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Eine Theorie der Begriffe - Viktor Wolfgang Weichbold

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<strong>Eine</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong>© <strong>Viktor</strong> <strong>Weichbold</strong> (2012)I. Die <strong>Theorie</strong>(1) „Begriff“ gehört zu den meistgebrauchten und zugleich nebelhaftestenWorten unserer Sprache. Vor allem in philosophischen Kontexten ist„Begriff“ ein Allerweltswort, und nicht wenige Philosophen reden von„<strong>Begriffe</strong>n“ als prägnanten und bedeutsamen Objekten. Was sie damitmeinen, bleibt aber häufig unklar (o<strong>der</strong> problematisch, wie beimIdeenrealismus). Weit verbreitet ist die Ansicht, dass ein Begriff einkompaktes Ding ist: ein ideelles Gebilde, mit dem unser Geist beim Denkenoperiert („Wir denken in <strong>Begriffe</strong>n“). Doch dieser Ansicht liegt einDenkfehler zugrunde: eine Hypostasierung von „Begriff“. Er geht davonaus, dass zu jedem Wort ein Ding gehört: so wie zu „Katze“ die Katzen o<strong>der</strong>zu „Haus“ die Häuser, so auch zu „Begriff“ – die <strong>Begriffe</strong>. So führt er zu<strong>der</strong> Ansicht, dass <strong>Begriffe</strong> so griffige Dinge wären wie Katzen o<strong>der</strong> Häuser.(2) Wir wollen statt dieser – hypostatischen – Sichtweise hier eine an<strong>der</strong>edarlegen. Demnach ist ein Begriff ist kein kompaktes Ding, son<strong>der</strong>n einkomplexes Wissen. Genauer gesagt: ein Begriff ist unser Wissen darüber,wie ein Wort V mit an<strong>der</strong>en Worten essentiell verknüpft ist. 1Erläutern wir diese Definition an einem Beispiel: an dem Wort „Pferd“. Wirfinden in unserer Alltagssprache, dass über ein Pferd folgende (allgemeine)Feststellungen getroffen werden:a) Ein Pferd ist ein Tier.b) Ein Pferd ist ein Vierbeiner.c) Ein Pferd kann wiehern.d) Ein Pferd frisst Grase) Ein Pferd dient als Reittier.f) Ein Pferd ist entwe<strong>der</strong> wild o<strong>der</strong> domestiziert.g) Ein Pferd hat einen Schweif, usw.Solche Feststellungen verknüpfen „Pferd“ mit an<strong>der</strong>en Worten („Tier“,„vierbeinig“, „Schweif“), die jeweils ein Merkmal von Pferden aussagen. Insumma liefern diese Worte eine umfassende Charakterisierung von „Pferd“in einem allgemeinen Sinn. Man könnte sagen (mit einem alten Ausdruck):sie beschreiben das Wesen eines Pferdes bzw. sind Wesensbeschreibungen.Wir wollen diesen Ausdruck („Wesen“) aber nicht in einem metaphysischenSinn verstehen, son<strong>der</strong>n im Sinn einer Sprachpraxis: würde ein kompetenterund verständiger Sprecher gebeten, die Charakteristika eines Pferdes verbalzu nennen, würde er eben solche Worte gebrauchen. Wobei im Falle einesPferdes bereits ein Kind als verständiger und kompetenter Sprecher geltenkann. An<strong>der</strong>s verhält es sich im Falle eines Elektrons; doch würde auch hier1 V von Verbum1


ein Physiker die Charakterisierung in Form bestimmter Wortverknüpfungenangeben: „ist Elementarteilchen“, „hat eine negative Ladung“, usw.(3) Wir wollen Verknüpfungen dieser Art als „essentielle Verknüpfungen“bezeichnen. Essentielle Verknüpfungen binden an das Bezugswort V solcheWorte, die charakteristische Merkmale dessen, wofür V steht, ausdrücken.In ihrer Gesamtheit genommen, bilden diese Verknüpfungen den Begriffvon V. 2Das Wort V sitzt – bildhaft vorgestellt – wie eine Spinne im Zentrum einesNetzwerks (reticulum), dessen Fäden (fila reticularia) zu den Worten führen,die es charakterisieren. Man könnte daher die Beziehung zwischen V undden gewissen Worten als „retikuläre Beziehung“ benennen.ReittierTierretikuläreBeziehungSchweifPferdVierbeinerdomestiziertwiehernGemäß dieser Terminologie besteht eine essentielle Verknüpfung aus einemWort und einer retikulären Beziehung.(4) Der Begriff ist die Gesamtheit <strong>der</strong> essentiellen Verknüpfungen, die einWort besitzt. Besser gesagt: er ist unser Wissen von diesen Beziehungen,denn was als essentiell gilt, wird interindividuell nicht ganz einheitlichgehandhabt. Betrachten wir dies wie<strong>der</strong> an einem Beispiel:Das Alltagswort „Pferd“ ist mit vielen Worten verknüpft. Neben den obengenannten könnte man erwähnen: „hat ein Fell“, „atmet durch Nüstern“,„zieht Kutschen“. Ein Biologe würde hinzufügen: „gehört zu denPaarhufern“, „gehört zu den Säugetieren“, u.a.Vermutlich besteht keine einheitliche Meinung, welche Verknüpfungen zuden essentiellen (wesentlichen) Bestimmungen von „Pferd“ gehören. Mankann daher fragen: was ist das Kriterium, das entscheidet, ob eineVerknüpfung essentiell ist o<strong>der</strong> nicht?(5) Ein solches Kriterium existiert nicht – zumindest nicht in allgemeinerForm. Wir müssen hier den plastischen Charakter <strong>der</strong> Sprache in Betrachtziehen und anerkennen, dass <strong>Begriffe</strong> (Netzwerke essentieller2 Die Sichtweise, dass die Bedeutung eines Wortes in dem System seiner Beziehungen zuan<strong>der</strong>en Worten besteht, ist in <strong>der</strong> Linguistik geläufig: vgl. dazu Leinfellner & Leinfellner,Ontologie, Systemtheorie und Semantik (Berlin 1978), Seite 231ff. Als Vertreter dieserSichtweise werden dort J. Lyons und Y.A. Wilks genannt.2


