. Aber was ist Supermann? Am Bett<br />

seines ihm völlig entrückten Sohnes murmelt er: "Aus dem Sohn wird <strong>der</strong><br />

Vater, und aus dem Vater wird <strong>der</strong> Sohn." Das soll die Botschaft des Films<br />

sein, die <strong>der</strong> Sohn nicht mehr hört, aber wir, <strong>der</strong> zahlende Zuschauer. Ein<br />

Satz so sinnlos wie die ganze Figur.<br />

37. KaDeWe - Weihnachten mit meinem Bru<strong>der</strong><br />

Ich mag meinen Bru<strong>der</strong>. Ich lief die Treppe hinunter, durch das schöne<br />

alte unsanierte DDR-Treppenhaus, und sah schon sein Auto. Ein schicker<br />

Ford Mondeo, dunkelblau, ein Kombi, mit Servolenkung, Baujahr 1993.<br />

Vorher hatte er ein rotes Modell gahabt, noch besser, keine acht Jahre alt,<br />

aber das war in Polen lei<strong>der</strong> gestohlen worden. Er saß am Steuer und<br />

lächelte mich nett an. <strong>Mein</strong> Bru<strong>der</strong>. Gut sah er aus.<br />

Die allerbeste Nachricht hatte ich erst eine Stunde vorher gekriegt: Er<br />

konnte wie<strong>der</strong> laufen! Ein <strong>halb</strong>es Jahr lang war er Invalide gewesen. Nach<br />

einem sogenannten Sportunfall beim Beachvolleyball hatte er sich falsch<br />

operieren lassen und konnte seitdem das Bein nicht mehr bewegen.<br />

Natürlich sollte man keinen 'Sport' betreiben, <strong>der</strong> für junge nackte Frauen<br />

erfunden worden war. <strong>Mein</strong> Bru<strong>der</strong> war schon über 40, näherte sich <strong>der</strong><br />

magischen Zahl 50, die wir als Kin<strong>der</strong> immer als natürliches Lebensende<br />

angesehen hatten. Offenbar zu recht, denn ich hatte Eckart, so heißt mein<br />

Bru<strong>der</strong>, als Invaliden schon abgeschrieben. Nun ging es wie<strong>der</strong>. Zweite<br />

Operation, Arztklage, neues Leben. Und wir konnten unseren traditionellen<br />

Weih<strong>nachts</strong>marsch durchs feindliche Kaufhausviertel antreten. Das<br />

machten wir jedes Jahr seit 40 Jahren. Wie die Katholiken durch die Sinn-<br />

Fein-Viertel in Nordirland. Völlig unerschrocken. Denn wir waren ja von<br />

Haus aus verschworene Antikons<strong>um</strong>isten.<br />

209


Wir fuhren erst mit dem Auto von <strong>der</strong> Kleinen Präsidentenstraße, wo ich<br />

wohnte, zur Rosenthaler Straße und parkten es vor dem 'Sisal', unserem<br />

Hausrestaurant. Jedes Jahr wurden im 'Sisal' neue Serviererinnen<br />

angestellt, die alle eines gem<strong>eins</strong>am hatten: sie waren vollkommen naiv.<br />

Sie wirkten so, als kämen sie direkt vom Mars und begegneten z<strong>um</strong><br />

erstenmal Menschen. Aber sie waren total nett und gaben dem Ra<strong>um</strong> eine<br />

Stimmung des Neubeginns, <strong>der</strong> Euphorie, <strong>der</strong> Mitmenschlichkeit. Gelebter<br />

H<strong>um</strong>anismus sozusagen. Das mochten mein Bru<strong>der</strong> und ich.<br />

"Ich gehe immer noch ins Sisal, die Tradition habe ich weitergeführt",<br />

sagte Eckart unschuldig.<br />

"Ich auch", sagte ich und seufzte.<br />

Wir schwiegen diskret. Das Wetter war wie immer bei unseren<br />

Weih<strong>nachts</strong>märschen: dunkel, naß, trostlos, eben nordirisch. Wir gingen<br />

z<strong>um</strong> Hackeschen Markt, am weißen Chamisso-Denkmal vorbei, durch den<br />

Monbijou Park bis zur Spree, und dann an <strong>der</strong> Muse<strong>um</strong>sinsel und dem<br />

unruhigen Fluß entlang bis z<strong>um</strong> Bahnhof Friedrichstraße. Es blies ein<br />

ordentlicher Wind, aber wir waren furchtlos. In <strong>der</strong> Gegend Friedrichstraße<br />

kamen uns schon die ersten Kons<strong>um</strong>isten entgegen, manche sahen uns<br />

frech ins Gesicht, aber wir ließen uns nicht provozieren.<br />

Dann stiegen wir in die S-Bahn und fuhren z<strong>um</strong> Bahnhof Zoo. Dort war<br />

natürlich 'die Hölle los', aber keinesfalls so extrem wie in früheren Jahren.<br />

Der Kons<strong>um</strong> war zurückgegangen im ersten Weihnachten <strong>der</strong> Ära Merkel.<br />

Und noch etwas fiel uns sofort auf: diese faschistoide Dauerberieselung<br />

mit alten, leiernden, verfälschten o<strong>der</strong> weichgespülten Weih<strong>nachts</strong>lie<strong>der</strong>n<br />

hatte aufgehört. Die Kaufhäuser verkauften ihr Zeug jetzt ohne "Stille<br />

Nacht, heilige Nacht". Das tat dem Ganzen wahnsinnig gut. Aber, wie<br />

gesagt, wir sahen nur wenige Kunden. Und das keine zehn Tage vor 'dem<br />

Fest'!<br />

Unser Ziel war natürlich das KaDeWe, angeblich das letzte Wahrzeichen<br />

<strong>der</strong> ehemaligen Frontstadt, des alten untergehenden Westens. Wir kamen<br />

an <strong>der</strong> Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, und ich machte ein Foto<br />

davon. Zu Hause konnte ich später zeigen, daß ich wirklich da war, also<br />

im spießigen Westberlin, das Leute wie ich ja nie betreten.<br />

Wir waren recht durchgefroren, als wir in den Innenbereich des KaDeWe<br />

gesogen wurden. Je<strong>der</strong> wußte, daß es dort zuging wie in <strong>der</strong> Sauna, wie<br />

eben in jedem Kaufhaus. Die Luft war verbraucht und künstlich<br />

aufgeheizt. Eigentlich war es gar keine Luft, son<strong>der</strong>n... ein<br />

stickstoffreiches Bakterienfeld. Aber sicher waren auch die Bakterien<br />

schon alle <strong>um</strong>gekommen. <strong>Mein</strong> armer Bru<strong>der</strong>! Eben noch Invalide, mußte<br />

sein gerade genesener Körper die nächste Belastungsprobe überstehen.<br />

Aber das gehörte z<strong>um</strong> Spiel. Das war Teil unserer alljährlichen 'Großen<br />

Mutprobe'.<br />

Wir waren alte Marxisten, das verband uns. Am Montag wollten wir mit<br />

Gretchen Dutschke und ihrem Sohn Marek eine antikapitalische<br />

freilebende Weih<strong>nachts</strong>gans essen. Aber vorher noch '<strong>der</strong> Marsch', wie wir<br />

ihn nannten. Das mußte sein. Das machten wir schon als Kin<strong>der</strong>. Das<br />

quälte uns.<br />

210


Schon unsere Eltern hielten nichts von Weihnachten. Sie stritten sich<br />

morgens, mittags und abends, das war schon schlimm genug. Aber an<br />

Weihnachten potenzierte sich alles noch. Unsere Mutter, die nicht kochen<br />

konnte, probierte es ausgerechnet an "Heilig' Abendt" immer wie<strong>der</strong>. Die<br />

ganze Familie kam fast dabei <strong>um</strong>. Also es kam wirklich zu<br />

Magenkrämpfen. Ich sage WIRKLICH. Für mich ist das kein Witz. Für<br />

meinen Bru<strong>der</strong> ist es etwas an<strong>der</strong>s, weil er unsere Kindheit regelrecht<br />

verdrängt hat. Er weiß nicht mehr, daß wir schon 1968 in den<br />

Spielwarenabteilungen <strong>der</strong> Kaufhäuser standen und uns nichts kaufen<br />

konnten. Überteuertes und kindungerechtes Spielzeug nannten sie es; das<br />

sollten wir lieber selber basteln. Sie schickten uns immer weg, am<br />

Weih<strong>nachts</strong>tag. Noch auf <strong>der</strong> Straße hörten wir sie schreien.<br />

Nun standen wir wie<strong>der</strong> da, in <strong>der</strong> Stofftierabteilung des KaDeWe.<br />

"Du willst hier etwas KAUFEN?" fragte Eckart ungläubig und erstaunt.<br />

"Ja, ich muß zwei Geschenke hier besorgen."<br />

"Kannst Du es denn auch BEZAHLEN?"<br />

"Hör mal, ich bin doch nicht mehr neun Jahre alt!"<br />

"Ach... ach so."<br />

Ich ging sehr bestimmt auf eine Verkäuferin zu und verlangte die Affen zu<br />

sehen. Sie bediente zwar gerade einen Kunden, ließ ihn aber stehen und<br />

führte mich zu einigen Stoffaffen, die mir durchaus gefielen. Nicht sehr,<br />

aber ich hätte wohl einen genommen. Er war von Steiff und hieß angeblich<br />

'Jocko'. Der Name stand auf einer Halskrause aus Papier. Ich wußte das<br />

schon. Also dass er Jocko hieß. Dieser Affe wurde von Steiff seit 1903<br />

unverän<strong>der</strong>t hergestellt und hieß erst Jimmy, seit 1944 dann Jocko. Die<br />

damals herrschenden Nationalsozialisten wollten keine amerikanisch<br />

klingenden Kosenamen für die Stofftiere ihrer arischen Kin<strong>der</strong>. Schon<br />

1965 hätte ich gern Jocko gehabt. Ich hätte ihn ja Jimmy nennen können.<br />

"Was kostet das Tier?"<br />

"89,95 Euro."<br />

"Ich brauche zwei davon."<br />

"Gern."<br />

<strong>Mein</strong> Bru<strong>der</strong> stand daneben und hatte einen vor Freude roten Kopf<br />

bekommen. Ich sah aus den Augenwinkeln, daß ihm die Stoffaffen<br />

gefielen.<br />

"Für wen sind die denn, die Tierchen?"<br />

"Ach... Hast Du etwas dagegen, wenn ich sie noch einpacken lasse? Es<br />

gibt hier einen Einpack-Service, sagt das Mädchen."<br />

"Naja, eigentlich..."<br />

"Komm, sieh es einfach als einen Teil des Shopping. Das wollten wir doch<br />

machen, o<strong>der</strong>? Das ist doch '<strong>der</strong> Marsch', nicht wahr?"<br />

"Ja."<br />

Wir gingen in den dritten Stock, und von da z<strong>um</strong> 'Parkdeck Eins', und von<br />

da z<strong>um</strong> Einpack-Service. Zwei wun<strong>der</strong>volle, engelhafte Einpackfräulein<br />

erwarteten uns. Sie strahlten, als seien sie direkt vom lüsternen 'Sisal'-<br />

Chef abkommandiert worden. Als hätten sie vom Beginn des schleppenden<br />

Weih<strong>nachts</strong>geschäfts an nur auf mich gewartet. Die eine, die NOCH<br />

Hübschere, fragte:<br />

211


"Mädchen und Junge? Wie alt sind sie denn?"<br />

"Äh, fünf Jahre."<br />

"Oh!"<br />

"Also, ein fünfjähriger Junge und ein siebenjähriger Junge."<br />

"Ja! Ich dachte schon... wenn sie beide fünf wären, wären es ja..."<br />

"Hm... Zwillinge!" Gut, daß es mir noch einfiel.<br />

Ich hatte ein Geschenkpapier gewählt, das ungewöhnlich geschmackvoll<br />

war, mit Teddys drauf wie von Immendorff gemalt, leuchtend bunt wie<br />

sein berühmtes Bild 'Café Deutschland'. Und die engelhafte Angestellte<br />

sagte prompt:<br />

"Ja, das ist das schönste Geschenkpapier, das wir haben, solange ich mich<br />

erinnern kann!"<br />

Ich ließ die Stofftiere getrennt einpacken. Einmal dabei, holten sie noch<br />

beson<strong>der</strong>s prächtige und passende Schleifen in Gold, Silber, Rot, Blau,<br />

Gelb und Weiß hervor. <strong>Mein</strong> Bru<strong>der</strong> bat mich <strong>der</strong>weil, ihm meinen<br />

Kassenbon zu überlassen. Damit wollte er zur Kasse gehen und sich<br />

angeblich "Punkte für eine KaDeWe-Kundenkarte gutschreiben" lassen.<br />

"Übertreibst Du es nicht ein wenig?"<br />

"Entwe<strong>der</strong>, o<strong>der</strong>. Das gehört alles z<strong>um</strong> 'Marsch'!"<br />

"Na schön."<br />

Um zu testen, ob es wirklich 'Sisal'-Mädchen waren, wollte ich nach <strong>der</strong><br />

Handyn<strong>um</strong>mer von <strong>der</strong> einen fragen, bis mir einfiel, dass das nicht zur<br />

N<strong>um</strong>mer paßte, die ich gerade abzog. Und sie gaben sich wirklich Mühe<br />

beim Einpacken, das mußte ich sagen. So machte ich lieber ein Foto von<br />

ihnen.<br />

Der Bru<strong>der</strong> kam zurück, glücklich und rotbäckig über seine virtuellen<br />

Punkte im Kundenpaß. Unsere Eltern drehten sich im Grabe <strong>um</strong>, wenn sie<br />

das sähen...<br />

Wir bewegten uns wie<strong>der</strong> durchs KaDeWe. An die Nichtluft hatten wir uns<br />

fast gewöhnt. Trotzdem geriet ich durch die aufgebackene Atmosphäre in<br />

einen Zustand verschwitzter Ohnmacht, bis wir endlich das<br />

Kundenrestaurant im sechsten Stock erreichten, unseren Stammplatz. Von<br />

hier aus konnte man das ganze Einkaufsviertel sehen. Erschöpft fiel ich in<br />

einen häßlichen Holzstuhl, pellte mich aus meinen ärmlichen Sachen.<br />

Eckart holte ein Stück Kuchen und eine kleine Tasse Wasserkaffee für<br />

mich.<br />

Ka<strong>um</strong> saßen wir etwas gemütlicher, als ein Proletenpärchen neben uns<br />

Platz nahm:<br />

"Se jestatten doch wohl, wa."<br />

Da war nun schlecht kommunizieren. Eigentlich stand nun 'Das Gute<br />

Gespräch' an, dass mein Bru<strong>der</strong> und ich traditionellerweise hier führten,<br />

als geistiger und geistlicher Höhepunkt des 'Marsches'. Wir sprachen dann<br />

normalerweise über Berufliches, über sexuelle Entwicklungen, über Politik<br />

und Philosophie. Als Altlinke gehörte Privates und Öffentliches für uns<br />

zusammen. Doch nun dröhnten die Prolls unsere Ohren zu:<br />

"Un da ha ick zu ihr jesacht, dat is dat ALLERLETZTE Weihnachtn, dassdu<br />

hier bei mir..."<br />

212


Wir verdrehten pikiert unsere Augen. Diese unmöglichen Leute!<br />

Indiskutabel, also echt.<br />

"Is doch jut, wennet ma jemandt zu dir sacht, wa, is doch bessa wennde<br />

et endlich hörst, ha ick zu ihr jesacht..."<br />

Wir mußten hier wie<strong>der</strong> weg, es hatte keinen Sinn. Wir schwiegen noch<br />

betreten fünf Minuten, wobei wir merkten, dass unsere sexuellen und<br />

philosophischen Tagesordnungspunkte nicht für die Ohren <strong>der</strong><br />

L<strong>um</strong>penproletarier bestimmt waren. Ich versuchte es matt:<br />

"Schön, daß Schrö<strong>der</strong>chen jetzt ordentlich Geld verdient, bei Gazprom.<br />

Er... geht einfach in die Offensive, denke ich mir..."<br />

"Was?!"<br />

"Na, die Depression, in die Du als Politiker fällst, nach dem Job-Ende, ist<br />

normalerweise schlimmer als je<strong>der</strong> Heroin-Entzug... und dann will ich mir<br />

nicht die Doris vorstellen..."<br />

Das Gute Gespräch fiel dieses Jahr aus. Den Prolls war fast <strong>der</strong> Löffel in<br />

die Suppe gefallen. Es drohte <strong>der</strong> Ausbruch einer Gruppendiskussion!<br />

Des<strong>halb</strong> aßen wir finster und still den Kantinenkuchen auf und traten den<br />

geordneten Rückzug an. Erst durchs Haus, dann durchs feindliche Viertel,<br />

dann mit <strong>der</strong> ollen S-Bahn Richtung Osten, zurück z<strong>um</strong> Hackeschen Markt.<br />

Die Heizung war ausgefallen, und als ich einmal nicht hinsah, hatte mein<br />

Bru<strong>der</strong> mit seinem Finger "X-MAS SUCKS" in die beschlagene S-Bahn-<br />

Scheibe gemalt. Mit dem Auto wie<strong>der</strong> zur Kleinen Präsidentenstraße.<br />

Ich stieg aus und gab Eckart eines <strong>der</strong> beiden Päckchen. Ich sagte, es sei<br />

für ihn, und das an<strong>der</strong>e würde ich mir selbst schenken. Er <strong>um</strong>armte mich<br />

und sagte, ich sei ein guter Mensch. Das hatte er noch nie zu mir gesagt.<br />

Ich erwi<strong>der</strong>te:<br />

"Wenn Du mal K<strong>um</strong>mer hast und mein Handy ist abgeschaltet, mußt Du<br />

es dem Affen erzählen. Der erzählt es dann meinem Affen, und <strong>der</strong> dann<br />

mir. So bleiben wir kharmisch verbunden. Wie früher."<br />

"So so... wie heißt er denn?"<br />

"M<strong>um</strong>in. Und meiner heißt Miko."<br />

"Deiner heißt M<strong>um</strong>in?"<br />

"Nein, DEINER."<br />

"Hm..."<br />

"MEINER heißt doch Miko."<br />

So hießen schon die beiden Äffchen, die wir als Kin<strong>der</strong> hatten. Keine<br />

teuren Jockos. Die hatten wir uns selbst geschnitzt, aus<br />

Scha<strong>um</strong>stoffschwämmen. Aber die Kindheit, jetzt wurde es wie<strong>der</strong><br />

deutlich, hatte Eckart ja verdrängt.<br />

Vielleicht ganz gut so!<br />

213


38 USA – Sylvester mit Tom K<strong>um</strong>mer<br />

Weihnachten hatte ich nun im Grunde abgehakt – also das<br />

Weihnachten mit meinem Bru<strong>der</strong>. Der Tradition war genüge getan.<br />

Am Anfang meiner nun folgenden Reise in die USA stand <strong>der</strong><br />

Bor<strong>der</strong>line Journalist Tom K<strong>um</strong>mer. Ihn wollte ich in Amerika<br />

treffen, für mein neues Buch, das „<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Bor<strong>der</strong>line <strong>nachts</strong> <strong>um</strong><br />

<strong>halb</strong> <strong>eins</strong>“ heißen und im Spätherbst 2007 herauskommen sollte.<br />

Da war eine Reportage über den Erfin<strong>der</strong> des Bor<strong>der</strong>line<br />

Journalismus genau <strong>der</strong> richtige Einstieg, dachte ich damals.<br />

Ich wusste natürlich, dass Tom K<strong>um</strong>mer paranoid war. Also ein<br />

Mensch, <strong>der</strong> jedem Kontakt auswich. Schon in Deutschland hatte<br />

ich versucht, ihn zu treffen. Ich besaß seine Telefonn<strong>um</strong>mer, ich<br />

redete mit ihm, er sagte zu, er sagte ab. So war das mit diesen<br />

Leuten. Er erkundigte sich über mich. Ich weiß nicht, was sie ihm<br />

über mich erzählten. Wäre ich selbst paranoid, würde mir etwas<br />

einfallen. Aber ich bin nüchtern. Was ich nicht gehört habe, zählt<br />

nicht.<br />

<strong>Mein</strong> Verhältnis zu Judith Bröhl war am 23. Dezember des Jahres<br />

2006 so gut wie nie zuvor. Das heisst nicht, dass es einmal<br />

weniger gut gewesen wäre. Sie war meine Bezugsperson, und ich<br />

war ihre. Sie war <strong>der</strong> r<strong>eins</strong>te, unverdorbendste, naivste Mensch,<br />

den ich kannte – und dennoch kam sie direkt aus <strong>der</strong> Hölle. Dichter<br />

nennen das Phänomen „Die Rose, die auf dem Misthaufen blüht“.<br />

Ich werde das noch näher erklären, später.<br />

Wir kannten uns nun schon seit vielen Monaten, genau gesagt seit<br />

dem 15. September 2006. Sogar ihre Schwester hatte ich schon<br />

kennengelernt. Die hieß Janine Bröhl, war 23 Jahre alt und<br />

214


studierte BWL in Leipzig. JUDITH Bröhl war zweiein<strong>halb</strong> Jahre älter<br />

und hatte ihr Studi<strong>um</strong> schon abgeschlossen. Sie war am 19.<br />

Dezember 2006 – vier Tage vorher also – nach Los Angeles<br />

geflogen und mailte mir nun, ich müsse unbedingt auch kommen.<br />

Ich hatte ihr gesagt, dass bis z<strong>um</strong> 24. Dezember, dem<br />

Weih<strong>nachts</strong>tag, die Möglichkeit dazu bestünde. Denn an Heilig<br />

Abend – Betonung auf Abend – seien die Flugzeuge leer. Man<br />

bekomme immer ein Ticket, und das billigste dazu. Man ist dann<br />

meist <strong>der</strong> einzige Passagier. Legte man es darauf an, würden sie<br />

einen sogar <strong>um</strong>sonst mitfliegen lassen, bloß <strong>um</strong> etwas Gesellschaft<br />

zu haben zur Bescherungszeit. Ich entschloß mich also spontan<br />

und kaufte ein Ticket Tegel – LAX für 275 Euro. Wie gesagt, ich<br />

tat es, weil Judith Bröhl mich dazu drängte. Es ginge ihr schlecht,<br />

sie sei krank, ihr ehemaliger Liebhaber habe eine neue Geliebte und<br />

die sei im Haus, dazu seine erwachsenen Kin<strong>der</strong> und seine Ex-Frau.<br />

