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Mischintoxikationen sind erkennbar - Dr. Tino Merz

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Arzt und Umwelt 10,4/97 UMWELTMEDIZINISCHE PRAXIS 313Thema verfügbaren Studien im Zusammenhang.Ergebnis ist, daß dringend eine groß angelegte Studieerforderlich ist, um Ausmaß, nähere Umstände,Dauerhaftigkeit und Schwere von chronischen Gesundheitseffektengenauer zu ermitteln. Dabei gehtes um chronische „neurobehavioral" Effekte, Polyneuropathien,MGS sowie Atemwegserkrankungenund Asthma. Dabei zeigen die Daten der AmericanAssociation of Poison Control Centers (AAPCC) eineso starke Verbreitung, daß mit 80%iger WahrscheinlichkeitErkrankungen bei mehr als 1% der Allgemeinbevölkerungbefürchtet werden müssen. So<strong>sind</strong> 23 355 akute Fälle, validiert durch das ToxicExposure Surveyance System, als Grundlage in dieStudie eingeflossen. Bei 10% der Fälle handelt essich um <strong>Mischintoxikationen</strong>. 85% der beruflichenFälle und 75% der nichtberuflichen Fälle entwickeltenSymptome (genauere Darstellung wird zu einemspäteren Zeitpunkt veröffentlicht). Zur Fragechronischer Vergiftung existieren dieFallsammlung der National Pesticide TelecommunicationNetwork (N = 163) und der EPA selbst (N =101). Danach handelt es sich um- neurobehavioral Effekte • bei 38% der Fälle- Polyneuropathien bei 4% der Fälle- MCS bei 59% der FälleDer Begriff „neurobehavioral" Effekte wurde bishernicht übersetzt, weil es dafür keinen deutschen Ausdruck gibt. Dies liegt daran, daß die entsprechendenneurologischen Tests hier nicht bekannt <strong>sind</strong>. Eshandelt es sich dabei um die sehr genaue Feststellung von Leistungsminderung wie Reduktion derAugenaktivität, permanentes Kopfweh, Muskelschwäche, Lethargie, Schläfrigkeit, Verminderungdes Kurzzeitgedächtnisses, Konzentrationsschwäche, Konfusion, Verminderung der intellektuellenLeistungsfähigkeit, gegebenenfalls auch Depressionund Verwirrtheit.Obiges Ergebnis wird gestützt durch sehr eingehenduntersuchte Einzelfälle, 4l an der Zahl. Bei diesendominiert absolut die Diagnose MCS. Sie wird vertiefendgestützt durch Studien mit jeweils 16, 56,600, 114 und 236 Einzelfällen.Schließlich werden noch 4 Kontrollstudien mit demVermerk „epidemiologische Studien hoher Qualität"angeführt, in denen 100, 36, 128 und 146 Fälleuntersucht wurden mit einer jeweils äquivalentenAnzahl von Mitgliedern der Kontrollgruppen.Vertiefende klinische, neuroendokrine und immunologischeUntersuchungen zu diesen neurobehaviorischenEffekten haben Neurologen von der UniversitätGlasgow (BEHAN 1996) vorgelegt. Sie stellenfest, daß ein solches neurobehaviorisches Syndromfür die Exposition mit Organophophaten existiert.Auf der Grundlage eigener vertiefter Auseinandersetzungmit dem CFS-Syndrom stellt der Autor darüberhinaus fest, daß bezüglich der Exposition mitOrganophosphaten das neurobehaviorische Syn-drom klinisch mit CFS identisch ist. Der neuesteBericht dieser Forschergruppe endet damit, daßfestgestellt wird, daß wohl beide Erscheinungen dergleichen Pathogenese unterliegen. Insgesamt kannman wohl schließen, daß Organo-phosphatesowohl MCS als auch CFS erzeugen, wobei