Verknüpfungen) keine starre Struktur besitzen. Sie sind interindividuellvariabel. Ein Schulkind hat einen an<strong>der</strong>en Begriff von „Stern“ als einAstronom. <strong>Begriffe</strong> werden zudem während des Spracherwerbs und <strong>der</strong>schulisch-akademischen Ausbildung ständig erweitert und umstrukturiert.Auch können sie im Laufe <strong>der</strong> Zeit einem allgemeinen Wandel unterliegen(z.B. ist <strong>der</strong> Begriff zu „Weltall“ heute ein an<strong>der</strong>er ist als zu <strong>der</strong> Zeit, da dasWeltall nach dem Sphärenmodell vorgestellt wurde). Daher gehört zurDefinition des Begriffs, dass er ein subjektives Wissen ist, wodurch einegewisse (intra- wie interindividuelle) Variabilität zugestanden ist.(6) Was aber nicht heißt, dass er beliebig o<strong>der</strong> arbiträr ist. Unter denMitglie<strong>der</strong>n einer Sprechergemeinschaft besteht oft hohe Übereinstimmung,welche die wesentlichen Verknüpfungen eines Wortes sind. Zum Beispielwird je<strong>der</strong> zugestehen, dass es essentieller ist, dass ein Pferd ein Tier isto<strong>der</strong> dass es wiehert, als dass es durch Nüstern atmet o<strong>der</strong> zum Ziehen vonKutschen dient. Die Verknüpfungen weisen demnach unterschiedlicheRelevanzgrade auf. Ihnen zufolge könnte man sie in einen Kern- und einenPeripheriebereich unterteilen, wobei bezüglich des Kernbereichs zwischenden Sprechern meist gute Übereinstimmung besteht. Die Übereinstimmungist jedenfalls groß genug, um sprachliche Verständigung zu ermöglichen.Denn dazu genügt in den meisten Fällen die Kenntnis <strong>der</strong> wichtigstenVerknüpfungen.<strong>Begriffe</strong> – als retikuläre Netzwerke – besitzen also eine gewisse Plastizität.Sie sind interindividuell variabel (vor allem in ihrer Peripherie). Undgenerell gilt: je mehr retikuläre Beziehungen <strong>Eine</strong>r herstellen kann, destoumfangreicher ist sein Begriff.(7) Essentielle Verknüpfungen regeln den Gebrauch von Worten, indem siedie Beziehungen zwischen ihnen festlegen. Wer weiß: „Das Pferd ist einTier“, <strong>der</strong> weiß, wie „Pferd“ und „Tier“ relativ zu einan<strong>der</strong> zu gebrauchensind – auch außerhalb dieses Satzes. Die Angabe solcher Verknüpfungenspielt eine Rolle bei Definitionen. Oft wird die Bedeutung eines Wortsfestgelegt, indem seine Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Worten angegeben werden.Die folgenden Beispiele lassen dies deutlich erkennen:Ein Kreis ist eine runde, in sich geschlossene Linie in <strong>der</strong> Ebene, dievollkommen gleichmäßig gekrümmt ist.<strong>Eine</strong> Witwe ist eine Frau, die mit einem Mann verheiratet war, <strong>der</strong>bereits gestorben ist.Bei diesen Definitionen wird die sog. begriffliche Bedeutungskomponente<strong>der</strong> jeweiligen Worte („Kreis“, „Witwe“) angegeben. 3 Diese macht einenTeil ihrer Bedeutung aus (siehe dazu unten, Abschn. V)3 vgl. meinen Essay „Über Bedeutungen“3


II. Der logische Status <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong>(8) Indem wir sagen, dass <strong>Begriffe</strong> ein Wissen sind, sind sie ihrer Natur nachpsychische Phänomene. Der logischen Eigenart nach handelt es sich bei denessentiellen Verknüpfungen um Klassifikationen, d.h. klassifikatorischeUrteile. Als solche sind sie nicht wahr o<strong>der</strong> falsch, son<strong>der</strong>n zutreffend o<strong>der</strong>unzutreffend. Betrachten wir diesen Punkt genauer.Die Feststellung „Der Pferd ist ein Tier“ ist keine Aussage über reale Pferdeund Tiere (sonst hätten zuvor alle diese Dinge überprüft werden müssen, umdie Wahrheit <strong>der</strong> Feststellung zu sichern). Sie ist eine Aussage über dieBeziehung zwischen Worten. Sie legt fest, dass „Tier“ das allgemeinere,„Pferd“ das spezifischere Wort ist. Damit wird zugleich <strong>der</strong> Gebrauch dieserWorte geregelt. Die Festlegung drückt einen Willensakt <strong>der</strong>Sprechergemeinschaft, <strong>der</strong> eine normative Regelung in Geltung setzt. Essteht nun nicht mehr im Belieben <strong>der</strong> einzelnen Sprecher, wie sie die Worteverwenden, son<strong>der</strong>n es gilt die vereinbarte Beziehung zwischen „Tier“ und„Pferd“.(9) Es bleibt offen, worin <strong>der</strong> Beschluss <strong>der</strong> Gemeinschaft gründet, dieWorte so und nicht an<strong>der</strong>s zu verwenden. Vermutlich spielen verschiedeneMotive eine Rolle (die nur teilweise bewusst sind). So ist <strong>der</strong> Gebrauch desWortes „vierbeinig“ offenbar durch ein sinnliches Kriterium motiviert: wasauf vier Bienen geht, ist vierbeinig. Da ein Pferd augenfällig auf vier Beinengeht, ist es vierbeinig. Diese Feststellung würde nicht dadurch falsifiziert,dass eines Tages ein Pferd mit fünf Beinen geboren wird o<strong>der</strong> dass einPferd, nach Verlust eines Beins, auf dreien weitergeht. Daran erkennt manden nicht-empirischen Charakter <strong>der</strong> essentiellen Feststellungen. Auch wennsie (teilweise) auf empirischen Kriterien beruhen, sind sie keine empirischenSätze, son<strong>der</strong>n (empirisch motivierte) Sprachregelungen. Als solche sind siefür Korrekturen offen. Wenn spätere Erfahrungen zeigen, dass ein Wortfalsch o<strong>der</strong> problematisch verwendet wird, kann das geän<strong>der</strong>t werden. Daswar auch öfters <strong>der</strong> Fall. So wurde <strong>der</strong> Wal wegen seiner fischähnlichenBeschaffenheit und Lebensweise früher zu den Fischen gezählt. Als dieFische später als Kiemenatmer und Oviparen genauer definiert wurden,musste die Festlegung „Der Wal ist ein Fisch“ aufgegeben werden. Esbedurfte einer Neuregelung <strong>der</strong> Verknüpfung, um den Wortgebrauch anneue Einsichten anzupassen. – Auch daran zeigt sich <strong>der</strong> plastischeCharakter <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong>, die für Korrekturen und Adaptationen offen sind.(10) Klassifikatorische Urteile werden meist als Kategorisierungen (d.h. alsEinteilungen in ein Ordnungssystem) angesehen. Dagegen ist nichts zusagen, solange klar ist, dass es sich um Aussagen über die Sprache handelt(um Normierungen des Sprachgebrauchs). Oft aber besteht diesbezüglicheine ontologisierende Auffassung und man meint, die Kategorisierungbeträfe die Dinge selbst: die (wirklichen) Pferde würden einer Kategorie(Menge, Klasse) zugeordnet, die ebenfalls (irgendwie) wirklich besteht.Diese Auffassung führt zu dubiosen Konsequenzen (u.a. zum Universalienrealismus),weshalb sie untragbar ist. In Wahrheit sind KlassifikationenAussagen über die Verknüpfung von Worten. Sagt man: „Das Pferd ist einTier“, so wird nicht über reale Dinge gesprochen, son<strong>der</strong>n über eine4