Es klang, als wäre alles furchtbar peinlich. Mit dem Ex-Liebhaber<br />

hatte sie in aller Regel Kokain in hohen Dosierungen geschnupft<br />

und dabei Extremsex gehabt. Das ging nun sicher nicht, vor den<br />

Augen <strong>der</strong> neuen Geliebten, <strong>der</strong> Ehefrau, <strong>der</strong> erwachsenen Kin<strong>der</strong>,<br />

dem Weih<strong>nachts</strong>mann, den Geschenke bringenden Nachbarn.<br />

Prompt meinte sie nun etwas weinerlich, <strong>der</strong> Ex-Geliebte sei<br />

„irgendwie langweilig“ geworden. Ich müsse unbedingt kommen.<br />

Auch seien die an<strong>der</strong>en Deutschen, mit denen sie manchmal zu tun<br />

habe, blöd und deprimierend. Sie kalauerten bloß her<strong>um</strong>, während<br />

mit mir je<strong>der</strong> Supermarketbesuch eine soziokulturelle Lehrstunde<br />

sei. Was für ein Lob! Nun gab es kein Halten mehr. Ich konnte mir<br />

richtig vorstellen, wie diese jungen Comedy-Deutschen keinen Blick<br />

mehr hatten für die geradezu tragischen Unterschiede zwischen<br />

den Kulturen, hier zwischen <strong>der</strong> ewigen Proletenkultur <strong>der</strong><br />

Westcoast-Amerikaner und unserer aristokratischen in<br />

Kerneuropa... na, ich würde das wie<strong>der</strong> gera<strong>der</strong>ücken.<br />

Der Flug ging dann in aller Früh los, so <strong>um</strong> <strong>halb</strong> sieben, sodaß ich<br />

<strong>um</strong> vier Uhr am Flughafen sein mußte und <strong>um</strong> <strong>halb</strong> drei Uhr<br />

aufstehen. Schlaf gab es also nicht. Dafür ging es <strong>um</strong>standslos und<br />

ohne Zwischenstop <strong>um</strong> den <strong>halb</strong>en Planeten, gegen die<br />

Erd<strong>um</strong>drehung und somit gegen die Zeit. Als die Deutschen ihre<br />

Geschenke auspackten, war ich über Labrador, und als sie<br />

rotw<strong>eins</strong>elig langsam das Bewußtsein verloren, schwebte ich<br />

215


11.034 Meter über Winnipeg. Die Crew erfüllte mir jeden Wunsch.<br />

Die 20 Mann R<strong>um</strong>pfbesatzung des altersschwachen 70er Jahre<br />

J<strong>um</strong>bos waren dankbar für jeden Impuls, <strong>der</strong> von ihrem einzigen<br />

Passagier kam. Die Stewards waren in <strong>der</strong> Regel schwul, und die<br />

Stewardessen reizlos und verblüht, Enddreißiger-Muttis und biracenal,<br />

<strong>um</strong> nicht zu sagen: sie kamen aus Mexiko. Jedenfalls<br />

hatten sie nichts von jener Coolness, die britische Stewardessen<br />

jeden Alters und je<strong>der</strong> Schönheitsstufe selbst bei<br />

Kurzstreckenflügen zwischen Hamburg und Liverpool an den Tag<br />

legten. Sie standen mit ihren Endlos-Beinen vor einem, in ihren<br />

dunkelblauen maßgeschnei<strong>der</strong>ten Kostümen, ach ihren blonden<br />

Haaren, schoben das schmale Becken vor und fragten drohend<br />

nach speziellen Wünschen, die man an sie hätte. Heute wäre <strong>der</strong><br />

Tag gewesen, an dem ich meinen speziellen Wunsch gesagt und<br />

sogar erfüllt bekommen hätte. Aber mit dem schwulen Mister Kidd<br />

wollte ich nicht in die Kabine, und auch nicht mit <strong>der</strong> illegalen<br />

Putzhilfe aus San Fernando, die ihre sieben kraushaarigen<br />

Banditenkin<strong>der</strong> durchbringen mußte.<br />

Ich landete und wurde von meinem Neffen Elias und seiner<br />

Freundin abgeholt. Wo war die hochgewachsene Judith Bröhl? Ich<br />

reckte meinen Kof nach ihr, sah sie nicht. Ihretwegen war ich<br />

gekommen. Elias hatte sich geweigert, sie im Auto mitzunehmen.<br />

„Was willst Du denn mit <strong>der</strong>?“ fragte, nein erklärte er mißmutig.<br />

Für ihn war sie eine Person, die nicht zu mir paßte. Ich war zu<br />

feige, ihn zurechtzuweisen. Nicht jetzt. Außerdem hatte ich es<br />

schon ausgiebig getan. Von Berlin aus hatte ich ihm am Telefon<br />

vorgeschwärmt, wie gut Judith Bröhl gerade in konservativen<br />

Kreisen auftrete. Wie sie <strong>der</strong> party crusher war. Wie sie selbst die<br />

verklemmtesten Intellektuellen z<strong>um</strong> Lachen brachte. Sie sei die<br />

ideale Begleitung für jedes seriöse Event, <strong>um</strong> es etwas<br />

unterhaltsamer und weniger seriös zu machen. Die Menschen<br />

würden mich lieben, wenn ich mit Judith Bröhl auftauchte, auch<br />

und gerade die, die Vorbehalte gegen Frauen ohne Abitur hätten.<br />

Ich verzichtete auf den Zusatz, Judith habe sogar Abitur plus eine<br />

abgeschlossene Hochschulausbildung. Ich wollte nur, daß Elias<br />

mich verstand. Er reagierte nicht. Für ihn hatte Judith Bröhl nur<br />

Hauptschulabschluß. Weil sie so redete, als sei sie im Kohlenkeller<br />

<strong>der</strong> Rütli Schule zur Welt gekommen.<br />

216


Wir fuhren zu dritt in einem neuen Bentley Arnage R den Sunset<br />

Boulevrd entlang in die Hollywood Hills hinein. Der Weg beträgt<br />

ungefähr 20 Kilometer, aber man merkt es nicht in solch einem<br />

Auto. Von außen sieht es nur elegant, aber nicht monströs aus,<br />

ganz an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> neue, von BMW gestaltete Rolls Royce. Aber<br />

von innen hat man die Gerä<strong>um</strong>igkeit eines Wohnzimmers. Judith<br />

Bröhl hätte hier zehnmal reingepaßt. Aber Elias hatte zu ihr<br />

gesagt, das Auto sei zu klein für uns alle. Wir erreichten Crescent<br />

Heights, bogen in den Laurel Canyon und fuhren z<strong>um</strong> Haus, in dem<br />

ich untergebracht wurde. Nach 13 Stunden Flug und 24 Stunden<br />

Schlaflosigkeit fiel ich kopfüber ins nächste Bett und vergaß alles<br />

<strong>um</strong> mich her<strong>um</strong>.<br />

Als ich aufwachte, war es <strong>nachts</strong> und zeitlos. Mir fiel ein, daß ich<br />

Judith Bröhl nicht angerufen hatte. Wo war ein Telefon, wo ein<br />

Lichtschalter? Ich fand beides nicht. War Weihnachten vorbei,<br />

auch in Kalifornien? Wo war Tom K<strong>um</strong>mer, wo Judith? Ich<br />

ertastete meinen kleinen Reisekoffer, holte die Flasche mit<br />

selbstgebrühten Kaffee heraus und lehnte meinen Rücken an eine<br />

Wand. Erstmal trinken und wach werden. Ein schönes Gefühl. So<br />

ruhig. Die Uhr meiner 1958er Rolex hatte Leuchtziffern, aber die<br />

angezeigte Zeit konnte ich nicht mehr zuordnen.<br />

Eine <strong>halb</strong>e Stunde später kamen Elias und seine sogenannte<br />

Freundin. Er hatte er mir gesagt, sie sei die Frau, die für ihn<br />

bestimmt sei. Er werde sie bis in den Tod und darüber hinaus<br />

behalten. Ich hatte mich leicht geduckt wie unter einem Schlag. Es<br />

war nie schön, Verrückte in <strong>der</strong> Familie zu haben.<br />

Elias war 18. Eigentlich war er sogar volle zehn Jahre älter, laut<br />

Personalausweis 28 Jahre alt. Geboren in den 70er Jahren des<br />

vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>ts, wie alle Getty Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Enkelgeneration. Aber wenn er eine seiner berühmten Kifferphasen<br />

hatte, war er 18, immer 18, auch mit 14 schon, als er anfing. Ich<br />

war dabei, ich muß es wissen, ich hatte ihn angestiftet. Natürlich<br />

wußte ich nicht, daß er gerade wie<strong>der</strong> eine Kifferphase hatte. Ich<br />

wäre sonst schön in Deutschland geblieben.<br />

Elias und seine Freundin kamen von <strong>der</strong> X-mas Party <strong>der</strong> Gettys.<br />

„Du hättest Dich ends gequält, es war absolut nichts los. Alle<br />

saßen auf den Sofas, ich wäre fast eingeschlafen.“<br />

„Du BIST eingeschlafen!“ sagte die angebliche Freundin.<br />

217


„Bin ich NICHT.“<br />

„Bist Du DOCH!“<br />

„Bin ich NICHT!“<br />

„BIST DU DOCH!“<br />

„BIN ICH NICHT!“<br />

Und so weiter. So war ihre Art miteinan<strong>der</strong> zu reden. Ich kannte<br />

das schon. So hatte Elias auch mit den früheren angeblichen<br />

Freundinnen geredet. Die jetzige hieß Karolin und war 22 Jahre alt.<br />

Ein ganz beson<strong>der</strong>s hübsches Mädchen, natürlich Fotomodell. Es<br />

bedeutete ihr aber nichts, Model zu sein, sie sah über die<br />

Angebote hinweg wie über Werbeprospekte im Briefkasten. Blöd<br />

war sie bestimmt nicht. Dass dieser Model Beruf <strong>der</strong> ödeste von<br />

allen war, war ihr nicht mal eine Bemerkung wert. Wie an<strong>der</strong>s<br />

waren da doch die Mädchen von heute, Judith Bröhl<br />

eingeschlossen, die diesen Quatsch „hot“ fanden! Sie, also diese<br />

Karolin, konzentrierte sich auf ihre Hobbies Hebräisch, Geschichte<br />

des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts und Amerikanische Gegenwartsliteratur des<br />

21. Jahrhun<strong>der</strong>ts, und von ihrem angeblichen Freund Elias, für den<br />

sie laut Vorsehung bestimmt war, hielt sie soviel wie vom Model<br />

Beruf. Sie war nur mitgekommen, weil er ihr verschwiegen hatte,<br />

sie bald heiraten zu wollen. Den brilliantenbesetzten<br />

Verlobungsring, ein altes Getty Erbstück, hatte er schon in <strong>der</strong><br />

Hosentasche. Am ersten Weih<strong>nachts</strong>feiertag, in Amerika das<br />

eigentliche „Weihnachten“, wollte er ihn ihr feierlich vor<br />

versammelter Getty Familie und mir überreichen. Ich beschwor ihn,<br />

es nicht zu tun.<br />

„War<strong>um</strong> nicht?“<br />

„Weil... Du sie damit unter Druck setzt“, flüsterte ich.<br />

„Na und?“ Er baute sich seelenruhig einen Joint.<br />

„Weil sie dann nicht mit Dir schläft.“<br />

„Ist doch gut, dann baut sich eine erotische Spannung auf, und <strong>der</strong><br />

Orgasmus ist dann <strong>um</strong>so größer.“<br />

„Nein, Du willst doch, dass sie JETZT mit Dir schläft, an<br />

Weihnachten, das ist doch wichtig, so symbolmäßig! Nicht an<br />

irgendeinem normalen blöden Tag. Dafür ist Eure Liebe zu wichtig,<br />

da darf man keine Formfehler machen!“<br />

Er riß die Augen auf. Ich wußte, ich hatte die richtigen Worte<br />

gefunden. Liebe, Bestimmung, Rituale, Ewigkeit: das mußte alles<br />

218


passen. Das war seine Begriffswelt. Er nickte bedächtig. Erstmal<br />

einen tiefen Zug aus dem Joint. Ein guter Moment für mich, auf<br />

meine eigene Freundin zu sprechen zu kommen:<br />

„Und jetzt sollten wir doch mal Judith Bröhl anrufen, nicht?“<br />

Er reagierte nicht. Für ihn war Judith Bröhl nicht existent. Eine<br />

Unperson. Ein Wesen, welches in jedem Satz die Worte ‚verfickt‘,<br />

‚verpisst‘, ‚verkackt‘ und ‚am Arsch vorbei‘ unterbrachte. Die<br />

wollte er nicht bei den Gettys unterbringen, <strong>der</strong> reichsten Familie<br />

Amerikas. Er schwieg, als hätte er nichts gehört.<br />

Ich verstand ihn ja. Amerika war das Land <strong>der</strong> Übergewichtigen,<br />

<strong>der</strong> Proleten, <strong>der</strong> Tatoo-Piercing-Trucker-Machos, <strong>der</strong> Leute, die<br />

‚Dismissed‘ erfunden hatten und unser Unterschichten-TV bis hin<br />

zu RTL und Stefan Raab erst möglich gemacht hatten. So eine<br />

feine Familie wie die Gettys sehnte sich nach Europa, nach dem<br />

Gegenteil von Amerika, nach Vornehmheit und elaborierter<br />

Sprache. So eine vermeintliche Arsch-und-Titten-Karikatur wie<br />

meine Freundin konnten sie leicht als Ausrutscher mißverstehen.<br />

Als hätte da jemand beim Ausflug ins Rotlichtmilieu etwas<br />

falschverstanden. O<strong>der</strong> das christlichen Gebot, am Heiligen Abend<br />

etwas für die Armen und Gefallenen zu tun, zu ernst genommen.<br />

Das war fatal. Denn Judith Bröhl war keine Prostituierte. Sie war<br />

Marylin Monroe. Vermutlich mit denselben Problemen.<br />

Aber, <strong>um</strong> ehrlich zu sein, berührte es mich nicht. Ich war kein guter<br />

Freund. Das Schicksal meiner Freundin interessierte mich in dieser<br />

Stunde ka<strong>um</strong>, o<strong>der</strong> <strong>um</strong> es in ihrer Sprache zu sagen: ging mir am<br />

Arsch vorbei. Und DAS wurde mir in den folgenden Tagen z<strong>um</strong><br />

Verhängnis. Aber ich will nicht vorgreifen. Nein, ich dachte in<br />

diesem Moment wie<strong>der</strong> nur an Tom K<strong>um</strong>mer und meine Reportage<br />

über den Bor<strong>der</strong>line Journalismus. Ich ließ Elias bei ihm anrufen und<br />

auf die Mailbox sprechen. Ich stellte mir vor, wie K<strong>um</strong>mer neben<br />

seinem Anrufbeantworter sass und wie ich hörte, was Elias gerade<br />

sagte. Natürlich nahm er nicht ab, son<strong>der</strong>n starrte mit Angstaugen<br />

auf das Gerät und überlegte fieberhaft, wer ihm da an den Kragen<br />

wollte. Und irgendwie hatte er ja recht. Würde ich ihn endlich<br />

kriegen, würde ich ihn in Grund und Boden schreiben, diesen<br />

unredlichen Kerl, o<strong>der</strong> wie Judith Bröhl viel treffen<strong>der</strong> sagen würde:<br />

diesen Wichser. Wobei ich allerdings zuerst auf seine Verdienste<br />

zu sprechen kommen müßte. Die hatte er ja zweifellos. Er hatte<br />

219


den Bor<strong>der</strong>line Journalismus erfunden. Das ging so: Tom K<strong>um</strong>mer<br />

war <strong>eins</strong>t ein angesehener Mitarbeiter <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung<br />

gewesen. Nicht direkt <strong>der</strong> Zeitung selbst, aber <strong>der</strong> Beilage „SZ<br />

Magazin“, soviel ich weiß. Er war dafür bekannt, große Filmstars<br />

aus Hollywood zu interviewen und das sehr gut zu machen.<br />

Bekanntlich reden diese Mega-Stars immer so aufregend wie große<br />

Fußballstars, z<strong>um</strong> Beispiel wie Michael Ballack. Wer könnte sich<br />

jemals an einen Gedanken erinnern, den Michael Ballack in einem<br />

Interview sagte? Selbst dann, wenn das Interview gerade zehn<br />

Minuten zuvor ausgestrahlt wurde? Natürlich niemand. Weil es gar<br />

keine Gedanken gibt, die man sich hätte merken können. Michael<br />

Ballack hat keine Gedanken. Und die etablierten Mega-Stars aus<br />

Film und Rockmusik in Hollywood haben erst recht keine. Im<br />

Vergleich zu ihnen ist Ballack so gedankenvoll wie Heidegger. Und<br />

gerade deswegen waren die deutschen Medien so dankbar, in den<br />

Tom-K<strong>um</strong>mer-Interviews manchmal den einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

brauchbaren Satz zu finden. Natürlich war immer noch das meiste<br />

<strong>der</strong> übliche Schrott („Madonna ist eine erfolgreiche Frau, aber sie<br />

ist auf dem Boden geblieben“), aber hey, plötzlich glitzerte etwas,<br />

war da ein Wort, das man nicht erwartete, das man noch nicht in<br />

120 an<strong>der</strong>en Madonna-Portraits gelesen hatte, ein winziger<br />

Moment, <strong>der</strong> Bruchteil einer Sekunde, in <strong>der</strong> so etwas wie<br />

Menschlichkeit zu ahnen war. War Madonna (Prince, Whitney<br />

Houston, Angelina Jolie etc.) vielleicht DOCH mehr als nur...<br />

vergessen Sie’s. Die Texte waren getürkt. Die kleinen<br />

Abweichungen hatte Tom K<strong>um</strong>mer erfunden. Eines Tages kam<br />

zufällig heraus, daß in einem Interview mit Judith Roberts ganze<br />

Absätze aus einem Interviewbuch von Andy Warhol eingeschoben<br />

worden waren. K<strong>um</strong>mer redete sich heraus, es sei ein<br />

Computerfehler gewesen, und man glaubte ihm natürlich. Er lebte<br />

in <strong>der</strong> Wüste irgendwo zwischen Los Angeles und Arizona, mit Frau<br />

und Kin<strong>der</strong>n, und er verdiente eine Menge Geld mit seinen Texten,<br />

die manchmal auch recht seltsam waren. Er schrieb nämlich auch<br />

über geheime Weltra<strong>um</strong>experimente <strong>der</strong> NASA, die bei ihm in <strong>der</strong><br />

Wüste stattfanden, und über neue Wun<strong>der</strong>waffen, und über den<br />

Umgang amerikanischer Wissenschaftler mit einem in <strong>der</strong> Wüste im<br />

Jahre 1946 gelandeten echten UFO. Tom K<strong>um</strong>mer war also dieser<br />

typische deutsche 70er Jahre Freak, <strong>der</strong> mit Haschisch, Fritz the<br />

220


cat, Verschwörungstheorien und Janis Joplin aufgewachsen war.<br />

Solche Leute konnte ich nicht leiden. Aber es half ja nichts: <strong>der</strong><br />

Mann mußte ausfindig gemacht werden.<br />

Später löcherte mich Judith Bröhl, als ich sie endlich sehen durfte,<br />

mit weiteren Fragen nach Tom K<strong>um</strong>mer. Sie verstand nämlich den<br />

ganzen Fall nicht.<br />

„WARUM mußt Du über den Arsch überhaupt schreiben?“<br />

„Weil er jetzt seine Biografie herausbringt.“<br />

„Ach! Tun das nicht alle? War<strong>um</strong> schreibst Du nicht über die<br />

beschissene Biografie von jemand an<strong>der</strong>m, den man anrufen und<br />

treffen kann, irgendeinem verfickten Hiphopper vielleicht? Da<br />

laufen doch genug r<strong>um</strong>, und ich fänd’s geil.“<br />

Ich erklärte ihr das Wesen des Bor<strong>der</strong>line Journalismus. Einige<br />

Dinge stimmten, an<strong>der</strong>e waren dazuerfunden. Als man anfing, alle<br />

K<strong>um</strong>mertexte zu überprüfen, fand man heraus, dass er fast immer<br />

eine Mischung aus wahr und erfunden zusammengerührt hatte. Die<br />

Süddeutsche Zeitung dachte ernsthaft über Schritte gegen ihn<br />

nach. Als DER SPIEGEL ihn nun interviewte, sagte er, er habe die<br />

Intelligenz <strong>der</strong> Leser nicht beleidigen wollen. Er habe es einfach<br />

nicht über sich gebracht, Millionen unbescholtene deutsche Leser<br />

mit diesen Blabla-Aussagen <strong>der</strong> US-Stars zu langweilen. Und so<br />

erfand er Antwortsätze, die die Stars hätten sagen KÖNNEN, wenn<br />

sie die Intelligenz dazu gehabt hätten. Es war, als würde Michael<br />

Ballack erst sagen:<br />

„Nun gut. Sicher. Wir haben das Tor gemacht, aber am Ende ist es<br />

die Mannchaft, was zählt. Das ist jedenfalls meine <strong>Mein</strong>ung.“<br />

Und K<strong>um</strong>mer würde dann anfügen:<br />

„O<strong>der</strong> lassen Sie es mich einmal an<strong>der</strong>s sagen: Der forcierte<br />

Individualismus hat im deutschen Fußball <strong>der</strong> 70er Jahre viel Gutes<br />

hervorgebracht, wird aber <strong>der</strong> zunehmenden Komplexität des<br />

heutigen Spielaufbaus – Sie können ruhig das Modewort<br />

‚Vernetzung‘ an dieser Stelle verwenden - nicht mehr gerecht.“<br />

K<strong>um</strong>mer hätte nicht gelogen. Genau DAS hatte Ballack sagen<br />

wollen, konnte es nur nicht, da seine Eltern aus <strong>der</strong> DDR kamen<br />

und er selbst auch. Es war nicht seine Schuld. Und Tom K<strong>um</strong>mer<br />

korrigierte nur eine Ungerechtigkeit, die aus dem System kam. Man<br />

hätte ihn dafür lieben können. Stattdessen beschloß die<br />

Süddeutsche Zeitung schließlich, ihn nicht weiter zu beschäftigen.<br />

221


Das war schwer zu verstehen, und noch weniger, dass auch alle<br />

an<strong>der</strong>en deutschen Zeitungen ihn nicht haben wollten. Der<br />

allgemeine Vorwurf gegen ihn war, er würde nicht die Wahrheit<br />

schreiben. Ausgerechnet er! Der einzige, <strong>der</strong> – in einem höheren<br />