dieEntscheidung, welches Krankheitsbild entsteht,nicht vom primären schädigenden Mechanismus(s.u.), sondern von anderen sekundären Einflußgrößenabhängig ist.Golfkriegssyndrom - Überlagerung neurolotoxischerSyndromeMCS ist durchweg unspezifisch, was jene bekannteOdyssee von Facharzt zu Facharzt nachsichzieht.Obwohl im Umweltgutachten des Rates der Sachverständigenfür Umweltfragen 1987 vermerkt ist, daßchronische Vergiftungen unspezifische Symptomeaufweisen, ist dies keineswegs Allgemeingut, „da ...selbst bei statistischer Gewißheit über das Vorkommeneiner Schädigung nur bei sehr gezielten undumfangreichen Untersuchungen eine Chance (besteht),betroffene Individuen zu identifizieren unddamit den eigentlichen Nachweis ... der Schädigungzu führen" (SRU 1987, Ziff. 1253). Derartiger wissenschaftlicherMühen haben sich bisher nur diePatienten selbst unterzogen. In der Universitätsklinikin Dallas, USA, ist diese wissenschaftlicheInnovation für den Fall der Golfkriegsveteranengeleistet worden. Die Ergebnisse wurden imamerikanischen Ärzteblatt (JAMA) veröffentlicht(HALEY et al. 1997a-c).ErkenntnisschritteNach dem Golfkrieg klagten 30 000 Veteranen überSymptome, die von einer „Gruppe führender Neurologen"durch Einzeluntersuchungen nicht zu einer„traditionellen Diagnose" „einer bekannten Erkrankung"zugeordnet werden konnten (alle Zitate ausHALEY 1997, Bundessprachenamt). In einer Langzeituntersuchungmit 249 Veteranen wurden dieSymptome differenziert und in Komponenten aufgegliedert.Durch ein mathematisches Verfahrenließen sich drei primäre und drei sekundäre Syndromefeststellen, die sich beim einzelnen überlagern:1. Kognitionsstörung (Gedächtnis- und Denkstörung,Probleme bei der Planausführung) 2. Ataxie(Störung d. Koordination v. Bewegungsabläufen)3. Arthro-Myo-Neuropathie (Muskel- und Gelenkschmerzen,Muskelschwäche) Die Symptommusterwurden auf bekannte Diagnosen zurückgeführt.„Die Syndrome <strong>sind</strong> Varianten ... der sogenanntendurch phosphororganische Verbindungenhervorgerufenen Polyneuropathie, die durchEinwirkung von Chemikalien verursacht wird, die dieCholinesterase hemmen." (vgl. a. DA 1997). In einerKontrollstudie, als Blindversuch angelegt,


314 UMWELTMEDIZINISCHE PRAXIS Arzt und Umwelt 10,4/97(1) Danach wird die lebenslangsichere Dosis ADI (- acceptabledaily intake) ausdem NCAEL (- no adverseeffect level) des Tierversuchsdurch Einführung einerSicherheitsmarge von 100(Faktor 10 für den UnterschiedTier/ Mensch und Faktor10 für die unterschiedlicheEmpfindlichkeit der Individuender gleichen Spezies)berechnet. Nun ist aus toxiko-kinetischen(MetabolisierungsgeschwindigkeitvonRatte und Mensch unterscheidensich bei manchenStoffen bis zum Faktor 1000)und synergistischen Gründen(Kombin a t ions wirkungenkönnen die Wirkschwelle biszu einem Faktor 10.000 verändern)diese einfache Dosis-Wirkungsbeziehung im Extremfallbis zu einem Faktorvon 1000 x 10.000 - 10' zuwurden 23 Veteranen mit 20 gesunden Veteranenverglichen und signifikante Unterschiede festgestellt.Hom schloß durch entsprechende psychologischeTests psychische Störungen aus. Die Syndromewurden nun mit Risikofaktoren verglichen, die vonKurt für Kombinationswirkungen entwickelt