Beziehung zwischen den Worten „Pferd“ und „Tier“. Über die Art <strong>der</strong>Beziehung wird noch zu reden sein.III. Der Ursprung <strong>der</strong> Rationalität(11) Kehren wir zurück zum Beispielwort „Pferd“ und seinen essentiellenVerknüpfungen. Die Gesamtheit dieser Verknüpfungen bildet den Begriffzu „Pferd“. Nun stehen die Worte, mit denen „Pferd“ verknüpft ist,ihrerseits in wechselseitigen Beziehungen. Zum Beispiel trifft zu: „EinReittier ist ein Tier“ o<strong>der</strong> „Ein Vierbeiner ist ein Tier“. „Tier“ wie<strong>der</strong>umsteht in retikulärer Beziehung zu „Lebewesen“, usw.Der Gebrauch all dieser Worte muss nun <strong>der</strong>art geregelt sein, dass sieuntereinan<strong>der</strong> stimmig verknüpft sind. Es wäre inakzeptabel, wenn z.B.gälte: „kein Tier ist vierbeinig“, und zugleich: „das Pferd ist ein Tier“ und„das Pferd ist vierbeinig“. Dadurch würde dasselbe Wort („vierbeinig“)einmal zuerkennend, einmal aberkennend mit Pferd verknüpft. Unter diesenUmständen wäre unklar, welche Verknüpfung nun zutrifft und es wäre <strong>der</strong>Zweck des Sprachgebrauchs – effiziente interindividuelle Verständigung –sehr beeinträchtigt.(12) Also erhebt sich die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Konsistenz des Begriffs (siegründet im Zweck des Sprachgebrauchs: inkonsistente <strong>Begriffe</strong> störendiesen Zweck). Die essentiellen Verknüpfungen müssen untereinan<strong>der</strong>stimmig sein, und es darf nicht <strong>der</strong> Fall eintreten, dass Worte, dieunverträgliche Merkmale bezeichnen, mit V zugleich verknüpft sind.Da die Worte, die in retikulären Beziehungen zu <strong>Begriffe</strong>n stehen, ihrerseitsin ein Geflecht von retikulären Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Worteneingebunden sind, führt die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Konsistenz des Begriffsautomatisch zu <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung, dass das gesamte Netzwerk <strong>der</strong> Worte undihrer Beziehungen konsistent sein muss. Die hier gefor<strong>der</strong>te Eigenschaftheißt „Rationalität“.(13) Rationalität 4 meint die Stimmigkeit <strong>der</strong> Beziehungen, die zwischenWorten besteht. Wer sagt „Das Pferd ist ein Tier“ und „Das Tier ist einLebewesen“, <strong>der</strong> kann nicht zugleich sagen: „Das Pferd ist keinLebewesen“. In diesem Fall wären die Beziehungen zwischen den Worten„Pferd“, „Tier“ und „Lebewesen“ nicht stimmig, d.h. irrational. In <strong>der</strong>For<strong>der</strong>ung nach stimmigem (konsistentem) Gebrauch <strong>der</strong> Worte gründet dieFor<strong>der</strong>ung nach Rationalität bzw. meinen die beiden Ausdrücke dasselbe.Die Rationalität ist die Grundlage <strong>der</strong> Logik. Zu den Aufgaben <strong>der</strong> Logikgehört u.a., die Grundtypen <strong>der</strong> Begriffsbeziehungen zu suchen und zuexplizieren. Das wird in einem an<strong>der</strong>en Essay (ansatzweise) erfolgen. 5 –Hier indessen noch weitere Klärungen zu den <strong>Begriffe</strong>n.4 vom Lateinischen ratio = Verhältnis, Beziehung5 vgl. meinen Essay „Rationalität“5