Sinne – wirklich die Wahrheit schrieb. Da man nicht soweit gehen<br />

konnte, ihn einen ‚Lügner‘ zu nennen, einigte man sich auf den<br />

neugeschaffenen Terminus ‚Bor<strong>der</strong>line Journalist‘. Im ganzen Land<br />

unterschrieben Journalisten aller Zeitungen und Gattungen nun<br />

eifrig Erklärungen, wonach sie zu Tom K<strong>um</strong>mer keinerlei Kontakt<br />

mehr hätten, frühere Kontakte abgebrochen hätten, ihn auf Partys<br />

nicht mehr grüßen würden und dass sie ihre Kin<strong>der</strong>, wenn sie<br />

einmal welche hätten, niemals in dieselbe Kita stecken würden wie<br />

Tom K<strong>um</strong>mers Kin<strong>der</strong>.<br />

Natürlich gab es in <strong>der</strong> Wüste gar keine Kita. Aber <strong>der</strong> Deutsche an<br />

sich hat ja immer diesen sogenannten vorauseilenden Gehorsam.<br />

Da bin ich nicht an<strong>der</strong>s, ich bin ja selbst ein guter Deutscher. Ich<br />

hatte in meiner Eigenschaft als Mitglied des Kulturressorts des<br />

SPIEGEL vor versammelter Mannschaft schneidig erklärt, K<strong>um</strong>mer<br />

sei ein „ehrvergessener Künstler“, den man auf „auf dem<br />

schnellsten Wege in die Wüste schicken“ solle. Die Kollegen<br />

klopften mit den Fingerknöcheln auf die Holztische. In <strong>der</strong> Wüste<br />

war er ja schon, sodaß meine For<strong>der</strong>ung gar nicht scheitern<br />

konnte...<br />

Zurück z<strong>um</strong> Ablauf meiner Reise. Rein theoretisch war nun immer<br />

noch ‚Heilig Abend‘, denn es war immer noch <strong>der</strong> 24. Dezember in<br />

diesem Teil <strong>der</strong> Welt. Auch wenn Mitternacht lange vorbei war,<br />

konnte man nicht einfach sagen, nun sei es plötzlich NICHT mehr<br />

heilig und abends, son<strong>der</strong>n profan und morgens, denn <strong>der</strong> nächste<br />

Tag war noch weit weg. Erstmal legten wir uns zu dritt auf das<br />

Bett in <strong>der</strong> Getty Wohnung, in <strong>der</strong> Elias und seine angebliche<br />

Freundin übernachteten. Elias war in glücklicher, gelöster<br />

Stimmung, was an seiner Freundin lag, die er „über alles“ liebte<br />

und die nun bei ihm war. Er hatte ihr den Flug geschenkt und bot<br />

ihr nun die Welt <strong>der</strong> Milliardäre. Als Gegenleistung ertrug sie seine<br />

körperliche Gegenwart in den Stunden des Schlafes, aber es fiel ihr<br />

nicht leicht. Sie kam sogar zu dem Schluß, dass selbst dieser Preis<br />

zu hoch war.<br />

222


Ich will nicht soweit gehen zu sagen, dass sie sich masslos vor<br />

seinen tapsigen Zärtlichkeiten ekelte. Sie hatte Nerven wie<br />

Drahtseile. Aber selbst die gaben eines Tages nach; und das<br />

Mädchen wurde ernsthaft, ja lebensgefährlich krank. Aber dazu<br />

später.<br />

Wir sassen auf dem Bett und unterhielten uns. Es ging sehr ruhig<br />

zu, und nach ungefähr einer <strong>halb</strong>en Stunde war ich in Elias‘ tapfere<br />

Begleiterin verliebt. Ich gestattete es mir natürlich nicht. Ich<br />

merkte aber, dass meine Reise nun etwas Angenehmes bekam. Es<br />

war, als würde Gewicht abfallen. Natürlich nur ein bißchen und<br />

nicht <strong>der</strong> Rede wert. Es war einfach schön zu wissen, dass ich<br />

nicht <strong>der</strong> einzige war, <strong>der</strong> hier einen schweren Stand hatte. Ich<br />

meinte meinen Tom-K<strong>um</strong>mer-<strong>Auf</strong>trag, fast eine Art<br />

Himmelfahrtskommando, Judith Bröhl hätte wohl sehr zu recht von<br />

einem beschissenen Scheißjob mitten im verfickten Weihnachten<br />

gesprochen. Man muß wissen, dass sie stark lispelte, was ihren<br />

Injurien nochmal etwas beson<strong>der</strong>s Prolliges, ja unfreiwillig<br />

Komödiantisches verlieh...<br />

Elias schaltete seinen Laptop an, und Karolyn tat es ihm nach. Sie<br />

checkte die E-Mails, die sie in den letzten Stunden bekommen<br />

hatte, und Elias lud eine Folge „Curb your enthusiasm“ auf den<br />

Bildschirm. Karolyn zeigte uns ein Foto, das sie als Soldatin <strong>der</strong><br />

israelischen Armee zeigte, mit mannsgroßem Maschinengewehr.<br />

Damit war sie jahrelang r<strong>um</strong>gelaufen? Sie war äußerst schlank,<br />

eben ein Fotomodell, wie konnte das gehen? Kam daher ihre<br />

psychische Kraft, Elias zu ertragen? Immerhin war er kein<br />

Selbstmordattentäter.<br />

Ich fand das Foto so toll, dass ich es sofort meinem einzigen<br />

echten Freund Maxim Biller nach Tel Aviv schickte. Bei <strong>der</strong><br />

Gelegenheit checkte ich auch meine E-Mails. Es hatte mir aber<br />

niemand geschrieben, nicht einmal Ariadne von Schirach. Aber die<br />

nur des<strong>halb</strong> nicht, weil sie mir noch am Tag zuvor ein Geschenk in<br />

den Briefkasten meiner Geheimwohnung gesteckt hatte. Ich fand<br />

das beson<strong>der</strong>s bemerkenswert, denn niemand außer <strong>der</strong> Barbi<br />

sowie Judith Bröhl kannte die Adresse meiner Geheimwohnung.<br />

Wie hatte sie sie herausgekriegt? Es war eine echte Leistung, fast<br />

noch höher zu bewerten als das Geschenk. Ich hatte es noch nicht<br />

ausgepackt. Das sollte am nächsten Tag geschehen, anläßlich des<br />

223


amerikanischen Weih<strong>nachts</strong>festes. Elias und Karolyn brachten mich<br />

in das Haupthaus <strong>der</strong> Gettys – sie selbst wohnten nur im<br />

Gästehaus – und wiesen mich ein. Das Haupthaus war völlig leer.<br />

Die Gettys hatten noch viele weitere Haupthäuser in den<br />

Hollywood Hills, so wie <strong>eins</strong>t Saddam Hussein viele Paläste im Irak<br />

hatte und sich immer nur in einem aufhalten konnte. Die Praxis mit<br />

den Doppelgängern wurde von den Gettys schon lange<br />

aufgegeben. Wir sagten uns gute Nacht und <strong>um</strong>armten uns. Eine<br />

schöne Gelegenheit, Karolyn Wange an Wange zu spüren, extra ein<br />

bißchen länger als erlaubt, so eine lange Sekunde des Ausatmens,<br />

das tat gut. An <strong>der</strong> Tür führte sie ihre schöne Hand z<strong>um</strong> Mund und<br />

warf mir einen Kuß zu, wie<strong>der</strong> ein bißchen zu langsam für eine<br />

bloße Geste. Das machte sie von nun an immer z<strong>um</strong> Abschied, es<br />

war ihre Art. Kein Zweifel, ich mochte dieses Mädchen. Alle<br />

mochten sie. Die Gettys waren schon verrückt nach ihr, vor allem<br />

die Kin<strong>der</strong>. Das hatte sie in den drei, vier Tagen geschafft, in<br />

denen sie schon vor mir da war.<br />

Karolin. Was für ein wun<strong>der</strong>barer Name. Ich schlief sofort ein.<br />

Und ich schlief gut und lange. Die kalifornische Sonne weckte mich.<br />

In den Hills ist sie so stark, jetzt noch, wie in Italien im<br />

Hochsommer zur Zeit <strong>der</strong> Weltmeisterschaft. Ja, es ist einfach<br />

Sommer! Ohne Einschränkung. Man zieht am besten die Badehose<br />

an und springt in den Pool. Jede <strong>der</strong> Saddam-Villen, pardon, je<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Getty-Paläste, hat natürlich einen hellblauen, glitzernden Pool.<br />

Doch schlagartig fiel mir, Sekunden nach dem <strong>Auf</strong>wachen, Judith<br />

Bröhl ein. Die hatten wir ja ganz vergessen! Die saß wahrscheinlich<br />

immer noch bei dem abgehalfterten selbsternannten<br />

Filmproduzenten her<strong>um</strong>, ohne Kokain, dafür mit allerlei feindseligen<br />

Menschen <strong>um</strong> sich. Bestimmt hatte sie sich auf <strong>der</strong> Toilette<br />

(„Scheißhaus“) eingeschlossen („verbunkert“), <strong>um</strong> von <strong>der</strong><br />

geschiedenen Ehefrau des Mannes („Scheiß-Ex von dem Arsch“)<br />

nicht gelyncht („gefickt“) zu werden. Ich lief also zu Elias in das<br />

Gästehaus und bat ihn, bei Judith anrufen zu dürfen. <strong>Mein</strong> eigenes<br />

Handy funktionierte in Amerika nicht. Elias tat, als hätte ich nichts<br />

gesagt. Verlegen ging ich wie<strong>der</strong> weg.<br />

Wer nicht versteht, war<strong>um</strong> ich überhaupt mit Judith Bröhl reden<br />

wollte, muß folgendes wissen: Ihre proletenhafte Ausdrucksweise –<br />

dazu gehörte auch das Lispeln und eine ra<strong>um</strong>füllende Lautstärke<br />

224


sowie ein Poltern mit den Füßen, das Holzhäuser in Amerika<br />

durchaus gefährden konnte – war nur <strong>der</strong> äußere Teil ihrer<br />

Persönlichkeit. Wenn man es kitschig sagen will, ihre Schale. Ihr<br />

Inneres war weich, gutherzig, edel, voller Freude und endloser,<br />

variantenreicher Menschenliebe. Sie fickte wie ein Weltmeister und<br />

betrieb jede Art von Extremsex, und so sportlich, wie das klingt,<br />

war es auch. In Wirklichkeit hatte sie Arme wie Prothesen.<br />

Verglichen mit ihr muß Pinocchio im Bett ein zärtlicher<br />

Schmusekater gewesen sein, trotz all dem Holz. Sie sprach von<br />

morgens bis abends über Sex, und wie alle, die das tun, verstand<br />

sie nichts davon. Sie hielt mich für verklemmt, weil ich mich<br />

weigerte, Silikonbrüste nicht erotisch zu finden. Wann immer es<br />

ging, sagte ich nichts zu dem Thema, hörte einfach weg, drehte<br />

mich in die an<strong>der</strong>e Richtung, las demonstrativ Zeitung, spielte mit<br />

Hunden (was ich sonst NIE tue), aber Judith Bröhl redete weiter<br />

über Sex, war besessen davon. Eine Art Tourette-Syndrom auf<br />

erotischem Gebiet. Eben eine Krankheit. Man durfte sie deswegen<br />

nicht fallenlassen. Schlimmer war schon, dass sie sich wie eine<br />

Nutte kleidete, sich so benahm, so auftrat, so provozierte. <strong>Auf</strong><br />

je<strong>der</strong> Straße pfiffen ihr die Männer nach, machten<br />

Scnalzgeräusche, als wollten sie eine Katze anlocken. Ich fand das<br />

entsetzlich, und eines Tages, als ich es nicht mehr aushielt, zog<br />

ich sogar Elias ins Vertrauen. Ich wollte einfach meinem Ärger Luft<br />

machen, und bei ihm war ich dabei genau am Richtigen, dachte er.<br />

Er aber sagte nur:<br />

„Eine Nutte, echt? Find ich nicht. Das ist allein Dein Problem. Sie<br />

kann nichts dafür, dass sie so große Busen hat.“<br />

Ich starrte ihn an. Hatte er recht? Und das <strong>Auf</strong>brezeln, das<br />

Tennisröckchen, die hochhackigen Schuhe, die aus ihr eine Zwei-<br />

Meter-Frau machten... hm. Alles im Rahmen heutiger Teenage-<br />

Mode. So waren sie, die Girlies. Deswegen wurde niemand zur<br />

Hure, auch nicht Christina Agileiras o<strong>der</strong> Paris Hilten, Judith Bröhls<br />

erklärtes Vorbild übrigens. Nun nahm ich mir vor, erst recht für<br />

Judith einzutreten.<br />

Ich fragte also Elias erneut, ob wir sie jetzt holen könnten. Er hörte<br />

vornehm weg. Er war nicht <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> häßliche Konflikte<br />

austrug. Schweigend kam man aus je<strong>der</strong> brenzligen Lage.<br />

225


Wir fuhren z<strong>um</strong> „Country Store“ im Laurel Canyon, frühstücken.<br />

Dort hatte ich ein Vierteljahrhun<strong>der</strong>t vorher schon mit seiner<br />

Mutter gesessen. Das alte Hippie Restaurant hatte sich nicht<br />

verän<strong>der</strong>t. Auch Stephan T. Ohrt hatte damals, solange er noch<br />

lebte, seinen Kaffee hier getrunken. Er war in die<br />

Zwillingsschwester von Eliass Mutter etwas zu stark verliebt<br />

gewesen – und starb wenig später. Der Mann dieser<br />

Zwillingsschwester hatte auch kein Glück mit ihr. Rasend vor<br />

Eifersucht setzte er sich den goldenen Schuß, fiel ins Koma, wurde<br />

ins Leben zurückgeholt, nur lei<strong>der</strong> praktisch ohne Gehirn. Mit fünf<br />

Prozent übriggebliebener Gehirnmasse mußte er fortan sein Leben<br />

steuern, blind, st<strong>um</strong>m, und bis auf einen Schluckmuskel vollständig<br />

gelähmt. Ein totaler Krüppel. Dagegen war Stephen Hawkins<br />

Tarzan. Nur: Es handelte sich <strong>um</strong> Paul Getty III, den Erben <strong>der</strong><br />

Dynastie. Natürlich schafften sie es, den Mann wie<strong>der</strong> irgendwie<br />

nach oben zu bringen. Eine Geschichte für sich. Ich habe sie oft<br />

erzählen müssen. Bitte nicht noch einmal.<br />

Elias baute sich sehr ruhig und gedankenvoll einen Joint. Dazu<br />

holte er durchsichtige Blättchen hervor und einen Beutel mit Roh-<br />

Haschisch, <strong>der</strong> so gut gefüllt war, dass je<strong>der</strong> Polizist geglaubt<br />

hätte, einen <strong>der</strong> ganz großen Dealer <strong>der</strong> Westküste vor sich zu<br />

haben. Einen <strong>der</strong> Rap Könige. Der Mann hinter Snoop Dogg und<br />

wahre Boß. Mit hot chicks, die auf dem Wagendach tanzten. Bei<br />

dem Wort mußte ich immer an Judith Bröhl denken, die sich<br />

nämlich als solches bezeichnete, als „hot chick, das auf je<strong>der</strong> Liste<br />

steht“. Ihr stehen<strong>der</strong> Ausdruck. Schon mit 16 sei sie das hot chick<br />

gewesen und auf <strong>der</strong> Liste gestanden. Das hotteste event in ihrer<br />

kleinen Stadt – sie stand auf <strong>der</strong> Liste. Denn sie war das hot chick.<br />

Busen raus, Lippen geschürzt, Augen zu und durch. Durch die<br />

Kontrolle. Der obligatorische Schwarze an <strong>der</strong> Tür pfiff kennerhaft<br />

durch die Zähne. Später am Abend dann <strong>der</strong> „richtig gute Sex“. Mit<br />

dem Mann an <strong>der</strong> Tür. O<strong>der</strong> dem DJ. Wenn er hot war, also auch<br />

schwarz.<br />

Solche Geschichten sind eher etwas für jüngere Leute. Es tut mir<br />

leid, dass sie ausgerechnet mir erzählt wurden. Wie gerne würde<br />

ich sie einfach vergessen. Und an diese rührende Frau M<strong>um</strong>in mit<br />

<strong>der</strong> Handtasche denken, denn das war Judith Bröhl in Wirklichkeit,<br />

und in einem an<strong>der</strong>en Leben wäre sie als Trude Herr auf die Welt<br />

226


gekommen, jung, rheinisch, ein wenig füllig, ein wenig zu redselig,<br />

und mit einem goldenen Herzen ausgestattet. Vielleicht hat auch<br />

Trude Herr in acht Wochen mit mehr Männern geschlafen als eine<br />

anständige Hamburgerin in achtzig Jahren. Aber es war wenigstens<br />

nicht das Zeitalter <strong>der</strong> Pornografie. Es blieb unter dem Teppich.<br />

Judith Bröhl kehrte immer alles hervor. Der Schmutz wirbelte<br />

ständig durch alle Ecken und Rä<strong>um</strong>e, landete auf dem Teller, in <strong>der</strong><br />

Kaffeetasse, auf Hemd und Mantel, auf Kragen und Taschentuch.<br />

Man konnte gar nicht soviel Niesen und Kotzen, wie neuer<br />

Schmutz nachgewirbelt wurde. Ein aussichtsloser Kampf. Und<br />

natürlich auch jetzt wie<strong>der</strong>. Als ich Judith irgendwann endlich an<br />

den Apparat kriegte, konnte sie nicht sprechen, weil sie bis sieben<br />

Uhr morgens Überdosen von Koks geschnupft hatte, mit einer<br />

fremden D<strong>um</strong>pfbacke von Amerikaner, den sie gerade<br />

kennengelernt hatte. Sie war so voll, dass sie noch nicht einmal<br />

sagen konnte, wie gut ihr „wirklich guter Sex“ gewesen war. Es<br />

gelang mir nicht, wenigstens ihre Adresse rauszukriegen. Hatte sie<br />

keine mehr? Deswegen war ich doch gekommen.<br />

Ich mußte z<strong>um</strong> Weih<strong>nachts</strong>fest <strong>der</strong> Gettys und Judith ihrem<br />

Schicksal überlassen. Das tat mir leid, denn es gibt doch nichts<br />

Schöneres, als einen Menschen zu „retten“, noch dazu einen<br />

jungen Menschen, eine schöne Frau sogar. Denn Judith war, was<br />

man bei ihren vielen extremen Eigenschaften schnell<br />

vernachlässigte, gut gebaut und hatte ein schönes Gesicht. Und<br />

auch wenn sie einen vulgären Sprachschatz hatte, war sie <strong>der</strong><br />

eloquenteste Mensch, mit dem ich verkehrte. Sie war eine<br />

begnadete Geschichtenerzählerin, was daran lag, dass sie beim<br />

Erzählen DACHTE. Es war, als hätte sie jedes zu berichtende Detail<br />

bereits klar vor Augen, während sie über die optimale<br />

Ausdrucksform und Erzählweise nachdachte. Sie rief keine<br />

Erinnerungssätze ab, wie das an<strong>der</strong>e Geschichtenerzähler tun,<br />

son<strong>der</strong>n Roh-Informationen, und die kleidete sie neu ein, in immer<br />

bessere, passen<strong>der</strong>e, plausiblere, hörerfreundlichere Sätze und<br />

Diskurse. Auch baute sie stets Spannungsbögen auf, mittlere und<br />

größere, und immer bezogen sich spätere Sätze auf solche, mit<br />

denen sie Minuten vorher den Spannungsaufbau begonnen hatte.<br />

Es ist schwer zu vermitteln, aber Judith Bröhl war ein grosses<br />

Naturtalent im Erzählen und wußte es nicht. Es wußte auch sonst<br />

227


keiner, weil sie mit ihrer Rabulistik auch den Wohlmeinendsten<br />

verschreckte.<br />

Elias fuhr uns mit seinem geliehenen Getty-Bentley die Serpentinen<br />

hoch. Obwohl das Auto den größten Komfort bietet und gut für<br />

die Krönungsmesse <strong>der</strong> Queen passen würde, fuhr Elias so schnell,<br />

dass mir schlecht wurde. Ich mußte an meinen Bru<strong>der</strong> denken, <strong>der</strong><br />

als Kind die „Autokrankheit“ hatte und sich oft übergeben mußte.<br />

Ich hatte ihn dafür verachtet. Späte Reue überkam mich jetzt, da<br />

es mir ebenso erging. Elias fuhr natürlich nur des<strong>halb</strong> so schnell,<br />

weil er bekifft war und dadurch so infantil, dass er seiner Freundin<br />

einen Schreck einjagen wollte. Das fand er in seinem Zustand<br />

lustig. Und er wäre ja auch nicht <strong>der</strong> erste Getty gewesen, <strong>der</strong> sich<br />

auf diese Weise das Genick brach. Aber ob er damit wirklich das<br />

Herz seiner Angebetenen gewann? Die wollte nicht sterben,<br />

jedenfalls nicht ohne einen Haufen islamistischer Terroristen mit in<br />

den Tod zu reißen. Wenn schon sterben, dann bitte sinnvoll. Und<br />

dieser bekiffte Affe wollte ihr heute einen unendlich teuren Ring<br />

schenken... mir graute schon vor <strong>der</strong> Szene! Außerdem hatte ich<br />

Angst vor dem ganzen Tag. Nicht daß ich Angst vor den Gettys<br />

gehabt hätte, den reichsten Menschen des Univers<strong>um</strong>s, denn das<br />

war ja Familie. Aber ich hatte Angst vor Weihnachten an sich.<br />

Doch bevor ich darüber weiter nachdenken konnte, passierte<br />

etwas, das mir WIRKLICH Angst machte. <strong>Mein</strong> Chef rief an. <strong>Auf</strong><br />

Eliass Handy. Keine Ahnung, wie er DIE N<strong>um</strong>mer recherchiert hatte.<br />

Naja, das war eben DER SPIEGEL. Sie kriegten alles raus. Die letzte<br />

verbliebene Geheimmacht, seitdem es den KGB nicht mehr gab.<br />

„Was macht die K<strong>um</strong>mer Geschichte?!“ hörte ich den Alten<br />

schreien. Matthias Matussek. Wir waren zusammen zur Schule<br />

gegangen, er erst zwei Klassen über mir, am Ende machten wir<br />

zusammen Abitur. Jetzt war er wie<strong>der</strong> zwei Klassen über mir. Das<br />

Leben war kurz, ich mußte mich beeilen, ihn wie<strong>der</strong> einzuholen.<br />

„Alles in Butter, Matthias! Habe dem verdammten Bor<strong>der</strong>liner<br />

schon... äh, auf die Mailbox gesprochen...“<br />

„<strong>Auf</strong> die MAILBOX?! Bist Du nuts?! Du hast ihn NICHT getroffen?“<br />

„Doch! Nein, noch nicht! Aber bald! Ich weiß, wo er wohnt. Er hat<br />

meine Nachricht erhalten.“<br />

Elias nestelte an dem Handy her<strong>um</strong>. Er wollte es mir wegnehmen.<br />

