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Liebe im Gegenwartsgedicht

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1 Verlust der Harmonie<strong>Liebe</strong> <strong>im</strong> <strong>Gegenwartsgedicht</strong>Die gegenwärtigen Tendenzen in der <strong>Liebe</strong>slyrik setzen um 1970 ein. Auf der inhaltlichenEbene lässt sich hauptsächlich die Wiederentdeckung der Subjektivität, die Beziehungzur AIItagswirklichkeit und die Emanzipationsbewegung der Frauen beobachten.Diese Faktoren üben auf die Herausbildung der <strong>Liebe</strong>sauffassung eine große Wirkungaus. Hinzu kommt die Vereinfachung der Sprache und der lyrischen Formen, sodass die Texte unmittelbar zugänglich erscheinen. Die wichtigsten Grundzüge dieserLyrik werden <strong>im</strong> Folgenden an zwei Beispielen von Frauen, Ulla Hahn und Karin Kiwus,erläutert.Ulla HahnBildlich gesprochenWar ich ein Baum ich wüchsedir in die hohle Handund wärst du das Meer ich bautedir weiße Burgen aus Sand.Wärst du eine Blume ich grübedich mit allen Wurzeln auswär ich ein Feuer ich legtein sanfte Asche dein Haus.Wär ich eine Nixe ich saugtedich auf den Grund hinabund wärst du ein Stern ich knalltedich vom H<strong>im</strong>mel ab.Dieses Gedicht aus Ulla Hahns Lyrikband Herz über Kopf (1981) spricht von der emotionalenBeziehung eines lyrischen Subjekts zu einem fiktiven Du, von der <strong>Liebe</strong> also,deren genauerer Sinn durch die Analyse des Textes zu erfassen ist. Ohne das bekannteVokabular der Zuneigungs- oder Leidenschaftssprache zu verwenden, entfaltet dieAutorin das Thema in gleichnishaften Bildern, in kunstvoll gebauten Versen, inindirekter Sprechweise - und doch wissen wir bei der Lektüre sogleich, worum esin dem Gedicht geht. Die Verschlüsselungen des Textes sind so leicht durchschaubar,dass unmittelbares Verstehen sich einstellt. Das ist in der modernen Lyrik,wie am Beispiel von Krolows „<strong>Liebe</strong>sgedicht" ersichtlich sein wird, durchausnicht die Regel.Obwohl dem Gedicht ein starker Gefühlsinhalt zugrunde liegt, fällt die sorgfältigeStrukturierung aller drei Strophen ins Auge und ein wohl durchdachter syntaktischerVerlauf, den man bei Texten mit solch hoher emotionaler Intensität nichtunbedingt erwartet. Es entsteht dadurch eine untergründige Spannung zwischenden leidenschaftlichen Äußerungen des lyrischen Ichs und der sehr rationalen Gestaltungsweisedes Gedichts, die als Kontrast-Spannung zwischen Gehalt undForm des Kunstwerks bezeichnet werden kann.Der Sprachgestus des Textes ist streng monologisch und auch bei der Hinwendungzum Du ganz aus der Perspektive der sprechenden Figur her angelegt. Es ergibtsich zwar eine Form von Kommunikation mit dem angesprochenen Partner, jedochnehmen wir nur die Vorstellungen des Ich-sagenden Subjekts wahr. In diesemSinne kann man Ulla Hahns Gedicht „subjektiv" nennen, <strong>im</strong> Gegensatz etwazu Hofmannsthals „Die Beiden" oder C. F. Meyers „Zwei Segel", in denen eineobjektiv beobachtende Sprecherperspektive eingenommen wird.Die Festlegung des Textes auf den Standort des sich mitteilenden Ichs erlaubt eine1