IV. Traditionelle und neue (retikuläre) Begriffstheorie(14) Betrachten wir noch einige traditionelle Ansichten über <strong>Begriffe</strong>:(a) Mit <strong>der</strong> Vorstellung von <strong>Begriffe</strong>n als ideellen Gebilden verbunden istdie Auffassung, dass sie Zeichen für Gegenstände seien (indem sie dieseGegenstände in unserem Denken repräsentieren). In dieser Hinsicht wird dieSprache oft ein „System von Zeichen“ genannt.(b) <strong>Eine</strong>r älteren Ansicht zufolge sind <strong>Begriffe</strong> quasi „Extrakte“ <strong>der</strong>wesentlichen Merkmale eines Dings. Die Gesamtheit <strong>der</strong> Merkmale bildetdie Intension. Je mehr Merkmale ein Begriff enthält, desto konkreter ist er.Durch Abstraktion (Weglassen von Merkmalen) entstehen allgemeinere<strong>Begriffe</strong> („Bachforelle“ – „Forelle“ – „Fisch“ – „Tier“ – „Lebewesen“).(c) Umstritten ist die Frage, wie <strong>Begriffe</strong> existieren. Ihre Charakterisierungals ideelle Gebilde wirft das Problem auf, was unter ideeller Existenzvorzustellen ist: meist nichts Konkreteres als irgendeine Art des Daseins imDenken. Allerdings fehlt es nicht an Philosophen (von Plato bis heute), dieeine eigenständige Existenz <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong> annehmen: unabhängig vommenschlichen Denken.Alle drei Ansichten sind eng verknüpft mit <strong>der</strong> Auffassung, dass <strong>Begriffe</strong>kompakt-atomare Gebilde sind, quasi die operativen Einheiten unseresDenkens. Sie werden vorgestellt wie Bauklötze, die unser Geist ergreift undzu komplexeren Einheiten – Phrasen, Sätzen, Argumenten – zusammenfügt.(15) Demgegenüber besagt die retikuläre Begriffstheorie: ein Begriff istkein statisches Ding, son<strong>der</strong>n ein dynamisches Wissen. Er ist ein Netzwerkvon Wortverknüpfungen, das plastisch und variabel angelegt ist. Im Laufe<strong>der</strong> individuellen Lerngeschichte werden die <strong>Begriffe</strong> ausgebildet undnehmen – je nach individueller Lernerfahrung – unterschiedlichen Umfangan. Daher sind die <strong>Begriffe</strong> interindividuell variabel, wenn auch nicht ineminenter Weise. Im Kernbereich stimmen sie meist gut überein, dochkönnen sie stets an neue Erfahrungen adaptiert werden (d.h. neue retikuläreBeziehungen eingehen).Während des Denkens tragen Kontextfaktoren dazu bei, dass aus demGesamtnetzwerk <strong>der</strong> retikulären Beziehungen eines Worts nur gewisseBeziehungen aktiviert werden, wodurch eine kontextspezifischeNuancierung <strong>der</strong> Bedeutung des Worts erfolgen kann.(16) Was die Existenz <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong> betrifft, so folgt aus <strong>der</strong> Bestimmung,dass <strong>Begriffe</strong> ein subjektives Wissen sind, dass sie psychische Phänomenesind. Dies ist noch näher zu bestimmen.Die psychologische Basis <strong>der</strong> Wortverknüpfungen sind stabileAssoziationen. Diese liegen primär als Dispositionen vor und werden beimDenken eines Worts aktiviert. Denke ich z.B. „Fisch“, so werden assoziativWorte mitaktiviert, die mit „Fisch“ retikulär verknüpft sind: „hat Flossen“,„lebt im Wasser“, usw. Damit wird das ganze Netzwerk (o<strong>der</strong> ein Teil6


davon) von „Fisch“ aktiviert. Das heißt, das Wort „Fisch“ mitsamt seinenBeziehungen zu an<strong>der</strong>en Worten ist im Denken präsent. Diese Beziehungen(<strong>der</strong>en Eigenart an<strong>der</strong>swo behandelt wird 6 ) beeinflussen wie<strong>der</strong>um denProzess des weiteren Denkens. Sie werden im Denken realisiert, indem sieden Ablauf des Denkprozesses anleiten, wenn nicht weitgehend regulieren.Somit ergibt sich hinsichtlich <strong>der</strong> Existenz von <strong>Begriffe</strong>n: <strong>Begriffe</strong>existieren als Wissen in den Individuen einer Sprechergemeinschaft. DasWissen liegt primär als Disposition vor: als verfügbare stabileAssoziationen, die beim Denken aktiviert werden. Die retikulärenBeziehungen zwischen den Worten werden realisiert in den Denkabläufenbzw. den Sprechabläufen (also im Ablauf materieller Ereignisse). 7(17) Die retikuläre Begriffstheorie umgeht noch weitere Probleme, die mit<strong>der</strong> traditionellen Begriffstheorie verbunden sind. So etwa die alteStreitfrage, ob <strong>Begriffe</strong> erworben o<strong>der</strong> angeboren sind. In dieser Sache hatin jüngerer Zeit das empiristische Dogma die Oberhand behalten, wonachnichts im Verstand ist, was nicht zuvor in den Sinnen war 8 . Aber diesesDogma (wie auch seine Gegenposition) beruht auf <strong>der</strong> falschenVoraussetzung, dass <strong>Begriffe</strong> eigene Entitäten (Ideen) in unserem Geistwären. Dann freilich stellt sich die Frage, wie sie dort hingekommen sind.Versteht man <strong>Begriffe</strong> hingegen als Netzwerke aus Worten, dann ist klar,dass sie nicht an<strong>der</strong>s erworben werden als durch das Erlernen <strong>der</strong> Sprache.Wir lernen (als Kin<strong>der</strong>) Worte und ihren Gebrauch, und unsere <strong>Begriffe</strong> sindnichts an<strong>der</strong>es als das Wissen dieser Worte und ihres Gebrauchs. So gesehenliegt <strong>der</strong> Ursprung <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong> im Spracherwerb. – DieSinneswahrnehmung spielt dabei eine ganz an<strong>der</strong>e Rolle als die Empiristenmutmaß(t)en. Es ist keineswegs so, dass wir die Dinge erst sehen, hören,riechen, etc. müssen, bevor wir uns einen Begriff von ihnen bilden können(so meint es das empiristische Dogma). Im Gegenteil, wir haben ja viele<strong>Begriffe</strong> von Dingen, die <strong>der</strong> sinnlichen Wahrnehmung unzugänglich sind:„Gott“, „Jahrhun<strong>der</strong>t“, „Risiko“, „Kapital“, usw. Wie könnten wir davonetwas im Verstand haben, wenn es gar nicht in die Sinne kommen kann? –De facto ist allein <strong>der</strong> Hörsinn wichtig für den Begriffserwerb, weil wir die6 vgl. meinen Essay „Rationale Beziehungen“7 Hierzu einige terminologische Klärungen. Ein Wort ist ein materielles Gebilde o<strong>der</strong>Ereignis: gesprochen, geschrieben, gedeutet o<strong>der</strong> gedacht. Als gesprochenes Wort ist eseine Konfiguration von Schalllauten, als geschriebenes eine Konfiguration vonTintenstrichen, als gedeutetes eine Konfiguration von Hand- und Fingerstellungen. Alsgedachtes ist es ein psychischer Prozess. – Wir wollen auch psychische Prozesse alsmaterielle Ereignisse erachten, da sie ja an materielle Vorgänge (Neuronenaktivitäten)geknüpft sind. Das Psychische ist ein Epiphänomen materieller Vorgänge und insofernselber <strong>der</strong> materiellen Welt zugehörig. – Sprechen und aktives Denken unterscheiden sichnur insoweit, als beim Denken keine begleitende Aktivität <strong>der</strong> Sprechorgane stattfindet(Lautproduktion). Ansonst dürften die psychischen Prozesse beim Sprechen und(produzierenden) Denken ziemlich gleich ablaufen. – Etwas an<strong>der</strong>s scheint es beimrezipierenden Denken (Zuhören) zu sein.8 Z.B. emphatisch vorgetragen von Fritz Mauthner in seinen Beiträgen zur Sprachkritik.Die Gegenposition wurde in jüngerer Vergangenheit von Karl Popper vertreten (vgl.Objektive Erkenntnis, II,18: "Wäre eine Schätzung nicht absurd, so würde ich sagen, 99,9%des Wissens eines Organismus seien vererbt o<strong>der</strong> angeboren, und nur 0,1% bestünden inVerän<strong>der</strong>ungen des angeborenen Wissens“).7