Das sei doch viel zu teuer, fluchte er, diese Gespräche aus<br />

228


Deutschland würden von seiner Rechnung abgezogen. Ich<br />

<strong>um</strong>klammerte das Handy, konnte mich nicht konzentrieren. Der<br />

bekiffte Neffe fuhr ungebremst weiter seine Vollgas-Schleifen.<br />

Matussek hatte aufgelegt. Wir erreichten das Getty Anwesen.<br />

Überall hatten sich private Security Typen mit Sturmgewehren in<br />

die Hills eingegraben. Sie hatten ihre Laufgräben und allerlei<br />

Hilfsmittel, z<strong>um</strong> Beispiel Hunde, Kameras, Elektrozäune, Mauern,<br />

aber ich wußte, dass Karolyn mit ihrem mannshohen<br />

Maschinengewehr alle Hin<strong>der</strong>nisse weggeblasen hätte wie im<br />

schlechten James-Bond-Film, wenn sie es gewollt hätte. Ich mußte<br />

Maxim Biller fragen, was er von dem Foto hielt.<br />

Wir gingen hinein. Ein Plastik-Weih<strong>nachts</strong>ba<strong>um</strong> mit blauen Kugeln<br />

und kleinen bläulichen Elektrokerzen stand nahe <strong>der</strong> Eingangstür.<br />

Ein paar Typen in alten T-Shirts und schmutzigen Arbeitshosen,<br />

also so verbeulte Jeans aus dem Bootsschuppen, schlurften<br />

her<strong>um</strong>. Das waren die Gettys. Ich merkte bald, dass sie sich ALLE<br />

auf „arm“ verkleidet hatten. Sie litten ja ihr ganzes Leben lang<br />

darunter, so unverdient reich zu sein. Uncle Scrooge alias<br />

Dagobert Duck alias Paul Getty I hatte die Ölmilliarden gemacht,<br />

und seitdem nahm <strong>der</strong> Geldfluß kein Ende. Bekanntlich hatte <strong>der</strong><br />

Disney Zeichner Carl Barx tatsächlich den geizigen wie schrulligen<br />

Öl-Tycoon als Vorlage für seine Comic-Ente genommen. Diese<br />

Information finde ich wirklich nett, ja großartig, aber die Gettys<br />

werden dabei <strong>eins</strong>ilbig. Ihnen paßt das nicht. H<strong>um</strong>or ist nicht ihre<br />

Sache, sie sind ja auch keine Juden, son<strong>der</strong>n das ziemliche<br />

Gegenteil.<br />

Die Bescherung begann nicht, son<strong>der</strong>n war den ganzen Tag im<br />

Gang. Sie fand schon statt, als wir kamen, und dauerte noch an,<br />

als wir neun Stunden später gingen. Es gab einfach zu viele Kin<strong>der</strong><br />

und zu viele Geschenke. Irgendwie hatte sich das Geld einfach<br />

Bahn gebrochen. Die Dollars waren wohl landesweit in die<br />

Spielzeugabteilungen <strong>der</strong> Kaufhäuser geflossen, und nun hörte <strong>der</strong><br />

Segen partout nicht auf.<br />

Ich fühlte mich lange Zeit durchaus wohl. Aber dann verschwand<br />

Elias, weil er den nächsten Joint brauchte und bei den Gettys nicht<br />

rauchen durfte. Er fuhr mit dem Bentley Arnage R weg. Karolyn<br />

und ich saßen fest. Ich fragte sicherheits<strong>halb</strong>er nach, ob er ihr den<br />

Verlobungsring gegeben hätte. Sie bejahte und warf dabei voller<br />

229


Wi<strong>der</strong>willen den Kopf zur Seite. Ich dachte nun, es habe eine<br />

schlimme Szene gegeben, und Elias sei geflüchtet. Um allein zu<br />

sein, <strong>um</strong> noch mehr Drogen o<strong>der</strong> gar sich das Leben zu nehmen.<br />

Auch Karolyn machte sich Sorgen. Ich hatte sie angesteckt. Beide<br />

begannen wir ihn zu suchen.<br />

Als wir ihn nicht fanden, auch nicht mit dem Fernglas, auch nicht<br />

bei an<strong>der</strong>en, redeten wir über ihn. Wir führten unser erstes<br />

ernsthaftes Gespräch. Sie packte schonungslos alles aus. Er würde<br />

nicht respektieren, dass sie von ihm nicht angefaßt werden wolle.<br />

Er würde sie ständig weiter betatschen. Andauernd stehe er hinter<br />

ihr und drücke schmatzend Küsse auf ihren Rücken. Schon <strong>der</strong><br />

Gedanke daran mache sie rasend. Sie habe keinerlei erotische<br />

Gefühle ihm gegenüber und werde sie auch nie haben. Sie<br />

schüttelte sich wirklich, als sie das sagte.<br />

„Aber heute ist Weihnachten. Ich bitte Dich dar<strong>um</strong>, nur dieses eine<br />

Mal Gnade vor Recht ergehen zu lassen.“<br />

„Was?“<br />

„Laß es heute nicht häßlich werden. Nur heute. Morgen gern, aber<br />

heute nicht. Nur dies eine Mal. Ich BITTE Dich.“<br />

„Ich... äh, was?!“<br />

„Weißt Du, ich kenne Elias seit er auf <strong>der</strong> Welt ist. Ich war bei <strong>der</strong><br />

Geburt dabei. Was er mit Dir hat, hat er hun<strong>der</strong>tmal mit an<strong>der</strong>en<br />

gemacht und erlebt und erlitten. Alles, was ich einmal erleben will,<br />

ist, dass es einmal, wirklich EINMAL, zu etwas kommt, was ich<br />

„Wunscherfüllung“ nennen würde.“<br />

„Häh? Du willst doch nicht... ich bin doch nicht sein<br />

Kin<strong>der</strong>mädchen!“<br />

„Kin<strong>der</strong>mädchen? Wie kommt Du darauf... nein. Ich meine, Du<br />

könntest einfach EINMAL über Deinen Schatten springen. Das hat<br />

noch keine vorher geschafft. Nur für diesen einen Tag. Einmal nett<br />

sein, obwohl Dir nicht danach z<strong>um</strong>ute ist.“<br />

„Ich will aber nicht!“<br />

„Das meine ich doch. Du willst nicht – und tust es doch. Das wäre<br />

einfach das Wun<strong>der</strong> schlechthin. Das Weih<strong>nachts</strong>wun<strong>der</strong>.“<br />

„Ich will das nicht!“<br />

Ich sah, das Balthazar Getty auf uns zuging. Es war ihm nicht<br />

entgangen, dass ich mit <strong>der</strong> Verlobten seines Cousins so lange und<br />

intim geredet hatte. Das gefiel ihm nicht. Die Gettys waren<br />

230


archaische Typen. Ich hatte nur noch wenige Sekunden und<br />

flüsterte rasch:<br />

„Schlaf mit ihm, machs einfach, vertrau mir.“<br />

Sie starrte mich an, als hätte sie das Maschinengewehr gerade für<br />

neue Zwecke bereitstellen wollen. Bevor sie losschreien konnte,<br />

war Balthy bei uns und sprach sie an. Ich entfernte mich lautlos.<br />

Ich brachte bald in Erfahrung, daß Elias auf dem Handy erreicht<br />

worden war und auf dem Weg zurück war. Ich atmete auf. Wenig<br />

später sah ich ihn schlafend auf einem Sofa neben dem Pool. Er<br />

wachte <strong>halb</strong> auf und sagte, er habe einen Joint geraucht. Es war<br />

wohl sein zehnter an diesem noch jungen Tag. Aber so waren sie,<br />

die jungen Leute. Irgendwann kommt je<strong>der</strong> mal in die Pubertät.<br />

Das Geschenke Auspacken war nicht die Hauptbeschäftigung <strong>der</strong><br />

Leute. Meistens saßen sie zu dritt, zu viert her<strong>um</strong> und plau<strong>der</strong>ten<br />

unaufgeregt ein paar Minuten, o<strong>der</strong> schwiegen. Der Ausblick war<br />

so schön, dass man gut schweigen konnte, und die Luft erschien<br />

an dem Tag so klar, daß man <strong>halb</strong> Kalifornien und weite Teile des<br />

Pazifik sehen konnte, bis weit an den Meerespiegel am Horizont,<br />

hier vom höchsten Punkt <strong>der</strong> Hollywood Hills aus. Man sah im<br />

Prinzip jedes Haus, jeden <strong>der</strong> verschiedenen Stadtteile von Los<br />

Angeles, man sah startende Flugzeuge und sogar Schiffe auf dem<br />

Ozean, jedes einzelne kristallin klar und deutlich.<br />

Dann dunkelte es, und die Myriaden von Lichtern gingen an, alle<br />

seltsam funkelnd, als bewegten sie sich. Dieses Bild kennt man<br />

freilich aus unzähligen Hollywoodfilmen, sodaß ich davon weniger<br />

fasziniert war. Mit den meisten Gettys hatte ich inzwischen<br />

konversiert, und ich wollte gehen. Auch Karolyn, die die meiste<br />

Zeit mit den zahllosen Kin<strong>der</strong>n gespielt hatte, wollte gehen. Aber<br />

Elias bestand darauf zu bleiben. Erst müsse man das Ende <strong>der</strong><br />

Bescherung abwarten.<br />

Nach und nach gingen die Leute. Irgendwann wurde aus Versehen<br />

ein Weih<strong>nachts</strong>lied gespielt, aber nur, weil <strong>der</strong> Hausherr – nämlich<br />

Balthazar – ein Stück von Depeche Mode mit einem Weih<strong>nachts</strong>lied<br />

verwechselt hatte. Alle Speisen wurden von Bediensteten gebracht<br />

und wie<strong>der</strong> abgerä<strong>um</strong>t. Je<strong>der</strong> konnte essen, was und wann er<br />

wollte. Nie saßen alle an einem Tisch. Man verkrümelte sich auf<br />

dem großen Anwesen, zu dem vier Häuser, eine Terrasse mit<br />

Aussicht wie auf dem Berghof, ein Pool, ein langgestreckter<br />

231


Garten, kleine Plätze, Garagen, Pingpong-Platten, Basketballkörbe<br />

und stille verträ<strong>um</strong>te Ecken für Liebespaare gehörten. Und die<br />

Sonne brannte ohne Ozonschicht auf die ungeschützte Haut. Ich<br />

war schon seit dem Frühstück im Country Store so braun wie Louis<br />

Trenker nach neunzig Drehtagen von „Der Berg ruft“.<br />

Aber allmählich wurde es ungemütlich, weil alle gingen, nur wir<br />

nicht. Elias hatte nun doch einen Joint im Gartenhaus geraucht und<br />

legte sich wie<strong>der</strong> z<strong>um</strong> Schlafen mitten ins Wohnzimmer, direkt<br />

neben den Plastik-Weih<strong>nachts</strong>ba<strong>um</strong>. Ich bemühte mich verzweifelt,<br />

weiter die Konversation am Laufen zu halten. Worüber sollte ich<br />

palavern, wenn nicht über Weihnachten?<br />

„German Christmas, you know, is quite different to yours. It is<br />

much more beautiful, or shall I say, more soulful. Yes, that is it: we<br />

have more SOUL in our Christmas.“<br />

„You call it christmas too in Germany?“<br />

„Oh no! Wie say DEUTSCHE WEIHNACHT. We don’t have plastik<br />

trees. We habe more taste in all that.“<br />

<strong>Mein</strong> Englisch war zu schlecht, <strong>um</strong> das Thema vertiefen zu können.<br />

Aber natürlich hatte ich recht. Als Kulturvolk waren wir diesen<br />

Banausen überlegen. Selbst ein einfacher deutscher Beamter<br />

zelebrierte ein stimmungsvolleres Weih<strong>nachts</strong>fest in seinem<br />

bescheidenen Haus als diese Elite <strong>der</strong> US-Bevölkerung. Das mußte<br />

ich dem Chef sagen, wenn er wie<strong>der</strong> mitten im Festtagsgeschehen<br />

anrief. Das mochte er. Also wenn ich sagte, dass ich an Heilig‘<br />

Abend an die Heimat denken mußte. Und zwar wehmütig. Ich<br />

überlegte, wie ich es am besten formulierte. Es mußte natürlich<br />

spontan klingen, wie ein ungewollter Ausbruch:<br />

„Matthias, Heinrich Heine hatte ja so recht. Wie schön wir es in<br />

unserem Vaterlande haben – <strong>um</strong> ganz bewußt seine Worte zu<br />

gebrauchen – merkt man erst, wenn man es nicht mehr hat: die<br />

deutsche Tanne, die Kerzen, das Lametta...“<br />

Klang das authentisch? Nein, ich mußte eine zeitgemäße,<br />

unverdächtig poppige Form finden.<br />

„Alter, Germany rules okay! Du weißt, ich sag sowas sonst nich,<br />

aber hier Weihnachten zu feiern, das is ja SOWAS von ätzend,<br />

weißt Du, mit diesem Ami-Pack...“<br />

Es stimmte ja, die Amerikaner lasen keine Bücher. Das Fernsehen<br />

war grauenvoll. Als wir später ins Hotel zogen und Fernsehen<br />

232


guckten, erschrak ich über – kein Scherz – hun<strong>der</strong>t Programme, die<br />

alle das gleiche zeigten. Wetterberichte, Kochsendungen,<br />

unterirdisch schlechte fünftklassige Soaps, Autowerbung mit<br />

überdrehten Stimmen.<br />

Ich hatte mein Thema gefunden und nervte die verbliebenen<br />

Gastgeber damit. Irgendwann riß Balthazar Getty <strong>der</strong><br />

Geduldsfaden.<br />

„Where is Sevi?“ fragte er.<br />

„Oh, he is sleeping near the tannenba<strong>um</strong>, I guess.“<br />

Dem Mann schoß <strong>der</strong> Zorn ins Gesicht. Er stapfte unverhohlen<br />

wütend ins an<strong>der</strong>e Zimmer und schüttelte den schlafenden Jungen.<br />

Wir flogen hochkantig raus. Peinlich, aber wahr.<br />

Wie<strong>der</strong> in unserem Gäste-Domizil, setzte ich durch, dass endlich<br />

Judith Bröhl angerufen wurde. Ich erwartete, dass Karolyn endlich<br />

Sevi entjungferte, und dazu war es notwendig o<strong>der</strong> dienlich, dass<br />

ich selbst nicht störte, son<strong>der</strong>n in ähnlicher Weise beschäftigt war.<br />

Außerdem wollte ich endlich wie<strong>der</strong> reden, wie mir <strong>der</strong> Schnabel<br />

gewachsen war. Und nicht mehr alleine sein <strong>nachts</strong>. Und<br />

überhaupt. Schluß mit dem Getty Spuk! Nicht mehr diesen<br />

Haschischgeruch in <strong>der</strong> Nase haben!<br />

Ich sprach mit Judith. Aber sie war bei ihrem Ex-Liebhaber wie<strong>der</strong><br />

eingezogen, und die neue Geliebte war irgendwie nicht mehr so<br />

richtig aktuell, und <strong>der</strong> Geliebte sei so total fix und fertig, er wolle<br />

sich jetzt än<strong>der</strong>n, und er habe gerade eine Überdosis Kokain<br />

genommen und Judith müsse auf ihn aufpassen, er sei ja auch<br />

schon über 50 und habe es mit dem Herzen...<br />

„Dann reden wir morgen weiter.“ Ich legte auf.<br />

Das waren ja schöne Nachrichten. Aber z<strong>um</strong> Glück war ich so<br />

erschöpft von <strong>der</strong> Endlos-Bescherung, daß ich keine Mühe hatte,<br />

einfach den Tag zu beenden und mich nicht mehr zu ärgern. Elias<br />

baute noch einen Joint, aber das wartete ich gar nicht mehr ab.<br />

Karolyn warf mir wie<strong>der</strong> diesen viel zu langsamen Handkuß zu, ich<br />

zwinkerte ihr verschwörerisch zu („tu es!“), und das war es dann.<br />

„Schönen Beischlaf noch!“ wollte ich sagen, vermied es aber. Ich<br />

kann manchmal so richtig verantwortungsvoll sein...<br />

So kam <strong>der</strong> 26. Dezember des Jahres 2006. Es war <strong>der</strong> Tag, an<br />

dem endlich Judith zu mir stieß – und natürlich blieb. Wenigstens<br />

dieser Teil des Reisezieles wurde erreicht. Aber wie! Wir mußten<br />

233


sechsmal Judith anrufen, und immer war sie meschugge,<br />

eingeschlafen, ausnüchternd, womöglich mit Extremsex<br />

beschäftigt, wie<strong>der</strong> koksend, beleidigt, wie<strong>der</strong> eingeschlafen, im<br />

Streit mit dem Ex- und Neu-Liebhaber, wer wußte es schon. Wir<br />

fuhren zu <strong>der</strong> Adresse, die wir mühsam herausgekriegt hatten.<br />

Dort warteten wir einen <strong>halb</strong>en Tag, weil Judith nicht in die<br />

Puschen kam, immer wie<strong>der</strong> <strong>eins</strong>chlief, plötzlich beleidigt war, o<strong>der</strong><br />

unsere Klingel nicht hörte.<br />

Endlich kam sie herausgestolpert, mit drei Tonnen Koffern voller<br />

Dinge, die FRAUEN immer mit sich führen auf Reisen. Ich packte<br />

den ganzen Krempel in den Bentley und stopfte Judith hinterher.<br />

Elias drehte noch einen Joint und fuhr dann ab. Judith war in<br />

wahnsinnig schlechter Verfassung, richtig abgefuckt und mental<br />

zerstört. Pausenlos startete sie Angriffswellen gegen mich, <strong>der</strong> ich<br />

sie so lange hätte sitzenlassen.<br />

Lei<strong>der</strong> stimmte das sogar zu einem hohen Grad. Zu den Gettys<br />

hätte ich sie wirklich nicht mitnehmen wollen. Und Eliass<br />

wie<strong>der</strong>holte Weigerung, Judith Bröhl zu kontaktieren, hatte ich<br />

feige geschehen lassen. Das war MEINE Verantwortung. Ich wußte<br />

es und liess die Angriffe laufen. Ich verzichtete darauf, mich zu<br />

verteidigen. Judiths Sprache war allerdings so <strong>der</strong>be und verroht<br />

wie schon lange nicht mehr. Was wohl die junge Israelitin von<br />

dieser Vorstellung hielt? Aber ich hatte sie vorgewarnt. Auch Elias<br />

dürfte angedeutet haben, dass es gleich zugehen würde wie bei<br />

Hempels unterm Sofa. Vor allem das Lispeln war stärker geworden.<br />

Wir sahen eine dieser unsäglich schlechten Comedy-Sendungen auf<br />

RTL2, so kam es uns vor. Am schlimmsten war es, wenn sie das<br />

Wort „verpisst“ sagte, und es gab nicht einen einzigen Satz, <strong>der</strong><br />

ohne dieses Wort auskam...<br />

Judith stammte übrigens gar nicht aus einer Unterschichtsfamilie.<br />

Die Erklärung war viel grauenvoller. Sie hielt sich seit ihrem 13.<br />

Lebensjahr in Hiphop Kreisen auf. Das hatte sie geprägt. Sie<br />

konnte wohl immer schon ziemlich gut Englisch – ohne Zweifel ist<br />

sie sehr sprachbegabt – und hatte das Geschimpfe <strong>der</strong> schwarzen<br />

Verbrecher etwas zu wörtlich genommen und sogleich<br />

eingedeutscht. Die Eltern hatten frühzeitig aufgegeben. Aber diese<br />

Geschichte sollen an<strong>der</strong>e erzählen.<br />

234


Ich war froh, das Haus des angeblichen Filmproduzenten weit<br />

hinter uns zu lassen. Die Bruchbude in <strong>der</strong> Ungegend war so wenig<br />

die Villa eines Filmproduzenten wie <strong>der</strong> Bewohner selbst ein<br />

Filmproduzent sein konnte. Ich wußte, dass Judith nie wie<strong>der</strong> diese<br />

Hütte betreten würde. Und auch das Kokain wollte ich ihr nun<br />

austreiben, und zwar gnadenlos. Nur den Extremsex durfte sie<br />

behalten, weil ich mir sowieso nichts darunter vorstellen konnte.<br />

Wenn Judith Extremsex betrieb, dann machte meine Zahnbürste<br />

<strong>nachts</strong> heimlich Teak won do. Das konnte ich jedenfalls genauso<br />

behaupten. Es gab für nichts Beweise.<br />

Wir fuhren mit dem zwei Tonnen schweren fabrikneuen<br />

goldfarbenen Bentley Arnage R zurück nach Hollywood, wozu wir<br />

mehr als eine Stunde brauchten. Das Auto war gepanzert, selbst<br />

die Scheiben bestanden aus zentimeterdicken Panzerglas. Das war<br />

nicht unwichtig. Wann immer Gangster in Kapuzenanoraks unser<br />

Auto stoppen und die Scheiben putzen wollten, gaben wir einfach<br />

Gas. Was sollten die armen Kerle tun? Die Kugeln ihrer<br />

Feuerwaffen, auf die sie so stolz waren, wären abgeprallt wie<br />

Wattekügelchen. Manchmal wurde es gefährlich, wenn Elias<br />

stoppen mußte, <strong>um</strong> einen Joint herzustellen. Aber wir hatten Glück<br />

und kamen durch.<br />

Judith sah schrecklich aus, <strong>um</strong> mindestens 15 Jahre gealtert. Und<br />

sie schimpfte weiter wie ein Rohrspatz. Aber eigentlich war sie<br />

erschöpft. Deswegen war ihre Sprache auch so<br />

heruntergekommen. Des<strong>halb</strong> mußten wir nur abwarten, bis sie von<br />

selbst ruhiger wurde und <strong>eins</strong>chlief.<br />

Wir brachten sie in ein neues Haus, in dem wir fortan wohnen<br />

sollten. Elias mit seinem feinen Gespür für Stil und Hierarchien,<br />

hatte beschlossen, dass eine Judith Bröhl nicht im Haus von Eileen<br />

Getty wohnen dürfe. Eileen, die Schwester von Paul Getty III, war<br />

viele hun<strong>der</strong>t Millionen Dollar schwer. Wir wurden nun in einem<br />

Nebenhaus von Andrew Getty untergebracht. Das war ein Sohn<br />

von Marc Getty. Marc Getty, Erfin<strong>der</strong> und Leiter von Getty Images,<br />

inzwischen auch ein Milliardenkonzern, war zwar de facto <strong>der</strong><br />

Clanchef geworden - nach dem Unfall seines älteren Bru<strong>der</strong>s Paul<br />

Getty III – aber hatte zu Andrew kein herzliches Verhältnis. Er<br />

liebte Alexan<strong>der</strong>, seinen jüngeren Sohn, und zwar deswegen, weil<br />

<strong>der</strong> auch viel netter war. Auch ich liebte Alexan<strong>der</strong> viel mehr und<br />