unmittelbare Innensicht der Figur, ihrer Gefühle und Gedanken. Wahrscheinlichist dieses Darbietungsmodell der <strong>Liebe</strong>slyrik besonders angemessen, weil das Subjekt<strong>im</strong> Grunde nur über seine eigenen Empfindungen authentisch sprechen kann,nicht aber über die eines anderen. Dennoch stellt sich be<strong>im</strong> Leser ein gewissesBedauern darüber ein, dass das Du nicht zu Wort kommt und dass wir nichts überseine innere Haltung erfahren.Dabei lässt sich in "Bildlich gesprochen" unter grammatischen Gesichtspunkteneine sehr genaue Ausgewogenheit von Ich- und Du-Pronominalformen beobachten.Jede Strophe ist in kunstvoller Variation gebildet aus einem „Wär ich" (V. 1) -und einem „Wärst du" (V. 3)-Satzgefüge. Es entsteht so der Anschein einergleichmäßigen Rollenverteilung. Jede Strophe weist drei Pronomina der erstenund drei Pronomina der zweiten Person auf. Aber nur das Personalpronomen,ich' besitzt Subjektfunktion in den Hauptsätzen, während die ,du'-Formenlediglich in den Nebensätzen auftreten bzw. als Dativ- oder Akkusativ-Objekteder Hauptsätze. Dem entspricht die untergeordnete Stellung, die dem fiktiven Du<strong>im</strong> gesamten Gedicht zugedacht wird.Noch mehr verschärft sich dieser Eindruck, wenn man die Zuordnung der Verbenberücksichtigt. Ihnen kommt als Trägern des aktiven Handelns ja die Hauptbedeutung<strong>im</strong> Text zu. Durch die kräftig betonte Stellung am Ende der Verse 1 und3 jeder Strophe, markiert durch eine Pausierung und den Zeilensprung, sind siedeutlich herausgehoben. Ausnahmslos aber gehören die Verben zum sprechendenIch. Das Du ist nur mit nominalen Wendungen bedacht, denen zwar einegewisse Ausdruckskraft und Bewegung innewohnt (Meer, Blume, Stern), die jedochkein eigenes Willenshandeln ausdrücken. Es wird sich zeigen müssen, welcheFolgen diese ,Objekt'-Stellung des Du für den Sinngehalt des Gedichts besitzt.Im Verlauf des Textes offenbart die Ich-Figur dem begehrten Du ein Grundgefühlvon Zuneigung, das in sechs Bildern (je zwei in jeder Strophe) zum Ausdruckgebracht wird. Dabei gehören die vier Bilder der ersten beiden Strophen aufgrundwichtiger Gemeinsamkeiten zusammen. Die Bilder 1 und 3 beziehen sich aufden Pflanzenbereich, die Bilder 2 und 4 auf die Naturgewalten Wasser und Feuerund deren Wirkungen.Im Anfangsbild vertraut sich das lyrische Subjekt <strong>im</strong> übertragenen Sinne dem Duzuversichtlich an, indem es sich - in Gestalt des aufwachsenden Baumes - wörtlichin seine Hände gibt; wobei es unausgesprochen an seine Bereitschaft zu stützender,pflegender Behandlung appelliert und zugleich den anderen dadurchbindet. Hineinspielt auch die Wirkung, die vom 3. Bild ausgeht und auf den Anfangzurückstrahlt. Das Ausgraben und He<strong>im</strong>tragen der Blume setzt ja gleichfallsdie Sorge um das weitere Gedeihen voraus, diesmal in umgekehrter Rollenverteilung.Das „mit allen Wurzeln" (V. 6) signalisiert die Behutsamkeit, mit der jedeBeschädigung des anderen Wesens vermieden werden soll. Aber unübersehbardrückt das Bild auch einen Besitzwillen aus, wie es der <strong>Liebe</strong> eigen ist.Ulla Hahn spielt hier auf ein Motiv aus Goethes Gedicht „Gefunden" an, dessendritte Strophe lautet:Ich grub's mit allenDen Würzlein aus,Zum Garten trug ich'sAm hübschen Haus.(NC, S. 266)Es ist zu vermuten, dass die Dichterin die freundliche St<strong>im</strong>mung des Goethe-Gedichts in ihre Verse hineinholen will.Im Kontext der Folgebilder 2 und 4 lassen sich die positiven Deutungen der <strong>Liebe</strong>2