Sprachlaute hören müssen, um sie und ihren Gebrauch zu erlernen. DasHören <strong>der</strong> gesprochenen Sprache ist die einzige Sinneswahrnehmung, dieeine Rolle für die Begriffsbildung spielt.(18) <strong>Eine</strong> weitere Fehlauffassung über <strong>Begriffe</strong>, die durch die retikuläreBegriffstheorie korrigiert wird, ist die Lehre von <strong>der</strong> Begriffsbildung durchAbstraktion. Diese Lehre beruht auf <strong>der</strong> Vorstellung, dass die <strong>Begriffe</strong>Merkmale des Dings beinhalten, das sie repräsentieren. Die Gesamtheit <strong>der</strong>Merkmale ist dann die Intension. Ein konkreter (spezifischer) Begriff enthältviele Merkmale; durch sukzessives Weglassen von Merkmalen(„Abstraktion“) entstehen allgemeinere (abstraktere) <strong>Begriffe</strong>.Das ist ein völlig artifizielles Modell <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong> und ihrer Bildung. Erstensist die Auffassung, dass <strong>Begriffe</strong> Zeichen (Repräsentanten) für Dinge sind,haltlos. Richtig ist: sie können als Zeichen gebraucht werden, sind es abernicht an sich. Die Sprache ist kein System von Zeichen, son<strong>der</strong>n ein Systemvon Worten, d.h. von Gebilden, die in bestimmter Weise gebraucht werden,um bestimmte Funktionen erfüllen. Darunter ist die Funktion desBezeichnens von Dingen nur eine. Sind nun die <strong>Begriffe</strong> primär keineZeichen, dann sind sie auch keine Abbil<strong>der</strong> von Dingen und keine„Merkmalsträger“. Damit ist die These erledigt, dass sie durchMerkmalsextraktion und -abstraktion gebildet werden.(19) Diese These – wie auch das empiristische Dogma – beruht auf einemIrrtum, den wir zuletzt noch aufzeigen wollen: <strong>der</strong> Vermengung <strong>der</strong>begrifflichen und <strong>der</strong> sensualen Bedeutungskomponente von Worten.Ich habe an an<strong>der</strong>er Stelle dargelegt, dass die Bedeutung von Worten(allgemein: Sprachäußerungen) aus verschiedenen Komponenten besteht. 9Dazu zählen: die sensuale Bedeutungskomponente (BK), die begrifflicheBK, die grammatische BK, die emotionale BK, u.a. Die einzelnen BKeninteragieren beim Prozess <strong>der</strong> Bedeutungsbildung und verflechten sich zueinem Ganzen – eben <strong>der</strong> Bedeutung.Der Begriff geht als begriffliche BK in die Bedeutungsbildung ein. Nun istein Begriff ein Netzwerk allein aus Worten und beinhaltet keinerleisinnliche Komponenten (wie Erinnerungen an visuelle, olfaktorische, etc.Sinneseindrücke). Sinnliche Erinnerungen tragen zwar auch zur Bedeutungdes Wortes bei: diese bilden jedoch die sensuale BK, also eine eigenständigeBK. Sensuale BK und begriffliche BK sind zwei separate Komponenten <strong>der</strong>Bedeutung, die nicht vermischt werden dürfen.Indem ein Begriff allein aus retikulären Beziehungen zu Worten besteht,enthält er keine Merkmale, die aus <strong>der</strong> sinnlichen Wahrnehmung extrahiertsind. Diese gehören eben <strong>der</strong> sensualen BK des Wortes an.9 vgl. meinen Essay „Über Bedeutungen“8