wordenwaren (ABOU-DONIA et al. 1996). DieRisikofaktoren für schwach wirksame Nervenkampfstoffe,Pyridostigminbromid (PB), Permethrin,Chlorpyrifos und DEET traten bei den erkranktenVeteranen 4 - 8mal häufiger auf als bei ihren Kameraden.Zusammenhänge mit Risikofaktoren für Rauch,Uran, Treibstoffe und akute Kampfreaktionen dagegenkonnte eindeutig verneint werden.Allgemeingültiges FazitZum ersten Mal konnte eine chronische Mischintoxikationauf bekannte Syndrome zurückgeführt werden.Nun müssen alle jene schweigen, die „unklare"Beschwerdebilder nicht ernst nehmen wollen. Widerlegtist „IEI" und der IPCS-Workshop in Berlin (IPCS1996). Die Studie könnte gar den Wendepunkt markieren,an dem die Toxikologie insgesamt gezwungenist, sich vom ADI-Konzept (1) zu lösen. Rechtlich<strong>sind</strong> die Erkenntnisse von unmittelbarer Relevanz fürdie Beweislage der Chemikalienerkrankten.Fazit für die deutsche DiskussionDie Golfkriegsstudie bestätigt die Aussage einer Untersuchungvon 466 Patienten einer norddeutschenpsychiatrischen Ambulanz: „Die Ergebnisse deutendarauf hin, daß die gebräuchliche neurologischeGerätediagnostik lediglich die schon sehr schwerwiegendenneurotoxischen Schädigungen nachweisenkann...Es muß also angenommen werden, daßdie zur Zeit gebräuchlichsten neurologischen Testsnicht empfindlich genug <strong>sind</strong>". Allerdings: „Ein kausalerBeweis kann mit einer Dokumentation dieserArt nicht geführt werden." (LOHMANN et al. 1997).Vergleicht man die Art der Störungen mit denen derVeteranenstudie, so muß vermutet werden, daß sichdie Ergebnisse bestätigten, wenn die fehlenden Datenhätten erhoben werden können: Bei 70% zeigtesich ein starker Zusammenhang mit Umwelteinflüssen(Kategorie A nachgewiesene und Kategorie Banamnetisch eindeutig festgestellte Expositionen),bei 32% wurde MCS diagnostiziert (90% Kategorie Aund B) (vgl. auch LOHMANN et al. 1996). Die neurologischeGrunderkenntnis der Golfkriegsstudiewird vom Deutschen Ärzteblatt folgendermaßenbeschrieben: „von allen vier Arbeitsgruppen wurde... eine Schädigung durch neurotoxische Substanzen,die eine Hemmung der Cholinesterase verursachen,als wahrscheinlichste Ursache erachtet." (DA 1997).Dies ist nichts Neues. Der hauptsächliche Wirkmechanismus,die Hemmung der AChE (Acetylcholinesterase),verläuft zunächst reversibel. Nach einer Substituentenabspaltung„wird das Enzym biologisch irrever-sibel gehemmt." (MARQUARDT 1994, S. 463). „EineKombination dieser beiden Wirkstoffgruppen führtdeshalb (Hemmung der Carboxyesterasen) zu einerentsprechenden Toxizitätssteigerung der Pyrethroide."(a.a.O., S.464). Die Steigerung beträgt etwa einenFaktor 10. Die Arbeitsgruppe von Kurt hat das Wissenum diese Synergismen vertieft. Im Tierversuch anHennen steigt die neurotoxische Wirksamkeit vonPermethrin schubartig an, wenn vergleichsweiseharmlose Substanzen wie PB, ein Carbamat, das zumSchutz der AChE eingesetzt wird oder DEET, ein inden USA gängiger Insektenschutz, hinzutreten. DieToxizität bekommt einen weiteren Schub, wennnoch Chlorpyrifos hinzutritt (ABOU-DONIA 1996).Die Golfkriegsstudie widerlegt auch die Pyrethroid-Studie des bgvv. 23 Einzeluntersuchungen liefertenin „keinem Fall ein Hinweis für