nicht mehr aufrechterhalten. Zwar suggeriert das Errichten weißer Sandburgen <strong>im</strong>2. Bild die Vorstellung, dass das Ich dem begehrten Du Freude bereiten oder Ehrungzuteil werden lassen will, aber genau genommen dienen die Sandburgen amStrand den Meereswellen zum Spiel der Zerstörung. Das Bild drückt also auch dieBereitschaft des liebenden Ichs zur Preisgabe des eigenen Selbst aus. Diese Auslegungbestätigt sich be<strong>im</strong> Blick auf das 2. Bild der Strophe 2, das auffällige Parallelenbesitzt. Dort formuliert das lyrische Ich <strong>im</strong> Gleichnis vom Verbrennen desHauses den Wunsch, dass der Partner zur Aufgabe des in sich abgeschlossenenSelbst-Seins gezwungen werde. Dass diesem Bild etwas Gewaltsames, Bedrohlichesanhaftet, wird schon durch die Bezugnahme auf die Naturgewalt deutlich.Das Feuer gilt ja als traditionelles Symbol für <strong>Liebe</strong>sleidenschaft und deutet zugleichGefahr an. Durch die versöhnliche Formulierung „sanfte Asche" (V. 8) wirddas nur wenig gemildert. Allerdings wirkt die Forderung, alle ich-bezogenen, abgeschlossenenDaseinsformen zu Gunsten von Gemeinsamkeit aufzugeben, unausgesprochenin jede <strong>Liebe</strong>sbeziehung hinein.In den beiden Schlussbildern der 3. Strophe bekommt das Moment der Gewalt inder <strong>Liebe</strong> eine alles überschattende Bedeutung. Die Fixierung auf das geliebte Dusteigert sich bis zum Vernichtungswunsch. Das zeigt sich in der Wortwahl, derenBrutalität den Bildwirkungen eine erschreckende Härte verleiht: „Ich saugte […]hinab" (V. 9f) , „ich knallte […] ab" (V. 9f); in diesen Formulierungen drückt sichdie zerstörerische, feindselige Haltung des Ichs aus.Das 1. Bild der letzten Strophe benutzt das vor allem in der Romantik beliebteMotiv der Nixen oder Sirenen als Sinnbild der verführerischen Frauen, denen dieMänner mit tödlicher <strong>Liebe</strong>ssehnsucht verfallen. Auch Goethe verwendet in seinerBallade „Der Fischer" dieses Motiv. Im Gegensatz zu Ulla Hahns lyrischem Ichlockt Goethes Wasserweib mit sprachlichen Mitteln, mit beschwörenden Worten,in denen der Dichter die magische Anziehungskraft der <strong>Liebe</strong> triumphieren lässt("Halb zog sie ihn, halb sank er hin"). Ulla Hahn vermeidet bewusst das herkömmlicheBild, das eher ein Hinablocken enthält. Das stattdessen verwendete ‚Hinabsaugen’beraubt das Du jeglicher Widerstandsmöglichkeit und lässt ihm nichteinmal den Anschein von freier Wahl. Damit gerät der <strong>Liebe</strong>sbegriff des Gedichtsendgültig unter die Vorherrschaft von gewaltsamer Inbesitznahme: Das lyrischeIch will um jeden Preis, auch um den der Zerstörung, mit dem geliebten Du vereintsein. Als äußerste Zuspitzung bleibt somit - <strong>im</strong> letzten Bild - nur noch die Auslöschung.Der Geliebte, als Stern in unerreichbarer Ferne versinnbildlicht, mussvernichtet werden, wenn er denn nicht zu gewinnen ist. Das Böse, zu dem die<strong>Liebe</strong> entarten kann, wird in den Schlusszeilen an exponierter Stelle formuliert.Die nahezu idyllischen Wirkungen der ersten Bilder gehen also ganz verloren.