V. <strong>Begriffe</strong> als Komponenten <strong>der</strong> Bedeutung von Worten(20) Um das zuletzt Gesagte verständlicher zu machen, sollen kurz einigeGrundlagen <strong>der</strong> Bedeutungstheorie rekapituliert werden, die ich an an<strong>der</strong>erStelle ausführlicher dargelegt habe. 10Wie gesagt: die Bedeutung einer Sprachäußerung setzt sich aus mehrerenKomponenten zusammen (Bedeutungskomponenten, BK). Ich habe dieseBKen im o.g. Essay beschrieben: die sensuale, die begriffliche, diegrammatische, die emotionale, u.a. Der Begriff geht als begriffliche BK indie Bedeutungsbildung ein.An einem Beispiel erläutert: das Wort „grün“ in dem Satz „Das Blatt istgrün“ bewirkt in einem Mitglied <strong>der</strong> deutschen Sprechergemeinschaft dieAktivierung eines umfangreichen Wissens, das u.a. inkludiert: dass „grün“ auf einen grünen Seheindruck anwendbar ist (sensuale BK), dass „grün“ eine Farbe ist (begriffliche BK), dass „grün“ hier ein Eigenschaftswort ist (grammatische BK), dass Grünes angenehm empfunden wird (emotionale BK).Das gesamte Wissen setzt sich also aus einer Vielzahl von verfügbarenAssoziationen zusammen, die das Wort „grün“ (sobald wir es hören)auslöst. Die nun aktivierten Prozesse interagieren miteinan<strong>der</strong> und ergebenin ihrer Gesamtheit die Bedeutung von „grün“. Darin spielen die sensualeund die begriffliche BK die größte Rolle; gehen wir auf sie näher ein.(21) Die sensuale BK ist das (subjektive) Wissen, dass ein Wort aufbestimmte Wahrnehmungsinhalte anwendbar ist. Zum Beispiel wissen wir,dass „grün“ anwendbar ist auf einen grünen Seheindruck, „laut“ auf einenintensiven Höreindruck, „Baum“ auf ein so und so beschaffenes Gewächs,usw. Das Wissen schließt ein, dass die Wahrnehmungsinhalte eine gewisseVariabilität aufweisen. Das Wort „Baum“ bspw. trifft auf eine Reihe vonSehhindrücken zu, die kaum je gleich sind. Analog umfasst „grün“ eineVielzahl von Nuancierungen des Spektrums und <strong>der</strong> Intensität. Daher gibt esmeist Grenzfälle, wo wir nicht sicher sind, ob ein Wort noch auf eineWahrnehmung zutrifft o<strong>der</strong> nicht mehr (z.B.: fällt türkis noch unter grün?).Die sensuale BK kommt nur Worten zu, die wir mit Wahrnehmungenverbinden können; also Worte für visuelle, akustische, haptische, gustative,etc. Eindrücke. Ebenso besitzen jene Worte eine sensuale BK, die auf innereWahrnehmungen anwendbar sind: „hungrig“, „müde“, „schmerzhaft“, etc.Worte, denen nichts Wahrnehmbares entspricht, besitzen keine sensualeBK, z.B. „Intelligenz“ o<strong>der</strong> „Determination“. Ihre Bedeutung wird durchan<strong>der</strong>e BKen konstituiert, etwa durch die begriffliche. Die Bedeutungensind also aus einer variablen Kombination von BKen zusammengesetzt.Auch ist es so, dass wir ein Wort, dessen sensuale BK uns unbekannt ist, trotzdem teilweiseverstehen können, sofern das Wort an<strong>der</strong>e BKen besitzt, die uns bekannt sind.Angenommen, jemand redet von einer Farbe namens „klim“. Wir haben noch nie einklimfarbiges Ding gesehen und wissen nicht, auf welchen Farbeindruck das Wortanwendbar ist. Wissen wir aber, dass „klim“ für eine Farbe steht (dieses Wissen gehört zur10 vgl. meinen Essay „Über Bedeutungen“9


egrifflichen BK) und dass „klim“ als Adjektiv auftritt (grammatische BK), dann könnenwir eine Teilbedeutung von „klim“ bilden. Dann sind wir in <strong>der</strong> Lage, den Satz „Hans trägteine klime Hose“ ungefähr zu verstehen.(22) Die grammatische BK ist das Wissen über die grammatischenEigenschaften, die ein Sprachausdruck besitzt bzw. die ihm aufgrund seinerEinbindung in eine grammatische Struktur (z.B. Satz) zukommen. ZumBeispiel wissen wir, dass „Meteorit“ ein Hauptwort ist, das nur an gewissenPositionen in einem grammatisch korrekten Satz stehen kann. Diese Positionbestimmt wie<strong>der</strong>um, in welchen (logischen und grammatischen)Beziehungen es zu an<strong>der</strong>en Worten stehen kann.Die grammatische BK spielt eine geringe Rolle für die Bedeutung vonWorten, aber eine große für komplexe Äußerungen wie Phrasen o<strong>der</strong> Sätze.Die Bedeutung eines Satzes ergibt sich ja nicht allein aus den Bedeutungen<strong>der</strong> einzelnen Worte, son<strong>der</strong>n ebenso durch ihre grammatische Anordnung.VI. Subjektivität und Objektivität <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong>(23) Wie gesagt: die einzelnen BKen sind jeweils ein (mehr o<strong>der</strong> wenigerkomplexes) Wissen. „Wissen“ in diesem Sinn bezeichnet die Verfügbarkeitvon gelernten Assoziationen 11 . Diese liegen primär als Disposition vor, diebeim Wahrnehmen einer Sprachäußerung aktiviert und als aktiviertesWissen in die Bedeutungsbildung einbezogen wird.Die Bedeutung einer Sprachäußerung ist also ein Flechtwerk auspsychischen Prozessen, die uns ablaufen, während wir Sprachäußerungenrezipieren o<strong>der</strong> produzieren. In ihrer Gesamtheit bilden diese Prozesse dasVerstehen <strong>der</strong> Äußerung. Das Verstehen <strong>der</strong> Äußerung ist somit das Gleichewie ihre Bedeutung: es (sie) ist ein subjektives psychisches Geschehen.Die Bedeutung einer Sprachäußerung (z.B. eines Satzes) ist nicht eineeigenständige ideelle Realität, die durch die Äußerung transportiert und vonunserem Geist erfasst wird. Vielmehr ist es so, dass die Äußerung im(rezipierenden) Individuum psychische Prozesse induziert, die in ihrerGesamtheit die Bedeutung erst bilden. Die Bedeutung entsteht im Kopf desRezipienten; sie ist subjektiv und flüchtig. So gesehen ist es falsch zu sagen:ein Wort hat eine Bedeutung, son<strong>der</strong>n es muss richtig heißen: ein Worterzeugt eine Bedeutung(24) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass <strong>Begriffe</strong> als Wissen nur im Denken<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> einer Sprechergemeinschaft existieren. Demnach sind alle<strong>Begriffe</strong> subjektiv in dem Sinn, dass je<strong>der</strong> Mensch seinen eigenen Begriff zujedem (ihm bekannten) Wort hat.Daraus ergibt sich weiters, dass <strong>Begriffe</strong> interindividuell differieren können.Kompetente Sprecher wissen viele Beziehungen, in denen die Wortezueinan<strong>der</strong> stehen; gering kompetente Sprecher (z.B. Kin<strong>der</strong>) viel weniger.Ein Jurist kennt viel mehr retikuläre Beziehungen von „Vertrag“ als ein11 Der hier gebrauchte Wissensbegriff ist zu unterscheiden von an<strong>der</strong>en Wissensbegriffen,etwa vom propositionalen Wissen (Kennen des Wahrheitswerts eines Satzes).10