eine chronische Pyrethroidvergiftungbzw. eine persistierende oder irreversibleZNS- oder PNS-Läsion, die kausal auf einePyrethroidexposition zurückführen ließe" (ALTEN-KIRCH 1995, S. 53), woraus sehr weitgehende Konsequenzengezogen wurden: „Ein MCS-Syndrom istnach aktuellem Wissensstand keine eigentliche neurotoxischeErkrankung,..." (a.a.O., S.6l). Der negativeBefund mag an der geringen Zahl der Teilnehmerliegen: „Die Vielzahl der geschilderten ...Beschwerden ließen kein einheitliches Muster erkennen."(a.a.O., S.29). Auch nicht nach Selektion von 6Probanden - Ausschluß von „völlig andersartigen klinischenDiagnosen" (a.a.O., S.31) und „MCS" (a.a.O.,S.29) „ergab sich... kein einheitliches klinisches Bild.In den meisten Fällen handelt es sich um eine Mischintoxikation..."(a.a.O., S.35). Dies erinnert an dieEinzeluntersuchungen bei den Golfveteranen. Esmag eine Rolle gespielt haben, daß von den Patientenvorgelegte neurologische Befunde und Laborwerteunbeachtet blieben, im Urin keine Metabolitenbestimmt wurden und sensible neurologischeUntersuchungen fehlen (vgl. unten: a) bis i)),teilweise zwar aufgeführt, ohne daß Ergebnisse berichtetwerden), sowie der voreilige Ausschluß etwavon „diabetischer Polyneuropathie" (vgl. ANONYM-US 1991, REMMERS 1994).Die Ausklammerung der 8 MCS-Patienten wird nichtbegründet - „eine weitere Gruppe bot ein sog. MCS-Syndrom ..." (a.a.O. S.53). Andererseits wird ein Verbotdes freien Verkaufs angeregt, mit der Begründung:„Wenn ... ein chemisches Initialtrauma denAuslöser für eine MCS-Problematik darstellt, dann<strong>sind</strong> möglicherweise Pyrethroide aufgrund ihrertatsächlichen neurotoxischen Eigenschaften besondersprädestiniert, MCS auszulösen" (a.a.O. S.56).3. MCS-EinzelfallbetrachtungGrundlage dieses Aufsatzes ist ein Gutachten, indem der Tenor umgekehrt ist: gerügt wird, daß die


Arzt und Umwelt 10,4/97 UMWELTMEDIZINISCHE PRAXIS 315Gutachter sich nicht mit den Patientenbefundenauseinandersetzen, sondern mit angeblichem Forschungsbedarf.Hier war es das Interesse, die allgemeinenAspekte herauszuarbeiten. Die nun folgendenAusführungen zum Einzelfall <strong>sind</strong> dementsprechendstark gekürzt (ausführlich in MERZ 1997a).Für den aktenkundigen Einzelfall SKM kann nunfestgestellt werden:1. Chlorpyrifos zusammen mit seinen üblichenSynergisten verursacht nervliche Leistungsminderung, Polyneuropathie und MCS.2. Exposition und Diagnosen <strong>sind</strong> bei der Patientingleich.3. Die Patientin leidet gemäß gerichtlichem Gutachter an MCS (nach GÜLLEN), erworben durch Pestizide (NIX und MDK).4. Diagnostische Lücken <strong>sind</strong> wissenschaftlich geschlossen (HALEY1997).5. Grund der Erkrankung ist eine Mischintoxikation(HALEY 1997).6. Gesundung ist ohne die Kontrolle und Therapieder Zellproliferation nicht denkbar (REA, NorthTexas Immunology Laboratory).7. Es besteht Lebensgefahr, deren Potential beimAbweichen vom Therapieplan des EHC spontanansteigt (Lymphozytensturz).Anerkennung des KrankheitsbildesDie Veteranen-Studie (HALEY 1997) ist nicht nur dieerste hochqualifizierte epidemiologische Studieüber <strong>Mischintoxikationen</strong> im Niedrigdosisbereich.Sie beendet auch die