<strong>Liebe</strong> ist aber dem umfassenden Sinn des Gedichts zufolge alles andere als eineIdylle. Wir können demnach auch - positiv gewendet - die Aussagen des lyrischenIchs als radikales Bekenntnis zu seinem Gefühl verstehen – „Herz über Kopf" eben,wie der programmatische Titel der Sammlung lautet. Das Subjekt fordert von sichund vom Du die vorbehaltlose Hingabe für die Verwirklichung der <strong>Liebe</strong>, die Verschiedenheitoder Trennung nicht erträgt, von der wir uns aber vorstellen, dass sienicht verlangt, sondern nur freiwillig geleistet werden kann. Indem das Ich sich inder Beziehung zum Partner ausschließlich an seinen eigenen Ansprüchen orientiertund das .Objekt' des Verlangens als eigenständiges Ich nicht wahrn<strong>im</strong>mt, trittder eingangs erwähnte Subjektivismus übermächtig zutage. Sicher schwingt darineine überwältigende, emotionale Unbedingtheit mit, der ängstliche Selbstbewahrung,wie sie etwa Rilke in seinem „<strong>Liebe</strong>s-Lied" ausspricht, ganz fremd ist. Zugleichträgt diese <strong>Liebe</strong> aber deutliche Züge von Selbstsucht und Gewaltsamkeit.Die inhaltliche Analyse der Sprachbilder hat eine gewisse Klarheit über die <strong>Liebe</strong>sauffassunginnerhalb des Gedichts herbeigeführt. Das ist zum Verständnis des3


Textes unerlässlich. Aber sie kann nicht genügen, denn die eigentliche Qualitätdes Gedichts beruht auf der überzeugenden sprachlichen und kompositorischenGestaltung. Von ihr gehen wichtige ästhetische Wirkungen aus, welche die Vermittlungder Inhalte zum Kunsterlebnis machen. Auf einige Formelemente wurde<strong>im</strong> Verlauf der Deutung bereits hingewiesen, doch verdienen der Aufbau und derSprachduktus noch eine genauere Betrachtung.Die drei Strophen des Gedichts werden beherrscht vom Prinzip der Wiederholungund Variation. So besteht jede Strophe aus je zwei gleichgefügten irrealen Bedingungssätzen,die jeweils zwei Zeilen umfassen. Es ergeben sich für das gesamteGedicht sechs gleichartige syntaktische Einheiten. Dabei variiert die Autorin dieMittelstrophe dergestalt, dass sie die Reihenfolge der „Wär ich"- und „Wärst du"-Sätze gegenüber den Strophen 2 und 3 vertauscht. Dadurch wird unter anderem,wie eine Umkehrprobe zeigen kann, die Gefahr der Eintönigkeit vermieden.Obwohl der Text auf die üblichen grammatisch bedingten Satzzeichen verzichtet,machen sich viele syntaktische Einschnitte überdeutlich bemerkbar. Das betrifftvor allem den Schluss der Verse 2, 6 und 10, an dem das erste Bild jeder Stropheendet und man einen Punkt erwartet. Ein prinzipieller Unterschied zu den Strophenschlüssender Verse 4, 8 und 12 lässt sich nicht erkennen. Es ist zu spüren,dass jedes der sechs Einzelbilder sich zu isolieren und jede Strophe in zwei Zweizeilerzu zerfallen droht. Die Hauptursachen liegen in der strengen Sinneinheit derjeweiligen Zweiergruppen und in der syntaktischen Abgeschlossenheit eines jedender sechs Satzgefüge gegenüber dem andern.Durch eine vielfaltige Verschränkung der Strukturelemente versucht die Autorin,einen größtmöglichen Zusammenhalt herzustellen. Am Beginn der Zeilen 3 und11 soll die Konjunktion „und" als Bindeglied zwischen den Strophenhälften dienen.Ihr Fehlen in der mittleren Strophe verleiht der Trennung zwischen dem drittenund vierten Bild besonderen Nachdruck. Vor allem der parallele Bau der Zeilen1 und 3 in jeder Strophe mit den Konjunktiven am Beginn und den Verbformenam Ende bewirkt eine über die Syntaxgrenzen hinausgreifende Zusammengehörigkeitdieser