12.07.2015 Aufrufe

Urs Widmer Von der Norm, der Abweichung und den Fertigteilen ...

Urs Widmer Von der Norm, der Abweichung und den Fertigteilen ...

Urs Widmer Von der Norm, der Abweichung und den Fertigteilen ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Urs</strong> <strong>Widmer</strong><strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Norm</strong>, <strong>der</strong> <strong>Abweichung</strong> <strong>und</strong> <strong>den</strong> <strong>Fertigteilen</strong>Meine Damen <strong>und</strong> Herren,früher einmal, als ich selber in <strong>den</strong> Rivalitätskampf<strong>der</strong> Literatur eingriff <strong>und</strong> mir auch irgendwo ein Plätzchenin <strong>der</strong> grossen Welt <strong>der</strong> Literatur erobern wollte, begegneteich Wettbewerben, wie sie die Tage <strong>der</strong> deutschsprachigenLiteratur sind, mit einiger Skepsis. Ich fürchtete natürlichdie Kränkungen, die so ein Wettkampf unvermeidlich mit sichbringt, <strong>und</strong> ich dachte, dass sich in <strong>der</strong> Literatur keinRanking erstellen lässt. So etwas <strong>den</strong>ke ich heute noch.Wettbewerbe, bei <strong>den</strong>en es am Ende trotzdem eine Besteo<strong>der</strong> einen Besten gibt, sehe ich allerdings inzwischenmit heiterer Milde. Dennoch. Literatur funktioniert nichtnach dem K.o.-System, in dem am Schluss einer <strong>der</strong> Siegerist. Die Frage ist nicht, ob Goethe o<strong>der</strong> Kleist o<strong>der</strong>Büchner, das heisst, die Antwort auf diese Frage ist:Goethe <strong>und</strong> Kleist <strong>und</strong> Büchner.Natürlich hantieren wir für uns selber doch immer mit<strong>den</strong> Begriffen „gut“ <strong>und</strong> „schlecht“ herum. Natürlichmachen wir Unterschiede, <strong>und</strong> es gibt auch Unterschiede.Bei vielen Texten sind wir uns bald einig, dass siegrottenschlecht sind: obwohl uns das Beispiel vonEuripides warnen sollte, dessen „Medea“,ein Meisterwerk<strong>der</strong> Weltliteratur, bei seiner Uraufführung vom Publikumso heftig ausgebuht wurde, dass sein Verfasser, um keine


2Prügel zu beziehen, hinter <strong>den</strong> Altar des Apollo-Tempelsfloh. Was das persönliche Ranking betrifft, mein „gut“<strong>und</strong> „schlecht“ für <strong>den</strong> Hausgebrauch, so bin ich bisheute nicht über die schon sprichwörtliche Formulierunghinaus gekommen, die entwe<strong>der</strong> von Čechov o<strong>der</strong> von Voltaireo<strong>der</strong> von meinem Verleger - o<strong>der</strong> von allen dreien - stammt:dass ein gutes Buch eins ist, das ich gern lese, <strong>und</strong>ein schlechtes eins, das mich langweilt.Natürlich genügt das noch nicht einmal für <strong>den</strong> Hausgebrauch.Es gibt ja Unterschiede, <strong>und</strong> selbst wenn wirnicht genau begrün<strong>den</strong> können, warum Franz Kafka besserschreibt als - na ja, sagen wir <strong>der</strong> Einfachheit halber,als je<strong>der</strong> von uns hier -, so sind wir uns doch mehro<strong>der</strong> min<strong>der</strong> einig, dass das so ist. Ich für mich lösedas Problem so. Regel eins („Gute Bücher sind die, dieich gern lese“) bleibt bestehen, wird aber von einerzweiten Überlegung unterstützt o<strong>der</strong> konterkariert,je nachdem.Keiner, <strong>der</strong> schreibt, schreibt freiwillig so, wieer schreibt. Das gilt auch für Frauen. Schreiben,ernsthaftes <strong>und</strong> existenzielles Schreiben, hält sichin Gebieten auf, in <strong>den</strong>en es weh tut <strong>und</strong> wo diesesSchreiben etwas Notwendiges <strong>und</strong> Unausweichliches wird.