Möglichkeit, sich ernsthaft derErkenntnis zu verweigern, daß diese Krankheitenüberhaupt existieren.Denn bei einzelnen Patienten lassen sich bei Überlagerungenbekannter neurologischer Syndromediese nicht mehr als das synergistische Einwirkenverschiedener Chemikalien analytisch erfassen,sofern diese analytische Trennung nicht vorher beieiner größeren Gruppe von Gleichgeschädigtenerfolgte und diese Muster von daher bekannt <strong>sind</strong>.Die Anforderungen von Prof. Nix (Nix 1996) an dieDiagnose in Zusammenhang mit seinem Gutachten<strong>sind</strong> also von vornherein zum Scheitern verurteilt.Bei SKM werden die gleichen grundlegenden Wirkmechanismus,die Hemmung der Acetylcholinesterase,die Polyneuropathie, Chlorpyrifos und Permethrinnachgewiesen und psychische Störungen ausgeschlossen.Ihre neurologischen Tests mit qualitativ gleichen Ergebnissenwerden bislang nicht anerkannt:a) Audiovestibuläre Testsb) Sinusförmige harmonische Beschleunigung,c) Augenmotalität,d) Haltungstests zur Feststellung eines Nystagmus,e) Kalorische Prüfung,f) Dynamic Platform Posturography,g) Somatosensorische evozierte Potentiale, bishernicht durchgeführt h) Visuell evoziertePotentiale, i) Akustische hirnstammevoziertePotentiale, j) Anschlußuntersuchung dersensorischen undperipheren Nerven, k)Neuropsychologische Tests, 1)Kernspintomographie, m)SPECT-Scanning, n)BlutuntersuchungenBei diesen Tests und Verfahren handelt es sich umSchulmedizin reinsten Wassers. Damit <strong>sind</strong> dieZweifel von Prof. Nix widerlegt, der zwar einerseitsdie trigeminale Sensibilität der Patientin registriert,sich aber weigert, einen Zusammenhang derMeßergebnisse der trigeminalen Potentialen mitMCS zu sehen. Die neurologische Diagnostik beiSKM geht mit den Messungen der akustisch (AEP,Jaumann) und olfak-torisch evozierten Potentiale(OEP, Kobal) - mit und ohne Provokation -,Pupillographie, EEG (Binz), Autoimmunstatus (Rea,Schwinger), Porphyrie, über das Programm derVeteranen-Studie hinaus. Die Tatsache der Porphyriemacht starke Reaktionen auf gängige Stoffe wiePhenole, Formaldehyd und Kohlenwasserstoffe aufder Basis des dazu verfügbaren Grundlagenwissensder Inneren Medizin verstehbar (WASSERMANN1997). Die Sensibiliät ist so hoch, daß Abkochengrüner Bohnen (Phenol), Straßenteerarbeiten oderdie Inbetriebnahme eines Gasherdes zu teilweiseschweren Ohnmachtsanfällen führt. Prof. Reaerwartet Verschlechterung des Gehörs bis zurirreversiblen Taubheit bei einem Aufenthalt in einernormalen Klinik durch die Belastung mitDesinfektions- und Lösungsmitteln (REA 1997).SKM zeigte in den verschiedenen Phasen ihrerKrankheitsentwicklung fast alle jene „muskarinartigenWirkungen", die das Lehrbuch (MARQUADT1994) als organische Schäden als Folge der Hemmungder Acetylcholinesterase nennt: Erschlaffungder Gefäßmuskulatur, Kontraktion der Muskulaturvon Bronchien, Probleme im Magen-Darmtrakt (Peristaltik),Zunahme der Sekretionen (Speichel, Bronchien,Magen-Darm), ebenso die „nikotinartigen Wirkungen":Fibrilation und Faszikulation der Skelettmuskulatursowie die Erscheinungen am zentralenNervensystem: Tremor, tonisch-klonische Krämpfe.Anerkennung der TherapieNervenschäden <strong>sind</strong> nur eine der drei Seiten derGrundschädigungen, die MCS generell charakterisieren:zweitens ist die Immunabwehr und drittensdas endokrine System zu betrachten (REA 1992).MCS ist Folge tiefgreifender Störungen der Regulationsmechanismendes Organismus. Jeder Menschbesitzt eine biochemische Individualität (REA 1992,S. 35) und ein individuelles Belas-