Laie, usw. Der Umfang <strong>der</strong> Kenntnisse an Worten und ihren retikulärenBeziehungen macht einen nicht geringen Teil jener Qualifikation aus, diegemeinhin als „Bildung“ bezeichnet wird.(25) Man könnte einwenden, dass die Behauptung, dass jedes Individuumseinen eigenen Begriff zu jedem Wort hat, ernste Probleme aufwirft. Wiewäre in diesem Fall gewährleistet, dass eine Äußerung von allen Individuengleich verstanden wird? Müsste nicht eine babylonische Sprachverwirrungeintreten, wenn dasselbe Wort bei verschiedenen Personen verschiedene<strong>Begriffe</strong> induziert? Und doch funktioniert im Regelfall die sprachlicheVerständigung sehr gut, was die traditionelle Annahme stützt, dassSprachäußerungen eine objektive Bedeutung haben, d.h. eine Bedeutung, dienicht subjektiv variabel ist. Diese objektive Bedeutung wird von unseremGeist so erfasst, wie sie an sich beschaffen ist. Nur so ist erklärbar, dass einesprachliche Äußerung von verschiedenen Hörern gleich verstanden wird.Dieser Einwand trifft nicht. Für das Gelingen <strong>der</strong> Verständigung genügt es,wenn die <strong>Begriffe</strong> bei verschiedenen Individuen grob übereinstimmen (inihrem Kernbereich). An<strong>der</strong>s gesagt: die Individuen müssen bloß diewichtigsten Beziehungen, die ein Wort zu an<strong>der</strong>en Worten hat, kennen. Dasaber wird durch die sprachliche Sozialisation leicht erreicht. Indem ein Kindin die Sprechergemeinschaft hineinwächst, übernimmt es <strong>der</strong>en Praxis desWortgebrauchs. Dadurch bildet es einen Begriffsapparat aus, <strong>der</strong> mit dem<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sprecher weitgehend übereinstimmt(26) Es ist also keineswegs so, dass die Subjektivität <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong> mitBeliebigkeit o<strong>der</strong> Inkonstanz gleichzusetzen ist. Sie impliziert nur, dass einegewisse interindividuelle Variabilität besteht. Diese Variabilität ist abernicht so groß, dass die Verständigung unmöglich würde. Ihr Effekt bestehtallenfalls darin, dass <strong>der</strong> Rezipient den Sprecher nicht genau so versteht, wie<strong>der</strong> seine Äußerung meint. Und das dürfte im Alltag sehr häufig <strong>der</strong> Fallsein. – Damit ist <strong>der</strong> obige Einwand abgewehrt. Die Notwendigkeit <strong>der</strong>Annahme einer objektiven (vom Subjekt unbeeinflussbaren) Bedeutung istnicht gegeben.Was die Objektivität <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong> betrifft, so besteht diese in Wahrheit inihrer interindividuellen Übereinstimmung. Die Objektivität eines Begriffszeigt sich an <strong>der</strong> Übereinstimmung <strong>der</strong> Individuen im Gebrauch einesWorts. 12 Sie lässt sich durch Beobachtung nachweisen bzw. messen. <strong>Eine</strong>hohe Übereinstimmung im Wortgebrauch (d.h. dass alle Sprecher ein Wortin gleicher Weise relativ zu an<strong>der</strong>en Worten verwenden) zeigt hoheObjektivität an. Variabler Gebrauch zeigt eingeschränkte Objektivität an.VII. Das Erlernen <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong>(27) Starke Unterstützung erhält die retikuläre Begriffstheorie durchBeobachtungen, wie Kin<strong>der</strong> die Sprache und die ihr innewohnende Logikdes Wortgebrauchs erlernen. – Wäre ein Begriff ein kompaktes Ding (eine„Idee“), dann müsste ein Kind, sobald es ein Wort erlernt hat, auch dessen12 vgl. dazu meinen Essay: „<strong>Eine</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> Objektivität“11


Begriff kennen. Tatsache aber ist, dass das Kind anfangs die Worte sehrunsicher und variabel gebraucht, wobei es ihnen oft eine sehr „weite“ unddiffuse Bedeutung zulegt. Erst durch praktische Übung wird es sicher imGebrauch eines Worts. Daraus folgt, dass nicht <strong>der</strong> Begriff den Gebrauchanleitet, son<strong>der</strong>n umgekehrt: dass <strong>der</strong> Gebrauch den Begriff allmählichausbildet und stabilisiert.(28) Werfen wir einen Blick auf den kindlichen Spracherwerb, soweit er dasVerstehen (Konstruieren <strong>der</strong> Bedeutung) von Worten betrifft. Die hier zumachenden Beobachtungen sind sehr aufschlussreich: sie bestätigen u.a. diehier vertretene <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> Bedeutungskomponenten.Der kindliche Spracherwerb beginnt mit <strong>der</strong> Nachahmung von gehörtenLauten. Die Nachahmung erfüllt zwei Funktionen: erstens bewirkt sie eine Sensitivierung des auditiven Systems zurbevorzugten Wahrnehmung bestimmter akustischer Frequenzbereicheund -konfigurationen, und zweitens schult sie das neuromotorische System für die Bildungsprachspezifischer Laute.(29) Das erste Verständnis für die Bedeutung von Sprachlauten erwirbt dasKind, indem es lernt, die sensuale BK zu bilden. Sie ist das Wissen, dassSprachlaute zur Benennung von Dingen (Wahrnehmungsinhalten) gebrauchtwerden. Dieses Wissen wird durch die Ausbildung von Assoziationenhergestellt. Es entsteht typischerweise, indem die Mutter mit dem Kind einBil<strong>der</strong>buch durchblättert, auf das Bild einer Katze zeigt und sagt: „Katze“.Durch Wie<strong>der</strong>holung und eigenes Nachsprechen wird die Assoziation vonSprachlaut und Wahrnehmungsinhalt stabilisiert.Nota bene: was das Kind hier lernt, ist die sensuale BK des Worts – nichtdessen Begriff. Mag sein, dass es aus dem wie<strong>der</strong>holten Anblick einer Katzecharakteristische Merkmale extrahiert und in Form einer visuellenSchablone im Gedächtnis behält. Aber diese Schablone ist nicht <strong>der</strong> Begriff<strong>der</strong> Katze; sie gehört nicht einmal zu ihm. Sie ist vielmehr ein operativerBestandteil <strong>der</strong> sensualen BK. Ebenso wichtig ist, dass das Kind lernt, dassWahrnehmungen, die dieser Schablone entsprechen, mit dem Wort „Katze“benannt werden. All das gehört zur sensualen BK von „Katze“. Ganzähnlich erlernt das Kind die sensuale BK an<strong>der</strong>er wahrnehmungsbezogenerWorte: „rot“, „heiß“, „kalt“, „laut“, „süß“; „salzig“, usw.(30) Das Erlernen <strong>der</strong> begrifflichen BK (des Begriffs) geht auf an<strong>der</strong>e Weisevor sich. Die <strong>Begriffe</strong> erlernen wir, indem wir an<strong>der</strong>e Menschen sprechenhören. Zum Beispiel hört das Kind seine Mutter sagen: „Die Katze ist einTier“. Ein an<strong>der</strong>mal sagt die Mutter: „Der Hund ist ein Tier“, „Das Pferd istein Tier“, „Der Hahn ist ein Tier“, usw. Das Wort „Tier“, welches das Kindwie<strong>der</strong>holt hört, hat offenkundige Beziehungen zu allen diesen Worten, unddiese Beziehungen werden im Rahmen <strong>der</strong> Begriffsbildung assoziativverknüpft bzw. gemerkt. Sie regeln den Gebrauch <strong>der</strong> Worte: hier etwa, dass„Tier“ allgemeiner gebraucht wird als „Katze“, „Hund“ usw.12