3In diesen Bereichen kämpfen wir um unsre Wörter,weil wir mit unsern Wi<strong>der</strong>stän<strong>den</strong> <strong>und</strong> Verdrängungenkämpfen, <strong>und</strong> genau darum schreiben wir auch nichtfreiwillig, o<strong>der</strong> nur in Massen freiwillig, was wirschreiben. Der Druck ist zu gross. Im Idealfallschreibt „es“, <strong>der</strong> Text schreibt sich selbst, <strong>und</strong>wir sind so etwas wie sein Medium. Natürlich sollman diesen Schreib-Zustand nicht mythisieren - <strong>der</strong>Dichter in Trance; <strong>der</strong> Text auch für ihn ein unerwartetesGeschenk -, wie alles in <strong>der</strong> wirklichen We1ttritt er nie rein auf. Der Rest ist Arbeit. Sorgfalt,Genauigkeit, die heitere Fähigkeit, ganze Seiten auchwie<strong>der</strong> wegzuschmeissen, <strong>und</strong> die Begabung zu entschei<strong>den</strong>wann <strong>der</strong> Text so ist, wie er sein so1l. Ob ein eigenerText „fertig“ ist, „gut“, entscheidet ein Gefühl <strong>der</strong>Evi<strong>den</strong>z. Es gibt keine gewisseren Kriterien,Texte sind aus Sprache gemacht. Die Sprache ist nichtunsere Schöpfung, nie, sie kann es nicht sein, weilsie just das Allgemeine ist, über das die an<strong>der</strong>n auchverfügen <strong>und</strong> das uns mit <strong>den</strong> an<strong>der</strong>n verbindet. Eine„eigene Sprache“, dieses hohe Ideal, nach dem wiralle streben <strong>und</strong> nach <strong>der</strong> die Kritiker sich sehnen,


4wenn sie uns zuhören, die gibt es nicht beziehungsweise- ein Phänomen von hoher Ironie - allenfalls dann, wennwir uns beim Schreiben stets bewusst sind, dass es dasEigene nicht geben kann, o<strong>der</strong> nur als Rest o<strong>der</strong> Überschusso<strong>der</strong> produktiven Fehler. Wenn wir nie nach <strong>der</strong> eigenenSprache streben, haben wir eine Chance, zu ihr zu gelangen.(Wenn wir damit anfangen, „gut“ zu schreiben, „schön“,sind wir verloren.) Denn man kann ja sagen, einen unbekanntenText lesend, <strong>der</strong> muss von Thomas Bernhardsein, von Gert Jonke, von Klaus Hoffer. Unsere <strong>Abweichung</strong>envon <strong>der</strong> <strong>Norm</strong> <strong>der</strong> Sprache zeichnen uns dann aus.Die <strong>Abweichung</strong>, die einen literarischen Text erst alssolchen definiert, entsteht durch <strong>den</strong> Druck, <strong>den</strong> jemando<strong>der</strong> „es“ - das Leben - auf uns ausübt <strong>und</strong> dem wir schreibendeinen Gegendruck entgegen setzen, aus dem dann das Verformte,von <strong>der</strong> <strong>Norm</strong> Abweichende entsteht, das unsereLeser, wenn das Abenteuer geglückt ist, am Ende soentzückt. „Der wun<strong>der</strong>bare Glanz eines Meisterwerks“so sagte es Walter Muschg, „ist <strong>der</strong> Schmerz, <strong>der</strong> nichtmehr schmerzt. Ein vollkommenes Werk darf keine Spur desLei<strong>den</strong>s mehr an sich haben.“Die Sprache ist ein grosser Fertigteilbaukasten, ausdem wir uns mit mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> grosser Geschicklichkeit