getrennten Zeilen. Klanglich verbinden sich jeweils die Verse 2und 4, 6 und 8, 10 und 12 mit Hilfe der Endre<strong>im</strong>e.Einheit stiften oft auch die Gedichtschlüsse. Zumal bei Texten wie diesem mit seinerAneinanderreihung (Addition) von Aussageeinheiten muss der Leser davonüberzeugt werden, dass die Bilderfolge nicht beliebig weitergehen kann. Sie mussalso zu einem sinnvollen Halt gebracht werden, so dass - wie Walter Killy es ausdrückt- der Ablauf des Gedichts „nicht einfach aufhört, sondern auf eine dasGanze evident machende Weise still wird" 1 . Das ist in „Bildlich gesprochen" sehreindrucksvoll gelungen. Die letzte Zeile ist die kürzeste des gesamten Gedichts,und sie erhält durch eine ihr innewohnende Beschleunigung eine Art Finaltempo.Mit der kurzvokalischen Hebung auf „ab" (V. 12) setzt sie einen harten Schlusspunkt,der den sinnbildhaften Abgesang der <strong>Liebe</strong> sprachlich nachahmt. Darüberhinaus ist nichts mehr zu sagen.Trotz der spürbaren Tendenz, die Teile des Gedichts eng miteinander zu verfugen,bleiben Risse und Brüche bis in die einzelnen Zeilen hinein. Man muss nicht allemetrisch-rhythmischen Details der Zeilen nachvollziehen, um bei ihrer laut undakzentuiert gesprochenen Lektüre auf die hemmenden Einschnitte in den Versen 1und 3 jeder Strophe zu stoßen, z. B.:Wär ich ein Baum / ich wüchse / dir in die hohle Hand (V.1f)Der Sprecher muss jeweils einen neuen Anlauf nehmen - wie um über einen Gra-1 Walter Killy, Elemente der Lyrik, München 1972, S. 25 4


en zu springen. Wie anders stellen sich die Harmonie und Einheit schaffendenrhythmischen Bögen in Goethes Gedichten dar, beispielhaft etwa in den Strophen2-4 seines Gedichtes „Maifest".So haftet dem Gedicht von Ulla Hahn der Eindruck von etwas gewaltsam Erzwungeneman, obwohl es den Anschein eines kompositorisch sauber gefügten Gebildeserweckt. Die fehlende Harmonie zwischen lyrischem Ich und fiktivem Du und derGewaltcharakter der <strong>Liebe</strong> finden in der Formgebung ebenso ihren Niederschlag wiedas angestrengte Bemühen um das Einswerden mit dem Geliebten. Erfüllung ist nichtzu erwarten.Mit diesem negativen Resultat formuliert Ulla Hahns Gedicht eine Grundtendenz inder gegenwärtigen <strong>Liebe</strong>slyrik, die ihren Ausdruck in einem ungewöhnlich aggressivenVerhältnis zwischen den Partnern findet. Für das Gedicht „Programmvorschau" vonJürgen Becker diagnostiziert Hiltrud Gnüg eine Beziehung, die einem "psychischenZweikampf" gleichkommt; sein zermürbender Verlauf endet in der Resignation derBeteiligten, die sich doch einmal geliebt hatten: „die Zweierbeziehung als Psychostreß[ ... ] so stellt es sich in vielen Gedichten dar" 2 .Ein wesentlicher Anteil an diesem neuen, von Machtauseinandersetzungen geprägtenVerhältnis zwischen Mann und Frau kommt der emanzipatorischen Bewegung zu.Zeilen wie die folgenden von Elisabeth Plessen wären in der <strong>Liebe</strong>slyrik der 1950erund60er-Jahre noch kaum denkbar:Elisabeth PlessenDank dir dank euchSie sagte: komm. Da hat er ihr den Mund verboten.Weil ers nicht war, sein Zeitpunkt nicht.Er nistete sich einWie in der Wohnung in der Frau, nur um zu zeigenWas er braucht. Das Augenmerk auf sich.Der feindselige Ton unter den Partnern, die Selbstbezogenheit des männlichen Ichs,die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Empfindungen