235


mißtraute Andrew. Am meisten liebte Karolyn Alexan<strong>der</strong> viel mehr,<br />

und als es mit Eliass <strong>Auf</strong>dringlichkeiten zu unerträglich wurde,<br />

schlief sie bei ihm. Er nutzte das nicht aus. Dies wird niemand<br />

verstehen können, <strong>der</strong> ihn nicht kennengelernt hat. Er war einfach<br />

<strong>der</strong>maßen nett, dass er sich in die nackte, duschende, badende,<br />

sich schminkende, fotomodellschlanke Karloyn NICHT verliebt hat,<br />

nicht in ihren langsamen Handkuß, nicht in ihr Stöhnen beim<br />

Einschlafen. Denn: er war doch Elias’ Freund.<br />

Nun also schliefen wir bei Andrew. Das Haus hatte er selbst nie<br />

betreten. Er hatte es für sich und seine Freundin gebaut, aber vor<br />

dem Einzug wechselte er die Freundin und baute für die ein<br />

an<strong>der</strong>es Haus. Dort wohnt er jetzt, bereitet sich aber innerlich<br />

schon auf die nächste Freundin und das nächste Haus vor. Andrew<br />

war in <strong>der</strong> Hierarchie des<strong>halb</strong> ziemlich weit unten, und so<br />

bedeutete unser Wohnungswechsel ein downgrading. Elias und<br />

seine Geliebte blieben bei Eileen.<br />

Ich tat nun etwas erstaunlich Vernünftiges. Vielleicht muß man<br />

mein Alter erreichen, <strong>um</strong> so vernünftig handeln zu können. Ich<br />

steckte Judith nämlich direkt ins Bett. Wir sahen eine Folge „Curb<br />

your enthusiasm“, wobei Judith selig <strong>eins</strong>chlief. Wie könnte man<br />

friedlicher gestimmt werden als durch Larry David? Und sie schlief<br />

20 Stunden lang durch.<br />

Danach ging es ihr schon besser. Wir hatten einen schönen Tag.<br />

Judith schimpfte zwar acht Stunden lang über Elias, <strong>der</strong> sie<br />

„verarscht“ hatte, aber ich hielt immer phantasievoll dagen, und<br />

allmählich wurde das Geschimpfe eloquenter, h<strong>um</strong>orvoller,<br />

geistreicher, und schlug <strong>um</strong> in Verständnis. Sie mochte nun Elias<br />

wie<strong>der</strong>, und mich auch. Wir hatten viel Spaß. Z<strong>um</strong> Glück hatten wir<br />

keinen Extremsex, da mir normaler Sex viel besser gefällt. Wir<br />

blieben den ganzen Tag zu Hause. Nur abends gingen wir ins Kino<br />

und sahen „Little Children“.<br />

Die nächsten Tage hätten phantastisch werden können, ja müssen<br />

– wenn mein <strong>Auf</strong>trag bezüglich Tom K<strong>um</strong>mer nicht gewesen wäre.<br />

Aber so ritt „ich mich immer mehr in die Scheiße“ (Judith), will<br />

sagen: verzweifelte ich bei <strong>der</strong> Suche nach dem Maniak. Einmal<br />

fuhr ich mit Elias einen vollen Nachmittag lang in die Wüste zu<br />

seinem Haus und wie<strong>der</strong> zurück. Wir klingelten Sturm, hörten<br />

Geräusche im Inneren, aber <strong>der</strong> „Arsch“ (Judith) machte einfach<br />

236


nicht auf. Dann wie<strong>der</strong> schalteten wir den Deutschen Holm Friebe<br />

ein, ein Genie aus Berlin, das im Ruf steht, JEDES Problem, das mit<br />

Medien zu tun hat, lösen zu können. Er sprach auch wirklich mit<br />

K<strong>um</strong>mer, brachte als Ausbeute aber per Saldo nur verschiedene<br />

Formen nervösen Freak-Gekichers mit, sauber aufgenommen auf<br />

einem MP3 Recor<strong>der</strong>. <strong>Mein</strong> Chef tobte. Ich hatte keine an<strong>der</strong>e<br />

Wahl, als ihm unaufgefor<strong>der</strong>t aber bewegt einen Text über das<br />

Heimatgefühl eines Deutschen in <strong>der</strong> Fremdheit Amerikas zu<br />

mailen. Ich war erschüttert über die Geistlosigkeit eines<br />

vermeintlichen Kulturvolkes, das das unsere in zwei Weltkriegen<br />

ungerechterweise geschlagen hatte!<br />

Während ich mit Elias Tom K<strong>um</strong>mer suchte, freundeten sich Judith<br />

und Karolyn ein bißchen an. Judith horchte Karolyn aus, was die<br />

Jungs über sie gesagt hatten, also Elias und ich. Karolyn,<br />

inzwischen mit dem Kiffmeister körperlich verbunden, schützte<br />

denselben natürlicherweise. Dagegen sagte sie über mich, ich<br />

hätte mich in gewisser Weise nicht nur positiv über Judiths<br />

Verhältnis zu Kokain und Extremsex geäußert.<br />

Judith tickte vollkommen aus.<br />

„Dieser Arsch! Erzählt den Gettys, ich sei eine koksende Schlampe!<br />

Das soll mir <strong>der</strong> verfickte Hurensohn büßen!“<br />

Als ich sie abends wie<strong>der</strong>sah, sprach sie nicht mehr mit mir. Sie<br />

erklärte lediglich, ich hätte sie bei den Gettys als Koks-Schlampe<br />

miesgemacht, und des<strong>halb</strong> werde sie nie wie<strong>der</strong> mit mir reden. Das<br />

war insofern ungerecht, als Elias tatsächlich die Geschichte mit<br />

dem koksenden Filmproduzenten weitererzählt hatte, nicht aber<br />

ich. Doch nun wurde Elias ihr Liebling, und <strong>der</strong> hatte plötzlich gar<br />

nichts dagegen. Auch Karolyn blieb wohlgelitten, ja avancierte zur<br />

besten Freundin. Zu dritt unternahmen sie nun viel und hatten<br />

endlich RICHTIG Spaß, während ich ausgestoßen wurde und ins<br />

Hotel wechselte. Ich erkannte sofort, dass dies überhaupt nichts<br />

mit Ungerechtigkeit zu tun hatte, son<strong>der</strong>n mit Vernunft. Die<br />

Interessen <strong>der</strong> drei paßten perfekt zueinan<strong>der</strong>.<br />

Karolyn konnte es ertragen, dass Elias „sie fickte“ (Judith), wenn<br />

er dabei nicht so hündisch und stalkermäßig auf sie fixiert war.<br />

Sogar den Brilliantenring <strong>der</strong> Gettys konnte sie so annehmen. Elias<br />

gefiel es, dass Judith ihn anschwärmte und mit Extremsex bekannt<br />

machte. Judith war froh, mit Hilfe Elias in Los Angeles<br />

237


Fuß zu fassen, <strong>der</strong> Welthauptstadt <strong>der</strong> Proletenkultur, also IHRER<br />

Kultur. Karolyn hatte eine Freundin gefunden, die ihr ermüdungslos<br />

lustige <strong>der</strong>be Geschichten erzählte, was besser war, als Tag und<br />

Nacht Klein-Elias sexuelles Gebettel anhören zu müssen. Elias<br />

konnte kiffen, ohne sich schlecht zu fühlen, denn kiffen war<br />

moralisch höherwertiger als koksen. Und Judith konnte koksen,<br />

ohne sich schlecht zu fühlen, denn koksen war deutlich weniger<br />

gaga als das endlose Gedampfe von Elias.<br />

Soweit, so schlecht, für mich. Und K<strong>um</strong>mer traf ich natürlich nun<br />

erst recht nicht mehr. Die Hotelrechnung ruinierte mich binnen<br />

Tagen. Sylvester kam, und ich verbrachte es allein in einem<br />

schäbigen Schwulenhotel. Es war das billigste in Hollywood, und<br />

woan<strong>der</strong>s wollte ich nicht hin. Nun war guter Rat teuer. Ich hoffte<br />

plötzlich etwas, was ich noch nie erhofft hatte, nämlich, dass MEIN<br />

CHEF mich endlich anriefe. Vielleicht konnte er mir weiterhelfen.<br />

Mich von dem „verfickten“ (Judith) Tom-K<strong>um</strong>mer-<strong>Auf</strong>trag<br />

befreien. Mir ein Rückflugticket klarmachen. Mich beim SPIEGEL<br />

z<strong>um</strong> Leiter <strong>der</strong> Dok<strong>um</strong>entation beför<strong>der</strong>n. Irgendwas. O<strong>der</strong> nur<br />

nett mit mir reden. O<strong>der</strong> mich anschreien. Was auch immer.<br />

Und so ging ich mit meinem letzten Geld in ein Internet Café und<br />

schrieb eine weitere Folge meiner Rührstory über das tolle<br />

Heimatgefühl und wie sentimental man als Deutscher im<br />

seelenlosen Kalifornien werde.<br />

Und es klappte wirklich. Unglaublich, aber er rief tatsächlich an.<br />

Der Chef! Matthias Matussek! Der kleine Spargeltyp, <strong>der</strong> mit seiner<br />

Brille keinen Ball richtig stoppen konnte. Er brüllte:<br />

„Das ist PHAN-TAS-TISCH, mein Lieber, was Du über Amerika<br />

schreibst! Weißt Du, was das ist?“<br />

„Nein?“<br />

„Patriotismus! Das ist deutscher Patriotismus, aber einer, den man<br />

sagen darf! Z<strong>um</strong> ersten Mal! Weil er über einen Umweg kommt!<br />

Weißt Du? Weil er nicht direkt losgeht, was ja verboten ist bei uns,<br />

weil das die Deppen ja für poltisch unkorrekt halten, son<strong>der</strong>n, ja,<br />

und das ist eben GENIAL!, weil er gegen Amerika geht und das<br />

gute Deutsche nur unsichtbar zwischen den Zeilen steht!“<br />

„Ah... ja, stimmt. Danke, Matthias. So hatte ich es auch gemeint.“<br />

„Siehst Du! Wir machen da was draus! Das ist genial!“<br />

„Ja, ja!“<br />

238


„Du mußt da unbedingt bleiben!“<br />

„Was?!“<br />

„Du mußt da DEIN Patriotismusbuch schreiben! So wie WIR<br />

DEUTSCHEN, mein Buch, Du weißt. Nur noch besser eigentlich, weil<br />

raffinierter. Das haut dann RICHTIG rein. Du schreibst NICHT EIN<br />

WORT über Deutschland, und trotzdem denkt je<strong>der</strong>: hurra, den<br />

nächsten Krieg gewinnen WIR! Haha... und ich sorg dafür, dass <strong>der</strong><br />

SPIEGEL das in die richtige Richtung drückt.“<br />

„Danke. Das ist... klasse.“<br />

„Hör zu, Jolo. Du bleibst ab sofort drüben. Den Vertrag mit dem<br />

SPIEGEL lösen wir z<strong>um</strong> 1.1.2007 auf. Und Du schreibst Dein Buch,<br />

das wird DEIN BABY, sage ich Dir.“<br />

„Ja.“<br />

„Also machs gut. Ich muß weitermachen, Sloterdejik wartet in <strong>der</strong><br />

Lobby auf mich. Ich freue mich, Jolo! Ich freue mich!“<br />

Er legte auf. Ich war gefeuert.<br />

In die Wüste bin ich dann doch noch gekommen, zu Tom K<strong>um</strong>mer.<br />

Aber nicht als Reporter. Eher so als eine Art Gast, was aber<br />

übertrieben ausgedrückt ist. Eher helfe ich ihm ein bißchen. Die<br />

Kin<strong>der</strong> brauchen Nachhilfe, es gibt da ja nichts.<br />

Und ich brauche ab und eine Büchse Bohnen.<br />

Fußnote<br />

USA – Sylvester mit Tom K<strong>um</strong>mer:<br />

Diese Geschichte war die einzige in <strong>der</strong> ganzen SPIEGEL-Zeit, in <strong>der</strong> ich meinen Freund<br />

Matthias Matussek vorkommen liess. Ich hatte das sonst immer vermieden, weil<br />

Matussek <strong>der</strong> letzte war, dem ich hätte schaden wollen. Allein <strong>der</strong> Terminus ‚Bor<strong>der</strong>line’<br />

war bekanntlich pures Gift in je<strong>der</strong> journalistischen Laufbahn, und ich wusste damals<br />

schon, dass mein Buch ‚<strong>Auf</strong> <strong>der</strong> Bor<strong>der</strong>line <strong>nachts</strong> <strong>um</strong> <strong>halb</strong> <strong>eins</strong>’ heissen würde. Mir<br />

schadete das nicht, denn ich war sowieso Schriftsteller. Aber Matthias war lupenreiner<br />

Faktenjournalist, übrigens auch ein mitreissen<strong>der</strong> Kulturchef („<strong>der</strong> beste, den<br />

Deutschland seit Heinrich Heine hatte“). Er kämpfte für jeden einzelnen Artikel von mir –<br />

immer gegen die ganze Fraktion <strong>der</strong> Orthodoxen. Aber ich wollte das alles nicht schil<strong>der</strong>n<br />

und tat es auch nicht; zu oft hatte ich schon erlebt, dass Lob von mir als ironisch<br />

missverstanden wurde. Ich sparte die Figur Matussek aus, nur hier machte ich eine<br />

Ausnahme, und zwar gerade deswegen, weil diese Stelle NICHT wahr ist, und auch klar<br />

als ausgedacht zu erkennen ist. O<strong>der</strong> z<strong>um</strong>indest als eindeutig NICHT GANZ wahr. Ich<br />

habe nicht auf <strong>der</strong> Farm von Tom K<strong>um</strong>mer als Erntehelfer gearbeitet, und Matthias<br />

Matussek hat mir nicht zu einem patriotischen Buch geraten, jedenfalls NICHT SO. Die<br />

Darstellung <strong>der</strong> Figur Judith Bröhls war auch mehr Literatur als Leben. Ich bin zwar mit<br />

239


einem trash girl (das an<strong>der</strong>s hieß) durch Hollywood gezogen, erkannte den Menschen<br />

hinter <strong>der</strong> zeitgemäßen Rolle aber erst nach dem ganzen (Horror-)Trip. Hinter <strong>der</strong><br />

brutalen fuckya!-Fassade steckte eine völlig unberührte, reine Seele, und ich musste an<br />

das alte Martin-Walser-Wort denken: ‚Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr’. Deswegen ist<br />

die Geschichte we<strong>der</strong> Literatur – denn die hätte beide Seiten zeigen müssen – noch<br />

Journalismus, denn dann hätten die Fakten stimmen müssen. Es ist Bor<strong>der</strong>line. Die<br />

einzige echte Bor<strong>der</strong>linegeschichte, dem Gegenstand angemessen: Tom K<strong>um</strong>mer.<br />

Gänzlich wahr ist jedoch die beschriebene Suche nach ihm, K<strong>um</strong>mer, und mein Scheitern<br />

dabei über Wochen und Monate. Ich sah ihn erst im Sommer 2007 – und zwar in Berlin.<br />

Er war ausserordentlich nett, und wir mochten uns. Ich merkte dabei, dass zu einem<br />

echten Bor<strong>der</strong>liner mehr gehört, als das, was ich machte. Im Vergleich zu Tom K<strong>um</strong>mer<br />

war ich ein ehrpusseliger Spiesser.<br />

39 Geburtstag mit Günter Wallraff<br />

Wallraff gehört zu den wenigen glücklichen Menschen, die früh<br />

berühmt waren und es dann gut sein liessen. Die aufhörten, als es<br />

am schönsten war. Die nochmal heirateten, nochmal eine Familie<br />

gründeten, und sich zehn o<strong>der</strong> gar 20 gute Jahre gönnten,<br />

unbehelligt, privat, reich. Die Jüngeren wissen gar nicht mehr, dass<br />

Wallraff eine ganze Generation lang den Status hatte, den Michael<br />

Moore später für wenige Jahre erobern konnte. Der aufrechte<br />

Enthüllungsjournalist, <strong>der</strong> sich verkleidet unter die Mächtigen,<br />

Bösen, Nazis und BILD-Macher mischte und ihr Unwesen beschrieb,<br />

ihre Schweinereien aufdeckte – und dafür gnadenlos verfolgt und<br />

geprügelt wurde. Indem er damit aufhörte, zeigte er nur, dass er<br />

kein Masochist ist. Es ging ihm <strong>um</strong> die Sache, und es war nur<br />

gerecht, dass irgendwann an<strong>der</strong>e seine Arbeit übernehmen mußten<br />

(was in Deutschland niemand tat). Er blieb ein singuläres<br />

Phänomen, aber er hat dieses Land verän<strong>der</strong>t. Jetzt, z<strong>um</strong> 65.<br />

Geburtstag, kommt er nochmal zurück. Er schlüpft wie<strong>der</strong> in<br />

Rollen, deckt auf, schreibt. Und gibt sogar ein Interview:<br />

240


FAS: Beginnen wir mit <strong>der</strong> Klischeefrage N<strong>um</strong>mer <strong>eins</strong> – wie halten<br />

Sie es mit George W. Bush?<br />

Wallraff: Das war ein fanatischer, kriegslüsterner, gefährlicher<br />

Mensch. Aber <strong>der</strong> würde den Krieg nicht nochmal führen.<br />

FAS: Er hat sich die Finger verbrannt?<br />

Wallraff: Um Präsident Bush zu verstehen, muß man „Der<br />

Untergang des römischen Reiches“ von Montesquieu aus dem<br />

Jahre 1732 lesen.<br />

FAS: Man spürt Ihre katholische Bildung. Sie sind im klerikalen Köln<br />

zur Schule gegangen?<br />

Wallraff: Ja, so war es wohl. Ich war armer Leute Kind und ein<br />

schlechter Schüler. Trotzdem bin ich im Gymnasi<strong>um</strong> niemals<br />

ausgegrenzt, diskriminiert o<strong>der</strong> gar von Mitschülern geschlagen<br />

worden. Nicht eine Sekunde. Das ist heute ganz an<strong>der</strong>s. In Schulen,<br />

in denen <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>anteil über 50 Prozent beträgt, werden<br />

deutsche Schüler gemobbt und gezwungen, sich bis zur<br />

Selbstverleugnung anzupassen.<br />

FAS: Rohe Gewalt herrscht sogar in <strong>der</strong> Grundschule. Eine<br />

befreundete Lehrerin berichtet, sobald sie sich <strong>um</strong>drehe, bissen<br />

sich Achtjährige hinter ihr blutig. Wie Kampfhunde.<br />

Wallraff: Ich sehe das zeitversetzt. Auch bei uns war Gewalt vor<br />

wenigen Generationen noch normal. Der Vater schlug den Sohn,<br />

nach dem Motto: ´Was mir nicht geschadet hat, wird auch dem<br />

Kleinen gut tun´.<br />

FAS: War<strong>um</strong> gab es dann keine dieser Exzesse in den Schulen?<br />

Man hat doch fast den Eindruck, dort ist inzwischen <strong>der</strong> Irak-Krieg<br />

ausgebrochen. Früher herrschte dort Ruhe.<br />

Wallraff: Die Ruhe vor dem Sturm. Die Weltkriege liessen nicht<br />

lange auf sich warten.<br />

FAS: Wegen <strong>der</strong> legendären ´einen Ohrfeige zur rechten Zeit, die<br />

noch keinem geschadet´ habe?<br />

Wallraff: Auch in <strong>der</strong> Lektüre sehe ich Parallelen. Als ich jetzt in<br />

<strong>der</strong> Ehrenfel<strong>der</strong> Moschee-Bücherei nur diese islamischen<br />

Traktätchen gefunden habe, mußte ich an meine katholische Pfarr-<br />

Bibliothek denken, wo es auch nur Heiligengeschichten gab. Und<br />

Karl May.<br />

FAS: Immerhin Karl May. Ein großer Pazifist.<br />

241


Wallraff: Ja, ich habe mich gleich mit den Indianern identifiziert.<br />

FAS: Zurück zur Politik. Wie stehen Sie zu Hillary Clinton?<br />

Wallraff: Der Rushdie kennt die ganz gut und hält grosse Stücke<br />

auf sie. Die war früher auch für den Krieg, aber sie hat mächtig<br />

dazugelernt.<br />

FAS: Wird sich das auf Deutschland auswirken?<br />

Wallraff: Noch haben wir eine Demokratie. Auch unsere<br />

Geheimdienste sind inzwischen demokratisch strukturiert. Ich<br />

erfahre es am eigenen Leib! Früher wurde ich verfolgt, abgehört,<br />

bespitzelt. Seitdem ich auf <strong>der</strong> Al-Kaida-Todesliste stehe, werde<br />

ich von denselben Typen beschützt. Nein, eigentlich nicht. Das<br />

sind ja nicht mehr die Schlapphüte von damals. Ganz an<strong>der</strong>e<br />

Persönlichkeitsstrukturen. Mit denen kann man sogar reden. Die<br />

haben richtig eine eigene <strong>Mein</strong>ung manchmal. Doch, ich mag die<br />

inzwischen!<br />

FAS: Und Schäuble?<br />

Wallraff: Ja, unsere Dienste sind jetzt demokratisch – aber muß<br />

das denn so bleiben? Was wissen wir denn, wie die Gesellschaft<br />

später sein wird? Die Gesetze haben wir dann alle schon<br />

vorbereitet. Der Datenschutz gilt schon lange nichts mehr. Und<br />

dann haben wir die science-fiction-Situation à la „1984“. Und<br />

´FOCUS´ ist so ein Organ, das dann sowas spielt, Leute zur<br />

Strecke bringt, und Springer vielleicht dann wie<strong>der</strong>...<br />

FAS: Schily hat damit angefangen...<br />

Wallraff: ...oh Gott, ja, Schily! Ich war vor kurzem mit Klaus Steack<br />

im Einstein verabredet, da sitzt mir plötzlich <strong>der</strong> Schily gegenüber.<br />

Ich hatte Hunger, wollte es mir schmecken lassen. Ich sagte zu<br />

Steack, ich muß mich <strong>um</strong>setzen, mir verdirbt das den Appetit, ich<br />

kann den Menschen nicht beim Essen sehen.<br />

FAS: Und hat es dann noch geschmeckt?<br />

Wallraff: Nicht wirklich. Hab das Zeug nur zur Hälfte runtergekriegt<br />

(schüttelt sich).<br />

FAS: Aber Schäuble ist noch schlimmer.<br />

Wallraff: Ja! Bei dem könnte ich mir typenmäßig gut vorstellen, wie<br />

er sich genüßlich die Lippen leckt, und die Augen dabei so<br />

durchgeknallt strahlen, felsenfest davon überzeugt, den göttlichen<br />

Willen zu vollstrecken: das gab es zuletzt in <strong>der</strong> Inquisition. Nur die<br />