316 UMWELTMEDIZINISCHE PRAXISArzt und Umwelt 10, 4/97tungsspektrum. Im Fall SKM wurde als gravierendsterImmunschaden festgestellt, daß die Zellproliferationder Lymphozyten nicht mehr nachweisbar ist.KrankheitsverlaufZum Verständnis wie sich hohe Risiken entwickeln,ist es hilfreich, MCS als durch seinen zeitlichen Verlaufcharakterisiert zu sehen. Typisch ist der Verlaufin drei Phasen (REA1992, RAPP1996, RUNOW1994):1. Akutreaktionen durch Niedrigdosis, die rasch wieder verschwinden und zu der voreiligen Theseder „Anpassungsfähigkeit des Menschen" geführthaben.2. Die Latenz- oder Suchtphase kann sich über einJahrzehnt erstrecken. Es handelt sich dabei um dieAbwehrschlacht des gesamten Organismus' unterFührung des Immun- und Detoxsystems. Die Enzyme des letzteren werden zu Beginn induziert,zeigen aber später Werte unter normal. Diese Phase ist am besten als Erschöpfung der Körperreserven zu verstehen: neben den Enzymen des Detoxsystems <strong>sind</strong> Mängel bei Vitaminen, Mineralien,essentiellen Amino- und Fettsäuren sowie Enzymen nachweisbar. Die Überlastung des Immunsystems zeigt sich in diversen Allergien.3. Der plötzliche Schub der Sensibilisierung gegenüber Antigenen und Chemikalien kann als Kollapsoder Zusammenbruch der Abwehr interpretiertwerden.Langsam zunehmende Morbidität Damit ist aber dieEntwicklung nicht zuende. Zusammenbruch oderKollaps darf hier nicht in dem Sinne einesHerzinfarktes oder Kreislaufkollapses verstandenwerden, nach dem es dem Betroffenen - sofern er esüberlebt - wieder besser geht. Im Gegenteil, oftverschlechtert sich der Zustand langsam und unbemerkttrotz weitgehender bewußter Expositionsvermeidung,wenn nicht eine gezielte, massive Therapieentgegenwirkt. Die Zielrichtung muß durch eine umfangreicheAnalytik - stati der Mineralien, Vitamine,des Immunsystems usw. - gut vorbereitet werden.Dieser Umstand wird in der Regel übersehen. Dennder Prozeß ist langsam und die einzelnen Schritteder Verschlechterung vollziehen sich weit wenigerdramatisch als der Übergang von Phase 2 zu Phase 3-Das macht den Zustand doppelt gefährlich. Dennbei Vorhandensein extrem expositionsarmer Bedingungen,regelmäßiger Entgiftung und immunstützenderMedikamente, gesundheitliche Einbrüchevöllig unwillkürlich auftreten. Im Verlauf der drittenPhase können Organerkrankungen hinzutreten. Reahandelt im einzelnen ab: HNO-Bereich, Bronchienund Lunge, Herz und Gefäße, Magen-Darm-Trakt,Fortpflanzungsorgane, Muskel, endokrines System,Haut, Nervensystem, Augen und Kinderkrankheiten(REA 1995). Dies bietet ' ein weites Feld fürFehldiagnosen und Fehltherapienund in letzter Konsequenz für falsche Angaben vonTodesursachen.In Deutschland hängt die Diskussion bei Verlegenheitsdiagnosen(TRETTER1997) psychosomatischerArt fest. Möglicherweise ist die Dunkelziffer von mitPsychopharmaka Fehltherapierten horrend. Die