des Du - dies alles sind Merkmaleeiner deformierten Beziehung, die man kaum mehr <strong>Liebe</strong> nennen mag.Auch das kleine Gedicht von Karin Kiwus „Fragile" beklagt den besitz süchtigen, unsensiblenEgoismus des Mannes mit seiner Unfähigkeit zur aufmerksamen Zuwendung.Es wirkt zwischen den betroffenen Figuren dieser Gedichte etwas Verbindendes, einschwer zu definierendes Gefühl zwanghaften Miteinander-Seins ohne Freundlichkeit,für das uns ein treffender Begriff fehlt.Hiltrud Gnüg charakterisiert die vom Emanzipationsprozess erschütterten <strong>Liebe</strong>sbeziehungenin ihrer Doppelgesichtigkeit mit folgenden Worten: „Gerade das,was freundliche Partnerschaft erst ermöglichen kann - die Auflösung der einengendenGeschlechterrollen -, schafft neue Schwierigkeiten, verunsichert denMann in seinem Selbstverständnis, macht die Frau fordernder und empfindlicherin ihrem neuen Selbstverständnis." 3In der <strong>Liebe</strong>slyrik der 70er- und 80er-Jahre spiegeln sich diese Vorgänge besondersin den Gedichten von Frauen, für die das veränderte Rollenbewusstsein janeue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in der <strong>Liebe</strong> mit sich bringen sollte.Die Realität in den Gedichten wirkt aber eher depr<strong>im</strong>ierend. Enttäuschungen, diesich einstellen, wenn alte unzulängliche Beziehungsmuster zerstört werden,während neue, positive Formen der Partnerschaft noch nicht gefunden sind, äu-2 Hiltrud Gnüg, 1979, S. 35f.)3 ebd., S. 38f. 5


ßern sich in resignativem Verzicht oder in tapferem Festhalten an den hohenErwartungen.Während das lyrische Ich in Ulla Hahns „Bildlich gesprochen" mit aggressiverEntschlossenheit auf seinem <strong>Liebe</strong>sanspruch besteht und diesen kompromissloszu verwirklichen sucht, weisen andere <strong>Liebe</strong>sgedichte eine völlig entgegengesetzteHaltung auf. Be<strong>im</strong> dürftigen Zustand der <strong>Liebe</strong> in der alltäglichen Wirklichkeit- und diese spielt <strong>im</strong> <strong>Gegenwartsgedicht</strong> eine große Rolle - besteht zumHöhenflug der Gefühle wenig Anlass. Daher bleibt dem liebenden Ich nur derstille, melancholische Abschied von seinen Glücksvorstellungen. Das Gedicht„Lösung" von Karin Kiwus, erschienen 1979, bringt die keineswegs seltene Resignationbeispielhaft zum Ausdruck:Karin KiwusLösungIm Traumnicht einmal mehrsuche ichmein verlorenes Paradiesbei dirich erfinde esbesser alleinfür michIn Wirklichkeitwill icheinfach nur lebenmit dir so gutes gehtDas Gedicht bewegt sich zwischen den Polen der traurig-nüchternen Reflexionüber den Traum von der großen <strong>Liebe</strong> (Strophe 1) und der Bescheidung auf dasschmale Glück der Wirklichkeit (Strophe 3). In der Mittelstrophe formuliert das Icheine Anweisung, eine „Lösung", für den Umgang mit seinen hohen Glückserwartungen.Die Möglichkeit, eine die ganze Existenz erfassende <strong>Liebe</strong> mit einem Menschenzu verwirklichen, erscheint dem lyrischen Subjekt so utopisch, dass sie „nicht einmalmehr […] <strong>im</strong> Traum" (V.1f) zugelassen wird. Sie gleicht der vergeblichen Suchenach dem „verlorene[n] Paradies", aus dem die Menschen für <strong>im</strong>mer vertriebenwurden. Aus dieser schmerzlichen Einsicht ergeben sich für das Ich zwei Konsequenzen:Einerseits