Kutte fehlt noch.<br />

242


FAS: Schäuble will angeblich Flugzeuge abschiessen, die außer<br />

Kontrolle geraten sind.<br />

Wallraff: Davon gibt es 250 pro Jahr. O<strong>der</strong> denken sie an den<br />

armen Motorsegler in Frankfurt. Den hätten sie dann abgeknallt<br />

wie eine Tontaube.<br />

FAS: Und sich feiern lassen: seht her, <strong>der</strong> hätte ja auch in ein<br />

Atomkraftwerk fliegen können.<br />

Wallraff: Dabei ist er ganz friedlich gelandet.<br />

FAS: Auch Matthias Rust wäre wohl ka<strong>um</strong> bis z<strong>um</strong> Roten Platz<br />

gekommen.<br />

Wallraff: Wer war das doch gleich?<br />

FAS: Dieser Friedensaktivist, <strong>der</strong> Gorbatschov sprechen wollte. Wo<br />

werden Sie beschützt von den Anti-Terror-Kräften?<br />

Wallraff: Na, als erstes unterschrieb ich ein Papier, wonach ich<br />

niemals vom Staat o<strong>der</strong> von Privaten ein Lösegeld bezahlt<br />

bekommen möchte, im Entführungsfall. Dann fragten die nach<br />

meinen Gewohnheiten. Ich sagte, ich hätte keine. Ich habe keinen<br />

Stammtisch, gehe nicht z<strong>um</strong> Fußball...<br />

FAS: Nicht z<strong>um</strong> FC?<br />

Wallraff: Ich war da nur einmal, einem ausländischen Kollegen<br />

zuliebe, <strong>der</strong> wollte das sehen. Ich habe das ganze Spiel über die<br />

Mannschaften verwechselt.<br />

FAS: Sie wußten nicht, dass <strong>der</strong> FC in Weiss spielt?<br />

Wallraff: Nein.<br />

FAS: Und dass <strong>der</strong> Trainer Christoph Da<strong>um</strong> heißt?<br />

Wallraff: Wie heißt <strong>der</strong>?<br />

FAS: Und dass das Maskottchen ein Geißbock ist?!<br />

Wallraff: Doch, das weiß ich natürlich. Der kleine Geißbock, klar.<br />

Den fand ich gut, <strong>der</strong> hat sich für das Spiel ungefähr genauso<br />

interessiert wie ich.<br />

FAS: Wurden Sie wegen dieser Fußballfeindlichkeit niemals als<br />

schwul diskriminiert?<br />

Wallraff: Nein, ich bin ja nicht homosexuell. Nur mit Lesbierinnen<br />

habe ich manchmal ganz gern geschlafen. Die haben bei mir<br />

wirklich eine Ausnahme gemacht.<br />

FAS (ehrlich bewun<strong>der</strong>nd): Oh, respect, man...<br />

Wallraff: Schreiben Sie das bloß nicht.<br />

FAS: Und was sagt <strong>der</strong> Verfassungsschutz dazu?<br />

243


Wallraff: Man kriegt die Akten ja immer erst nach Ewigkeiten,<br />

nehme ich mal an. Einmal schlief ich mit einer Lesbierin in <strong>der</strong><br />

Nacht vor meiner ersten Begegnung mit Strauß. Da gab es aber<br />

keinen Zusammenhang. Obwohl ich manchmal glaubte, auch die<br />

westlichen Dienste hätten ´Romeos´ und ´Julias´ so wie die Stasi.<br />

Diese letzte Brandt-Frau, diese entsetzliche Brigitte Seebacher,<br />

hat den Mann ja regelrecht aus dem Verkehr gezogen.<br />

FAS: Mochten Sie Brandt?<br />

Wallraff: Ja, ich fand ihn menschlich. Ein großer, sehr menschlicher<br />

Mann – bis diese Frau ihn abschirmte und <strong>eins</strong>perrte.<br />

FAS: Sie meinen, die handelte im <strong>Auf</strong>trag <strong>der</strong> Deutschen Bank o<strong>der</strong><br />

sowas?<br />

Wallraff: Später hat sie den Vorstandsvorsitzenden <strong>der</strong> Deutschen<br />

Bank geheiratet – als Willy unter <strong>der</strong> Erde war.<br />

FAS: Also Sie hätten gern öfter mit Herrn Brandt Parties gefeiert?<br />

Wallraff: Nein, ich bin allergisch gegen Parties. Die ideale<br />

Gruppenstärke ist drei bis sechs Leute. Sind mehr im Ra<strong>um</strong>, fühle<br />

ich mich extrem unwohl. Ich fühle mich dann total verloren.<br />

FAS: Wie finden sie eigentlich diese vielen neokonservativen<br />

Erfolgsautoren wie Peter Hahne, Herrn Bueb aus Salem, Matthias<br />

Matussek vom SPIEGEL, Eva Hermann und so weiter?<br />

Wallraff: Bei Bueb denke ich, mit seinen For<strong>der</strong>ungen nach mehr<br />

Disziplin: <strong>der</strong> war als Kind bestimmt selbst Opfer von zuviel<br />

Strenge, Härte und Gewalt. Man kennt das ja von<br />

Mißbrauchsopfern, dass die dann selbst Mißbrauch an <strong>der</strong> nächsten<br />

Generation begehen. Bei Matussek fällt mir das Italien-Spiel ein. Die<br />

hatten ja solche Angst, Deutschland könne verlieren. Und taten es<br />

dann auch. Ich habe an dem Abend in einer Live-Sendung ganz<br />

ernst gesagt, die katholische Seelsorge habe eine Hotline<br />

eingerichtet, für Leute, die mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage nicht fertig würden<br />

und womöglich sogar dadurch suizidgefährdet seien. Daraufhin<br />

haben da wirklich ganz viele angerufen.<br />

FAS: Was hat das mit Matussek zu tun?<br />

Wallraff: Ach, die Sache mit den Fahnen. Ich sagte im Fernsehen,<br />

da gebe es jetzt ein Problem, nach <strong>der</strong> WM, wohin mit den<br />

Fahnen? Man könne die ja nicht lagern, das sei ja alles keine<br />

deutsche Wertarbeit, made in China, das zerbröselt ja. Aber da<br />

hätten sich jetzt z<strong>um</strong> Glück zwei Bannerträger <strong>der</strong> Nation bereit<br />

244


erklärt, nämlich Herr Professor Baring und Herr Matussek, an<br />

bevorzugten Plätzen <strong>der</strong> Nation mit ihrem Banner zu stehen; da<br />

könnten sich alle dahinter aufbauen und mit ihnen durch die Stadt<br />

ziehen. Wie<strong>der</strong> haben das Tausende ernst genommen.<br />

FAS: Sind Sie gar nicht stolz auf den neuen friedlichen<br />

Patriotismus?<br />

Wallraff: Ich höre im Ausland ja immer, wir hätten keinen<br />

Nationalstolz. Ich sage denen dann manchmal: da haben wir euch<br />

etwas voraus! Wir brauchen sowas gar nicht mehr. Wir haben den<br />

neuen Infantilismus. Das ist etwas Schönes, etwas Heiteres, dieses<br />

Fähnchenschwenken und so, prima! Das soll man bestärken. Sollen<br />

doch alle ihre Hütchen damit bestücken und so weiter.<br />

FAS: Wie sehen Sie die Entwicklung im Osten Deutschlands?<br />

Wallraff: Das wird ganz düster. Die jungen Frauen wan<strong>der</strong>n alle aus.<br />

Vergreisung tritt ein, es werden noch weniger Kin<strong>der</strong> geboren. In<br />

20 Jahren ist das da Steppe, von einigen ´Leuchtturm´-Gebieten<br />

einmal abgesehen.<br />

FAS: Ist die Finanzkrise eine Gefahr?<br />

Wallraff: Sehr sogar. So, wie die Soziologie nicht den<br />

Zusammenbruch des Sozialismus vorausgesagen konnte, wird uns<br />

auch niemand vorher warnen können, wenn <strong>der</strong> Kapitalismus eines<br />

Tages kracht. Und das wird kommen. Sowas wie <strong>der</strong> Crash von<br />

1929 wird, zehnmal schlimmer, irgendwann da sein, lei<strong>der</strong>.<br />

FAS: Sind Sie im Laufe dieser 65 Jahre klug geworden?<br />

Wallraff: Ich bin nicht klug geworden, son<strong>der</strong>n spontan geblieben.<br />

Ich mache alles aus <strong>der</strong> Situation heraus. Nur wenn ich spontan<br />

bin, bin ich gut. Ich glaube, ich habe kein Zeitgefühl.<br />

FAS: Haben Sie deswegen auch Auszeiten genommen?<br />

Wallraff: Na, ich war am Ende, in je<strong>der</strong> Hinsicht, psychisch,<br />

physisch...<br />

FAS: All die schrecklichen Prozesse, mit denen <strong>der</strong> Springer Verlag<br />

Sie überzog...<br />

Wallraff: Nee, das war vor allem körperlich. Die Knochen, alles war<br />

kaputt. Ich dachte schon, ich bin in meiner letzten Rolle, in <strong>der</strong><br />

Pflegeanstalt.<br />

FAS: Also hat das Imperi<strong>um</strong> des Bösen, die BILD Zeitung, Sie nicht<br />

geschafft?<br />

245


Wallraff: Im Gegenteil. Als ich vor kurzem in <strong>der</strong> WELT z<strong>um</strong><br />

erstenmal gelobt wurde, ist für mich fast eine (sic!) Welt<br />

zusammengebrochen. Z<strong>um</strong> Glück – das meine ich nicht ironisch –<br />

hat dann zwei Tage später <strong>der</strong> delirierende F.-J. Wagner in <strong>der</strong><br />

BILD Zeitung wie<strong>der</strong> solch einen Hammer gegen mich losgelassen,<br />

dass ich unerhört erleichtert war. Ehrlich! Es gibt Gegner, die will<br />

ich mir nicht nehmen lassen, <strong>um</strong> keinen Preis! Jedenfalls, solange<br />

sich da nichts Grundlegendes geän<strong>der</strong>t hat.<br />

FAS: Aber das Imperi<strong>um</strong> des Bösen hat doch...<br />

Wallraff: Ich nenne es übrigens nicht so. Das sind Menschen. Es<br />

gibt da gute und böse, wie überall.<br />

FAS: Gute Menschen bei BILD?<br />

Wallraff: Theoretisch ja.<br />

FAS: Hans-Herrmann Tiedje z<strong>um</strong> Beispiel?<br />

Wallraff: Ein befreundeter Kollege von mir, <strong>der</strong> psychisch sehr<br />

krank war, wurde von Tiedje einmal ein ganzes Jahr lang bekocht,<br />

betreut, aufgepäppelt – bis er wie<strong>der</strong> laufen konnte. Heute ist er<br />

erfolgreicher als Tiedje selbst.<br />

FAS: Wie wurden Sie selbst wie<strong>der</strong> gesund? Doch nicht durch<br />

Herrn Tiedje?<br />

Wallraff (lacht): Ich hatte Glück. Ich lernte im richtigen Augenblick<br />

den richtigen Menschen kennen.<br />

FAS: Ihre dritte Frau Barbara?<br />

Wallraff: Nein, einen Arzt. Er operierte mich, behandelte mich mit<br />

völlig neuen Methoden. Für mich war es eine Wie<strong>der</strong>geburt.<br />

FAS: Nun, so alt sind Sie ja gar nicht. Ihr jüngstes Kind geht noch<br />

in die Grundschule, Sie sind eher Papa als Opa.<br />

Wallraff: Eines ist seltsam – ich fühle mich jünger als manche<br />

meiner Kin<strong>der</strong>. Da stimmt etwas mit <strong>der</strong> Rolle nicht. Wir haben<br />

schon einen Kin<strong>der</strong>therapeuten eingeschaltet. Da muß man<br />

aufpassen.<br />

FAS: Freuen Sie sich auf die nächsten 20 Jahre? <strong>Auf</strong> den <strong>Auf</strong>stieg<br />

Chinas zur alleinigen Supermacht? <strong>Auf</strong> die Klimakatastrophe? Die<br />

explodierende Gewalt auch in deutschen Vorstädten?<br />

Wallraff: Ich kann mir immer nur höchstens die nächsten zwei<br />

Jahre vorstellen. Ich konnte mir noch vor einem Monat nicht<br />

vorstellen, dass ich meinen 65. erlebe – nun stehe ich kurz davor.<br />

Übrigens machen mir diese Eckdaten immer sehr zu schaffen.<br />

246


Schon mein 50. war unüberwindlich. Ich konnte mir nie vorstellen,<br />

50 zu werden, so <strong>der</strong>massen ALT! Da bin ich zu den Dritte-Welt-<br />

Asylbewerbern nach Rostock geflüchtet, habe mit denen mein<br />

Überleben gefeiert. Die wußten nichts davon, dass ich Geburtstag<br />

hatte.<br />

FAS: Sie feierten auf Suaheli?<br />

Wallraff: Kann sein. Diesmal habe ich mir vorgenommen, gerade<br />

noch rechtzeitig in die Rolle abzutauchen!<br />

FAS: Schade, dass Sie nicht verraten dürfen, welche geheime Rolle<br />

das diesmal ist.<br />

Wallraff: So ist es wohl. Aber den 66. will ich feiern, mit Menschen,<br />

die mir nahe sind und die ich liebe. Wer bestimmt eigentlich, dass<br />

wir immer die runden Zahlen feiern müssen. Eine ganze<br />

Gedenktage- und Erinnerungskultur speist sich daraus, das ganze<br />

Feuilleton ernährt sich davon – scheußlich!<br />

FAS: Diesmal sogar das Feuilleton <strong>der</strong> FAS... Glauben Sie an den<br />

Klimawandel?<br />

Wallraff: Es wachsen auch die rettenden Kräfte. Wir kommen durch<br />

das Internet in eine Weltgesellschaft hinein, in <strong>der</strong> alle alles wissen.<br />

Das Umweltbewußtsein steigt enorm, auch in den USA. Der<br />

Verbraucherschutz spielt dort schon eine größere Rolle als bei uns.<br />

Ich sehe große Chancen.<br />

FAS: Was wird aus dem Heiligen Krieg des Islam?<br />

Wallraff: Der Islam? (lacht) Ich sehe da nur ein letztes <strong>Auf</strong>bä<strong>um</strong>en.<br />

Ich glaube, in zwei Generationen ist <strong>der</strong> Spuk vorbei. Ich sehe in<br />

den islamischen Län<strong>der</strong>n keinerlei zukunftsweisende Ideen. We<strong>der</strong><br />

kulturell noch wirtschaftlich. Noch ist <strong>der</strong> politische Islam<br />

selbstverständlich ein riesiges Bedrohungspotential. Auch in <strong>der</strong><br />

Türkei. So sehr ich für den Moschee-Bau hier in Ehrenfeld bin,<br />

schon aus touristischen Gründen, also wenn die den Kölner Dom<br />

besuchen, können sie ruhig mal einen Abstecher nach Ehrenfeld<br />

machen, so bin ich doch gegen den inflationären Moschee-Bau in<br />

<strong>der</strong> Türkei selbst. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> da ein Pöstchen anstrebt, spendet<br />

erstmal eine Moschee, häßlichster Bauart, obwohl es schon so viele<br />

gibt. Ich sehe die Türkei als Gefahrenherd für Europa, auch<br />

militärisch, denn wenn sie nicht in die EU dürfen, wird die<br />

Islamisierung dramatisch fortschreiten. Die Bildungseliten werden<br />

schon jetzt weggefegt. Das Kopftuchverbot wurde aufgehoben,<br />

247


und wer jetzt kein Kopftuch trägt, kriegt Probleme mit den<br />

Studienplätzen und so weiter. Schon jetzt ist es so, dass Selektion<br />

in den Verwaltungsämtern stattfindet, wo dann die Islamisten<br />

reinkommen. Da ist schon schwer was im Gange.<br />

FAS: Was wird aus China?<br />

Wallraff: Wenn die USA als Weltmacht durch China abgelöst wird,<br />

was ja jetzt ersichtlich ist, ist das für die Menschheit nicht gerade<br />

von Vorteil. Dann gibt es eine Entindividualisierung, eine noch<br />

erbarmungslosere wirtschaftliche Kommerzialisierung.<br />

FAS: Alles in allem, wenn Sie zurückblicken: war es früher schöner?<br />

Wallraff: Es ist zu allen Zeiten schöner und schlechter zugleich als<br />

´früher´.<br />

FAS: An<strong>der</strong>s gefragt: Wären Sie heute gern 20 Jahre alt? Also<br />

lieber heute jung als damals, im verhaßten Adenauerstaat?<br />

Wallraff (sehr leise): Lieber damals jung.<br />

FAS: War doch gar nicht sooo übel, <strong>der</strong> Alte?<br />

Wallraff: Die fünfziger Jahre?<br />

FAS: Nein, <strong>der</strong> Alte aus Rhöndorf, Kanzler Adenauer.<br />

Wallraff: Jedenfalls nicht so übel wie Ahmedineschad!<br />

Fußnote:<br />

Günter Wallraff<br />

Dieses Interview machte ich für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung im Oktober<br />

2007. Dabei stellte sich heraus, dass Wallraff und ich nicht nur fast am selben Tag<br />

Geburtstag hatten, son<strong>der</strong>n beide ein Geburtstagstra<strong>um</strong>a mit uns her<strong>um</strong>schleppten. Wir<br />

hielten diesen Tag nicht aus. Wallraff hatte seinen letzten Geburtstag anonym bei<br />

Emigranten im Abschiebelager verbracht – wenn ich ihn richtig verstanden hatte – und<br />

ich hatte mich ebenfalls vor aller Welt versteckt, in einem Hotelzimmer in Südnorwegen.<br />

Wir sprachen über drei Stunden miteinan<strong>der</strong>, fanden das ausgedruckte (hier vorliegende)<br />

Ergebnis aber nicht so toll. Wir wollten uns lieber noch einmal in Köln treffen und es<br />

besser machen. So zog ich den Text zurück, obwohl er bereits unwi<strong>der</strong>ruflich auf <strong>der</strong><br />

Titelseite in grossen gelben (!) Lettern angekündigt wurde. Volker Wei<strong>der</strong>mann hat mir<br />

das nie verziehen. Aber mir war die beginnende Freundschaft mit dem netten Wallraff,<br />

natürlich prägendes Idol meiner Jugend, sehr wichtig.<br />

248


39 Die Reportage als Gegendarstellung: Eine Nacht mit <strong>Joachim</strong><br />

<strong>Lottmann</strong><br />

Er war <strong>der</strong> nette Hamburger. Schon am Telefon. Die Reportage - das<br />

"Feature" - sollte eine Ausgehnacht mit mir beschreiben, Titel: "Eine<br />

Nacht mit <strong>Joachim</strong> <strong>Lottmann</strong>". Wir trafen uns im Club Kurvenstar am<br />

Hackeschen Markt, wo ich ja auch wohnte.<br />

"Sie wohnen doch im Kurvenstar-.Haus, da müssen Sie nur die Treppe<br />

runterlaufen." Er hatte gut recherchiert, dieser Reporter. Nicht<br />

gut genug. Ich wohne inzwischen in Friedrichshain, für 99 Euro im Monat,<br />

und fahre gegebenenfalls mit dem Wartburg Tourist 353 Super nach Mitte.<br />

Ich erklärte es ihm und gab ihm den Tip, auf das Zweitaktgeräusch zu<br />

achten.<br />

Wenn er das höre, sei ich da. So war es auch. Er hörte das Geknatter und<br />

reckte den Kopf nach draußen. Ich ging kurz mit rein,schlug dann aber<br />

mvor, eine Runde zu cruisen. Es war erst 18 Uhr und noch nichts los im<br />

Club.<br />

"Mit dem Wartburg?!"<br />

"Ein fetter Schlitten, Mann. Die Bräute stehen drauf, du wirst sehen."<br />

In Wirklichkeit mußte ich einfach noch was erledigen, hatte zudem keine<br />

Lust auf ein Interview. Ich hasse Reporterfragen. Ich hasse mich, wenn<br />

ich darauf antworte. Ich erklärte es ihm:<br />

"Du kannst mich was fragen, aber keine Reporterfragen. Okeeh? <strong>Auf</strong><br />

Reporterfragen antworte ich nicht. Das hat nichts mit dir zu tun.<br />

So habe ich das schon gemacht, bevor ich Dich kennenlernte."<br />

Ich kannte ihn erst seit zwei Minuten. Es wurde Zeit, daß ich ihm ein paar<br />

Fragen stellte. Er musste noch zahlen.<br />

"Wo bist du geboren?"<br />

"In Rellingen bei Pinneberg."<br />

"Hast du Geschwister?"<br />

"Einen jüngeren Bru<strong>der</strong>."<br />

"Was machen deine Eltern, während du dich hier her<strong>um</strong>treibst?"<br />

"Beides Kaufleute."<br />

"<strong>Auf</strong> welche Schule bist du gegangen?"<br />

"Gymnasi<strong>um</strong> Halstenbek."<br />

"Welche Musik hörst du?"<br />

249


"Jazz. Ich spiele Klavier. Ich spiele Jazz auf dem Klavier, hab auch schon<br />

mal..."<br />

Ich winkte ab. Die Rechnung kam, wir mußten los. Ich fotografierte ihn<br />

noch schnell im Lokal. Dazu preßte ich die Kamera gegen eine Wand im<br />

Kurvenstar und betätigte den Selbstauslöser. Die Belichtungszeit war zwei<br />

Sekunden, <strong>der</strong> Junge mußte starr in die Kamera gucken.<br />

Es ging erstmal nach Friedrichshain, wo ich die Limousine in meiner<br />

Garage abstellte.<br />

"Hast du schon eine Freundin?" fragte ich. Er wurde rot.<br />

"Na, heute kriegst du eine."<br />

Die jungen Volontäre, die die Zeitungen heutzutage schickten, kannten<br />

den Geschlechtsverkehr ja nur noch vom Hörensagen.<br />

Bei Thomas Lindemann war es womöglich an<strong>der</strong>s. Er erzählte von einem<br />