5bedienen. Wir tun es mit routinierter Selbstverständlichkeitim Alltag, <strong>und</strong> wir tun es auch, wenn wir schreiben.Wie <strong>den</strong>n an<strong>der</strong>s. Wir gehen aber schon verschie<strong>den</strong> mit<strong>den</strong> <strong>Fertigteilen</strong> <strong>der</strong> Sprache um. Den einen genügen sienicht, die an<strong>der</strong>n - viele; die meisten vielleicht - sindvöllig zufrie<strong>den</strong> damit, das Altvertraute so zu arrangieren,dass es wenigstens für die Dauer <strong>der</strong> Lektüre wie neuaussieht. Das gilt auch für die Inhalte. Die, <strong>den</strong>endie Bauteile <strong>der</strong> Sprache so, wie sie von jedem gebrauchtwer<strong>den</strong>, genügen, montieren auch ihre Inhalte aus altvertrauten<strong>Fertigteilen</strong>. Und wir lesen das dann durchausgern, weil es so vertraut ist. Man nennt das mainstream,<strong>und</strong> <strong>der</strong> mainstream ist nichts Verwerfliches. Er bringtnur die Literatur nicht vom Fleck, <strong>und</strong> uns selber auchnicht.Das ist also mein zweites Kriterium, mit dem ichgute <strong>und</strong> schlechte Literatur zu unterschei<strong>den</strong> versuche.Schlechte Literatur ist ausschliesslich aus schon Vertrautemmontiert. Aus dem gemeinsamen Nenner <strong>der</strong> Sprache,<strong>und</strong> nur aus ihm. Sprache: je<strong>der</strong> Satz schon gehört. Inhalt:the same procedure as last year. Gute Bücher gehen demVertrauten nicht um je<strong>den</strong> Preis aus dem Weg, aber siereiben sich an ihm durch <strong>Abweichung</strong>en. In <strong>der</strong> Sprache<strong>und</strong>, als zwingende Folge daraus, in <strong>den</strong> Inhalten. (Umgekehrtwird auch ein Schuh draus. Vielleicht sogar nochmehr.)


6Die Sprache ist so o<strong>der</strong> so kein statisches System.Sie verän<strong>der</strong>t sich unablässig. Hier stirbt ein Wort,von niemandem betrauert, <strong>und</strong> dort gibt jemand etwasNeues ins System ein. Das ist faszinierend, für unsereinenbeson<strong>der</strong>s, <strong>den</strong>n wir sind die, die am sensibelstenauf die andauernde Verwandlung unsres Arbeitsmaterialsreagieren. Wir nehmen die Verän<strong>der</strong>ungen nicht nur auf,wir tragen auch zu ihnen bei. Das geht seit <strong>den</strong> Urzeitenso, als ein Erster „Löwe“ sagte, ohne dass einer da war,<strong>und</strong> so die Kommunikation in Begriffen erfand. Es hatnie eine <strong>Norm</strong>sprache gegeben, etwas für alle <strong>und</strong> je<strong>der</strong>zeitVerbindliches auch wenn Diktatoren, Religionsstifter<strong>und</strong> Herr Du<strong>den</strong> das gern so hätten. Sogar die Sprache<strong>der</strong> deutschen Klassik, die Goethes allen voran, dieobwohl wir uns ganz schön von ihr entfernt haben, immernoch so etwas wie <strong>der</strong> Urmeter ist, war nie für je<strong>der</strong>manno<strong>der</strong> auch nur irgendwen verbindlich. Die Zeitgenossenfan<strong>den</strong> im Gegenteil Goethes Sprache als irritierend vonihrer Alltagsnorm abweichend. Sie zogen ihr die Kotzebueso<strong>der</strong> Johann Timoteus Hermes' vor, die sich beidemit grosser Virtuosität aus dem Fertigbaukasten ihrerZeit bedienten.


7Das ist ja alles auch völlig in Ordnung so. Der einekann dies, <strong>und</strong> die an<strong>der</strong>e kann jenes. Wir sollten nur dieDinge nicht verwechseln. Und wir sollten nicht tun alsob. Lieber ein ehrlicher Fertigteilbaukastenbestsellerals ein Buch, das grosse Literatur simuliert <strong>und</strong> danndoch nur aus Angelesenem besteht, aus an<strong>der</strong>em eben.Sowieso wür<strong>den</strong> wir ja alle gern einen Bestse1lerschreiben, immer <strong>und</strong> immer wie<strong>der</strong>. Nur wie? Wenn wires wüssten, wären wir alle nicht hier.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!