anderenFachdisziplinen <strong>sind</strong> noch gar nicht in dieDiskussion gekommen (Polyneuropathie und Diabetesetc.).LebensgefahrLebensgefahr ist gegeben durch Organversagen,anaphylaktoiden Schock und Lymphozytensturz.Auslösende Ereignisse können nicht definiert undsomit nicht prognostiziert werden. Bei SKM zeigtenP/N-Tests und anaphylaktoide Ereignisse ein hohesGefahrenpotential bei Phenolen, Formaldehyd undKohlenwasserstoffen (REA 1994). Man sollte beiMCS von anaphylaktoiden Schocks sprechen. Denndie Gegenmaßnahmen bestehen nicht ausnotärztlichen Überdosen (Cortison, Adrenalin),sondern im Gegenteil aus Neutralisationsinjektionen.Bei SKM wurde ein Lymphozytensturz Februar 1997bei der Immun-Statusbestimmung am EHC entdeckt(vgl. Grafiken in MERZ 1997d). Die Lymphozytenzahlenwaren bei der Patientin noch nie so niedrigund weit unter den unteren Referenzwerten, erstmalsauch die B-Lymphozyten. Die Patientin hättegemäß des Therapiekonzeptes des EHC bereits dreiMonate früher wieder das EHC aufsuchen sollen,was wegen Geldmangels hinausgezögert wurde.Wichtige Medikamente waren im Novemberausgegangen. Verzögerungen aus Geldmangelwaren schon davor vorgekommen, nicht aber mitsolch gravierenden Folgen. Der Sturz kam deshalbin dieser Gefährlichkeit überraschend. Möglicherweisewäre sie wenig später nicht mehr transportfähiggewesen.Wissenschaftliche Erklärung dieser Entwicklung - allerdingsnur a posteriori - bietet der Umstand, daßdie Lymphozytenproliferation durchgängig von1994, dem Zeitpunkt der ersten analytischen Bestimmung,bis 1997 beim analytischen Status „nicht nachweisbar"verblieben ist. Neue Kontrollwerte zeigen,daß der alte Immun-Status von 95/96 wiederhergestelltwerden konnte. Allerdings ist eine Verbesserungdes Zustandes aus dem Jahr 1996 „verspielt".Die Befunde (79 aus 4 Jahren) drängen den Schlußauf, daß die Zerstörung der Immunabwehr beimEintreten in die Phase 3 so weit fortgeschritten war,daß ein Überleben sogar bei bewußt praktizierterReduktion der Expositionen as far as possible nichtgesichert ist.Krankheitsverschlechternde UmständeNach Tretter benötigen MCS-Patienten eine gewissestützende Psychotherapie (dies wird oft- teilweise


Arzt und Umwelt 10,4/97 UMWELTMEDIZINISCHE PRAXIS 317durch Selbsthilfegrupppen geleistet), um ihre ungewöhnlicheBelastung verkraften zu können.Deshalb steht der Optimierung der Therapie bereitsdas Vorgehen der Krankenkasse entgegen. Krankenkasseund Medizinischer Dienst haben sich nie fürdie Befunde interessiert. Da in Deutschland wederdie Zellproliferation noch die Porphyrie laboranalytischkontrolliert werden kann, noch eine deutscheKlinik über eine diesbezügliche Therapie wie ALF(nach Prof. Rea) verfügt, hat zu keinem Zeitpunkt dieChance einer Überprüfung, geschweige einer Alternativein therapeutischer Hinsicht bestanden.' DieBeantwortung der Frage, inwieweit die Grenze derFahrlässigkeit überschritten ist, überlasse ich demLeser.NachweiseABOU-DONIA, M., WILMARTH, K. (1996): Neurotoxicity resultingfrom coexposure to pyridostigmine bromide, DEET andPermethrin: Implications of Gulf War chemical exposure, J.Toxicol. Environ. Health 48:35-56ALTENKIRCH, H., HOPMANN, D. 