Freund namens Lars, <strong>der</strong> noch Jungfrau sei und das leidenschaftlich. Er<br />

schüttelte den Kopf.<br />

"Ich verdanke dem Roman ´Die Jugend von heute´, daß ich Lars endlich<br />

verstehe. Er redet immer nur vom Kuscheln und Schmusen, wie in Ihrem<br />

Buch!"<br />

"Danke. Ja, so sind sie heute alle."<br />

"Wirklich ALLE?"<br />

Ich nickte. Die zweite Generation <strong>der</strong> alleinerzogenen Kin<strong>der</strong>. Vaterlos und<br />

vaterlandslos, ohne Identität und absolut bindungsunfähig. Ich hätte viel<br />

sagen können.Aber dann wäre es ein Reportergespräch geworden. Er<br />

pusselte bereits an seinem kleinen Digitalaufnahmegerät her<strong>um</strong>. Vielleicht<br />

siezte ich ihn lieber.<br />

"Lindemann, Sie müssen Ihren Bericht wie ein Popautor schreiben, nicht<br />

wie ein Journalist."<br />

"Gute Idee."<br />

"Hauptsache: keine blöden Tonbandaufnahmen!"<br />

"Und das Interview?"<br />

"Wenn Sie sich Sätze nicht merken können, sind sie auch nichts wert<br />

gewesen."<br />

Zu Fuß gingen wir zur Straßenbahnhaltestelle und fuhren mit <strong>der</strong> Linie 20<br />

bis zur Schönhauser Allee. Ich merkte, daß <strong>der</strong> Junge keine Augen für<br />

die Stadt hatte. Ich zeigte ihm die ganze Schönheit dieser anonymen,<br />

zeitlosen, großzügigen Metropole, aber er starrte nur auf mich.<br />

"Da! Sehen Sie! Sechs sich kreuzende Tram-Linien! So sieht es auch in<br />

Buenos Aires aus!"<br />

Er fragte nach <strong>Auf</strong>lagen, Honoraren, Freunden und Feinden im<br />

Kulturbetrieb. Immer wollten die Reporter wissen, wie man zu Walser, zu<br />

Rainald Goetz o<strong>der</strong> zu Stuckrad-Barre stand.<br />

"Kann ich nicht sagen, sind Reporterfragen."<br />

"Und zu Christian Kracht und seiner neuen Zeitschrift ´Der Freund´?"<br />

"Mach doch deinen Daten-Abgleich mit wem an<strong>der</strong>es. Schau lieber nach<br />

draußen, mach mal die Augen auf!"<br />

Er wußte nicht, was ich meinte. Er war Journalist, er mußte Fragen stellen,<br />

in seinem Hirn hämmerte das ´Fakten, Fakten, Fakten!´-Geschrei<br />

250


des Helmut Markwort. Bloß keine Eindrücke, bloß kein Leben! Er bettelte<br />

geradezu nach einer Stellungnahme zu Rainald Goetz. Ich solle mich zu<br />

dessen Angriffen gegen mich äußern. Ich beschleunigte meinen Schritt.<br />

Noch immer hun<strong>der</strong>t Meter bis z<strong>um</strong> Club ´nbi´. Z<strong>um</strong> Glück klingelte das<br />

Handy. Ich riß das pfundschwere 1995er Motorola ans Ohr. Der Verleger.<br />

"Helge! Was läuft?"<br />

"Ich sitze bei Wolf Biermann fest. Endskrass öde. Was machst du?"<br />

"Ein Zeitungsmann von <strong>der</strong> Welt am Sonntag stellt<br />

mir <strong>Mein</strong>ungsfragen."<br />

Der Typ zuckte zusammen. Ich merkte, wie er sich vornahm, seine<br />

Fragetechnik zu än<strong>der</strong>n. Mit Helge verabredete ich mich für später.<br />

"Wir hätten mit dem Wartburg auch bis z<strong>um</strong> ´nbi´ fahren können. Aber<br />

dort sind mein Neffe Elias und seine Homies, die haben einen fetten 7er<br />

BMW, mit dem cruisen wir nachher durch Mitte!"<br />

So war es auch. Um es vorweg zu nehmen: Wir alle, selbst <strong>der</strong> Verleger,<br />

heizten mit dem Münchner Nobelschlitten durch die Nacht, die lachenden<br />

Bräute auf dem Schoß. Generation Jungbrunnen. Für die Jugend von<br />

heute gab es kein Alter mehr. Keine Grenze. Keine Nation. Dabei<br />

war, wer dabei war...<br />

Wir betraten den Club, ich begrüßte Wolfgang Herrndorf, den Altmeister<br />

<strong>der</strong> Popliteratur. Er war in diesem Sommer mit dem Klagenfurter Ingeborg<br />

Bachmann Preis für sein Lebenswerk geehrt worden. Wahnsinn, daß er<br />

nun mir seinen´respect´ zollte!<br />

Ich brachte die Lesung hinter mich. Dank <strong>der</strong> guten Bühnenshow mit<br />

Ulrike Sterblich und Kerstin Grether wars äußerst kurzweilig und sofort<br />

vorbei, nach (subjektiv gefühlten) drei Minuten. Objektiv dauerte es bis 23<br />

Uhr. Elias und seine Leute platzten mittendrin rein. Ich las gerade eine<br />

Stelle über sie. "Waren wir schon dran?" rief Jonas Richtung<br />

Bühne. Ich lachte. Sie waren doch immer dran. Das ganze Buch ging über<br />

sie.<br />

Danach traf ich wie<strong>der</strong> auf meinen Reporter. Der hatte inzwischen<br />

gemerkt, daß 90 Prozent <strong>der</strong> Fragen, die er sich überlegt hatte, noch<br />

immer unbeantwortet waren, nach über fünf Stunden Recherche am<br />

lebenden Objekt! Aber bevor er loslegen konnte, hatte ich mein eigenen<br />

Blöckchen gezückt und fragte ihn weiter aus.<br />

"Was haben Sie als erstes gelesen, welche Literatur, welche Titel waren<br />

prägend?"<br />

"Jugenddetektivgeschichten... Simmel... äh... naja, ich habe auch viel<br />

Computer gespielt."<br />

Schluck. Er war trotzdem <strong>der</strong> nette Hamburger. Sehr gut erzogen, dabei<br />

keineswegs devot, son<strong>der</strong>n von natürlicher Güte beseelt. Absolut uneitel.<br />

Mit dem schütteren Barthaar und den ungeschnittenen Locken konnte er<br />

auch Einsiedler in einem <strong>der</strong> späten Hamsun-Romane sein. Ich stellte ihn<br />

einem <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s scharfen Mädchen vor, aber die sagte mir, daß sie<br />

ihn langweilig fände. Sehr, sehr nett, aber langweilig. Eine Beurteilung,<br />

die mir unlogisch erschien. So hatte ich ihn weiter an <strong>der</strong> Backe. Erst die<br />

Kids erlösten mich, wie immer. In <strong>der</strong> radikal durchhomosexualisierten<br />

Jugend fand er sogleich seinen Platz. Die Homies mochten ihn total. Elias<br />

251


strahlte mich an:<br />

"Jolo, dieser Thomas, dieser Journalist, ist ja VOLL NETT! Der schreibt<br />

garantiert gut über dich! Der kommt noch mit zur Universal-Party..."<br />

Und so kam es. Wir dampften durch die Hauptstadt, von Party zu Party.<br />

Der Typ trank immer noch Coca Cola. Er hatte Angst, die Fakten, Fakten,<br />

Fakten für sein sogenanntes Feature wie<strong>der</strong> zu vergessen. Manchmal<br />

schaffte er es, neben mir zu stehen und den Sekretärinnen und Nutten auf<br />

dem dancefloor (nicht) zuzusehen. Er bemerkte nicht, daß ich gerade für<br />

mein nächstes Buch "Elend im Kapitalismus" recherchierte. Gleich kamen<br />

wie<strong>der</strong> die Fragen.<br />

"War<strong>um</strong> hat Kiepenheuer & Witsch zehn Jahre lang Ihre Romane<br />

unterdrückt?"<br />

"Reporterfrage, gestrichen!!"<br />

"Ach ja, Entschuldigung... schöne Frauen hier..."<br />

"Keineswegs."<br />

"Nanu - plötzlich kein Interesse mehr an fetten Bräuten?"<br />

"Es gibt nichts, was mich weniger interessiert als fette Bräute. Ich bin seit<br />

16 Jahren mit <strong>der</strong>selben Frau zusammen, und sie gefällt mir jeden Tag<br />

besser."<br />

"Jonas und Angelus stellen noch was auf hier, haben sie gesagt."<br />

"Ja, das ist das Gute an solchen Partys: da sich<br />

ALLE Frauen langweilen, kann man sofort welche aufstellen, vor allem<br />

Jonas und Angelus, die ja schwarz sind."<br />

"Stimmt... Sagen Sie mal, war<strong>um</strong> sind Sie eigentlich das Schwarze Schaf<br />

im Literaturbetrieb?"<br />

Jede Assoziation trieb ihn wie<strong>der</strong> zurück zu seinen Was-ist-denn-nun-die-<br />

Wahrheit-Fragen. Ich kannte das natürlich schon. Deswegen hatte ich<br />

den jungen Mann ja mitgenommen. Älteren Leuten gab ich schon gar<br />

keine Interviews mehr, die kamen ihr Lebtag nicht mehr aus ihrer<br />

Entwe<strong>der</strong>-O<strong>der</strong>-Haltung heraus. Letzte Woche war ein Opa von <strong>der</strong> Neuen<br />

Zürchicher Zeitung da, dem hatte ich ins Ohr geschrieen, es gebe hun<strong>der</strong>t<br />

Wahrheiten gleichzeitig. Tags darauf lagen meinem Verlag schriftliche<br />

Anfragen über mich vor. All die buchhälterischen Infos über mich mußte<br />

dann <strong>der</strong> arme Helge Malchow zu Papier bringen: <strong>Auf</strong>lage, familiärer<br />

Hintergrund, Sternzeichen, literarische Präferenzen, literaturpolitische<br />

Positionierung und so weiter. Später hatte <strong>der</strong> Mann dann diese Angaben<br />

gegen meine gestellt und die Differenz als große verdienstvolle<br />

Enthüllungsgeschichte verkauft, und zwar an mehrere Zeitungen auf<br />

einmal. Was für ein wun<strong>der</strong>barer, großer Journalist er doch war! Er<br />

hatte seinen Beruf ganz und gar ausgefüllt! Sein vertrocknetes<br />

Spatzenhirn blähte sich vor Stolz...<br />

Da war Thomas Lindemann schon an<strong>der</strong>s. Ich machte noch ein paar Fotos<br />

von ihm und <strong>der</strong> Umgebung. Als es hell wurde, gingen wir die Spree<br />

entlang, z<strong>um</strong> Beispiel, und das war sehr schön. Die Homies sangen alte<br />

Chart-Hits vom letzten Sommer. Blind lief <strong>der</strong> Schreiberling neben ihnen<br />

her und sah nichts, aber ich mailte ihm die Fotos <strong>um</strong>gehend auf seinen<br />

Computer, sodaß er sie als Erinnerungsstütze beim Schreiben verwenden<br />

252


konnte. So wurde sein ´Feature´ auch gar nicht schlecht. Natürlich konnte<br />

es die Zeitung in dieser Form nicht drucken, aber ich bekam es als Datei<br />

und schickte es meinem Neffen und seinen Leuten. Die behandeln ihn als<br />

Freund, was für einen echten netten Hamburger stets mehr zählt als die<br />

öffentliche <strong>Mein</strong>ung.<br />

40 viva la revolucion Cuba: Mit Ariadne von Schirach im Land Fidel<br />

Castros<br />

Die beiden großen Gedanken unserer jetzigen Zivilisation sind –<br />

läßt man einmal die <strong>der</strong>-Ba<strong>um</strong>-stirbt und das-Klima-kommt<br />

Debatten als zeitlose Folklore durchgehen – <strong>der</strong> wirtschaftliche<br />

<strong>Auf</strong>stieg Chinas und <strong>der</strong> wirtschaftliche <strong>Auf</strong>stieg <strong>der</strong> Frauen. Das<br />

sind die beiden Angstmacher. Hier hört <strong>der</strong> Text auf und das<br />

wahre Interesse beginnt. Ob <strong>der</strong> Ba<strong>um</strong> stirbt o<strong>der</strong> nicht: je<strong>der</strong><br />

weiß, dass das wurscht ist. Ob die Sonne bald auch in Hamburg<br />

scheint o<strong>der</strong> es dort weiter regnet: egal. Das tangiert nichts und<br />

niemanden, nicht den Job, nicht die Liebe. Aber die fleißigen<br />

Asiaten. Wir hören es seit 50 Jahren. Ludwig Erhard gab den Takt<br />

vor: „Ich sage nur China, China, China!“ Und: „Die Frauen kommen“<br />

(stern, 1964). Auch das ein Dauerbrenner. Ihnen gehört die<br />

Zukunft, sie werden bald alles übernehmen: die starken Frauen, die<br />

starken Chinesen. DER SPIEGEL titelt immer hübsch abwechselnd<br />

im 4-Wochen-Takt: „Die neuen Frauen kommen“ und „Die Chinesen<br />

kommen“.<br />

Wie aber lebt es sich in einem Land, das diese beiden Gedanken<br />

gar nicht kennt, nämlich Kuba? Wie ticken Leute, die mehr als nur<br />

diese beiden Gedanken im Kopf haben? Deren Weltbild seit 40<br />

Jahren OHNE diesen Schmarrn auskommt, ohne das immer gleiche<br />

Bild von <strong>der</strong> Skyline Shanghais in den Zeitungen, ohne Frauen in<br />

Talkshows, die sieben Kin<strong>der</strong> haben, drei Doktorentitel und einen<br />

Ministerposten? An<strong>der</strong>s gefragt: gibt es ein Leben jenseits <strong>der</strong><br />

253


Leistungsangst? Eine Philosophie, die noch an<strong>der</strong>e Wünsche kennt<br />

als „Ich will nicht versagen“? Kuba ist das vielleicht einzige Land,<br />

das darauf eine Antwort gibt.<br />

Würde man den Kubanern das unfaßbar armselige Sklavendasein<br />

<strong>der</strong> Chinesen zeigen – es besteht nur aus Maloche und Glotze, als<br />

hätten Ton, Steine, Scherben nie die passenden Songs darüber<br />

geschrieben, über ihre „Alten“, die sinnlos vegetierenden Säcke –<br />

so würden sie nicht verstehen, was da bedrohlich sein soll. Und<br />

diese entsetzlich unmenschlichen Städte – gemeint ist wie<strong>der</strong> die<br />

„beeindruckende“ Skyline Shanghais – würden sie nicht reizen.<br />

Ebenso nicht <strong>der</strong> Workoholismus jedweden Geschlechts. „Frauen<br />

jetzt noch kränker als Männer!“ würde ihnen kein Hurra entlocken.<br />

Was gäbe es, was man ihnen wegnehmen könnte? Ihr<br />

Bruttoszialprodukt ist nach westlichen Maßstäben so niedrig, dass<br />

man es gar nicht mehr messen kann. Trotzdem hat je<strong>der</strong> Arbeit.<br />

Und Essen. Die Leute sind wohlgenährt, die Kin<strong>der</strong> rundlich, alle<br />

sind gesund und haben gute Zähne, keiner bettelt, nirgendwo liegt<br />

irgendeine ehemals menschliche Kreatur auf <strong>der</strong> Straße, wie in<br />

Berlin überall. Es kommt auch nicht in JEDER U-Bahnfahrt ein<br />

Geistesgestörter auf einen zu und will einem die Armenzeitung<br />

verkaufen.<br />

Wer jetzt denkt, ha ha, die haben ja gar keine U-Bahn, <strong>der</strong> irrt. Die<br />

Kubaner haben alles. Allein 5.000 Bahnkilometer Fernbahn, was für<br />

eine Fläche von <strong>der</strong> Größe <strong>der</strong> ehemaligen DDR gewaltig ist. Sie<br />

haben Busse, Fluglinien, kostenlose medizinische Betreung und all<br />

die Dinge, die aufzuzählen den Leser langweilen würden. Stichwort<br />

Propaganda. Auch die „DDR“ brüstete sich immer mit diesen<br />

sozialen Errungenschaften, und war doch ein Scheiß-System.<br />

Weswegen unser<strong>eins</strong> ja auch immer noch denkt, in Kuba gehe es<br />

bestimmt ähnlich zu.<br />

Dabei vergißt man: In <strong>der</strong> „DDR“ gab es keine Revoltion, son<strong>der</strong>n<br />

eine feindliche Besatzung. In Kuba dagegen siegte eine völlig<br />

eigenständige Volksbewegung, die dafür fast 100 Jahre lang<br />

gekämpft hatte. Castro war nur <strong>der</strong> Endpunkt dieser Bewegung,<br />

<strong>der</strong> Schlußstein, <strong>der</strong> Tropfen, <strong>der</strong> das Faß z<strong>um</strong> Überlaufen brachte.<br />

Schon 1871 hatten die Herrschenden 200.000 Revolutionäre<br />

einfach abgeknallt. Und die Amerikaner machten aus Kuba<br />

anschließend ein einziges riesiges Bordell. Wer die kubanischen<br />

254


Männer nur ein bißchen kennt, ahnt, dass es ihnen nicht gefallen<br />

haben konnte, wie ihre Frauen und Töchter von besoffenen<br />

Gringos Tag und Nacht gefickt wurden.<br />

Ha ha, sagt jetzt wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> schlaue Westler, die Frauen dort<br />

treiben es doch heute schon wie<strong>der</strong> mit den Weißen, den<br />

Europäern, den Dollar-Touristen. Dieses Bild muß präzisiert werden.<br />

Man hörte Mitte und Ende <strong>der</strong> 90er Jahre von diesem Phänomen.<br />

Das war auch die Zeit, als Kuba vom Zusammenbruch des<br />

Sozialismus miterfaßt wurde. Als Castro die Dinge wie<strong>der</strong> in den<br />

Griff bekam, was alle überraschte, wurde auch die Prostitution<br />

wie<strong>der</strong> ausgemerzt. Castros erste Amtshandlung nach dem Sieg<br />

1959 war bekanntlich die sofortige Abschaffung <strong>der</strong> Prostitution<br />

gewesen, sehr zur Freude von Alice Schwarzer, nehme ich an. Das<br />

wie<strong>der</strong>holte er nun. Was aber nicht heißt, dass es auch diesmal<br />

funktionierte.<br />

Natürlich werden Leute, die wie Touristen aussehen, von allen<br />

möglichen Leuten angesprochen, und es wird ihnen so gut wie jede<br />

Dienstleistung, je<strong>der</strong> Spaß, jede verrückte Idee angeboten. Die<br />

Kubaner langweilen sich manchmal ein bißchen und sind froh über<br />

jedes neue Gesicht, mit dem sie reden, das sie ein bißchen nerven<br />

können. Aber niemals würde ein Mann so pentrant angemacht<br />

werden wie in <strong>der</strong> Oranienstraße in Berlin, o<strong>der</strong> wie auf <strong>der</strong><br />

Reeperbahn in Hamburg. Wer mit einer Kubanerin etwas anfängt,<br />

hat es mit 99%iger Wahrscheinlichkeit nicht mit einer Nutte zu<br />

tun, son<strong>der</strong>n einem Menschen, <strong>der</strong> neugierig ist, viel Zeit hat und<br />

nie ins Ausland kann. Und sich über ein kleines Geschenk freut.<br />

Die zweite ideologische Keule ist natürlich die Sache mit dem<br />

Polizeistaat. Überall laufen Uniformen her<strong>um</strong>, es ist wie unter<br />

Wilhelm II in Deutschland. Ständig wird man Zeuge, wie Leute<br />

festgenommen werden. In den berüchtigten Folterkellern in den<br />

rattendurchseuchten Gefängniskatakomben schmachten angeblich<br />

die Regimegegner: aufrechte Homosexuelle, die ihr demokratisches<br />

Menschenrecht auf gleichgeschlechtlichen Sex ausüben wollten.<br />

Nach meinen Erfahrungen wird die Suppe weniger heiß gegessen,<br />

als sie gekocht wird. Einmal wurde ich Zeuge, wie ein junger Mann,<br />

als Transvestit verkleidet, mit einem Polizisten in Streit geriet. Die<br />

so genannte Schwuchtel – ich würde sie nicht so nennen – hatte<br />

überhaupt keine Angst vor einer Verhaftung. Sie schrie sogar:<br />

255


„Dann verhafte mich doch, du Arsch!“ Der Polizist verwarnte die<br />

Figur zweimal streng, und ich mußte an eine Fußballübertragung<br />

denken. Schließlich die rote Karte: Er holte die Handschellen hervor<br />

und verhaftete die Transe, o<strong>der</strong> den Homosexuellen o<strong>der</strong> was das<br />

war. Dann ging <strong>der</strong> Polizist weg, und <strong>der</strong> Homo stand mit den<br />

Handschellen auf <strong>der</strong> Straße und quakte her<strong>um</strong>. Der Polizist war<br />

einfach ein Bier trinken gegangen. Zwei Stunden später sah ich den<br />

Verhafteten wie<strong>der</strong> gelöst im Nachtleben, ohne Handschellen.<br />

Solche Erlebnisse hatte ich durchgehend, und ich halte die rattigen<br />

Folterkeller für eine dieser Infos, die sich Bush und Condi Rice am<br />

Handy ausdenken. Vielleicht klingt es auch alles schlimmer, wenn<br />

man die Sprache nicht versteht. Aber meine Freundin kann<br />

Spanisch perfekt, stellte sich genau daneben und wußte, dass es<br />

<strong>um</strong> Banalitäten ging, Menschlich-Allz<strong>um</strong>enschliches. Er sei gar nicht<br />

schwul, son<strong>der</strong>n Ballett-Tänzer, daher die Str<strong>um</strong>pfhose, und er<br />

probe halt ein bißchen, auf <strong>der</strong> Straße, vor den Kin<strong>der</strong>n, war<strong>um</strong><br />

denn nicht, und so weiter. Keine Spur von diesem hochgefährlichen<br />

Paragraphensprech, wie bayerische Feldjäger ihn anwenden, bevor<br />

sie in putativer Notwehr den vermeintlichen Kriminellen<br />

kaltmachen („bestand <strong>der</strong> Anfangstatverdacht eines Führens von<br />

Kfz ohne Papiere“). Auch sieht man niemals brutale Hubschrauber<br />

mit Suchscheinwerfern armselige Schwarzen-Hütten terrorisieren,<br />

o<strong>der</strong> dauernd Sirenen heulen wie in den USA. In dreiein<strong>halb</strong> Wochen<br />

habe ich keine einzige Polizeisirene gehört.<br />

Will sagen: Kuba ist ein glückliches Land. Wahrscheinlich gibt es<br />

keinen größeren Unterschied als den zwischen einem<br />

sozialistischen und einem kapitalistischen Dritte-Welt-Land. Wobei<br />

es auch wirklich sozialistisch sein muß und sich nicht nur so<br />

nennen darf. Wirklicher Sozialismus ist konsequent <strong>um</strong>gesetzter<br />

Marxismus. Vergleicht man Kuba mit seinen kapitalistischen<br />

Brü<strong>der</strong>n, z.B. Haiti, o<strong>der</strong> noch krasser: mit kapitalistischen Dritte-<br />

Welt-Staaten in Afrika, wird <strong>der</strong> Unterschied schnell augenfällig.<br />

Nämlich wenige Meter außer<strong>halb</strong> <strong>der</strong> security zone des Fünf-<br />