erkennt es, dass die realistischen Bedingungen bestenfallsein gemeinsames alltägliches Leben zulassen mit der Einschränkung „so gut esgeht" (V. 12f), in dem die Vorstellung vom überirdischen <strong>Liebe</strong>sglück, dem „Paradies"(V. 4), unerfüllt bleiben wird. Wenn es nur „einfach […] leben" (V. 11) will,dann bedeutet das: ohne Aufwand an tiefen Gefühlen, ohne den Luxus der Träume.Die Haltung des lyrischen Ichs kennzeichnet sich aus der Sicht des Ge- dichtanfangs,der noch über die Textgrenze hinaus in eine Vergangenheit voll schwärmerischerHoffnungen zurückweist, als schmerzliche Resignation.Die zweite Folgerung besteht darin, dass die vorhandene Glückssehnsucht sich fürdas lyrische Ich nur unabhängig von der realen Beziehung zu Menschen erfüllenlässt. Davon spricht die mittlere Strophe, der aufgrund ihrer zentralen Stellungein besonderes Gewicht zukommt. Wir müssen ihre Aussagen als einen Rückzugsversuchdes Subjekts auf sich selbst verstehen: „ich“ (V. 6), „allein“ (V. 7),„für mich" (V. 8) - so lauten die pronominalen Schlüsselwörter. Vers 7 bildet dieformale Zentralachse des Gedichts. Isoliert betrachtet bekommt sie eine erschre-6


ckende semantische Vieldeutigkeit: „besser allein" (V. 7). Im Kontext der Strophemeint dies natürlich, dass man die utopischen Vorstellungen von der <strong>Liebe</strong> undihrer Verwirklichung, die man nur „erfinde[n]" (V. 6), d.h. erdichten kann, „besserallein" (V. 7) für sich behält. Sie mit der gesellschaftlichen Realität von <strong>Liebe</strong>spartnerschaftzu konfrontieren, führt zu den schmerzlichsten Enttäuschungen.So steht <strong>im</strong> Zentrum des Textes übergroß das vereinzelte, sich zur Vereinzelungbekennende Ich, das Zuwendung nur in der Sphäre des belanglos Äußerlichenerwartet. Wie kaum eine literarische Epoche zuvor bezieht sich die zeitgenössische<strong>Liebe</strong>slyrik auf die sozialpsychische Wirklichkeit des täglichen Daseins.Von dort aus entfaltet sie ihre Texte über die <strong>Liebe</strong>, die man auch verstehen kannals Reaktion auf eine Lyrik, in der ästhetische Formqualitäten und faszinierenddunkleSprachbilder den Wirklichkeitsgehalt aus der Dichtung verdrängen. Vonden Tendenzen der modernen Lyrik nach 1945, sich zum reinen, selbstgenügsamenKunstwerk zu entwickeln, ist die <strong>Liebe</strong>sdichtung der Gegenwart weit entfernt.Die <strong>Liebe</strong>slyrik der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts charakterisiert sich vorallem durch die Bereitschaft, in unverhüllter Sprache persönliche Gefühle zu bekennen(Neue Subjektivität). Gemeinsam mit ihrem engen Bezug zur Realität, die auf jederomantische Überhöhung verzichtet, vermitteln die Gedichte einen wirklichkeitsnahen<strong>Liebe</strong>sbegriff, der <strong>im</strong> Spannungsfeld von hoher Erwartung und tiefer Enttäuschung steht.Die Vorstellungen von gelungener harmonischer Zuneigung zwischen <strong>Liebe</strong>nden werdenals Utopie entlarvt. Daher verwirklicht sich <strong>Liebe</strong> in diesen Texten als Feindschaftder Geschlechter, als vergebliches Festhalten am Ideal oder als resignativer Verzichtauf Glück. Einfache Sprach- und Formgebung entsprechen häufig der Reduktion der<strong>Liebe</strong> auf anspruchslose Partnerschaft.7

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