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(1997): Information der University of Texas,Southwestern Medical Center an die Golfkriegsveteranen des24th Naval Mobile Construction Battalion (NMCB), die an derStudie teilnahmen, Bundessprachenamt, Referat SM II 2,Auftragsnummer D1954,1997HALEY, Robert W, KURT, Thomas L. & HOM, Jim (1997a): IsThere a Gulf War Syndrome? Searching for Syndromes by FactorAnalysis of Symptoms, JAMA, 277: 215-222 HALEY,Robert W, KURT, Thomas L. & HOM, Jim (1997b):Evaluation of Neurologic Function, JAMA, 277:223-230HALEY, Robert W, KURT, Thomas L. & HOM, Jim (1997c): Selfreportedexposure to neurotoxic chemical Combinations inthe gulf war, JAMA, 277: 231-237IPCS (1996): Bericht des Workshops über Multiple ChemicalSensitivities (MCS), Berlin, Februar 1996, Sekretariat <strong>Dr</strong>. I.Paulini, Umweltbundesamt (UBA), Berlin, 1996 KOFLER, W.(1994): Toxikopie: Vergiftung ohne Gift, BSW -Report Nr. l,1994LOHMANN, K., SCHWARZ, E., PRÖHL, A. (1996): VielfacheChemikalienunverträglichkeit (Multiple Chemical SensitivityDisorder) bei Patienten mit neurotoxischen Gesundheitsstörungen,Gesundheitswesen 58, 322 - 331 LOHMANN, K,SCHWARZ, E., PRÖHL, A., ALSEN-HINRICHS, C,WASSERMANN, O. (1997): Neurotoxische Gesundheitsstörungendurch Umweltschadstoffe, Zeitung für Umweltme-dizin5, H. 3,172-181MARQUARDT, H, SCHÄFER, S. G. (1994): Lehrbuch der Toxikologie,(BI Wissenschaftsverlag) Mannheim MERZ, T.(1997a): Psychotherapie gegen Vergiftungen, Zur Bewertungeines Gerichtsgutachtens von Prof. <strong>Dr</strong>. med. Wilfried A. Nix,Arzt und Umwelt, 10, 3/97, 208-212 MERZ, T. (1997d):<strong>Dr</strong>eimonatige Verschiebung der Behandlung in den USAhatte dramatische Rückentwicklung des Immunstatus zurFolge, Wüstenzell, April 1997 NIX, W. (1996):Fachneurologisches Gutachten im Auftrage desSozialgerichts Mainz, Aktenzeichen S 5 K 8/96,SKM/Karstadt BKKRAPP, D. (1996): Ist dies Ihr Kind? Versteckte Allergien aufdeckenund behandeln, Ein Selbsthilfebuch, (medi) HamburgREA, W. J. (1992): Chemical Sensitivity, Volume l, Boca Raton,Florida 33431, Lewis Publishers, ISBN O87371-54M REA,W. (1994): Environmental Health Center Dallas, Diagnose,Dallas, 18.4., 1994REA, W. J. (1995): Chemical Sensitivity, Clinical Manifestationsof Pollutant Overload, Volume 3, Boca Raton, Florida 33431,Lewis Publishers, ISBN 0-87371-541-1 REA, W. J. (1997):Environmental Health Center - Dallas, Attest, Schreiben an dieHausärztin <strong>Dr</strong>. Jarosch , 35494,1997 REMMERS, V. (1994):Polyneuropathien durch Umwelteinwirkungen, DeutscheGesellschaft für Umwelt- und Humantoxikologie, WürzburgRUNOW, K.-D. (1994): Angewandte Umweltmedizin, 2. Aufl.,(Hippokrates) Stuttgart, ISBN 3-7773-1046-8 SRU - Rat derSachverständigen in Umweltfragen (1987):Umweltgutachten 1987, Unterrichtung durch dieBundesregierung, Bundestagsdrucksache 11/1568,1987TRETTER, F. (1997): Psychiatrische/psychosomatischeDiagnosen und Differantialdiagnosen bei Umweltpatienten,Vortrag 5. Kolloquium der DGUHT, 1997 WASSERMANN, O.(1997): Gutachterliche Stellungnahme - Erkrankung Frau SKM -,Institut für Toxikologie, Klinikum der Christian-Albrechts-Universität, Kiel

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