Das ist natürlich keine Einsicht, die dem Kind bewusst wird. Doch offenbaranalysiert sein Geist das gehörte Sprachmaterial auf solche Beziehungenzwischen Worten. Was zunächst ein bloßes Nachahmen des Gehörten ist –„Die Katze ist ein Tier“, „Der Hund ist ein Tier“ – liefert alsbald ein Wissenüber die treffsichere Verwendung des Wortes „Tier“. Kommen weitereVerknüpfungen mit „Tier“ hinzu („manche Tiere sind Raubtiere“, „Tieresind keine Pflanzen“, usw.), dann resultiert daraus bald ein umfangreicheresWissen, wie sich „Tier“ zu an<strong>der</strong>en Worten verhält. Die Gesamtheit diesesWissen macht den Begriff von „Tier“ aus.(31) Zur Erhärtung des Gesagten noch ein Beispiel, welches zeigt, dass dieKin<strong>der</strong> tatsächlich die sensuale und die begriffliche BK als erste erwerben.Das lässt sich überprüfen, indem man ein (z.B. dreijähriges) Kind nach <strong>der</strong>Bedeutung von Worten fragt. Es wendet dabei zwei alternative Strategienan: entwe<strong>der</strong> nennt es die sensuale BK o<strong>der</strong> die begriffliche BK des Worts.Fragt man etwa, was ein Löwe sei, dann besteht die Antwort darin, dass esauf das Bild eines Löwen zeigt (so vorhanden), also die sensuale BK desWorts aktiviert. Ist kein Bild zuhanden, dann gibt es eine verbaleBeschreibung von <strong>der</strong> Art: „ein Löwe ist ein Tier mit einer Mähne undPranken, das laut brüllt“. Diese Beschreibung erzeugt die Bedeutung von„Löwe“ durch Angabe seiner Beziehungen zu an<strong>der</strong>en Worten: „ist einTier“, „hat Mähne und Pranken“, und „brüllt“.VIII. Keine Hinterwelt(32) Zarathustra-Nietzsche prägte den Ausdruck „Hinterweltler“ fürMenschen, die an eine Welt hinter <strong>der</strong> sinnlich erfahrbaren glauben. Zudiesen gehören nicht nur Religiöse und Okkultisten, son<strong>der</strong>n auch manchePhilosophen. Jene nämlich, die meinen, dass <strong>Begriffe</strong> geistige Gebildehinter den Worten (Sprachlauten) seien. Wer so etwas glaubt, erfüllt dieDefinition eines Hinterweltlers. 13Die Annahme <strong>der</strong> Existenz einer begrifflichen Hinterwelt ist mit <strong>der</strong>retikulären Begriffstheorie hinfällig. Ihr zufolge sind <strong>Begriffe</strong> sind keineideellen (geistigen) Entitäten, son<strong>der</strong>n psychische Prozesse in uns: unsersubjektives Wissen von den logischen Beziehungen <strong>der</strong> Sprachäußerungenuntereinan<strong>der</strong>. Ein Begriff ist demnach eine subjektive (private) Größe.<strong>Begriffe</strong> liegen im Individuum als Dispositionen vor und werden beimDenken aktiviert und durch Sprachäußerungen realisiert.(33) Die Annahme einer ideellen Hinterwelt wird durch zwei Problememotiviert, die sie (scheinbar) löst: die Intersubjektivität <strong>der</strong> Sprache und <strong>der</strong>notwendig-apriorische Charakter von Mathematik und Logik. Beides solldurch die Behauptung, dass die Bedeutung <strong>der</strong> Sprachzeichen etwas„Objektives“ (vom Subjekt Unabhängiges) sei, plausibel werden. Doch ist13 Ein gegenwärtiger emphatischer Vertreter des Hinterweltlertums ist <strong>der</strong> HamburgerPhilosoph Künne. Aber auch Carnap, Quine, Popper gehören dazu, die an die Existenz von„Klassen“ bzw. „Dritte-Welt-Objekten“ glaubten.13


die Annahme einer ideellen Hinterwelt an sich eine Absurdität, sodass sieschwerlich zur Lösung irgendeines Problems geeignet ist.Was die Intersubjektivität <strong>der</strong> Sprache betrifft, so beruht sie wohl auf <strong>der</strong>Objektivität <strong>der</strong> <strong>Begriffe</strong>. Aber diese Objektivität ist nicht Unabhängigkeitvom menschlichen Subjekt, son<strong>der</strong>n interindividuelle Übereinstimmung imSprachgebrauch. Objektivität besteht in die Abwesenheit von Fehlervarianzim Ergebnis 14 (hier: dem rationalen Sprachverhalten).Auf das Problem, das <strong>der</strong> notwendig-apriorische Charakter von Mathematikund Logik in diesem Zusammenhang aufwirft, wird ein eigener Essayeingehen 15 .14 vgl. meinen Essay „<strong>Eine</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>der</strong> Objektivität“15 vgl. meinen Essay: „Rationalität“14

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