Sterne-Hotels. Spätestens da ist es vorbei mit dem Glück, und man<br />

muß aufpassen, dass einem nicht <strong>der</strong> Kopf abgeschlagen wird.<br />

Kuba dagegen ist absolut „save“. Man braucht keinen Schutz,<br />

keine Laterne, kein Reizgas. In Sichtweite steht überall ein<br />

Schutzmann, die ganze Nacht hindurch. Er ersetzt sozusagen die<br />

256


Straßenbeleuchtung, die ja in Kuba so gut wie nicht besteht,<br />

wegen Energieknappheit.<br />

Unangenehm ist einzig die <strong>Auf</strong>dringlichkeit <strong>der</strong> Kubaner. Aber die<br />

läßt vollkommen nach, sobald man die touristischen Viertel<br />

überwunden hat und meidet, o<strong>der</strong> aber auch, wenn man sich nicht<br />

mehr als Tourist FÜHLT. Wenn man die Körpersprache <strong>der</strong><br />

Eingeborenen angenommen hat. Dann wird man auch noch oft<br />

angesprochen, aber nur, wenn man es auch will, und auch auf<br />

an<strong>der</strong>e Art. Die Leute wollen einem dann nichts mehr verkaufen,<br />

son<strong>der</strong>n ihren neuen Club zeigen, eine Disco, in <strong>der</strong> die neuesten<br />

Hits von Harry Belafonte gespielt werden. Popmusik kennt man in<br />

diesem Land nicht und würde es auch nicht verstehen. Fidel Castro<br />

hatte sich bereits gewun<strong>der</strong>t, war<strong>um</strong> die Beatles lange Haare<br />

trugen; war das nicht den Mädchen vorbehalten? Seitdem bleibt<br />

man lieber bei Harry Belafonte. Und das ist gut so.<br />

Kommen wir zu ´Fidel´. Niemand im Land spricht von Castro, alle<br />

nennen nur seinen Vornamen. Es gibt Leute, die sich gegen den<br />

Sozialismus, aber für den Fidelismus aussprechen. Wenn Fidel tot<br />

ist, so das verbreitete Urteil, ist über nacht alles vorbei. Wie<br />

damals in <strong>der</strong> „DDR“. Dann kommen die japanischen Autos, die<br />

Wirtschaft bricht zusammen, die Millionen Straßenkreuzer aus den<br />

30er bis 50er Jahren, die die Hauptbeför<strong>der</strong>ungsmittel für<br />

kin<strong>der</strong>reiche Familien sind, werden binnen Stunden verschrottet, in<br />

<strong>der</strong> Karibik versenkt, johlend und tanzend gegen scheinbar<br />

wertvollere Corollas I und Golf II eingetauscht. Durchs Land ziehen<br />

Halunken, die Versicherungspolicen verkaufen. All diese<br />

Schreckensbil<strong>der</strong>. Castro ist tot, und Kuba ist Albanien. Und ist<br />

Castro nicht schon so gut wie tot? Seit einem Jahr schon? Hat<br />

man es dem Volk nur noch nicht gesagt?<br />

<strong>Mein</strong> Eindruck ist: Fidel Castro Ruz lebt. Er hat den Gift-Anschlag<br />

des CIA vom letzten Sommer ebenso überlebt wie Juschtschenko<br />

den des KGB in <strong>der</strong> Ukraine. Es gibt heute offenbar wirksamere<br />

Methoden des Giftanschlags als zu Edgar Hoovers Zeiten, wie die<br />

gelungenen Anschläge auf Putingegner zeigen. Aber es gibt für die<br />

Mächtigen auch eine bessere medizinische Hilfe als früher. Wäre<br />

Castro ein einfacher Journalist gewesen wie Liwinko, wäre er<br />

gestorben. Aber er hatte die besten Spezialisten <strong>der</strong> Welt an<br />

seiner Seite. Schließlich rechnete man seit langem mit diesem<br />

257


Versuch. Es war nicht <strong>der</strong> erste, son<strong>der</strong>n, so Castro in einer<br />

Erklärung am Dienstag, einer von knapp 100 Mordversuchen seit<br />

1960. Die CIA hat diese Woche diese Aussage teilweise bestätigt<br />

(siehe SPIEGEL online am 26. Juni).<br />

Nur: Castros Tod wäre gar nicht das Ende. Diese fixe Idee <strong>der</strong><br />

amerikanischen Präsidenten ist wahrscheinlich falsch. Den<br />

Kubanern geht es nämlich gut. Die Frauen wollen auch nicht –<br />

Überraschung! – weggeheiratet werden. Allen, denen ich das<br />

angeboten habe, haben sich geziert und ziemlich genau folgendes<br />

gesagt: heiraten ja, Liebe ja, reich werden ja, aber aus Kuba<br />

wegziehen: niemals!<br />

Jedes Dorf hat seine kleine Schule, seinen HO-Laden, seinen Arzt,<br />

sein kleines Resaurant mit Getränkeausschank, seinen Dorfplatz.<br />

Die Kin<strong>der</strong> gehen ALLE neun Jahre zur Schule und tragen dabei<br />

hübsche Schuluniformen, die so aussehen, als habe Coco Chanel<br />

die Tracht <strong>der</strong> Thälmann Pioniere nochmal überarbeitet. Alle<br />

Menschen können Lesen und tun das auch. Nicht das Fernsehen<br />

mit dem Staatssen<strong>der</strong> ist das Leitmedi<strong>um</strong> dieses Volkes, son<strong>der</strong>n<br />

das Buch und die Zeitung. Das Fernsehen zeigt täglich mindestens<br />

eine Sendung über Ché Guevara, <strong>der</strong> überdeutlich als Jesusfigur<br />

aufgebaut wurde. Es ist, als gäbe es von Christus kleine, unscharfe<br />

Schwarz-Weiß-Filme. Und so, wie die Taten des Mannes aus<br />

Bethlehem an zwei Händen abzuzählen sind, gibt es auch über Ché<br />

nur immer dasselbe zu berichten. Eine Ikonographie <strong>der</strong> wenigen<br />

überlieferten Heldentaten in Sachen Revolution. Wem diese<br />

tägliche Messe nicht reicht, greift z<strong>um</strong> guten Buch. In meinem<br />

ersten Hotel lag im Nachttischkästchen ein schwarzer Schmöker.<br />

Nicht die Bibel, son<strong>der</strong>n Goethes „Dichtund und Wahrheit“ auf<br />

Spanisch.<br />

Das <strong>Auf</strong>fälligste an Kuba ist das völlige Fehlen von Werbung. Wer<br />

das erlebt hat, will nie wie<strong>der</strong> zurück in den Medienfaschismus<br />

westlicher Prägung, <strong>der</strong> ja von <strong>der</strong> Werbung gesteuert wird. Und<br />

mit <strong>der</strong> Werbung fehlt natürlich auch die Pornografie. Wenn man<br />

nicht pausenlos mit pornographischen Reizen bombardiert wird,<br />

beginnt man die Mitbürger wie<strong>der</strong> als Menschen zu sehen. Nicht<br />

mehr das geile Tier hüpft einem entgegen, son<strong>der</strong>n die nette<br />

Kassiererin vom HO-Laden. Sex ist nicht mehr von <strong>der</strong> Liebe<br />

abgespalten, mit dem Ergebnis, dass beides wie<strong>der</strong> möglich wird.<br />

258


Freilich muß man gut Spanisch können. Denn wo die entfremdete<br />

West-Pussy künstlich stöhnt, plau<strong>der</strong>t die Kubanerin lieber. Man<br />

hat ja alle Zeit <strong>der</strong> Welt, davor, danach, immer.<br />

Um im Bild zu bleiben: Die Kin<strong>der</strong> rollen sich abends wohlgenährt<br />

ins Bett, die Eltern liegen händchenhaltend im Liegestuhl auf <strong>der</strong><br />

knirschenden Holzveranda. Es ist offiziell gerade die Regenzeit,<br />

was nur bedeutet, dass man den täglichen Besuch im Schwimmbad<br />

schon zu Hause absolvieren kann. Denn es schüttet kurz,<br />

sintflutartig und angenehmst warm. Danach scheint wie<strong>der</strong> die<br />

Sonne. Mittags steht sie exakt im 90 Grad Winkel zur Erde, denn<br />

<strong>der</strong> nördliche Wendekreis geht durch Kuba, und auf dem bewegt<br />

sich die Sonne gerade. Fidel geht es jeden Tag besser, und Bush<br />

jeden Tag schlechter. Papa liest „Granma“, die tägliche<br />

Parteizeitung, eine Art „Bild Zeitung“ des Kommunismus, und<br />

vielleicht sieht er irgendwann einmal ein unscharfes Bild <strong>der</strong> Skyline<br />

von Shanghai. Nicht <strong>der</strong> Skyline von Detroit, Sao Paulo, Madrid,<br />

Sidney, Kairo o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en 100 Millionenstädte des Westens,<br />

nein, es müssen immer die paar Häuser des Agrarstaates China<br />

sein. Dann fragt ihn <strong>der</strong> Gast aus Berlin, ob er denn keine Angst<br />

habe, dass die Chinesen kämen. Also wirtschaftlich. Die seien doch<br />

so auf dem Vormarsch. Da müsse man sich doch nur einmal die<br />

Skyline von Shanghai anschauen. Und im neuen SPIEGEL stünde es<br />

auch, den habe er, <strong>der</strong> informierte Gast aus Deutschland, extra<br />

mitgebracht. Und außerdem, davon einmal ganz abgesehen: was<br />

halte er, Gimenez, denn von dem Vormarsch <strong>der</strong> Frauen? Die seien<br />

STARK im kommen, nicht wahr? Das seien Realitäten <strong>der</strong> Zukunft,<br />

an denen die armen Männer nicht vorbeikämen, was?<br />

Die Kubaner machen weiter ihre Witze, bleiben prächtig gelaunte<br />

Gastgeber.<br />

Der R<strong>um</strong> ist <strong>um</strong>sonst, die Liebe danach auch.<br />

259


41 Mit Thomas Brussig im Olympiastadion<br />

Samstag Mittag, Prenzlauer Berg in Berlin, strahlen<strong>der</strong><br />

Sonnenschein, ideales Fußballwetter. Thomas Brussig,<br />

ostdeutschlands erfolgreichster Schriftsteller, stürmt aus <strong>der</strong><br />

Haustür. Olé, olé, olé, Hertha BSC! Die Verkleidung ist mehr als<br />

echt: alte gelbliche Jogginghose, aufgetragenes Metzgerhemd, bei<br />

dem die Nähte platzen, weisse Plastiktüte, wie sie sonst nur<br />

Penner tragen, durchgelatschte Turnschuhe. So stellt sich Roger<br />

Willemsen den typischen Wende-Verlierer aus Frankfurt/O<strong>der</strong> vor.<br />

Brussig schwitzt, ist nervös. Hertha kann an diesem Nachmittag<br />

Tabellenführer werden!<br />

Und er schimpft. Bestimmt würden die Herthaner ein<br />

grottenschlechtes Spiel abliefern. Die hätten ein Gen in sich,<br />

gerade dann zu versagen, wenn es darauf ankomme. Wenn eine<br />

Chance da sei, ganz groß rauszukommen. Immer dann. Die würden<br />

schon zur Pause 0:1 hintenliegen. Er stapft griesgrämig z<strong>um</strong> Auto,<br />

ist blind für das herrliche Wetter, freut sich nicht auf das Spiel,<br />

nörgelt und jammert weiter. Wie das eben Ossis so tun.<br />

Aber nichts gegen Ossis - Thomas Brussig ist mit Sicherheit ein<br />

Fünf-Sterne-Exemplar, sympathisch, geerdet, eine Seele von<br />

Mensch; man muß ihn sofort mögen. Gerade hat er ein Buch über<br />

den Fußball geschrieben. Genau gesagt über einen Schiedsrichter.<br />

Der Leser spürt sofort: dieser Schiedsrichter, er heißt Uwe Fertig,<br />

ist <strong>der</strong> Autor selbst. Quälend eindringlich beschreibt er, wie er die<br />

ganze Kindheit hindurch von seinem Hausmeister, einem Herrn<br />

Frigewski, geschurigelt wurde - <strong>um</strong> dann als Erwachsener ebenso<br />

zu werden wie dieser. Deswegen wurde er Schiedsrichter: <strong>um</strong> seine<br />

sadistischen Ordnungsimpulse legal ausleben zu können. <strong>Auf</strong> dem<br />

Platz ist er <strong>der</strong> Gott, <strong>der</strong> Diktator, die spielentscheidende<br />

Ordnungsmacht. Im übrigen Leben ein kleiner nörgeln<strong>der</strong> Ossi...<br />

260


Man fährt durch das in diesen Momenten lichtdurchflutete Berlin,<br />

erreicht das herrliche Olympiastadion. Noch immer ist es, trotz<br />

Renovierung (o<strong>der</strong> gerade des<strong>halb</strong>?) das schönste Stadion des<br />

Landes. Brussig schimpft nur:<br />

„...Die spielen dann nicht nur selber schlechten Fußball, son<strong>der</strong>n<br />

verführen auch noch die an<strong>der</strong>en dazu, grottenschlecht zu<br />

spielen... Ick bin für Hertha, aber kann mir dit eijentlich gar nich<br />

ansehen...“<br />

Das Auto ist abgestellt, <strong>um</strong>sonst, <strong>der</strong> Parkplatz ist Teil des VIP-<br />

Service. Nun geht man das endlose, schier kilometerlange, plane,<br />

quadratische Vorfeld entlang, noch immer ein idealer<br />

<strong>Auf</strong>marschplatz für jeden neuen Diktator (Lafontaine? Sarah<br />

Wagenknecht? Oliver Pocher?). An den Seiten hun<strong>der</strong>te von<br />

weißen Fahnenmasten in präziser Formation. Vor einem in <strong>der</strong><br />

Ferne erhebt sich das gigantische Stadion. Dadurch, das nur <strong>der</strong><br />

oberste Teil aus <strong>der</strong> Erde ragt, wirkt es viel breiter und damit auch<br />

grösser, als es ist. Man denkt, dort hinten kommt eine Riesen-<br />

Festung, gegen die das Colosse<strong>um</strong> in Rom nur eine kleine<br />

Dönerbude sein kann. Die übrige Stadt Berlin ist hinter üppigem<br />

Grün versteckt. Es gibt keine an<strong>der</strong>e Zivilisation mehr, nur das<br />

Stadion und den dramatischen Weg auf das Stadio zu, in<br />

gleissen<strong>der</strong> Sonne. Man sieht schon das Marathontor, die<br />

olympischen Ringe, die Menschenmassen, klein wie Stecknadeln,<br />

wie Staubkörner. Ein erhebendes Gefühl. Ausser dem fernen, fein<br />

sirrenden Brüllen <strong>der</strong> Masse kein Geräusch. Nur Brussig mosert<br />

ständig weiter, wobei sein Jargon stärker wird.<br />

„Letztes Jahr hab ick fast alle Spiele jesehn, wa. Wie <strong>der</strong> Zidane<br />

seen Kopp in den Bauch vom Maseratti jerammt hat, dit war schon<br />

wi<strong>der</strong>lich...“<br />

Stimmt, es ist nicht nur <strong>der</strong> Ort <strong>der</strong> Olympiade, son<strong>der</strong> auch <strong>der</strong><br />

grossen, friedlichen Fußball-WM. Hier hat größte Fußballer seiner<br />

Zeit, Zinedine Zidane, vor erst einem Jahr gespielt. Hier wurde <strong>der</strong><br />

neue Patriotismus geboren und damit <strong>der</strong> alte endgültig ad acta<br />

gelegt.<br />

Auch Karten und Lounge und Verpflegung sind kostenlos, überall<br />

wird Brussig durchgelächelt. Er sieht es nicht, schimpft weiter,<br />

genau wie <strong>der</strong> Hausmeister in seinem neuen Buch. Vielleicht will er<br />

den Reportern auch nur zeigen, wie uneitel er ist, wie ´Mensch<br />

261


geblieben´, Teil des Volkes beziehungsweise ´Volkes Stimme´.<br />

Ihm ist <strong>der</strong> Ruhm nicht zu Kopf gestiegen, wa.<br />

Nun muß man sagen, dass sein Buch trotzdem richtig gut ist.<br />

Brussig kotzt sich so richtig aus. Er scheint endgültig alle<br />

Hemmungen über Bord geworfen zu haben – und literarisch wird<br />

das zu einem Gewinn. Der Leser ahnt ja nicht, dass <strong>der</strong> Autor<br />

wirklich so ist. Und selbst wenn, das ist ja egal. Dieser Furor ist so<br />

echt, so maßlos, so unerschöpflich, dass Thomas Bernhard<br />

dagegen ganz alt aussieht. Der war erschöpft nach 100 o<strong>der</strong> 250<br />

Seiten Ha<strong>der</strong>n und Mäkeln. Das blieb kraftloses R<strong>um</strong>geeiere.<br />

Brussig aber fängt da erst an. 40 lange Jahre DDR-<br />

Dauerfrustration sind nicht mit einem Büchlein erledigt. Da will<br />

weitergeschimpft werden! Will sagen: potent ist das schon, ob es<br />

einem gefällt o<strong>der</strong> nicht.<br />

Das Spiel beginnt. Wir sitzen direkt neben <strong>der</strong> alten Führertribüne,<br />

inmitten <strong>der</strong> Reporter, haben die beste Sicht. Schräg links von uns<br />

berichtet ein Kollege vom Rundfunk über das spannende Spiel.<br />

<strong>Auf</strong>recht steht er da, im blütenweissen Hemd, die Haare gegelt<br />

und gescheitelt, spricht auf das Mikrophon ein, legt mit klarer<br />

Stimme Zeugnis ab vom wechselvollen Tun <strong>der</strong> beiden deutschen<br />

Mannschaften auf dem Sportplatz.<br />

„Arne Friedrich erkämpft sich erneut das Le<strong>der</strong>, springt hoch,<br />

springt höher! Weidenfeller kommt aus dem Kasten, eine herrliche<br />

Parade, beide berühren den Ball! Weidenfeller hat ihn!“<br />

52.237 Zuschauer erleben in <strong>der</strong> 32. Minute die Dortmun<strong>der</strong><br />

Führung. Aber Hertha bä<strong>um</strong>t sich auf, wird immer besser, erzwingt<br />

mit dem Pausenpfiff den Ausgleich. Das Stadion tobt.<br />

Brussig ist in Gedanken woan<strong>der</strong>s. Nach dem Pausenpfiff blubbert<br />

er Unverständliches vor sich hin, den Blick gesenkt:<br />

„Die sind ja sowat von arrogant, diese kleenen N<strong>um</strong>mern, die sich<br />

einbilden, im Fußball wat zu sagen zu haben. Ick hab mal mit einem<br />

von <strong>der</strong> ZDF-Torwand telefoniert...“<br />

Man hat ihn schlecht behandelt, so von oben herab, und nur<br />

schleppend über die ZDF-Torwand Auskunft gegeben, haben sich<br />

allet aus <strong>der</strong> Nase ziehen lassen, die blöden Funktionäre. Und<br />

überhaupt, <strong>der</strong> Overath hat kein einziges Mal getroffen... Brussig<br />

redet immer weiter, sieht nicht, wie schön es gerade ist in <strong>der</strong><br />

realen Fußballwelt.<br />

262


Trotzdem, in <strong>der</strong> Pause sehen wir uns das Stadion genauer an. Die<br />

aufwendige Renovierung hat den Charakter ka<strong>um</strong> beeinflusst. Die<br />

mächtigen, pl<strong>um</strong>pen, viereckigen Säulen dominieren jede<br />

Wahrnehmung. Auch die häßlichen Arno-Breker-Figuren sind noch<br />

da. Beim näheren Hinsehen liest man, dass sie gar nicht von Breker<br />

sind. Na, das interessiert ja auch gar nicht. Nicht Brussig. Dem ist<br />

es völlig wurscht, was hier 1936 o<strong>der</strong> 1836 o<strong>der</strong> wann auch<br />

immer stattgefunden haben mag. Die Antwort is auffm´ Platz, wa.<br />

Aber eigentlich interessiert ihn nicht einmal das. Er ist apathisch<br />

sitzengeblieben, als <strong>der</strong> Ausgleich fiel.<br />

Doch man soll ihn nicht unterschätzen. In <strong>der</strong> zweiten Halbzeit<br />

spielt sich Hertha in einen Rausch. Die Zuschauer gehen begeistert<br />

mit. Würde jetzt ein Propagandaminister „Wollt Ihr den totalen<br />

Sieg?“ rufen, würden 50.000 „Yeah, yeah, yeah!“ o<strong>der</strong> sowas<br />

brüllen, je nach System. Und <strong>der</strong> Schiedsrichter tut <strong>der</strong> Masse und<br />

Brussig auch noch den Gefallen, scheinbar gegen die<br />

Heimmannschaft zu pfeifen. Nun steht sie auf, Volkes Stimme, und<br />

bricht los, wie ein Sturm.<br />

„Du Verbrecher!“<br />

„Der Schiedsrichter ist schlimmer als die Cholera!“<br />

„Na gib doch ne Karte du Penner!“<br />

„Du alte Drecksau!“<br />

„Wenn ick hier so gepfiffen hätte, wär ick nich lebendig vom Platz<br />

gekommen!“<br />

„Du alte DFB-Mafia!“<br />

„Schiedsrichter du Schwein! Schlagt das Schwein tot!“<br />

Nun weht er wie<strong>der</strong> durchs Stadion, <strong>der</strong> alte Geist des Terrors. Hier<br />

fühlt er sich einfach zuhause. Lynchjustiz, losgelassener Pöbel,<br />

aufschä<strong>um</strong>ende Emotion. Die Druckwellen des Hasses wogen<br />

akustisch hin und her wie gefühlte Tsunamiwogen, von<br />

Stadionwand zu Stadionwand. Vom friedlichen neuen Patriotismus<br />

ist nichts mehr übriggeblieben, es ist wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> alte, <strong>der</strong><br />

Poltergeist von 1933 bis 45. Für Brussig ist das schön, denn<br />

genau das hat er in seinem Buch genauestens beschrieben. Nur<br />

glaubt man es nicht, bevor man es nicht hautnah erlebt hat.<br />

Doch es geht vorbei. Wie ein déja-vu. Irritierend, aber kurz. Die<br />

Trennlinie zwischen Jubel und Terror und <strong>um</strong>gekehrt ist dünn.<br />

Hertha schiesst zwei weitere Tore, und alle liegen sich glücklich in<br />

263


den Armen. Auch Thomas Brussig erlebt nun seine Transformation.<br />

Fast schluchzend liegt er in den Armen eines an<strong>der</strong>en Fans, ballt<br />

die Fäuste, hebt den Blick, schöpft Hoffnung. Er jubelt, er verneint<br />

nicht mehr, er schreit:<br />

„Jaaaa!“<br />

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